Der gesetzlose Richter - Max Seeck - E-Book

Der gesetzlose Richter E-Book

Max Seeck

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Beschreibung

»Ein abgründiges und atmosphärisches Debüt.« Radio Helsinki

Viele Jahre ist es her, seit Daniel Kuisma als Soldat im ehemaligen Jugoslawien diente und tief traumatisiert in seine finnische Heimat zurückkehrte. Nun führt ihn das Verschwinden eines Landmanns zurück nach Kroatien. Doch was zuerst wie die Entführung eines finnischen Botschafters aussieht, entpuppt sich als persönlicher Racheakt an Kuisma. Denn dieser war einst Mitglied einer geheimen Eliteeinheit, die Kriegsverbrecher aufspürte und den Behörden auslieferte. Nun hat jemand den Spieß umgedreht und macht aus dem Jäger Kuisma den Gejagten. Doch damit Daniel Kuisma den Drahtzieher finden kann, muss er in seine dunkle Vergangenheit eintauchen …

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Seitenzahl: 542

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Buch

Ein Mitarbeiter der finnischen Botschaft in Zagreb ist verschwunden. Agent Daniel Kuisma soll den Fall aufklären – dieser diente in den 90er Jahren in der geheimen Eliteeinheit Die Engel des Hammurabi, welche serbische Kriegsverbrecher aufspürte. Während seiner Ermittlungen gerät Kuisma selbst in Lebensgefahr, denn alle Mitglieder jener Elitetruppe von einst sollen umgebracht werden. Wer ist der Drahtzieher hinter diesem tödlichen Befehl? Kuisma wird klar, dass er im Zentrum eines Rachefeldzugs steht, bei dem mehr als ein Richter für Gerechtigkeit zu sorgen glaubt …

Autor

Max Seeck ist Finne mit deutschen Wurzeln. Während eines Urlaubs in Kroatien und Bosnien begann er, an seinem Thriller »Der gesetzlose Richter« zu arbeiten – die Tatsache, dass erst vor zwei Jahrzehnten ein blutiger Krieg mitten in Europa stattfand, der bis heute unzählige Menschenleben beeinflusst, ließ ihn nicht mehr los. Er liebt Jo Nesbø und Stieg Larsson, ließ sich für seinen Thriller aber auch von Lars Kepler, Jens Lapidus, Dan Brown und Michael Crichton inspirieren.

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Max Seeck

Der gesetzlose Richter

Thriller

Deutsch von Peter Uhlmann

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Hammurabin Enkelit« bei Tammi Publishers, Helsinki.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte dieses E-Book Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung dieses E-Books verweisen.1. Auflage

Copyright der Originalausgabe © Max Seeck & Tammi Publishers 2016

German edition published by agreement with Max Seeck and Elina Ahlbäck Literary Agency, Helsinki, Finland

Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Blanvalet in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Joern Rauser

Umschlaggestaltung: www.buerosued.de

Umschlagmotiv: Arcangel Images/Mohamad Itani

BL · Herstellung: sam

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, MünchenISBN 978-3-641-21302-2V001www.blanvalet.de

Prolog

Er stieß die Beretta tief in den Mund des Mannes und spürte, wie ihn ein Schauder durchfuhr, als der Pistolenlauf über die scharfen Kanten der abgebrochenen Zähne kratzte, der wenigen, die noch im Kiefer steckten. Überall war Blut. Diese Methode zur Beschaffung von Informationen mochte hart sein, aber sie brauchten unbedingt eine Bestätigung, wo sich ihre Zielperson aufhielt. Warum wollte der Kerl auch nicht reden? Er hatte es verdient, zusammengeschlagen zu werden. Und er hatte es wirklich verdient zu sterben. Doch jetzt noch nicht. Erst musste er reden. Die durften nicht glimpflich davonkommen.

Er fühlte, dass sich die Waffe in seiner Hand bewegte, der Mann versuchte Wörter zu formen. War der Kerl endlich zur Vernunft gekommen? Rasch zog er ihm die Pistole aus dem Mund und wischte den blutigen Brei ab, der den Lauf bedeckte. Der Gefangene hustete Blut, spuckte aus und sagte etwas in einem ausgeprägten Dialekt. Deshalb war er sich nicht sicher, was der Mann meinte. Er hatte ihn schon nicht verstanden, bevor sie minutenlang auf ihn eingeschlagen und ihm den Kiefer gebrochen hatten.

Der Leutnant kauerte sich neben den Gefangenen und hielt ein Ohr an seinen Mund. Er konnte seine Worte deuten und klopfte ihm auf die Schulter, dann sah er dem Soldaten, der neben ihm stand, in die Augen und nickte. Sie hatten Erfolg gehabt. Der Leutnant richtete sich auf, zog seine Dienstwaffe aus dem Gürtel und drückte dem Mann die Mündung an die Stirn.

Er öffnete die Augen und sah kein Blut an der Wand. Obwohl der Leutnant eben den Abzug gedrückt hatte und der ganze Schädelinhalt des Gefangenen an die weiße Tapete gespritzt war.

Der Raum wirkte jetzt leer und still. Er rutschte vorsichtig zur Bettkante, setzte sich auf und presste die Finger in das schweißnasse Laken. Der Leutnant hatte das Zimmer ganz offensichtlich verlassen. Die anderen warteten höchstwahrscheinlich immer noch draußen. Nicht alle fanden richtig, was sie getan und wie sie sich die Informationen beschafft hatten. Der Zweck heiligte nicht immer die Mittel. Sagten sie. Und sie hatten recht.

Er saß eine Weile auf dem Bett und betrachtete seine Zehen, dann erhob er sich mühsam und spürte den leider schon allzu vertrauten Schwindel. Draußen war es hell, und irgendwo weit entfernt heulte die Sirene eines Rettungsfahrzeugs. Langsam ging er quer durch den kleinen Raum und bemühte sich, das Gleichgewicht zu halten. Am Fenster öffnete er die weiße Jalousie einen Spalt und schaute nachdenklich auf einen von Bäumen gesäumten Parkplatz hinaus. Er war sich nicht sicher, was für einen Anblick er erwartet hatte.

In regelmäßigen Abständen schien er zu vergessen, dass er sich an diesem Ort befand. Von den serotonergen Medikamenten, den Antipsychotika und den Betablockern fühlte er sich benommen. Träge. Er selbst war keineswegs überzeugt, dass er sie wirklich brauchte. Einnehmen musste er sie trotzdem. Obwohl er ja nicht mal depressiv war. Und auch nicht verrückt. Aber er fühlte sich hilflos ausgeliefert. Er war all dem ausgeliefert, was ohne Unterbrechung auf seiner Netzhaut ablief. All dem, was vor ihm erschien, sobald er die Augen schloss. All diesen Erinnerungen, die ihn nicht losließen. Diesen Erinnerungen, die einfach auftauchten und eine urtümliche Rachgier mit sich brachten.

Er stützte den Kopf in die Hände, ihm war übel. Der Leutnant würde nicht mehr in das Zimmer zurückkehren, das er schon lange verlassen hatte – vor vielen Jahren. Das wurde ihm jetzt klar. Und doch würde er gleich Besuch bekommen. Aber willkommenen.

Er legte sich wieder hin und spürte, wie das schweißdurchtränkte Laken an seinem nackten Rücken klebte. Er könnte jetzt die Augen schließen, nur für einen Moment. Bis sein Besuch eintraf. Dann würden sie über etwas ganz anderes reden. Über etwas Angenehmes. Alles war schon besser geworden. Im Augenblick gab es nichts, weswegen man sich Sorgen machen müsste. Und es wusste ja auch sonst niemand, dass er hier war. Zu Hause würde ihn niemand für bemitleidenswert oder schwach halten. Hier konnte er sich in aller Ruhe erholen. Wieder zu sich kommen. Und in einem besseren Zustand heimkehren.

Er atmete ruhig und spürte, dass er schnell wieder in die andere Welt versank. Er fühlte, wie er schwebte, hin zu einem besseren Ort, wo er die Lage unter Kontrolle hatte. Und sich selbst. Alles. Dann hörte er von Neuem dieses grauenhafte Geräusch. Ein Schaben und Kratzen unter ihm. Die Kinder waren immer noch dort. Unter den Dielen. Diese unbarmherzigen Schweine hatten die Kleinen im Keller eingesperrt. Bei klirrendem Frost. Dem Hungertod ausgesetzt. Und zur gleichen Zeit hatten sie ihre Mütter vergewaltigt und ihre Väter umgebracht. Die Zeit war gekommen, ihnen das heimzuzahlen. Aug um Aug.

Er nahm die Beretta wieder in die Hand und entsicherte die Waffe.

TEIL I

1

Dubrovnik, Kroatien

Antonio Franzo schüttelte die Herald Sun und kniff die Augen zusammen. Das grelle Sonnenlicht machte es fast unmöglich, die Zeitung zu lesen. Ungeduldig tastete er auf dem Tisch nach seiner Sonnenbrille und setzte sie auf.

»Einen Hendrick’s Tonic«, sagte er, ohne zu dem Kellner aufzublicken, der neben ihm stehen geblieben war und nun rasch wieder in Richtung Tresen verschwand. Antonio leckte seine in der Sonne getrocknete Fingerspitze neu an, so ließ sich die Zeitung leichter umblättern. Schließlich gelang es ihm, den Fingernagel an der rechten oberen Ecke zwischen zwei Seiten zu schieben und den Sportteil aufzuschlagen. Auf einer ganzen Doppelseite wurde ausführlich über den fast vollständigen Spieltag der Serie A berichtet. Ob sich da etwas Interessantes fand?

