Feindesopfer - Max Seeck - E-Book

Feindesopfer E-Book

Max Seeck

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Beschreibung

Zetterborg, ein erfolgreicher Geschäftsmann, wird in seinem Haus in Helsinki tot aufgefunden. Er hatte zuvor harte Maßnahmen und Entlassungen angekündigt und sich so unzählige Feinde gemacht. Das Mordmotiv scheint klar, als Jusuf die Ermittlungen übernimmt. Der findet jedoch heraus, dass Zetterborg noch ganz andere Feinde hatte. Auf einem Foto, das man in seinem Haus findet, sind neben dem Ermordeten zwei Männer zu sehen, deren Gesichter vom Täter ausgekratzt wurden. Wer sind diese zwei Männer? Sind sie weitere Opfer? Jusufs Kollegin Jessica Niemi, noch geschwächt von ihrem psychischen Zusammenbruch, wird durch dieses Foto gezwungen, sich erneut den Dämonen der Vergangenheit zu stellen ...

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Seitenzahl: 517

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Inhalt

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Über dieses Buch

Zetterberg, ein erfolgreicher Geschäftsmann, wird in seinem Haus in Helsinki tot aufgefunden. Er hatte zuvor harte Maßnahmen und Entlassungen angekündigt und sich so unzählige Feinde gemacht. Das Mordmotiv scheint klar, als Jusuf die Ermittlungen übernimmt. Der findet jedoch heraus, dass Zetterberg noch ganz andere Feinde hatte. Auf einem Foto, das man in seinem Haus findet, sind neben dem Ermordeten zwei Männer zu sehen, deren Gesichter vom Täter ausgekratzt wurden. Wer sind diese zwei Männer? Sind sie weitere Opfer? Jusufs Kollegin Jessica Niemi, noch geschwächt von ihrem psychischen Zusammenbruch, wird durch dieses Foto gezwungen, sich erneut den Dämonen der Vergangenheit zu stellen …

Über den Autor

Max Seeck war zunächst im Vertrieb und Marketing einer finnischen Firma tätig. Mittlerweile widmet er sich jedoch ganz dem Schreiben. Mit großem Erfolg: HEXENJÄGER war sein internationaler Durchbruch, und er ist inzwischen der erfolgreichste Thriller-Autor Finnlands. Als einer von wenigen europäischen Autoren stand er auf der NEW-YORK-TIMES-Bestsellerliste. Max Seeck lebt mit seiner Familie in Helsinki.

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der finnischen Originalausgabe:

»Kauna«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2021 by Max Seeck

Original edition published by Tammi Publisher 2021

German edition published by arrangement with Max Seeck and Elina Ahlbäck Literary Agency, Helsinki, Finland

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2022/2024 by Bastei Lübbe AG,

Schanzenstraße 6 – 20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- undData-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Ingola Lammers, München

Einband-/Umschlagmotive: © shutterstock: Jozef Sowa | photosoft | Diego Grandi | KRIT GONNGON

Umschlaggestaltung: Massimo Peter-Bille

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-2824-9

luebbe.de

lesejury.de

Für William und Lionel

Prolog

Januar 2020

L’Étranger öffnet die Tür, lässt den Blick durch den Raum wandern und lächelt zufrieden. Das Drei-Sterne-Hotel ist asketisch, aber für seine Zwecke ist das Zimmer perfekt. Ein fahles Licht geht an, als er die Schlüsselkarte in das Lesegerät steckt.

Er stellt die Louis-Vuitton-Sporttasche auf den Boden und spürt, wie sein Arm entlastet wird. Seit er das Schiff verlassen hat, hat er die Tasche nicht mehr losgelassen. Seine Finger haben den Ledergriff auf dem ganzen Weg von der Landebrücke im Hafen bis zum Taxi und ins Hotel umklammert.

Gemächlich tritt er an das große Fenster. Es geht auf einen Platz hinaus; die Menschen, die ihn bevölkern, gleichen von der obersten Etage des Hotels aus kleinen Zinnsoldaten. Das sind sie wohl auch, Soldaten ihres eigenen Lebens auf dem Weg zu den unbedeutenden Kämpfen ihres Lebens. Lemminge.

Am Rand des Platzes, vor einem Bürogebäude aus Granit, findet eine Art Demonstration statt: Dutzende Menschen in Steppjacken halten große Transparente hoch. Zwei Polizeifahrzeuge sind vor Ort. Die Gesetzeshüter sind ausgestiegen und beobachten die Situation scheinbar teilnahmslos.

