Der Geschichtenbäcker - Carsten Henn - E-Book
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Der Geschichtenbäcker E-Book

Carsten Henn

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Beschreibung

Vom Autor des SPIEGEL-Bestsellers »Der Buchspazierer«: ein warmherziger Roman mit ganz viel Gefühl und in wunderbarer Sprache

Bestseller-Autor Carsten Henn erzählt in »Der Geschichtenbäcker« davon, sich selbst anzunehmen, wie man ist, von den Zutaten für ein gutes Leben – und von der Kunst des Brotbackens.

Brot backen ist fast wie ein Tanz. Teig wird rhythmisch geknetet, die Drehung der Hände, der Schwung der Hüfte geben ihm Geschmeidigkeit. Fasziniert beobachtet die ehemalige Tänzerin Sofie den italienischen Bäcker Giacomo bei seiner Arbeit. Eigentlich wollte sie den Aushilfsjob in der Dorfbackstube gleich wieder kündigen. Zu sehr hat das Ende ihrer Karriere ihr Leben aus der Bahn geworfen. Wer ist sie, wenn sie nicht tanzt? Wer wird sie lieben, wenn sie nicht mehr auf der Bühne strahlt? Doch überraschend findet Sofie in der kleinen Bäckerei viel mehr als nur eine Beschäftigung: die Weisheit eines einfachen Mannes, das Glück der kleinen Dinge und den Mut zur Veränderung.

»Der Geschichtenbäcker« – ein Roman wie eine warme Decke, der berührt, unterhält, aber auch inspiriert und nachwirkt.

»Ein Buch zum Einkuscheln, ein Buch, das wärmt und Zuversicht spendet.« Brigitte über »Der Buchspazierer«

»Ein Umarmungsbuch. Eine zarte, fast märchenhafte Lektüre. Ein Wohlfühlbuch, ach was, ein Umarmungsbuch – und wer braucht so eines nicht in dieser Zeit?« Neue Westfälische Zeitung über »Der Buchspazierer«

 

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Danksagungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

»Wenn du ein gutes Brot backen kannst, hast du verstanden, welche Zutaten du für ein glückliches Leben brauchst.«

Giacomo Botura, Bäcker

Kapitel 1

Kruste

Wie lange kann man weitertanzen, wenn die Musik zu Ende ist?

Das fragte sich genau ein Mensch im Konzerthaus der Stadt. Der Saal war eine Schmuckschachtel, voller Gold und Schnörkel, voller Stuck und Bordüren. Alles schien zu sagen, dass Zeit hier keine Rolle spielte, es egal war, welches Jahr man gerade zählte, welchen Monat, welchen Tag.

Aber Zeit verging, und das war Teil des Problems.

Sofie Eichner saß in Reihe 5, Sitz 34. Obwohl es ein gepolsterter Sitz war, schien es ihr, als fiele sie ins Bodenlose. In Filmen sah man manchmal Menschen rücklings – und immer in Zeitlupe – in ein weiches Daunenbett sinken. So fühlte es sich gerade auch bei ihr an: rücklings, Zeitlupe, nur das Daunenbett fehlte.

Die Musik hatte für sie eigentlich schon vor über drei Monaten aufgehört zu spielen, als eine Verletzung die Nadel vom Vinyl gerissen hatte und der Intendant die Gelegenheit nutzte, sich ihrer schnell zu entledigen. Schließlich hatte er schon lange eine Nachfolgerin ins Auge gefasst und diese im letzten Jahr, so oft es ging, für Gastrollen ins Konzerthaus geholt. Einen aufsteigenden Stern. Noch dazu genau sein Typ Frau. Irina Nijinsky. Schon ihr Name klang wie Tanz: zwei entschlossene Schritte mit durchgedrücktem Rücken, dann ein sanftes Ausgleiten. Gefolgt von sprachlosem Staunen. Die neue Primaballerina des Konzerthauses schien nur aus Luft zu bestehen, so wehte sie über die Bühne.

Vielleicht war Irina in ihrem früheren Leben ein Blatt gewesen, dachte Sofie. Ein unschuldiges Ahornblatt, das sich im Herbst erst gelb und dann rot verfärbte, das keinerlei Schuld auf sich geladen und als Belohnung dieses Leben hier erhalten hatte. Den Hauptgewinn im Karma-Lotto.

Nach Sofies Verletzung hatte Irina sich kein bisschen dafür starkgemacht, dass sie noch eine Chance erhielt.

Ganz im Gegenteil.

Irina hatte ihre eigene mit aller Kraft genutzt.

Deshalb stand sie jetzt oben auf der Bühne, wohingegen Sofie mit ihrem Mann Florian auf den besten Plätzen – den Ehrenplätzen! – saß und hören musste, wie die wunderschöne Musik für jemand anderen spielte. Von hier konnte Sofie das Bühnengeschehen perfekt auf Augenhöhe bewundern, und die Klänge des im Graben spielenden Orchesters trafen sie mit Wucht und Transparenz. Es war unerträglich.