Plötzlich fuhr er zusammen. Ein Pfiff! Wer zum Teufel war das? Das schrille Geräusch am anderen Ende des Poolbereichs führte dazu, dass Antonio nervös die Zeitung sinken ließ. Er setzte die Sonnenbrille ab und sah zu, wie ein übergewichtiges Ehepaar auf Liegestühlen sein Kind lautstark zu sich beorderte. Antonios Herz hämmerte wie wild – als wolle es ihm aus der Brust springen. Er sah sich um. Verdammt. Schon bei der kleinsten Irritation geriet er in Aufregung.

Antonio seufzte tief, griff zur Sonnenbrille und wandte sich wieder dem Fußballteil der Zeitung zu. Er kannte sich gut genug aus, um beim Geschehen auf dem Spielfeld interessante Beobachtungen anstellen zu können. Eigentlich wurden die geschossenen Tore seiner Ansicht nach total überbewertet. Er selbst achtete mehr auf die Leistungen, die ihnen vorausgingen. Jene Abfolge kontrollierter Aktionen in den Sekunden vor den Treffern, die nur Zuschauer mit geschärftem Blick erkennen konnten. Bloß simple Gemüter richteten ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Tore. Wie Schafe in einer Herde verfolgten sie bestimmte Phänomene, weil die bedeutungsvoll aussahen oder sich so anhörten oder weil sie unterhaltsam waren. Oder weil diese Leute es wegen ihres sozialen Status für wünschenswert hielten, sie in ihren Alltag einzubeziehen. Idioten. Die wahre Schönheit und Genialität fand sich fast ausnahmslos unter der Wasseroberfläche – da, wo der größte Teil des Eisbergs verborgen war.

Er warf einen Blick auf seine Uhr. Nicht wegen der Zeit – er wusste, dass es etwa fünf Uhr nachmittags war –, sondern um seine neue IWC Portofino zu bewundern, die er sich ein paar Stunden zuvor nach langem Abwägen in einem Uhrenladen der Altstadt gekauft hatte. Die Kombination von weißem Zifferblatt, Stahlgehäuse und schwarzem Armband aus Krokodilleder wirkte ganz einfach elegant. Als Uhr für den täglichen Gebrauch war sie zwar recht teuer, aber nicht zu auffällig. Sie passte ausgezeichnet zu seinem mediterranen Kleidungsstil. Er trug ein weißes Baumwollhemd und dazu beigefarbene eng anliegende Hosen und dunkelbraune Bootsschuhe. Nicht etwa die teuersten Marken. Hauptsache war, dass die Sachen gut und hochwertig aussahen.

Der groß gewachsene, sehnige Kellner tauchte mit seinem vollen Tablett neben ihm auf. Er stellte ein hohes Glas auf den Tisch, das allzu viel Eis und vermutlich viel zu wenig Gin enthielt. Zwischen den Eiswürfeln konnte man eine Gurkenscheibe erkennen, die zu dünn war und kaum ausreichen würde, um dem Hendrick’s seine köstliche und charakteristische Geschmacksnote zu verleihen. Mit einer leichten Bewegung aus dem Handgelenk goss der Kellner ein wenig Tonic in das Glas und stellte die fast volle Flasche daneben. Antonio schaute von der Zeitung auf und nickte zustimmend.

Er faltete die Herald Sun zusammen und legte sie hin, um sich eine Weile ganz seinem Drink zu widmen. Dabei ließ er den Blick über den Barbereich mit seinen weißen Terrassenmöbeln wandern. Es war ein schöner Nachmittag – er könnte sich noch mehr Erfrischungen gönnen, während er auf Geoffs Anruf wartete. Bis zum Abend würde kaum etwas Wichtiges passieren. Diese Warterei, die eine Ewigkeit zu dauern schien, machte ihn gereizt und paranoid. Die Zeit kroch verdammt langsam dahin, und das würde wahrscheinlich noch so weitergehen. Er hatte in dem Hotel schon drei quälend lange Tage verbracht, und ein Ende war nicht abzusehen. Seit Jahren schon hatte Geoff nicht mehr von ihm verlangt abzuwarten. Und nie zuvor hatte er die Details der Aufgabe geheim gehalten. Zumindest nicht so lange. Dieser Auftrag war eindeutig anders als alle vorherigen.

Antonio kostete seinen Drink und schloss die Augen. Andererseits, wenn Geoff wollte, dass er geduldig wartete, dann war ein Fünfsternehotel mit allem Luxus der geeignete Ort dafür. Es hätte auch schlimmer kommen können.

Aus den Lautsprechern auf der sonnigen Terrasse am Pool erklang in genau der richtigen Lautstärke Aretha Franklins I say a little prayer, allerdings in einer Coverversion. Er mochte es, obwohl er natürlich lieber das Original gehört hätte. Antonio schüttelte das Glas, damit sich die Eisstückchen gleichmäßig verteilten, und schenkte Tonic nach. Dann hob er es vorsichtig an den Mund und stellte überrascht fest, dass der Drink gut und erfrischend schmeckte. An einem so warmen Tag konnte eine größere Menge Eiswürfel eben doch angebracht sein. Das Stück Gurke war aber auf jeden Fall zu klein – in dem Punkt würde er keine Zugeständnisse machen.

Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als das Samsung auf dem Tisch plötzlich vibrierte. Etwas von dem Drink schwappte auf sein Handgelenk, als er sofort nach dem Smartphone griff. Der Adrenalinstoß verebbte jedoch schnell wieder, und übrig blieb Enttäuschung. Es war nicht Geoff, sondern das russische Mädchen, mit dem er sich im Juni ein paarmal getroffen hatte. Eine bildschöne Brünette mit der Figur einer Barbiepuppe und schon fast unästhetischen Silikonbrüsten. Doch außerhalb des Schlafzimmers gab es zwischen ihnen keinerlei Berührungspunkte. Er hatte der Tussi gesagt, dass sie ihn nicht anrufen sollte. Vielleicht hätte er etwas deutlicher werden müssen.

Antonio drückte den Anruf weg und trank sein Glas in einem Zug aus. Verdammt noch mal, wann meldete sich Geoff denn endlich? Das wäre der einzige Anruf gewesen, der ihn beruhigt hätte.

2

Helsinki

Heftiger Regen und Wind peitschten das Meer im Jachthafen von Katajanokka. Die Boote, die sich noch vor ein paar Tagen bei schönstem Wetter auf den sanften Wellen gewiegt hatten, schwankten nun laut knarrend wie alte Schaukelstühle. Der ungewöhnlich warme Frühherbst hatte die Menschen in Helsinki zunächst verwöhnt, dann aber so schnell ein ganz anderes Gesicht gezeigt, dass sogar die zuversichtlichsten Sommerfreunde aufgeben mussten, als sich das ideale Spazierwetter in einen stürmischen Dauerregen verwandelte.

Ein Mann in einem langen Regenumhang lief mit großen Schritten die Laivastokatu entlang und wich den riesigen Pfützen aus, deren Oberflächen sich im Wind kräuselten. Vor ihm lag die pompöse Merikasarmi, die der dichte Regen graugelb färbte. Vor allem aus der Nähe betrachtet sah sie wie ein gewaltiger Palast aus, der mit seiner Größe und seinem Stil den Gesamteindruck des ganzen Gebäudekomplexes bestimmte. Seines Wissens war sie irgendwann im 19. Jahrhundert von Carl Ludwig Engel für das russische Militär entworfen worden und diente seit ein paar Jahrzehnten als Domizil des Außenministeriums. Eilig ging er auf den Eingang zu und fragte sich, wie es ihm in seiner langen Laufbahn als Polizeioffizier eigentlich hatte gelingen können, einen Besuch in den Räumen des Ministeriums zu vermeiden.

Gerade als er glaubte, den Marsch hierher halbwegs trockenen Fußes überstanden zu haben, trat er in eine Pfütze gleich neben einem überlaufenden Gully, nur ein paar Schritte vom Eingang zur Politischen Abteilung des Außenministeriums entfernt.

»Verdammt!«, fluchte er, schnaufte und hastete durch die Tür, die eine junge Frau Sekunden zuvor für ihn geöffnet hatte. Drinnen blieb er stehen und musterte sie fasziniert. Langes blondes Haar, eine Brille mit dunkler Fassung, ein elegantes, eng anliegendes weißes Kostüm und schwarze Schuhe mit hohen Absätzen. Bei diesem Wetter könnte sie allerdings Schwierigkeiten bekommen, den Heimweg zu bewältigen, ohne ihre blendende Ausstrahlung zu verlieren.

»Schön, dass Sie so kurzfristig kommen konnten. Sind Sie sehr nass geworden?«, fragte die Frau mit einem freundlichen Lächeln und half ihm, den nassen Umhang auszuziehen. Er wusste, dass er wie ein begossener Pudel aussah, und begriff, dass es besser war, auf die rhetorische Frage nicht zu antworten.

»Offenbar muss man Galoschen auch im Sommer griffbereit haben«, sagte er und lachte etwas steif: »Ist er schon da?«

»Er erwartet Sie. Ich bin Annika Lehto, administrative Assistentin im Ministerium.« Sie hielt ihm ihre zierliche Hand hin. Hämäläinen schaute verlegen auf seine nassen Finger, wischte sie schnell am Hosenbein ab und reichte ihr die Hand.