Und wie um sie zu verspotten, gaben sie auch noch La Belle au bois dormant, besser bekannt als Dornröschen, zur berühmten Ballettmusik von Tschaikowski. Es war Sofies Stück. Kein anderes hatte sie so oft getanzt, keine ihrer Rollen war so gelobt worden. Sie habe dieses Ballett zu ihrem gemacht, hieß es in der Presse.

Irina setzte jetzt zu einem Grand jeté an, dem Spagatsprung, bei dem man mit einem Fuß abhob und sanft auf dem anderen landete. Das Grand jeté war Sofies besondere Spezialität gewesen. Niemand hatte die Beine eleganter, schwungvoller, exakter als sie gehoben, niemand sich länger in der Luft gehalten. Immer noch schmückte ein zwei mal drei Meter großes Foto von ihr bei diesem Sprung das Foyer.

Das Publikum hielt den Atem an.

Sofie spürte, dass sie nicht mehr atmen konnte, die Luft sich in ihr zusammenpresste. Ihre Lungen verhärtet, wie aus Stein.

Sie stand auf.

Im selben Moment hafteten alle Blicke an ihr, als wäre sie ein Fliegenfänger. Sofie wandte sich schnell nach links und ging in Trippelschritten seitlich an den Sitzenden vorbei, den kleinen Spalt zwischen Knien und der Rückseite der Stuhlreihe nutzend. Frau Malewski, Herr Stromer samt Frau Adelheid, Frau Schneiderling und Herr Barberi saßen dort. Die Macht im Förderverein. Sie hatten diese Plätze seit jeher inne und würden sie unter Androhung des Todes nicht hergeben, sondern irgendwann huldvoll vererben.

Zwei von ihnen drehten die Knie pikiert zur Seite (Adelheid Stromer und Frau Schneiderling), zwei rückten extra nach vorne, um Sofie den Durchgang zu erschweren und damit gegen ihre Störung zu protestieren (Herr Stromer und Frau Malewski). Herr Barberi rührte sich überhaupt nicht, als käme Sofie nicht vorbei, er weigerte sich, gestört zu werden, blickte einfach durch sie hindurch, innerlich hoffend, dass ihn der Rest des Publikums für seine stoische Haltung bewunderte.

Sofie lächelte entschuldigend, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. Aber wer professionell tanzte, konnte lächeln, selbst wenn der Körper schrie. Lächeln bedeutete, bestimmte Muskeln anzuspannen. Es war kein Gefühl.

Immer wieder flüsterte sie: »Entschuldigung«, bis es zu einem Mantra wurde, das sie nicht mehr zu den anderen Besuchern, sondern zu sich selbst sagte. Entschuldigung, Sofie, dass ich dich enttäuscht habe. Und alle da oben auf der Bühne. Sie wusste, wie schrecklich es für Tänzerinnen und Tänzer war, wenn jemand im Publikum aufstand. Es riss einen aus der Konzentration, und unwillkürlich tauchte die Frage auf, was man falsch gemacht hatte. Wenn es wie heute bei einer Premiere geschah, gesellte sich die Angst dazu, ob die Choreografie misslungen war und gleich weitere Personen den Saal verlassen würden.

Sofie wurde hektischer, spürte die unzähligen Blicke wie Nadelstiche auf der Haut. Dazu Kopfschütteln, Naserümpfen, Schnalzen. Immer noch konnte sie nicht durchatmen, war da dieses Brennen in den Lungen.

Sofie sah nicht mehr in die Gesichter, lächelte nicht mehr, senkte den Kopf, ihr in der Kindheit strohblondes, jetzt nussbraunes Haar wie ein Vorhang vor dem Gesicht, schaute nur auf Füße und Knie. Die schwere zweiflügelige Tür, die hinaus ins Foyer führte, erschien ihr viel zu weit entfernt. Fast fiel sie. Fast wollte sie fallen.

So schnell es ging zum Ausgang. Aber ohne zu rennen. So schnell es ging in ihrem eng und knöchellang geschnittenen, gold glitzernden Abendkleid.

Ein Blitz. Dann noch mal. Sie schossen Fotos von ihr. Es wurden mehr. Wo die Schranke des Anstands niedergerissen war, trampelte der Mob anstandslos darüber. Weitere Blitze, näher jetzt.

Dann ein Rumpeln. Das Publikum sog die Luft ruckartig ein.

Sofie blickte sich um und sah Irina auf der Bühne liegen, sie musste gefallen sein. Irina fiel nie.

Sofie presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie gefühllos wurden.

Dann war sie durch die Tür. Hinaus aus der Dunkelheit des Saals in die strahlende Helligkeit des nahezu menschenleeren Foyers. Sie musste die Lider senken. Trotzdem schnell weiter über den glatten weißen Fliesenboden, zum Münsterplatz, der vom Nieselregen glänzte und dessen Pflastersteine rutschig waren, wie mit Seife eingeschmiert.

Erst als sie auf diesem unsicheren Grund stand, konnte Sofie endlich wieder atmen.

Sie blickte hinter sich.

Florian war ihr nicht gefolgt.

Sofie musste nur kurz überlegen, was sie nun tun sollte. Gehen. Nach Hause. Es war erleichternd, Meter um Meter zwischen sich und das Konzerthaus zu bringen. Die Stadt tat ihr gut. Menschen, die nicht tanzten, sondern an diesem kühlen Aprilabend durch den Regen huschten, oft leicht gebückt, als würden sie dann weniger Tropfen treffen. Dabei boten sie ihnen auf diese Weise sogar mehr Fläche.

Der kühle Regen wusch die Wärme des Konzerthauses von Sofies bloßen Schultern. Der feine Stoff des luxuriösen Kleides sog sich voll, der perfekte Faltenwurf erschlaffte.

Sie blickte auf die glänzenden Pflastersteine, um nicht zu stolpern. Jeder war anders, trotzdem fügten sie sich zu einem schlüssigen Ganzen. Und keiner fragte, ob er sich an der richtigen Stelle in dieser Welt befand.

Sie war so sehr in die Steine versunken, dass sie am westlichen Ende des Münsterplatzes mit einem alten Mann zusammenstieß.

»Das tut mir leid! Entschuldigen Sie bitte meine Unachtsamkeit. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte sie den auf den Pflastersteinen liegenden Herrn und reichte ihm schnell die Hand.

»Den Büchern ist nichts passiert«, antwortete er und wirkte ausgesprochen erleichtert, nachdem er seinen Rucksack sorgfältig befühlt hatte. Der Mann trug eine olivgrüne Latzhose, in derselben Farbe eine Jacke, die ihm viel zu groß war, und einen Schlapphut.

»Ich meinte eigentlich, wie es Ihnen geht«, sagte Sofie.

»In meinem Alter ist nicht das Fallen das Problem, sondern das Aufstehen«, erwiderte er mit einem schalkhaften Glitzern in seinen Augen.

Sofie half ihm auf die Beine und strich den Straßendreck von seiner Kleidung.

»Es tut mir wirklich leid, ich war ganz in Gedanken.«

»Das habe ich gesehen. Sie waren so vertieft, als würden Sie in einem Buch lesen.«

Sofie schüttelte den Kopf. »Ich habe über die Pflastersteine nachgedacht.« Sie stockte. »Nein, eigentlich ging es um mein Leben.«

»Manchmal ist es gut, über das Leben so nachzudenken, als wäre es ein Buch. Und sich zu fragen, wie es weitergeschrieben werden sollte. Um dann zu begreifen, dass man selbst die Person ist, die den Federkiel in der Hand hält.« Er blickte auf seine Uhr. »Ich muss los, mein erster Kunde wartet. Und er mag es gar nicht zu warten.« Penibel rückte er seinen Rucksack zurecht und den Hut gerade.

»Noch mal Entschuldigung«, sagte Sofie. »Sonst bin ich nicht so.«

»Alles gut. Ich gehe jetzt etwas schneller, und die Welt ist dann wieder genau da, wo sie sein sollte.« Er sah sie an und schenkte ihr ein Lächeln. »Sie scheinen eine sehr nette Frau zu sein. Deswegen wünsche ich Ihnen von Herzen viel Glück. Für Ihr Leben.« Mit einem höflichen Nicken drehte er sich um und ging strammen Schrittes Richtung Münster.

Als Sofie sich umschaute, Orientierung suchend, blieb ihr Blick an einem kleinen, dunkellockigen Mädchen in einem der Fenster hängen. Es sah dem alten Mann nach, der gerade um die Ecke bog. Vor diesem Kind lag noch alles.

Vor dem tanzenden Kind in ihr lag dagegen nichts mehr, das wichtig war.

Die Straßenbahnlinie 18 führte aus der Stadt hinaus, an immer weniger Häusern und immer mehr Feldern vorbei, auf denen Getreide, Kartoffeln und Blumen angebaut wurden. Der launische April stellte den Regen ab und ließ die Sonne in Eidottergelb untergehen. Im warmen Licht sah alles friedlich und idyllisch aus – und damit ganz anders als in Sofie. Als die Bahngleise eine Kurve vollzogen, tauchte in der Ferne noch einmal die Stadt wie ein Scherenschnitt auf, der sich vom Abendhimmel abhob. In der Mitte davon, wie die dunkle Perle in einer Muschel, lag das Konzerthaus.

Sofie blickte schnell weg und zupfte an ihrem völlig durchnässten Kleid, das kalt an der Haut klebte. Dann presste sie die kleine Handtasche an sich, als wäre diese ein Schutzschild.

Als die Straßenbahn an ihrer Station hielt und sie allein in das Neonlicht der einzigen Laterne hinaustrat, wurde es ihr endgültig bewusst: Sie würde nie wieder tanzen.

In den Glasscheiben der fortfahrenden Bahn sah sie ihr Spiegelbild. Die Augen einen Hauch zu weit auseinander, die Wangenknochen nicht exponiert genug. Sie war keine klassische Schönheit. Nie gewesen. Als Kind war ihr Körper unregelmäßig und wenig elegant gewachsen. Mal wirkte der Hals zu kurz, mal die Arme zu lang, dann schien der Po zu breit und die Nase zu spitz. Aber als Sofie erwachsen war und der Körper fertig nach all dem Recken und Strecken, hatte sie Gliedmaßen, die prädestiniert waren fürs Tanzen. Und im Tanz hatte Sofie sich erstmals schön gefühlt, im Tanz war sie ganz sie selbst und am richtigen Platz gewesen.