»Mein Name ist Raimo Hämäläinen, ich bin …«

»Stellvertretender Polizeichef der Helsinkier Polizei. Der Staatssekretär erwartet Sie«, vervollständigte Annika Lehto den Satz und zeigte auf das Treppenhaus. »Folgen Sie mir bitte.«

Ohne die Unterhaltung auch nur mit einem Wort fortzusetzen, stiegen sie die Treppe in die erste Etage hinauf und liefen nebeneinander zum Büro des Staatssekretärs. Bei der Ausstattung des schmucklosen Flurs hatte man keinen Wert darauf gelegt, seine Akustik zu verbessern, und so drang das laute Klappern von Annika Lehtos Absätzen bestimmt durch alle Bürotüren in dem langen Korridor. Als sie an einem Ledersofa und einem Wasserautomaten vorbeigingen, schaute der Vizepolizeichef verstohlen zu seiner Begleiterin hinüber. Eine wirklich schöne Frau. Sexy und selbstbewusst. Kaum älter als fünfundzwanzig. Er senkte den Blick wieder auf seine Füße und fluchte im Stillen, weil ihm keine geistvolle Bemerkung einfiel. Erst als die Frau zum Zeichen dafür, dass die Tür des Staatssekretärs erreicht war, ihre Schritte verlangsamte, öffnete Hämäläinen den Mund.

»Arbeiten Sie schon lange hier?«, fragte er und hustete.

Annika Lehto hatte bereits die Klingel neben der Tür gedrückt, und das Rauschen der Gegensprechanlage kündigte eine schnelle Antwort an.

»Herein!«, rief entschlossen eine Stimme aus dem kleinen weißen Lautsprecher. Die Frau zuckte die Achseln und lächelte dem Gast zu, als bedauere sie das vorzeitige Ende ihrer Unterhaltung. Dann öffnete sie die Tür zum Arbeitszimmer des Staatssekretärs und bedeutete dem Vizepolizeichef, näher zu treten.

Hämäläinen ging, vom kalten Regen immer noch etwas steif, über die Schwelle. Mit schnellen Schritten näherte sich ihnen ein Mann, der jugendlich wirkte, aber ohne Zweifel schon Mitte vierzig war. Hämäläinen erkannte den Staatssekretär Ville Mäkelä, obwohl er ihm bisher nicht persönlich begegnet war.

»Raimo, danke, dass du so schnell gekommen bist.« Mäkelä, der einen maßgeschneiderten Anzug und eine schmale Seidenkrawatte trug, gab ihm die Hand und zeigte sein schneeweißes Lächeln.

»Ich bin natürlich so schnell ich nur konnte gekommen«, erwiderte Hämäläinen und sah noch kurz zu Annika hinüber, die gerade die Tür von außen schloss.

»Setz dich doch. Annika besorgt uns gleich Kaffee.« Mäkelä führte seinen Gast in eine Ecke des Zimmers zu einer Sitzgruppe, die aus vier Sesseln und einem kleinen Glastisch bestand.

»Nettes Mädchen.«

»Annika ist absolut brillant.« Routiniert deutete Mäkelä ein breites Hollywoodlächeln an.

Hämäläinen setzte sich in einen schwarzen Ledersessel und bemerkte, dass im Büro des Staatssekretärs kaum ein Quadratmeter verschenkt worden war. Mit seiner effizienten Raumnutzung hätte es sicher auch unter den prüfenden Blicken eines kritischen Steuerzahlers bestanden. Die Sessel hatte man so dicht an das Wandregal gestellt, dass er im Nacken die harten Buchrücken der dicken Wälzer spürte, wenn er sich zurücklehnte. Am anderen Ende des Regals sah es so aus, als würden sich ein Globus und eine große Grünpflanze einen erbitterten Kampf um ihren Lebensraum auf einem viel zu kleinen Podest liefern. Vor den Fenstern stand ein massiver Schreibtisch, durch den der Raum trotz seiner geringen Größe genau die richtige Dosis vom Glamour der Politik bekam, wie man ihn aus amerikanischen TV-Serien kannte. Alles in allem wirkte das Büro dank der hochwertigen Möbel und der Gemälde in breiten Rahmen äußerst beeindruckend. Und sogar gemütlich.

Energischen Schritts ging Staatssekretär Mäkelä an seinen Schreibtisch zurück, setzte sich mit geschmeidigen Bewegungen auf den schwarzen Bürostuhl und öffnete eine Schublade, die, nach dem rumpelnden und schleifenden Geräusch zu urteilen, schlecht geschmiert war. Er holte einige Eckspannmappen heraus und legte sie nebeneinander auf den Schreibtisch. Eine schob er beiseite und die anderen beförderte er wieder ins Schubfach. Er kehrte zu Hämäläinen zurück, setzte sich in den Sessel gegenüber und legte die aufgeschlagene Mappe auf den Tisch. Sie enthielt einen Stoß Unterlagen und obenauf das Foto eines lächelnden, ziemlich jungen blonden Mannes. Hämäläinen erkannte die Person auf dem Bild sofort.

3

»Wie viel weißt du über den Mann auf dem Foto?«, fragte Staatssekretär Mäkelä in einem Tonfall, der eher zu einem informellen Plausch passte als zu einer todernsten dienstlichen Angelegenheit.

Hämäläinen hustete in die vorgehaltene Faust und betrachtete das Foto. Die den finnischen Medien und der breiten Öffentlichkeit bislang völlig unbekannte Person sorgte nun schon den zweiten Tag in den Zeitungen für Schlagzeilen: Der Mann war in Kroatien spurlos verschwunden. Hämäläinen wusste darüber nicht mehr als jeder andere Bürger auch, der die Nachrichten verfolgte, denn er hatte dienstlich bisher nichts mit dieser Geschichte zu tun. Wie sollte er auch, die Sache war ja weit entfernt auf dem Balkan passiert.

»Jare Westerlund, Abteilungssekretär und Konsul der finnischen Botschaft in Zagreb, Kroatien. War im Laufe der vergangenen zwei Jahre in der Botschaft auf zwei verschiedenen Posten tätig. Wurde vor knapp einer Woche als vermisst gemeldet, da er nach seinem Urlaub nicht zur Arbeit zurückgekehrt war. Und offensichtlich hatte man ihn vorher mehrmals bedroht«, antwortete Hämäläinen in ironischem Ton und leierte die Sätze so herunter, dass sie sich fast wie auswendig gelernt anhörten.

Mäkelä wirkte überrascht.

»Ich bin beeindruckt, Raimo. Sehr. Allerdings habe ich schon vermutet, dass du über den Fall im Bilde bist. Du verstehst also, dass es sich für das Außenministerium hierbei wirklich um ein heißes Eisen handelt«, seufzte Staatssekretär Mäkelä und faltete die Hände in Brusthöhe. Er biss sich kurz auf die Lippen und fuhr dann fort: »Wir haben Mist gebaut, Raimo. Das Ministerium hat Mist gebaut. Die Presse hat uns gekreuzigt und behauptet, wir wären nicht imstande, uns um unsere Leute im Ausland richtig zu kümmern. Wir hätten Westerlund versetzen müssen. Zumindest so lange, bis geklärt war, von wem die Drohungen ausgingen. Das ist die einhellige Meinung der Presse und einiger Scheinheiliger, die meiner Ansicht nach allerdings zur Besserwisserei neigen. Hinterher ist man nämlich immer klüger«, sagte Mäkelä und schwieg einen Augenblick, behielt aber den intensiven Blickkontakt zum Vizepolizeichef bei.

Hämäläinen erwiderte nichts. In seiner Laufbahn hatte er ähnliche Fälle erlebt. Dabei waren Drohungen beispielsweise gegen Chefs von Großunternehmen nicht ernst genommen worden, weil man sie nie wahr gemacht hatte. Die Sicherheitspolizei vertrat generell den Standpunkt, dass bestimmte Kreise, die ernsthaft einen Mord oder eine Sabotage planten, die Opfer kaum vorher warnten und damit verschärfte Sicherheitsmaßnahmen heraufbeschworen. Wollte man jemanden umbringen, brachte man ihn einfach um.

Die Einschüchterung hingegen diente einem anderen Zweck: Die Zielperson sollte nach einem bestimmten Verhaltensmuster agieren. Oft handelte es sich darum, dass der Bedrohte entweder bei irgendeiner Sache beide Augen zudrücken und untätig bleiben oder schlichtweg den Mund halten sollte. Im Fall Westerlund hatten die Massenmedien den Inhalt der Drohungen nicht aufgedeckt, somit besaß Hämäläinen keine Anhaltspunkte, wie ernst das von ihnen ausgehende Sicherheitsrisiko tatsächlich war. Und außerdem, auch wenn wahrscheinlich eine Verbindung zwischen den Drohungen und dem Verschwinden bestand, so gab es doch noch keine konkreten Beweise dafür.

Gerade als Hämäläinen, um das Schweigen zu brechen, eine nichtssagende diplomatische Antwort geben wollte, ging die Tür auf, und herein trat mit klappernden Absätzen und klirrenden Tassen Annika Lehto. Sie stellte ein gelbes Holztablett auf den Tisch, das Hämäläinen an die Essensausgabe in der Kantine der Polizeischule erinnerte. Annika lächelte und verließ mit selbstsicheren Schritten den Raum, während sich beide Männer leise murmelnd bedankten. Hämäläinen sah der Frau verstohlen hinterher und konnte auf seiner Netzhaut noch das Bild des eng anliegenden Rockes über dem festen Hintern speichern. Dann sah er zu Mäkelä hin und überlegte, ob der wenigstens hin und wieder unbeabsichtigt die verlockende Ausstrahlung seiner Mitarbeiterin wahrnahm. So auf den ersten Blick hatte man den Eindruck, dass der Staatssekretär zu jovial und zu sehr auf die Arbeit orientiert war, als dass er irgendeine sexuelle Spannung zwischen sich und seiner Angestellten aufkommen ließe.

»Du verstehst sicher, dass wir im Ministerium jetzt die Schäden minimieren müssen«, sagte Mäkelä und goss Kaffee ein. Hämäläinen nahm die dampfende Tasse in Empfang, nickte leicht und wartete darauf, dass der Staatssekretär seinen Satz fortsetzte.