Als die Bahn in der dunklen Ferne verschwunden war, lag das Dorf still vor ihr. Es war einer dieser Orte, bei denen niemand wirklich sagen konnte, warum sie sich an dieser Stelle befanden. Es gab keinen Fluss, keinen Hügelkamm, kein fruchtbares Tal. Der Fleck Land sah aus wie alles ringsum. Man hätte das Dorf zehn, ja sogar zwanzig Kilometer in die eine oder andere Himmelsrichtung verschieben können, ohne dass es einen Unterschied gemacht hätte.

In der Umgebung war es als der »Stiefmütterchen-Ort« bekannt, denn von den Gärtnereien hier wurden seit jeher die Blumen für die Friedhöfe der Stadt herangezogen. Es gab drei große Betriebe, die alle auch einen Laden für Schnittblumen unterhielten und sich überhaupt nicht grün waren.

Stolz waren sie im Dorf auf die Gründung in der Römerzeit, von der noch ein winziger Mauerrest geblieben war, der vergittert mit einem Schutzdach an der einzigen Kreuzung mit Ampel stand. Ein pensionierter Oberstudiendirektor versuchte seit Jahren zu belegen, dass die Steinreste zur Villa eines reichen römischen Kaufmanns gehörten – obwohl alles dafürsprach, dass sie Teil eines Kuhstalls gewesen waren.

Sofie kam am Kirchturm vorbei, dem höchsten Bauwerk des Dorfes, wo manchmal Schleiereulen nisteten. Deren hübsches herzförmiges Gesicht mit den kleinen schwarzen Augen malten die Kinder im Kindergarten gern (eine Grundschule gab es nicht, die nächste befand sich im Nachbarort).

Die wenigen Geschäfte, die außer den Blumenläden existierten, lagen alle an der Hauptstraße.

Sofie kam an dunklen Fensterfronten vorbei. Da waren die BäckereiJohannes Pape & Sohn und daneben der kleine Hofladen der Familie Nittels. In der viele Jahre leer stehenden Metzgerei hatte vor Kurzem ein Steakhaus namens Glut & Asche eröffnet. Der Besitzer stand häufig vor der Tür, rauchte und blickte die Straße entlang, als würden dadurch eher Gäste kommen. Die Zweigstelle der Bank und der Friseursalon waren geschlossen worden, in Ersterer standen jetzt nur noch ein Geldautomat und ein Kontoauszugsdrucker, und wer eine neue Frisur wünschte, musste in das Nachbardorf zum Salon Schnittpunkt. Dann war da nur noch Bauer Mattes, ein rotwangiger schwerer Mann, der aussah wie ein riesiges Baby und genauso gerne brüllte. Er hielt am Rand des Dorfes Hühner, Gänse und auch zwei Bienenvölker. Etwas außerhalb lag ein Supermarkt mit großen Neonbuchstaben über der Glasfront und kostenfreien Parkplätzen.

Das einzige Wirtshaus war der Ochsen (mit Bundeskegelbahn), direkt an der Bushaltestelle. Als Sofie daran vorbeiging, öffnete sich die Eingangstür, um einen Angetrunkenen auf die Straße zu spucken. Mit ihm drang scheppernde Musik heraus.

Sie spürte, dass ihre Beine den Rhythmus aufnahmen und ihre Schritte sich dem plumpen Takt anpassten. Fest presste sie die Hände an die Ohren, bis es schmerzte. Dann ging sie schnell daran vorbei, passierte den Friedhof mitsamt kleiner Kapelle und ließ die Hände erst wieder sinken, als sie um die Ecke in die Beller Straße bog, wo sich, von einer Straßenlaterne beschienen, das Haus befand, in dessen zweiter Etage sie wohnte.

Nachdem Sofie die Wohnungstür aufgeschlossen hatte, ging sie, ohne die Schuhe auszuziehen, ins Wohnzimmer, kniete sich vor die Kommode und zog die unterste Schublade heraus. Dort befand sich eine Schachtel mit rosa Schleife. Vorsichtig öffnete sie den Deckel und konnte beim Anblick ihrer ersten Spitzenschuhe nicht fassen, dass ihre Füße einmal klein genug gewesen waren, um dort hineinzupassen. Die Sohlen waren fast durchgetanzt, und an der Spitze des linken Schuhs war noch der verblichene Blutstropfen zu erkennen, von dem Tag als sie es mit dem Spitzentanz übertrieben hatte. Sie nahm die Schuhe heraus und drückte sie an ihre Brust, ganz fest. Warum konnten Dinge, die schön und richtig im Leben waren, nicht für immer bleiben? Warum musste die Welt sich immer weiterdrehen, wenn sie doch schon am richtigen Platz war? Sie hatte ihren Kleinmädchentraum gelebt. Wo aber fanden sich die Träume für große Mädchen? Sofie sank in sich zusammen und ließ die Tränen fließen, so lange sie wollten.