»Wir müssen Westerlund unbedingt finden. Sofern es sich um ein Gewaltverbrechen handelt, muss man es aufklären und die Schuldigen zur Verantwortung ziehen.« Nun sah Mäkelä den Vizepolizeichef abwartend an.

»Hat die kroatische Polizei etwas herausgefunden?«, fragte Hämäläinen, obwohl er ahnte, dass er genau deshalb hier saß, weil die Ermittlungen der kroatischen Kollegen ergebnislos geblieben waren.

»Nichts Konkretes. Wir haben mit allen Mitteln Druck auf Zagreb ausgeübt, der Außenminister steht persönlich in Kontakt mit Kroatien und hat verlangt, dass die erforderlichen Ressourcen für die Ermittlungen freigegeben werden. Den dortigen Entscheidungsträgern wurde klargemacht, dass die Drohungen gegen den Mitarbeiter der finnischen Botschaft und sein Verschwinden vor einer Woche den diplomatischen Beziehungen zwischen beiden Ländern dauerhaft Schaden zufügen können.« Mäkelä beugte den Kopf von einer Seite zur anderen, als wolle er seine plötzlich verspannte Nackenmuskulatur dehnen, dann fuhr er entschlossen in leidenschaftlichem Ton fort:

»Kroatien ist vor zwei Wochen das 28. Mitgliedsland der Europäischen Union geworden. Der Beitrittsprozess hat zehn Jahre gedauert. Jetzt glauben sie, das Verschwinden eines finnischen Staatsbürgers – selbst wenn es ein Botschaftsangehöriger ist – könne ihre Position nicht mehr erschüttern. Wäre das vor ein paar Jahren passiert, als sich das Aufnahmeverfahren noch in einer sensiblen Phase befand, hätten dort tausend Polizisten und Freiwillige mit Hunden nach Westerlund gesucht. Vor allem, wenn wir für eine europaweite Medienpräsenz des Falles gesorgt hätten.«

Hämäläinen stellte seine Tasse auf den Tisch und fragte sich, warum der Staatssekretär in solche ganz überflüssigen Spekulationen verfiel. Er hatte Mäkeläs schlecht getarnte Verzweiflung bemerkt, und das verlieh ihm für den Augenblick Selbstvertrauen. Für ihn stand hier nichts auf dem Spiel, aber nach allem zu urteilen brauchte das Ministerium seine Hilfe – aus diesem Grund hatte man ihn ja so eilig herbestellt.

»Es tut mir leid, wenn ich neugierig bin, Herr Staatssekretär …«

»Du kannst ruhig Ville sagen«, unterbrach ihn Mäkelä.

Hämäläinen antwortete auf das angebotene Du mit einem verlegenen Lächeln und fuhr fort: »Ich bin neugierig zu erfahren, wie die Helsinkier Polizeibehörde dem Ministerium in dieser Angelegenheit helfen kann?«

»Na ja, dazu wollte ich grade kommen«, entgegnete Mäkelä und erhob sich unruhig. Er ging hinter seinen Schreibtisch zurück und setzte sich. »Das Ministerium hat beschlossen, Ermittler nach Zagreb zu schicken mit dem Auftrag, Westerlunds Schicksal aufzuklären«, sagte er mit ernster Miene und rieb sich den Nacken.

Hämäläinen runzelte die Brauen.

»Ermittler? Ist mit den kroatischen Behörden eine Zusammenarbeit vereinbart worden?«

»Ja. Aber unsere Leute werden auf kroatischem Boden offiziell keine polizeilichen Befugnisse haben. Die Arbeit der Ermittler wird vorläufig möglichst geheim gehalten, darüber wurde in Zagreb nur mit dem Botschafter, dem kroatischen Honorarkonsul der Botschaft sowie dem Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen der Zagreber Polizei vertraulich gesprochen.«

Mäkelä schwieg und ließ Hämäläinen damit Zeit, das Gehörte zu verarbeiten. Der stand auf und knöpfte seine Jacke zu. Dann machte er ein paar Schritte hin zum Schreibtisch des Staatssekretärs und öffnete zögernd den Mund: »Die Presse fordert vom Ministerium, dass Maßnahmen ergriffen werden, und ihr plant nun, eine Truppe von Ermittlern vor Ort zu schicken, über deren Vorgehen, ja, über deren Existenz ihr die Medien noch nicht einmal informieren könnt?«

Auf dem Gesicht des Staatssekretärs breitete sich ein verstehendes Lächeln aus, aber er unterbrach seinen Gast nicht. Hämäläinen kniff irritiert die Augen zusammen und fuhr fort: »Diese Maßnahme verringert doch kaum den Druck auf euch, in der Angelegenheit etwas zu unternehmen.«

»Das ist ganz richtig«, erwiderte Mäkelä und strich mit dem Finger über die Rahmen der Fotos, die auf dem Tisch standen. »Man wird uns die Hölle heißmachen, aber nur so lange, bis Westerlunds Schicksal geklärt ist. Dann können wir sagen, dass wir das geheim gehalten haben, um die Sicherheit der Ermittlungsgruppe und den Erfolg des Unternehmens zu garantieren.«

»Alles natürlich unter der Voraussetzung, dass Westerlund gefunden wird – tot oder lebendig«, konnte Hämäläinen einwerfen.

»Genau. Hoffen wir das Beste, aber zugleich müssen wir das Schlimmste befürchten.« Mäkelä hob den Zeigefinger, um die volle Aufmerksamkeit seines Gastes zu gewinnen, und dämpfte dann die Stimme, sodass er fast flüsterte. »Jetzt sind wir an dem Punkt angelangt, wo du gebraucht wirst, Raimo. Ich habe eben den Begriff Ermittlungsgruppe verwendet, obwohl es in Wirklichkeit nur zwei Ermittler sein werden.«

»Zwei Ermittler?«

»Wir glauben, dass eine zu große Gruppe unnötig auffallen könnte. Und wir sind uns ja auch noch nicht sicher, wem wir in Zagreb vertrauen können. Ebenso wichtig ist es, dass die Information über diesen Auftrag nicht einmal hier in Finnland verbreitet wird«, sagte Mäkelä und erhob sich in aller Ruhe hinter seinem Schreibtisch.

Hämäläinen spürte, wie es ihm kalt den Rücken herunterlief. Jetzt wurde ihm klar, warum diese Besprechung so kurzfristig und mit einer derart vagen Agenda angesetzt worden war. Man sah sich gezwungen, den Fall auf fremdem Boden zu lösen, und das brachte einen ganz neuartigen Stress mit sich. Man könnte es mit Kriminellen wer weiß welchen Kalibers zu tun bekommen. Seine Kehle war ganz rau geworden, er räusperte sich, bevor er Mut fasste, den Mund wieder zu öffnen.

»Ich verstehe. Was habt ihr geplant, wen wollt ihr nach Kroatien schicken?«

Mäkelä ging um den Schreibtisch herum, blieb direkt vor Hämäläinen stehen und lachte sanft.

»Keine Sorge, Raimo. Du bist ein guter Polizist, aber du wirst hier gebraucht. Ich möchte lieber, dass du sofort Kontakt zu Daniel Kuisma aufnimmst. Ich hätte gern, dass er morgen früh nach Zagreb fliegt.«

4

Dubrovnik, Kroatien

Antonio Franzo stand an der Bar im Hotelfoyer und trommelte mit den Fingern auf den Tresen. Er hatte schon beschlossen, ein Bier zu bestellen, überlegte aber noch, ob es nicht besser wäre, auf Wasser umzusteigen. Nach dem stundenlangen Aufenthalt in der Sonne fühlte er sich etwas taumlig. Er schloss die Augen und suchte mit der Hand Halt an einem Barhocker. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, wäre es am besten, er würde sich für einen Augenblick setzen.

Ärgerlich. Er hatte in der Bar am Pool innerhalb der letzten Stunden mindestens vier Hendrick’s Tonic und ein paar Biere zu sich genommen, aber nicht daran gedacht, Wasser zu trinken. Ein amateurhafter Fehler.

»Sir?«, fragte der Barkeeper und trocknete seine Hände an einem weißen Tuch ab.

»Ein Fassbier und eine Flasche Mineralwasser, bitte«, sagte Antonio und war mit dem Kompromiss zufrieden, den er sich kurzerhand ausgedacht hatte. Der Barkeeper blieb Herr der Situation und goss seinem Gast ein Glas Mineralwasser ein, während das Bier noch aus dem Hahn floss. Antonio griff nach dem Glas und leerte es ganz ruhig in einem Zug. Nach dem langen und alkoholträchtigen Tag auf der Terrasse schmeckte das Wasser unglaublich gut, und er spürte, wie das Schwächegefühl mit jedem Schluck weiter schwand.

Das Warten, das schon eine Ewigkeit zu dauern schien, und die nervliche Anspannung wegen des anstehenden Auftrags hatten ihn dazu gebracht, sich zu betrinken, und zwar mehr als sonst üblich. Ihm fiel Geoffs Anweisung ein: »Schwimme, trinke, genieße die Sonne, lies, bestell dir eine Hure ins Hotel. Und was den Auftrag angeht, warte ab. Ich informiere dich rechtzeitig.« Von wegen, verdammt. Seit dem Einchecken im Hotel waren schon drei Tage vergangen, und er hatte von Geoff noch keinerlei Nachricht erhalten. Die Warterei kam ihm trotz der fürstlichen Rahmenbedingungen allmählich wie Arbeit vor.

Der Barkeeper stellte das langsam vollgelaufene Bierglas auf den Tresen.

»Bitte sehr, Sir.«

»Auf die Rechnung von Zimmer 538.« Antonio trank den Rest des Mineralwassers aus der Flasche. Dann schwenkte er den Barhocker in aller Ruhe herum, ließ den Blick durch den ganzen Raum wandern und taxierte dabei, was er sah. Das Dubrovnik Palace war kein typisches Fünfsternehotel. Die Sitzgruppen des Foyers erstreckten sich über einen erstaunlich weiten Bereich des hallenartigen Raums, der von Beton und Glas dominiert wurde und aufgrund seiner Größe eher an ein Flughafenterminal denken ließ als an ein Hotelfoyer. Durch die großen Fenster, die von der Decke bis zum Fußboden reichten, bot sich ein schöner Ausblick auf das Meer mit den Inseln, die riesigen Zähnen glichen, und der Sonne, die gerade langsam am Horizont versank und ihn rot färbte. Es war gelungen, trotz seines scheinbar asketischen Charakters elegante Details in diesen Raum einzustreuen, die in ihrer Einfachheit den kultivierten und vornehmen Eindruck noch verstärkten. Antonio gefiel die Art, wie die auf das Wesentliche reduzierte, aber gelungene Innenausstattung des Hotels anderen Spitzenhotels die Botschaft vermittelte, Luxus werde heutzutage nicht mehr mit Kristallleuchtern, vergoldeten Säulen oder Marmorplatten geschaffen.

Antonio stellte das leere Bierglas auf den Tresen und überlegte, ob er noch eins nehmen oder mit einer neuen Flasche Wasser wieder zu härteren Sachen übergehen sollte. Prüfend betrachtete er die Auswahl im Schrank und blieb an einem ungeöffneten Old Overholt hängen. Die Flasche im obersten Fach erinnerte ihn an Silvia.

Eine Prostituierte, die sich so nannte, hatte ihm den Roggenwhisky ein paar Jahre zuvor in der Panoramabar des Hotels Burj Al Arab in Dubai empfohlen. Antonio war auf einer Dienstreise mit Geoff dort gewesen, und Silvia hatte sie gebeten, sich zu ihnen an den Tisch setzen zu dürfen, weil sie – nach ihren eigenen Worten – einen Stützpunkt für einen langen und arbeitsreichen Abend brauchte. Die Frau versicherte, ihre Getränke selbst zu zahlen, und erklärte Antonio, dass die Türsteher sie aus dem Nachtclub werfen würden, wenn sie nicht zu einer überwiegend aus Männern bestehenden Gesellschaft gehörte. Als Gegenleistung versprach Silvia, Antonio und seinen Begleitern gegebenenfalls die gewünschten Serviceleistungen zu besorgen, und dies sogar mit einem beträchtlichen Preisnachlass.

Normalerweise hätte Antonio das Angebot angenommen. Er mochte schöne Frauen und brauchte keine Schwelle zu überwinden, um für Sex zu zahlen. Silvia war jedoch anders. In den Augenblicken, die sie an ihrem Tisch verbrachte und nicht mit Kunden – oder »Johnnys«, wie sie die Männer nannte – in irgendeinem der vielen hundert Zimmer des Hotels, hatten sie getrunken, geredet und zusammen gelacht. Antonio fiel ein, dass er Silvia gefragt hatte, warum eine so intelligente, humorvolle und charmante junge Frau hier als käufliches Mädchen gelandet war. Daraufhin hatte sich die Stimmung merklich abgekühlt, und Antonio musste schnell das Thema wechseln. Als Zigarettenasche auf seine Hose gefallen war, hatte Silvia sie zärtlich weggewischt und ihm zugeflüstert, sie gehe jetzt zur Toilette. Etwas später war der Kellner gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass die junge Frau, die in ihrer Gesellschaft den Abend verbracht habe, leider gezwungen gewesen sei, die Bar zu verlassen. Doch vorher habe sie für ihre Freunde eine Flasche Old Overholt bestellt und bezahlt. Auf der zusammengefalteten weißen Serviette zwischen Flasche und Tablett stand mit schwarzem Kuli geschrieben: Danke Tony. Probier den, Du wirst ihn sicher mögen.

Gerade hatte Antonio vorsichtig den Zeigefinger gehoben, um den Barkeeper wieder auf sich aufmerksam zu machen, als er an seinem Oberschenkel ein Vibrieren spürte. In der tiefen Tasche der weiten Hose war das Handy an eine schwer zugängliche Stelle unter dem Schlüsselbund gerutscht, und Antonio musste aufstehen, um es herauszuholen. Aufgeregt starrte er auf das Display und empfand zugleich eine ungeheure Erleichterung. Verdammt, das wurde aber auch Zeit. Auf dem Touchscreen blinkte beharrlich: Eingehender Anruf – GEOFF.

5

Espoo

Vizepolizeichef Raimo Hämäläinen nahm den Gang heraus und ließ den Wagen die wenigen Meter bis zur Bordsteinkante rollen. Er beugte sich nach rechts und schaute durch das Beifahrerfenster zu dem weißen zweistöckigen Doppelhaus hinüber, dessen Zierde ein schöner und gut gepflegter Garten war. Hämäläinen griff nach der dicken Mappe, die auf dem Vordersitz lag, klemmte sie sich unter den Arm und schraubte sich aus dem Auto.

Der Nachmittag war grau und feucht, obwohl der Sturm, der noch vor zwei Stunden getobt hatte, schon nach Westen in Richtung schwedische Küste weitergezogen war. Hämäläinen betrat den asphaltierten Weg zum Haus und betrachtete den idyllischen Garten. Er war nicht sonderlich groß, aber die kleinen Bäume ließen ihn anheimelnd wirken.

Hämäläinen versuchte sich zu erinnern, wann er Daniel Kuisma zuletzt gesehen hatte. Im Frühjahr war Daniel das erste Mal dem traditionellen Angelausflug ihrer alten Unihockeytruppe ferngeblieben, ihre letzte Begegnung lag also bestimmt mindestens ein halbes Jahr zurück. Hatten sie sich nicht bei der Adventsfeier getroffen? Das war dann noch länger her. Damals hatten Daniel und seine Lebensgefährtin noch den Eindruck gemacht, sie wären miteinander glücklich. Von der Trennung hatte Raimo erst später durch einen Kollegen erfahren. Daniel wollte die Sache nicht an die große Glocke hängen. Aber Hämäläinen hätte bei ihren Telefongesprächen etwas spüren müssen. Er hätte ihn fragen müssen, ob zu Hause alles in Ordnung war.

Schon immer war es schwierig gewesen zu verstehen, was in Daniel vorging. In den fast zehn Jahren ihrer Freundschaft hatte sich Hämäläinen oft eingebildet, er hätte die Gleichung gelöst, mit der man Zugang zu Daniels Innenleben erhielt, nur um dann überrascht festzustellen, wie weit er mit seiner Annahme danebengelegen hatte. Außerdem war der Kontakt zwischen ihnen mit zunehmendem Alter immer unregelmäßiger geworden. Wäre es nach ihm gegangen, so hätten sie sich öfter treffen können, aber anscheinend fühlte sich Daniel mehr und mehr am wohlsten, wenn er allein war.

»Fährst du wieder einen neuen Focus?«, fragte gut gelaunt eine Männerstimme hinter ihm. Hämäläinen wandte sich um, noch bevor er sie erkannt hatte.

»Daniel!«, rief er, lachte überrascht und wunderte sich, wie geräuschlos der Mann mit seinem Hund hinter ihm aufgetaucht war.

»Sicherheitshalber bin ich schon mal mit Frank rausgegangen. Besprechungen mit dir können sich lange hinziehen«, sagte Daniel Kuisma lächelnd und gab seinem Gast die Hand.

Hämäläinen schüttelte sie kräftig und bückte sich dann, um dem schwarzen Labrador Retriever ein wenig das Fell zu zausen.

»Frank sieht gesund aus. Er scheint einen anderen Speiseplan zu haben als du«, erwiderte Hämäläinen grinsend, erhob sich und musterte Kuisma, der sich die Hundeleine ums Handgelenk wickelte. Der Mann im Trainingsanzug hatte sich seit ihrem letzten Treffen kaum verändert. Nach dem Überschreiten der Schwelle zu den vierzig hatten sich ein paar Kilo angesammelt, doch die verliehen dem groß gewachsenen, auf sympathische Weise kantigen Mann nur noch mehr Glaubwürdigkeit und Autorität. Vor allem strahlten Daniels Augen und sein Lächeln sowohl physisches als auch psychisches Wohlbefinden aus.

»Möchtest du hier draußen weiterlästern oder gehen wir hinein?« Daniel öffnete das Tor und ließ den Hund von der Leine.

Er füllte eine Schüssel mit kaltem Wasser und stellte sie auf den Fußboden, damit Frank trinken konnte. Dann ging er zum Kühlschrank und kehrte mit zwei Flaschen kühlen Bieres zurück.

»Ich warte gespannt darauf zu hören, was du dich am Telefon nicht zu erzählen getraut hast«, sagte Daniel und öffnete beide Flaschen.

»Wie gesagt, ich hab dich aus dem Auto angerufen, kurz nach dem Gespräch beim Staatssekretär. Das Ganze kam auch für mich aus heiterem Himmel«, erwiderte Hämäläinen, während ihm der Gastgeber eine beschlagene Bierflasche in die Hand drückte.

»Gehen wir ins Wohnzimmer. Du darfst mir ruhig die ganze Story erzählen«, schlug Daniel vor und warf die Kronkorken in den verchromten Abfallkorb in der Küchenecke.

Sie setzten sich auf das dunkelrote Sofa und stellten die Flaschen auf den niedrigen Glastisch. Hämäläinen blickte sich um und bemerkte, dass sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert hatte. Das Zimmer war aufgeräumt und geschmackvoll eingerichtet.