Und das wollten sie sehr, sehr lange.

***

Nachdem Sofie den Saal verlassen hatte, harrte Florian aus. Er saß auf Sitz 35 in Reihe 5 und schaute starr auf die Bühne, als nähme ihn das Geschehen dort völlig gefangen. Nicht nach links und rechts blicken, nicht entschuldigen. Alles war normal. Houston, wir haben kein Problem.

Er überstand auch die Pause, die unfassbar lange Pause, in der er mehrmals erfolglos versuchte, Sofie telefonisch zu erreichen, und dieselbe Frage immer neuen Menschen beantworten musste. Viele kannten ihn, da er seit Jahren im Konzerthaus der Stadt inszenierte.

Es war ein heftiger Migräneanfall. Das war seine Version. Er hatte zuerst daran gedacht, etwas von einem Kreislaufzusammenbruch zu erzählen, aber dann wäre Sofie nicht so schnell gegangen. Übelkeit? Dann hätte sie später zurückkehren können. Ihm war Migräne eingefallen, als ihn der Erste in der Pause fragte, und dann musste er dabei bleiben, obwohl Sofie nie zuvor einen Migräneanfall erlitten hatte.

Sie hatte ihm ja nichts gesagt, sondern war einfach aufgestanden und gegangen. Typisch für Sofie, die immer meinte, dass er wissen müsse, was sie beschäftigte. Dabei fühlte er sich wie ein Angler, der auch nach vielen Jahren nicht wusste, was im Meer passierte. Nur dass er manchmal Glück hatte und ein paar silberglänzende Fische fing. Aber in letzter Zeit hatte er kaum noch Glück, eigentlich gar keines mehr.

Die zweite Hälfte fühlte sich noch schlimmer an. Wegen Sofies Platz neben ihm, der nicht einfach nur leer war, sondern verlassen.

Nach dem letzten Vorhang machte sich Florian pflichtschuldig hinter die Bühne auf, um der Kompanie zu gratulieren und eine weinende Irina in die Arme zu nehmen. Sie schmiegte sich an ihn, ja presste sich fast an ihn, und er strich ihr über das feine Haar.

»Sofie wäre so gerne geblieben«, tröstete er sie. »Sie hatte sich so darauf gefreut, mit euch anzustoßen.«

Schwachsinn.

Florian hatte mit so etwas gerechnet. Sofie war seit dem Ende ihrer aktiven Zeit wie ein Gummiband gewesen, dessen eines Ende noch am Ballett befestigt war, während das andere immer stärker in ein neues Leben zog. Es hatte schon lange geknarzt, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis es riss.

Sofies angebliche Migräne zwang ihn nun, die Festivitäten schnell zu verlassen. Gerne hätte er bis in den Morgen mitgefeiert, denn die Choreografie war innovativ gewesen, die Kompanie – bis auf den Zwischenfall – in großartiger Form, selbst das Orchester hatte einen guten Abend erwischt, was nicht immer der Fall war. Vor allem weil die Bratschen gerne tranken. Das war seine Welt, er war weiterhin ein Teil von ihr. Seine Musik spielte noch.

Da die nächste Straßenbahn erst in einer halben Stunde kommen würde, rief er sich ein Taxi. Der Fahrer redete die ganze Strecke über den Skandal bei der Ballett-Premiere, die beleidigte alte Primaballerina, die heulend den Saal verlassen hatte und auf dem Weg nach draußen etlichen Leuten brutal gegen die Knie gestoßen war. Schlechte Nachrichten reisten schnell. Und anscheinend nahmen sie dabei neues Gepäck auf. Florian riss sich zusammen und sagte erst etwas zu dem ganzen Unsinn, nachdem er bezahlt hatte. Dann aber umso lauter: »Wenn Sie nur ein einziges Mal gesehen hätten, wie wundervoll meine Frau tanzt, würden Sie Ihr beschissenes Maul halten! Sie hatte Migräne! Erzählen Sie das verdammt noch mal Ihren Kollegen und Fahrgästen!« Heftig schlug er die Tür zu.

Dann blickte er zum Haus, in dem sich Sofie hoffentlich befand. Drei Etagen, erst vor wenigen Jahren errichtet. Mit seinen cremeweißen Außenwänden und dem Zinkdach wirkte der kantige Bau zwischen all den untersetzten Häusern so fremd wie ein Ufo, das hier versehentlich gelandet war. Im Erdgeschoss lebte Dr. Stephan Mettler, ein HNO-Arzt aus der Stadt, mit seiner Frau Sabine. Das Paar, beide Mitte fünfzig, hatte sich hier seinen Traum von einem Garten erfüllt, der eine einzige Hommage an Italien war, das sie wegen Sabines Angst vor Reisen niemals hatten besuchen können. In der ersten Etage lebte Marie Denka, die den Kindergarten Die sieben Zwerge leitete. Sie hatte immer ein Lächeln auf den Lippen, selbst wenn sie den Müll runtertrug. Florian fragte sich, was ihr Geheimnis war. Sie musste es Sofie verraten. Am besten jetzt sofort.