An den weißen Wänden hingen moderne Gemälde – von wem sie stammten, hätte er nicht sagen können. Zum größten Teil waren es schwarz-weiße, mit kräftigen Pinselstrichen auf eine dicke Leinwand gemalte Ölbilder. Er wusste, dass Daniel sie nicht selbst ausgewählt hatte.

»Du hast die Gemälde behalten können«, stellte Hämäläinen fest und brach damit das Schweigen.

»So ist es. Und das Sofa gehört eigentlich auch ihr.«

»Seltsam. In der Regel nehmen die Frauen …«

»Als Frau eines Eishockeyprofis braucht einen so was nicht zu kümmern.«

»In welcher Mannschaft …«

»Bei den Minnesota Wilds. Müssen wir unbedingt darüber reden?«

»Sorry. Schade, dass es ein so unschönes Ende genommen hat.«

»Eigentlich bin ich richtig erleichtert. Mit der Frau zusammenzuwohnen war von Anfang an die Hölle. Doch den Ärger hat jetzt ein anderer«, erwiderte Daniel, und sein Lächeln zeugte von Selbstironie. Alles in allem gehörte der Trennungsschmerz zu einem Leben, das schon hinter ihm lag. Hämäläinen nickte verständnisvoll und hob die Bierflasche an den Mund. Es war besser, über dieses Thema kein Wort mehr zu verlieren. Er schaute auf die gegenüberliegende Wand, an der Urkunden und gerahmte Fotos hingen, die an UN-Missionen zur Friedenssicherung erinnerten. Ein Teil der Bilder war Mitte der Neunzigerjahre aufgenommen worden, in der Endphase des Bürgerkriegs in Bosnien-Herzegowina. Darauf posierte der junge Unteroffizier Kuisma lächelnd zusammen mit unterernährten, aber offenkundig glücklichen Kindern.

»Denkst du oft an Bosnien?«, fragte Hämäläinen, ohne den Blick von den Fotos abzuwenden.

»Ich habe nicht vor, das alles zu vergessen, und möchte es auch gar nicht, obwohl viele sagen, es wäre besser. Deswegen lasse ich die Fotos hängen.« Daniel legte den Arm entspannt auf die Rückenlehne, presste die Lippen fest zusammen und fuhr dann fort: »Aber in den Nachrichten kommen manchmal Videoclips, bei denen ich schnell den Kanal wechsle.«

»Sehr vernünftig. Es ist sinnlos, sich mit alten Geschichten zu quälen.« Hämäläinen sah Daniel kurz an und bemerkte, dass der ganz offensichtlich nicht beabsichtigte, weiter über das Thema zu sprechen. »Allerdings … ehrlich gesagt bin ich heute genau deswegen hier, weil du während des Jugoslawienkrieges in Bosnien und Kroatien gedient hast«, erklärte er vorsichtig.

»Ist Milošević von den Toten auferstanden?«

»Ich fürchte, Slobodan ist diesmal nicht schuld. Eigentlich hat das Ministerium keine blasse Ahnung, wer für dieses Durcheinander verantwortlich ist. Aber ich erzähle jetzt mal, warum ich zu dir gekommen bin.« Hämäläinen stellte sein Bier wieder auf den Couchtisch, verschränkte die Arme auf der Brust und fuhr fort:

»Weil du – und jetzt zitiere ich den Staatssekretär fast wörtlich – zweifellos der begabteste und intelligenteste Geheimdienstoffizier in Finnland bist. Außerdem hast du der Polizei auch schon früher bei der Aufklärung von Verbrechen geholfen, die mit dem ehemaligen Jugoslawien zusammenhingen. Du hast auf dem Balkan fast fünf Jahre verbracht und einen schwierigen Job erfolgreich gemacht. Und das Sahnehäubchen ist, dass du fließend Kroatisch und Serbisch sprichst. Du, mein Freund, bist für das Außenministerium der rettende Strohhalm, nach dem es greift.«

6

Raimo Hämäläinen ordnete die Unterlagen wieder in die Mappe ein. Daniel betrachtete Westerlunds Foto, das obenauf lag. Er beugte sich vor, drehte ein paarmal die Flasche auf dem Couchtisch und wirkte plötzlich sehr nachdenklich.

»Du willst, dass ich dorthin gehe, stimmt’s?«, fragte er und rieb sich die Stirn.

»Findest du, das ist eine schlechte Idee?«

»Warum schickt das Außenministerium keine Ermittler der Polizei dorthin?« Daniel stand langsam auf, ging zu den Fotos an der Wand und fuhr fort: »Ich bin schließlich kein Polizist – auch wenn es einem manchmal so vorkommt.«

»Mäkelä hat gesagt, dass bei den Ermittlungen schon auf den ersten Metern schwerwiegende Fehler begangen wurden. Jemand muss die Sache jetzt in die Hand nehmen und ernsthaft untersuchen, was mit Westerlund passiert ist.« Hämäläinen erhob sich bedächtig. Er betrachtete seine Schuhspitzen und war sich nicht sicher, ob er Kuisma wenigstens dazu gebracht hatte, sich die Sache durch den Kopf gehen zu lassen. Er wusste, dass er höchstens Durchschnitt war, wenn es darum ging, jemandem etwas schmackhaft zu machen. Jetzt brauchte er einen Einfall, der ihm Schrittmacherdienste leistete.

»Hab ich dir erzählt, wie vor etwa zwanzig Jahren in Valkeakoski das Auto meines Cousins verschwunden ist?«, fragte er schließlich und musste bei dem Gedanken an die Geschichte schmunzeln.

»Ich glaube nicht. Was hat das jetzt damit zu tun?«

»Das wirst du gleich sehen. Es war ein regnerischer Sommertag. Mein Cousin hatte sein Auto neben einer alten Grillgaststätte in einem Blockhaus geparkt und war hineingegangen, um sich einen Hamburger zu holen. Als er fünf Minuten später zurückkehrte, war das Auto spurlos verschwunden. Mein Cousin meldete den Wagen natürlich unverzüglich als gestohlen. Dabei hat er gar nicht so sehr der alten Schrottlaube nachgetrauert, aber mit dem Auto war auch seine Katze gestohlen worden, die auf dem Vordersitz im Tragekäfig gewartet hatte.« Hämäläinen machte eine kurze Pause, er wusste, dass dadurch die Neugier des Zuhörers noch wuchs.

»Wurde der Fall aufgeklärt?« Daniel wandte sein Gesicht Hämäläinen zu und sah ihn gespannt an.

»Nein. Niemand hatte irgendetwas gesehen, das Auto mitsamt der Katze wurde nicht gefunden«, fuhr Hämäläinen fort und wippte auf den Fersen. »Tja. In dem Jahr habe ich dann die Weihnachtsfeiertage bei meinen Eltern und meiner Tante in genau dem Ort verbracht. Eines Abends hat mich mein Cousin zu der Grillgaststätte mitgenommen – die ein halbes Jahr zuvor dieser mysteriöse Tatort gewesen war. Der Fall beschäftigte ihn tatsächlich immer noch, und er wollte mir die Stelle zeigen. Ich war damals Polizeiobermeister. Wir fuhren also zu dem Grillladen, stiegen aus und gingen zum Eingang. Dabei erläuterte mir mein Cousin seine Theorie, wonach die Zigeunergemeinschaft aus dem Nachbarort an dem Diebstahl beteiligt war. Aber … plötzlich hörte ich leicht erschrocken ein Geräusch, das entsteht, wenn Reifen im knirschenden Schnee einsinken. Ich sah, dass sein Wagen auf dem geräumten abschüssigen Gelände zu einer Rampe hinüberrutschte, auf der im Frühjahr Boote zu Wasser gelassen werden. Und wenige Sekunden später glitt er in rasantem Tempo auf das Eis des Sees – bestimmt ein paar Dutzend Meter weit«, erzählte Hämäläinen vergnügt und streckte sich.

Daniel lachte lautlos.

»Wusste dein Cousin denn nicht, wie man die Handbremse benutzt?«

»Nur in bestimmten Fällen. Wir sahen uns jedenfalls an wie Wissenschaftler, die gerade ein Medikament gegen Alzheimer gefunden haben. Das als gestohlen gemeldete Auto wurde im folgenden Frühjahr, sobald das Eis getaut war, aus dem See gezogen.«

»Die arme Katze.«

»Die arme Katze«, wiederholte Hämäläinen fast im Flüsterton und ließ Daniel etwas Zeit, die Geschichte zu verdauen. Dann fuhr er fort: »Für Westerlunds Verschwinden gibt es womöglich eine ganz simple Erklärung, aber die kroatische Polizei sieht einfach den Wald vor lauter Bäumen nicht. Diesmal können wir jedoch nicht darauf warten, dass uns der Zufall im nächsten Winter auf seine Spur führt. Es kann sein, dass das Auto gerade in diesem Moment in den See rutscht.«

»Ich verstehe, worauf du hinauswillst.«

»Die Zeit ist jetzt unser schlimmster Feind.«

»Okay. Was ist, wenn ich einwillige? Was für eine Gruppe soll nach dem Plan des Ministeriums dahin fahren? Lauter Intelligenzbestien, eine schlauer als die andere? Und ich darf ihre genialen Erkenntnisse ins Kroatische übersetzen? Nein danke!«, entgegnete Daniel und schüttelte energisch den Kopf.