Er kannte Marie seit der gemeinsamen Schulzeit, danach hatten sie sich allerdings aus den Augen verloren. Aber als Florian und Sofie vor einem halben Jahr eine neue Wohnung suchten und sich im Freundeskreis umhörten, erfuhr Marie über drei Ecken davon und half ihnen, eine neue Bleibe zu bekommen.

In der Wohnung darüber waren die Rollläden hochgezogen, aber alles lag im Dunkeln. War Sofie gar nicht nach Hause gegangen? War ihr womöglich etwas passiert?

Was war er nur für ein absoluter Vollidiot! Wie hatte er im Konzerthaus bleiben können?

Schnell schloss Florian die Haustür auf und rannte die Stufen nach oben. Atemlos entriegelte er die Wohnungstür, schaltete fast zeitgleich mit dem Eintreten das Licht an und rief ebenfalls im selben Augenblick Sofies Namen.

Dann sah er ihre hochhackigen Schuhe vor der Garderobe.

Aber das war noch nicht alles.

Sämtliche Wände waren leer.

Dort, wo Bilder gehangen hatten, befanden sich nun dünne Linien rechteckiger Schmutzränder, die ihn wie kantige leere Augen anstarrten. Die gerahmten Fotos von Sofie, wie sie sich drehte, wie sie sprang, wie sie ihren Körper zur Musik formte, waren fort. Auch die Aufnahmen von Florians Choreografien, die magischen Szenen, wenn die Körper der Tänzerinnen und Tänzer ein Bild formten, das kein Maler kraftvoller mit dem Pinsel gestalten konnte. Eingefrorene Momente, oftmals in Schwarz-Weiß. Einige Zeichnungen hatte es ebenfalls gegeben, von Florian selbst auf Papier gebannt, da er stets in Bildern dachte, sobald er eine Choreografie entwarf. Man hörte förmlich die Musik, wenn man sie betrachtete. Wer entlang dieser Bilder durch die Wohnung flanierte, straffte den Körper unwillkürlich, setzte die Schritte bedachter, als balancierte er über einen schmalen Steg. Der Gang durch die Räume wurde zu einer Art Tanz.

Jetzt war nirgendwo mehr Tanz.

Florian fand die Bilder im Wohnzimmer, zu Türmen gestapelt, mit Laken zugedeckt. Unter solchen war auch Florians geliebte Plattensammlung verborgen, die er in zwei Jahrzehnten zusammengetragen hatte, sein musikalisches Tagebuch. Ebenfalls das kleine Küchenradio mit der langen ausziehbaren Antenne, der erste Gegenstand, den sie sich damals für die gemeinsame Wohnung gekauft hatten.

Auf dem schwarzen Ledersofa fand er Sofie, zusammengekrümmt wie ein Embryo, noch im glitzernden Abendkleid, nur der Reißverschluss am Rücken war heruntergezogen, der Stoff weit über die Arme gerutscht.

Er holte ein Plumeau aus dem Schlafzimmer, legte es sachte über sie und streichelte ihr beruhigend über die Schulter. Es war eine schwere Zeit für sie. Das Schicksal hatte ihr ein neues Leben zugeteilt, obwohl sie gar nicht danach gefragt hatte. Und es gab keine Möglichkeit, das alte wiederzubekommen. Das Schicksal kannte keine Retouren.

Auf dem Sofa war leider nicht genug Platz, um sich an Sofie zu schmiegen. Dabei brauchte er ihre Nähe nun genauso wie sie seine. Das hoffte er zumindest.

Sofie drehte sich um und wandte ihm den Rücken zu.

Er setzte sich in den Sessel ihr gegenüber.

***

Rund dreihundert Meter entfernt schlief Giacomo Botura und drehte sich auf seiner durchgelegenen Matratze um. Obwohl er der Bäcker des Dorfes war, träumte er nicht von Brötchen und Mehl, von Krumen und Teig. Er träumte vom Land seiner Jugend, von Kalabrien. Wie bei jeder Art von Traum schien es ihm unwirklich, und die Erinnerungen an die Bergzüge und Küstenstreifen wirkten, als wären sie aus Luft gewoben. Häufig träumte er dann von Kalabrien, wenn Familie Nittels vor ihrem kleinen Hofladen duftende Orangen neben der Eingangstür aufbaute, um Kunden hereinzulocken. Die Orangen erinnerten ihn an die Bergamottefrüchte, die er immer zusammen mit seiner Tante Rosarina geerntet hatte.

In dieser Nacht träumte Giacomo, wie er den staubigen steilen Weg vom Dorf zum Obstgarten nahm, der hoch oben über dem Meer thronte. Er musste Wasserflaschen schleppen und einen Korb mit Essen für die Mittagspause. Als er endlich den Schatten der alten Bäume erreichte, glänzte seine Haut vom Schweiß. Er träumte davon, wie er die sauren, leicht bitteren Früchte pflückte, während ein kühler Wind durch den Hain blies und ihm Geschichten vom nahen Ozean erzählte. In seinen Träumen war in Kalabrien immer Sommer, aber nie war es zu heiß, gab es penetrante Stechmücken oder bekam man einen Sonnenbrand. Es hänselte ihn auch niemand, weil er beim Pflücken trödelte. Alle lächelten bei der Arbeit, obwohl sie hart war.