»Nichts dergleichen. Der Staatssekretär hat gesagt, das Ministerium wolle möglichst unauffällig vorgehen, deswegen würden nur zwei hinfahren.«

»Zwei? Weißt du, wer der andere ist?«

»Das dürfte sich herausstellen, sobald sie die Gewissheit haben, dass du dabei bist. Das heißt, hoffentlich spätestens in ein paar Stunden.«

»Raimo, du weißt, dass ich lieber nicht dahin fahren sollte.«

»Daniel, es liegt in deiner Hand, einen verdammt interessanten Fall zu übernehmen. Und ich weiß, dass es nicht deine Art ist, dich zu drücken, wenn es schwierig wird.«

»Du hast dem Staatssekretär versprochen, mich zu überreden.«

»Nein. Ich habe nur versprochen, mein Bestes zu tun.«

»Du verdammter Mistkerl setzt mich unter Druck«, sagte Daniel leidenschaftslos und nahm einen Schluck von seinem Corona-Bier.

»Du selbst triffst deine Entscheidung, niemand kann dich zu der Sache zwingen. Und du würdest das doch nicht übernehmen, bloß weil ich dich dazu dränge, oder? Du würdest das lediglich deshalb machen, weil du auf die Dinge Einfluss nehmen und an Projekten beteiligt sein willst, die von Bedeutung sind.«

»Und was ist von Bedeutung?«

»Westerlunds Leben ist von Bedeutung, Daniel. Sich für die eigenen Leute einzusetzen, ist das nicht der Punkt bei der ganzen Sache?«, fragte Hämäläinen. Seine Stimme klang jetzt noch emotionsgeladener.

Daniel lehnte sich an die Wand und stemmte die Hände in die Hüften. Eine Weile verging, ohne dass einer von beiden ein Wort sagte. Die Wanduhr im Wohnzimmer schlug zur vollen Stunde. Schließlich seufzte Daniel, schaute Hämäläinen an und lächelte trocken.

»Wollte sich deine Frau nicht immer um einen Hund kümmern?«

»Unser Haus wird für Frank wie ein Fünfsternehotel sein.«

»Okay. Bringen wir die Sache über die Bühne.«

7

Dubrovnik, Kroatien

Antonio schob die Keycard in den Kartenleser der Tür, sah das grüne Licht kurz aufleuchten und betrat sein Zimmer. Dann schaltete er mit der Karte das Licht ein, die Lampe flackerte ein paarmal und ging schließlich träge an. Er zog die Schuhe aus, setzte sich aufs Bett, holte sein Telefon heraus sowie einen Zettel mit dem Logo des Hotels, auf den er eben im Foyer die von Geoff durchgegebene Telefonnummer geschrieben hatte.

Er sollte sie am nächsten Morgen anrufen, sobald er aufgewacht war. Den Namen der Kontaktperson hatte er nicht erfahren. Alles in allem wirkte der Auftrag ungewöhnlich geheimnisvoll. Oder vertraute Geoff ihm nicht mehr und glaubte, er könne den Mund nicht halten? An der ganzen Sache war irgendwas faul. Aber er musste sich an die Instruktionen halten. Es nützte nichts, wenn er sich beschwerte.

Sein Chef hatte am Telefon merkwürdig geklungen. Als wäre er nicht er selbst. Vielleicht weil Geoff ihm angehört hatte, dass er betrunken war. Deshalb hatte Geoff ihn aufgefordert, schlafen zu gehen. Er müsse am frühen Morgen fit sein, um den Auftrag auszuführen. Zu seiner Rechtfertigung hatte Antonio gesagt, die tagelange Warterei sei nervenaufreibend gewesen, aber jetzt werde er den Korken in die Flasche stecken und am Morgen einsatzbereit sein.

Antonio rieb sich die Augen. Er sah es schon kommen: Wenn der Alkoholspiegel sank, würden die Kopfschmerzen zuschlagen wie ein scharfes Schwert, noch bevor er einschlafen konnte. Deshalb wollte er sich aus der Minibar noch einen Whisky eingießen. Nur einen einzigen. Dann würde er sicher besser schlafen.

Er stand auf, machte ein paar Schritte in Richtung Schreibtisch und bückte sich zur Minibar. Eine Weile betrachtete er das begrenzte Angebot an Spirituosen neben den Erfrischungsgetränken und Knabbereien, dann griff er sich ein Bier und stellte es auf den Tisch. Die Flaschengröße war lächerlich. Ähnliche Fläschchen servierte man jetzt auch in Flugzeugen. Ein typischer Fall dafür, wie man den durstigen Verbraucher unterschätzte und bewährte Standards willkürlich änderte.

Antonio zog sein Hemd aus und hängte es auf einen Bügel im Kleiderschrank. Als er die Schiebetür schloss, erblickte er sein Abbild im Spiegel. Das weiße ärmellose Unterhemd und die Spuren der tagelangen Trinkerei in dem unrasierten Gesicht ließen den sonst so gepflegten und selbstbewussten Mann wie jemanden aussehen, der einsam war und alle Hoffnung verloren hatte. Er drehte erst die eine und dann die andere Wange zum Spiegel, um besser sehen zu können, was er insgesamt für einen Eindruck machte. Schließlich biss er sich frustriert auf die Unterlippe und löschte das Licht im Flur. Er zog die Hosen und Strümpfe aus und hängte sie auf den Sessel. Dann nahm er das Bier und legte sich an das mit Kissen abgepolsterte Kopfende des Bettes.

Die Fernbedienung lag auf dem Nachttisch, aus Gewohnheit tastete er oben links nach dem Einschaltknopf. Der Fernseher mit Flachbildschirm hinkte seiner Zeit hinterher – er war fast genauso tief wie die neuesten Modelle mit Bildröhre und brauchte endlos viele Sekunden, bis er schließlich in Gang kam. Und dann begann die Sendung auch noch ohne Ton, der Mute-Modus musste manuell ausgeschaltet werden. Wo zum Teufel war doch gleich der Knopf für die Lautstärke?

Während das Fernsehprogramm weiter ohne Ton lief, bemerkte Antonio zum ersten Mal, seit er das Zimmer betreten hatte, dass die Klimaanlage geräuschvoll arbeitete. Er mochte die kalte Gebläseluft und den Lärm tagsüber schon nicht, und noch weniger nachts beim Schlafen. Deshalb ließ er in der Regel die Balkonschiebetür offen, dann schaltete sich die Anlage automatisch ab. Die Zimmerfrauen schlossen die Tür immer, damit der Raum voll klimatisiert war, egal, was draußen für eine Temperatur herrschte. Sein Zimmer hatte man jedoch nicht gereinigt. Das Bett war nicht gemacht, und das schmutzige Geschirr vom Mittagessen, das er am Vortag beim Zimmerservice bestellt hatte, stand noch immer auf dem Schreibtisch. Ihm fiel ein, dass er das Schild Do not disturb schon morgens an die Tür gehängt hatte. Und dort hing es auch eben noch – er brauchte niemanden, der bei ihm aufräumte. Dennoch hatte jemand die Balkontür geschlossen.

Antonio legte die Fernbedienung neben sich aufs Bett und hielt den Atem an. Befand sich jemand in seinem Zimmer? Seit er es betreten hatte, war er nicht im Bad und auch nicht auf dem Balkon gewesen. An dessen Tür hingen dicke Gardinen, hinter denen sich durchaus jemand verstecken könnte. Doch wenn tatsächlich jemand in seinem Zimmer war, warum lebte Antonio dann noch? Er hatte schon etwa fünf Minuten hier zugebracht, ganz und gar nichtsahnend. Eine ideale Zielscheibe. Seine Pistole lag seit dem Ankunftstag im Zimmersafe, der mit einem Zahlencode funktionierte.

Langsam stand er auf und hörte sein Herz immer schneller schlagen. Der tonlose Fernseher tauchte das Zimmer in flimmerndes blaues Licht, als er zum Safe schlich. Er tippte die Ziffernreihe ein. Die kleine Tür des Tresors öffnete sich mit einem Signalton, der wie die SMS eines uralten Mobiltelefons klang. Als er nach der Pistole griff, wurde ihm bewusst, dass jeden Augenblick irgendwer über ihn herfallen könnte. Antonio machte mit schussbereiter Pistole ein paar bedächtige Schritte zur Badezimmertür hin. Während er sich ihr näherte, wandte er den Blick für einen Moment zur Balkontür, um sich zu vergewissern, dass er nicht von hinten überrascht wurde. Der Balkon wirkte immer noch leer, allerdings konnte er ihn wegen der Gardinen nicht ganz einsehen.

Antonio schaute wieder in Richtung Bad. Er schaltete das Licht der Toilette mit der linken Hand ein und legte sie dann schnell wieder an den Pistolengriff. Der Raum war leer.

Er sah sich kurz im Spiegel über dem Waschbecken, machte auf den Fersen kehrt und steuerte den Balkon an, dabei rollte er die nackten Fußsohlen lautlos auf dem weichen Teppichboden ab. Er stellte sich an die Gardine und zuckte zusammen, als der Schalldämpfer der Pistole an die Scheibe hinter dem Stoff stieß. Langsam öffnete er den Vorhang weit genug, um den ganzen Balkon sehen zu können. Niemand. Alles leer.

Sofort spürte er, wie das Adrenalin, das in der letzten Minute eruptionsartig ins Blut geschossen war, aus seinem Körper entwich und der Erleichterung Platz machte. Er war allein. Natürlich. Wegen des Alkoholkonsums über den ganzen Tag hinweg litt er schon unter Verfolgungswahn.

Er öffnete die Gardinen ganz, hob die Hand mit der Waffe zur Stirn, um sich den Schweiß abzuwischen, und blickte durch die Balkontür auf das schöne Meer, das im Mondlicht glitzerte. Er sah die aus dem Wasser aufragenden schroffen Felsen, das steinige Ufer und davor die pittoresken alten Gebäude. In der Glastür spiegelte sich das durchsichtige Abbild seines Zimmers – das unruhige Flimmern des Fernsehers und die Gestalt, die unterm Bett hervorkam und sich lautlos näherte.

8

Antonio schaffte es nicht mehr, sich umzudrehen. Ein dicker Draht wurde ihm blitzschnell von hinten um den Hals gelegt und so heftig straffgezogen, dass sein Kopf nach hinten fiel. Er hob beide Hände, um sich von der Schlinge zu befreien, die ihm den Atem nahm und einen schneidenden Schmerz verursachte, die Pistole fiel polternd zu Boden. Instinktiv stieß er sich mit dem Fuß am Rahmen der Balkontür ab, flog mit dem Angreifer nach hinten und landete auf dem Fußboden. Der Draht schnitt immer tiefer ein, seine Finger waren blutverschmiert, weil er vergeblich versuchte sie unter die Schlinge zu schieben. Er lag rücklings auf dem Mann, strampelte und wehrte sich und wusste, dass er gleich sterben würde. Sein Blick trübte sich. In ein paar Sekunden würde alles um ihn herum schwarz werden.

Die Waffe war jetzt seine einzige und letzte Chance. Er ließ die Schlinge los und tastete in höchster Not auf dem Fußboden herum. Endlich berührten seine Fingerspitzen kalten Stahl. Mit aller ihm verbliebenen Kraft versuchte er nach der Waffe zu greifen, er streckte die Hand noch weiter aus und konnte die Pistole ein paar Zentimeter näher an sich heranzupfen. Hastig griff er nach ihr, hob sie – die Mündung nach hinten gerichtet – ans Ohr und drückte ab. Dreimal. Er fühlte, wie warmes Blut geschossen kam und auf sein Haar und seine Wange spritzte. Der Würgedraht erschlaffte, und Antonio gelang es, den Kopf aus der Schlinge zu ziehen und sich auf die Seite zu rollen. Rasch richtete er sich auf und schob sich im Sitzen an die Wand, die Waffe zielte immer noch auf den Mann. Der lag in einer großen Blutlache, presste die Hände auf die Schusswunden und versuchte so zu verhindern, dass immer mehr Blut aus seinem Körper strömte, dabei schnappte er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft. Seine weit aufgerissenen Augen starrten ihn auch dann noch an, als er schon tot war.

Antonio griff sich an den Hals. Er fühlte die blutige Strieme unterhalb des Adamsapfels, begriff aber sofort, dass er bei dem Kampf keine lebensgefährlichen Verletzungen erlitten hatte. Es war um Sekunden gegangen – hätte er die Waffe nicht sofort gefunden, wäre es vorbei gewesen, er hätte das Bewusstsein verloren und dann sein Leben. Beim Abdrücken hatte er schon nichts mehr gesehen oder gehört. Doch er lebte noch. Im Gegensatz zu dem Unbekannten, der auf dem Boden in seinem Blut lag.

Mühsam stand Antonio auf. Ihm wurde schwindlig, und als Nachwirkung des Sauerstoffmangels atmete er immer noch schwer und ungleichmäßig. Was zum Teufel bedeutete das hier eigentlich? Wer war der Kerl, verdammt, und warum wollte ihn irgendjemand umbringen?

Antonio zerrte die Gardinen zu und taumelte zur Tür, um die Deckenlampe einzuschalten. Im grellen Licht sah der Raum entsetzlich aus – die Auslegware und der Saum der hellblauen Gardinen waren rot gefärbt. Klebrige Fußspuren führten bis zur Tür. Sein Gesicht, seine Haare und der Oberkörper waren blutüberströmt. Er starrte sich im Spiegel an und überlegte einen Augenblick, was für ein Theater es gäbe, wenn er so beim Frühstück im Hotel erschiene.

Er zog sein blutverschmiertes Hemd aus, ließ es fallen und ging langsam zu der Leiche. Könnte jemand die mit dem Schalldämpfer abgegebenen Schüsse gehört haben? In seinen Ohren dröhnte es immer noch, aber die Waffe war ja beim Abdrücken auch nur ein paar Zentimeter von seiner Schläfe entfernt gewesen. Nein – die Schalldämmung im Hotel war gut. Niemand konnte erkannt haben, dass es sich bei den gedämpften Geräuschen um Schüsse handelte. Niemand käme auf die Idee, dass im Hotel mitten in der Nacht geschossen wurde, selbst wenn ein Gast vom Kampflärm wach geworden sein sollte.

Antonio beugte sich über den Mann und betrachtete sein vor Entsetzen und Verzweiflung verzerrtes Gesicht. Am Kinn unterhalb der Zähne sah man ein kleines und sauberes Einschussloch. Der ganze Hals war voller Blut. Alle drei Kugeln befanden sich höchstwahrscheinlich im Fußboden, es sei denn, sie waren in die Halswirbelsäule eingedrungen. Das hielt er jedoch für unwahrscheinlich, denn in diesem Fall hätte der Killer seine Bewegungsfähigkeit verloren und wäre nicht imstande gewesen, die Hände auf die Wunden zu drücken.

Der Mann war etwa fünfunddreißig. Er hatte helle Haut, Haar und Bart waren aber ganz schwarz. Ein grauer Trainingsanzug, Turnschuhe, eine Uhr der Marke Breitling Superocean mit Stahlgehäuse sowie eine dicke goldene Halskette. Das entsprach genau dem Stereotyp des knallharten Burschen vom Balkan. Antonio griff in seine immer noch warmen Hosentaschen, aber die waren leer. Kein Portemonnaie, kein Handy und auch sonst nichts. Der Kerl hatte sich eindeutig an das alte Protokoll gehalten. Scheiterte ein Killer bei seinem Auftrag total – wie in diesem Fall geschehen –, war klar, dass es aus Sicht seines Auftraggebers nicht gerade clever gewesen wäre, wenn er Hinweise hinterlassen hätte. Seine Sachen lagen bestimmt irgendwo in der Nähe. Wahrscheinlich in einem Auto, sofern er allein agiert hatte. Aber wie war es ihm bloß gelungen, in das Zimmer zu kommen?

Er trat einen Schritt von der Leiche zurück, setzte sich auf den Fußboden, den Rücken an die Balkontür gelehnt, und bemerkte, dass er wieder in der Blutlache saß, die sich auf dem hellen Belag langsam ausbreitete … wie eine Druckwelle. Das Ganze ergab keinen Sinn. Der Mann war, ohne Spuren zu hinterlassen, in das Zimmer eingebrochen, hatte aus irgendeinem Grund die Balkontür geschlossen und unter dem Bett auf sein Opfer gewartet, bewaffnet lediglich mit einem kurzen Stahlseil, an dessen Enden Handgriffe befestigt waren – so groß wie ein Tischtennisball –, damit man das Mordinstrument besser halten konnte. Antonio hatte in seinem Zimmer mindestens fünf Minuten verbracht, ehe der Killer aus seinem Versteck hervorgekommen und in Aktion getreten war. Vielleicht hatte er ja etwas gesucht und sich bei Antonios Auftauchen schnell unter dem Bett versteckt. Doch wenn es tatsächlich so gewesen war, warum hatte er dann nur ein ausschließlich zum Töten bestimmtes Werkzeug bei sich gehabt?

Antonio ließ sich auf den Bauch fallen und kroch auf die Ellbogen gestützt zum Bett, um das bis zum Boden reichende Laken hochzuheben. Unter dem Bett lag etwas. Er musste die Hand weit ausstrecken und bekam es schließlich zu fassen. Ein schwarzes Lederetui. Er öffnete den rundum führenden Reißverschluss.

In das kleine Etui passte verblüffend viel hinein – ein Handtuch, drei Spritzen und vier Fläschchen. Jedes trug einen Aufkleber mit einer handgeschriebenen Ziffer und der Bezeichnung des Stoffes, den es enthielt: (1) Chloroform, (2) Thiopental, (3) Pancuroniumbromid und (4) Kaliumchlorid.

Ein kalter Schauder lief Antonio den Rücken hinunter. Das hatte also eine Hinrichtung werden sollen. Und zwar eine ungewöhnlich humane und schmerzlose. Er wusste, dass die drei letztgenannten Substanzen in den US-Bundesstaaten, in denen es die Todesstrafe noch gab, den zum Tode Verurteilten injiziert wurden. Der Killer hatte die Absicht gehabt, unter dem Bett zu warten, bis Antonio schlief. Dann hätte er mit Chloroform sichergestellt, dass Antonio bewusstlos war, und ihm anschließend jedes der drei Gifte gespritzt, in der Reihenfolge ihrer Nummerierung.

Eine schmerzlose und saubere Art des Abgangs – die Todesursache ließe sich erst bei der Obduktion feststellen, und dann wäre es schon bedeutend schwieriger, dem Täter auf die Spur zu kommen. Der Killer hatte jedoch einen Fehler begangen, als er die Balkontür schloss. Wenn man es sich genau überlegte, musste der Mann über den Balkon gekommen sein. Und war sich wahrscheinlich nicht sicher gewesen, ob die Tür einen Spalt offen gestanden hatte oder nicht. Amateurhaft. Sicherheitshalber hatte er sie geschlossen. Als ihm dann klar wurde, dass Antonio Verdacht schöpfte, war er hektisch zu Plan B übergegangen, und es hätte nicht viel gefehlt, und der wäre auch gelungen. Die wesentliche Frage jedoch lautete: Wer wollte ihn umbringen und das noch dazu so schmerzlos? So sauber?

Plötzlich spürte Antonio einen brennenden Schmerz in der Brust. Ihm war etwas bewusst geworden, und diese Erkenntnis schoss wie ein Impuls vom Gehirn in die Muskulatur und führte dazu, dass ihm schlecht wurde: Der Mann war von dem Nachbarzimmer aus über den Balkon hereingekommen.