Aus diesen Träumen wachte er gut erholt auf.

So auch heute, wo er nach dem Aufwachen noch für einen kurzen wundervollen Moment den Duft der Bergamotte in der Nase hatte. Als er für die Morgenwäsche in sein kleines Bad ging und die orangefarbene Bergamotteseife bedächtig durch die Finger gleiten ließ, ihre runde Form genießend, kam sie ihm vor wie seine Träume von Kalabrien. Immer frisch, makellos, eine perfekte Illusion.

Am Schluss der Morgentoilette widmete Giacomo sich seinen Haaren. Er strich sie mit einem Kamm so nach hinten, dass sie in Wellen über den Kopf liefen, absolut parallel. Solch eine Frisur hatte er bei seinem Vater immer bewundert. Es hatte leider nicht viel anderes an ihm zu bewundern gegeben. Sie hatten niemals Frieden schließen können.

Beim Gang zur Wohnungstür machte er nur wenig Licht, das Halbdunkel schien ihm für die alten Möbel angemessen, die stets so träge wirkten, als würden sie nur langsam erwachen. Sie waren bereits hier gewesen, als er einzog, und Giacomo war niemand, der gute Möbel wegwarf, weil sie ihm nicht gefielen, oder ein sorgsam gemaltes Bild abhängte, nur weil ein Hirsch darauf vor einem viel zu blauen Alpensee röhrte. Er hatte Respekt vor der Handwerkskunst. Mit der Zeit waren ein paar gerahmte Fotos aus der alten Heimat dazugekommen. Eines seines liebsten Fußballvereins, das in der Zeitung gewesen war, als dieser nach über vierzig Jahren wieder einmal die Meisterschaft gewonnen hatte, und eines, über das er jeden Morgen zärtlich strich und dabei ebenso zärtliche Worte sprach. In die Schrankwand waren ein paar Bücher eingezogen, vom oftmaligen Lesen mit stolzer Patina versehen. Ansonsten war nur ausgewechselt worden, was nicht mehr funktionierte. Der gerissene Lampenschirm in der kleinen Küche, die vergilbten Vorhänge im Wohnzimmer, das gesprungene Waschbecken im Bad. Alles hatte er günstig ersetzt. Giacomo hatte diese Wohnung geflickt, wie man eine alte, löchrige Hose flickt. Mit allem, was man schnell greifen kann. Genauso liebte er es, kein Geld zu verschwenden. Er verdiente ohnehin nicht viel und schickte jeden Monat den Großteil davon nach Kalabrien.

Die Bäckerei lag nur eine Etage tiefer im Erdgeschoss. Aber Giacomo musste außen ums Haus herumgehen, um sie zu betreten, gute zehn Meter. Er mochte diesen kurzen Weg, der Arbeit und Zuhause trennte, obwohl er manchmal durch Regen, Schnee und Sturm laufen musste. Oder: gerade weil er manchmal durch solch ein Wetter musste. Bräuchte er nur durch ein Treppenhaus zu gehen, würde er nicht spüren, was für ein Tag war. Und das musste er wissen, damit sein Brot gut wurde. Denn der Teig wusste immer, welches Wetter gerade herrschte, und verhielt sich entsprechend.

Die zehn Meter bis zur Backstube waren als Kiesweg angelegt mit ein paar Gewächsen wie Süßholz, Silber-Fingerkraut und Peperoncini (sogar dreierlei Sorten) aus seiner Heimat, natürlich war auch ein Olivenbäumchen darunter und ein junges Clementinenbäumchen, für das er extra ein winziges Gewächshäuschen gebaut hatte. Die meisten Pflanzen hatte seine Nonna ihm aus Kalabrien geschickt, damit er diese nicht vergaß (was natürlich niemals passiert wäre). Sie waren wie ein Kuss seiner Nonna auf seine Stirn, ein Streicheln über seine Wange. Als er jetzt an ihnen vorbeiging, war Giacomo ein klein wenig neidisch auf sie. Die Erde, in der ihre Wurzeln steckten, war für sie Heimat. Er dagegen fühlte sich immer noch ein wenig zerrissen zwischen alter und neuer Heimat. Dreiundfünfzig Jahre lebte Giacomo jetzt, mehr als die Hälfte davon hatte er in diesem Land hier verbracht. Es war ihm längst zur Heimat geworden. Keine zweite Heimat, sondern eine weitere.

Lampen gab es auf dem kurzen Weg nicht. Das Licht von Mond und Sternen musste reichen.

Umso massiver erschien ihm die Helligkeit, als er wie immer um vier Uhr früh durch den Nebeneingang in die kleine Backstube trat, den Lichtschalter betätigte, die drei Neonröhren an der Decke flackernd lebendig wurden und er seine Familie sah: die zwei Rührmaschinen, die Mehlsäcke, die große Arbeitsplatte in der Mitte, die Gärkörbe, die Bäckerleinen, den Bräunwisch und natürlich den Holzbackofen mit Schamottsteinen. So etwas konnte heute kaum noch jemand bauen, und es fanden sich ebenso wenig Bäcker, die damit arbeiten wollten. Der alte Ofen machte viel Arbeit und blieb immer ein wenig unberechenbar.

»Na, du alter Drachen«, begrüßte Giacomo ihn und strich über die zwei schmalen Glasfenster, durch die er später seinen Backwaren beim Aufgehen zuschauen konnte. »Bereit für ein schönes Feuer?«

Giacomo wünschte auch den drei kleinen Schwarz-Weiß-Fotos einen Guten Morgen, die gerahmt an der Wand hingen und von denen er mit einem Tuch das Mehl wischte. Dann rieb er sich seine Hände warm, denn Teig mochte keine Kälte. Er wollte liebkost und umsorgt werden.

Giacomo verspürte einen Stich ins Herz, als er an die Arbeitsplatte trat und sie mit Mehl bestreute. Die Kosten für den Betrieb und die Zutaten waren in den letzten Jahren so viel teurer geworden, aber die Kunden wollten nicht mehr bezahlen. Selbst eine kleine Erhöhung des Brötchenpreises hatte zu vielen Beschwerden geführt. Giacomo würde das Bäckerhandwerk nur weiter ausführen können, wenn er mehr produzierte, um auch den Kindergarten oder den Fußballverein beliefern zu können. Die Nachfrage war da. Die kleine Bäckerei musste ein bisschen weniger klein sein, wollte sie stark genug werden, um in dieser Welt zu überleben. Dafür brauchte er eine zusätzliche Kraft in der Backstube. Aber bisher hatten sich nur wenige auf seine Stellenausschreibung gemeldet, und keiner war länger als einen Tag geblieben. Wenn er in sechs Wochen niemanden gefunden hätte, wären auch die letzten Reserven aufgebraucht. Anscheinend wollte heutzutage keiner mehr Bäcker werden. Obwohl es doch der schönste Beruf der Welt war! Welch größeres Glück konnte es geben, als frisch gebackenes, duftendes, goldbraunes Brot aus dem alten Drachen zu ziehen und sich ein noch heißes Stück abzubrechen, um es sofort in den Mund zu stecken?

Giacomo machte sich an die Arbeit. Solange es noch ging, würde er jeden Tag hier genießen. Und dem alten Drachen nichts davon sagen, dass sein Feuer bald für immer erlöschen könnte.

***

Nach einer kurzen Nacht stand Sofie vor dem Badezimmerspiegel und betrachtete die Frau darin, als wäre sie eine Fremde.

Das teure glitzernde Abendkleid lag zu ihren Füßen wie die Hinterlassenschaft einer Schlange, die sich gehäutet hatte. Auch ihre Unterwäsche fand sich dort. Sie war völlig unbekleidet.

Dies war nicht mehr ihr Körper.

Ihrer war wie eine gespannte Sehne gewesen, jederzeit zum Schuss bereit. Dieser Körper hier wollte seit Wochen nur auf der Couch liegen. Fernsehen schauen, egal was.

Nach dem Aufstehen hatte sie Florian gesucht, aber er war nicht in der Wohnung gewesen. Nun trat er von hinten an sie heran. Seine Hände fuhren an ihren Hüften entlang und legten sich auf ihren Bauch, wie sie es schon Hunderte Male getan hatten. Eine Wange schmiegte sich an ihr Ohr, und er gab ihr einen zärtlichen Kuss auf den Hals, kaum mehr als ein Wimpernschlag, der sie oft hatte angenehm erschaudern lassen.

Sie liebte dieses Ritual. Eigentlich. Und sie wusste, dass Florian sie auf diese Weise berührte, weil sie es so mochte. Natürlich auch, weil er Lust hatte, ganz selbstlos war es nicht. Aber das war immer in Ordnung gewesen. Sie genoss, dass er Lust auf sie hatte.

Aber egal, wo Florian sie jetzt berührte, es war die falsche Stelle. Ihr ganzer Körper war eine falsche Stelle, an der sich Falsches befand. Sie versuchte, die neuen Polster zu vergessen, aber jede seiner Berührungen wies sie darauf hin.

»Guten Morgen, Sonnenschein«, flüsterte er und gab ihr noch einen Kuss auf den Hals, jetzt schon mit unverhohlenem Verlangen.

Dies war nicht ihr Körper.

Und wenn Florian diesen hier begehrte, dann stimmte etwas nicht mit ihm. Dann liebte er sie nicht, sondern diese andere, diese Fremde.

»Lass das«, sagte sie barsch.

»Entspann dich. Lass uns den blöden Abend einfach vergessen.«

Sie sah seine tiefbraunen Augen im Spiegel, die ihr früher immer das Gefühl gegeben hatten, sicher und geborgen zu sein. Sofie drehte sich um und schob ihn fort.

Ende der Leseprobe