L’Étranger lacht leise auf, er hat nie demonstriert. Warum auch? Er hat es immer vorgezogen, in der Menschenmenge zu verschwinden, statt Aufmerksamkeit zu erregen. Außerdem bewirkt man keine bleibende Veränderung, indem man sich mit ein paar Dutzend Leuten auf irgendeinem Scheißmarktplatz versammelt. Ein schöner Gedanke, vielleicht, aber mehr auch nicht.

Gerade wenn er eine Menschenmenge betrachtet, empfindet er sie mitunter, diese vollständige Isolation und Ausgeschlossenheit, die seit der Pubertät an ihm nagen. Aber dieses Gefühl hat ihn nie deprimiert. Im Gegenteil, es ist eine Art Erleuchtung, die ihm in seiner Jugend zuteilgeworden ist: Er versteht etwas, das die meisten normalen Sterblichen nicht sehen wollen. Nichts, was wir tun oder ungetan lassen, hat letztlich irgendeine Bedeutung.

Ein neuer Tag bricht an. Dann ein weiterer. Immer wieder, bis keiner mehr anbricht. Das gilt für ihn selbst, für den Nachbarn und für das ganze Universum.

L’Étranger zieht die Vorhänge zu und hebt die Sporttasche auf das Bett.

Er holt den Laptop heraus und öffnet ihn.

Das Gerät rattert eine Weile, dann erscheint das Konversationsfenster des TOR-Netzes.

Die Finger senken sich auf die Tasten und schreiben eine kurze Nachricht. I’m in town. Waiting.

Dann schließt er das Mail-Fenster und öffnet eine Textdatei.

Er starrt eine Weile auf die Seite, die auf dem Bildschirm erscheint: Der existentialistische Nihilismus im Werk von Albert Camus. Das Thema seiner Doktorarbeit ist kühn und wird in Wissenschaftskreisen mit Sicherheit auf Kritik stoßen. In der Regel wird der existentialistische Nihilismus eher mit Sartres Werken in Verbindung gebracht, wegen dessen atheistischer Weltanschauung, aber er glaubt, dass Camus – ungeachtet seines Agnostizismus – in seinen Werken exakt dieselben Themen behandelt, wenn auch aus einer menschlicheren Perspektive.

Ihr werdet schon sehen, ihr Schafsköpfe. Wenn jemand die Bedeutungslosigkeit der Existenz kennt, dann ich.

L’Étranger holt ein Taschentuch hervor und wischt einen Fingerabdruck vom Monitor ab. Ein Kapitel seines Lebens nähert sich dem Ende. Diesen letzten Auftrag muss er noch erledigen, dann kann er sich auf seine akademische Laufbahn konzentrieren. Vielleicht bekommt er eine Stelle an der Universität. Vielleicht nicht. Auch das hat letztlich keine Bedeutung. Das heißt aber nicht, dass er irgendetwas ohne Gegenleistung tun würde. Wie Joker in The Dark Night sagt: If you’re good at something, never do it for free.

Er holt eine Biografie von Søren Aabye Kierkegaard aus der Tasche. In dem Buch liegen zwei Fotos. Zwei Personen, die den Rest seines Studiums finanzieren werden. Durch ihren Tod.

1

Der Kasten des alten Aufzugs scheppert im Schacht. Unter der Decke surrt das Drahtseil.

Verdammter gieriger Scheißer.

Eliel Zetterborg riecht das aufdringliche Rasierwasser seines Leibwächters und rümpft die Nase. Er denkt an die Worte auf den Transparenten, die er vor einer Stunde durch die getönten Scheiben des Maybach betrachtet hat.

Seine Finger krümmen sich kurz wie zur Faust, die Hände fühlen sich schwach an. Die undankbaren Idioten wissen nicht, wovon sie sprechen.

Eliel verlässt den Aufzug und geht mit dem Schlüssel in der Hand die paar Schritte zu seiner Wohnungstür. Joonas schließt das Gitter des Aufzugs hinter sich. Das metallische Knacken weckt bei Eliel nostalgische Gefühle. Das Geräusch erinnert an die mechanischen Geräte früherer Zeiten, an Eisen- und Metallteile, die nach Schmieröl rochen, durch Federn, Dampf oder Schwerkraft bewegt wurden und den Menschen Arbeit abnahmen. Dagegen ist die moderne Technologie völlig geruch- und geschmacklos. Maschinen, die man mit den Händen bedienen konnte, haben sich in eine Serie ausgeklügelter Algorithmen und Mechanismen verwandelt, deren Funktionsweise so abstrakt ist, dass die Werbe- und Kommunikationsprofis sie in schöne Geschichten verpacken müssen, um ihnen wenigstens ein bisschen Leben einzuhauchen. Da können die Millennials sagen, was sie wollen, früher war alles besser.

Du hast diese Stadt getötet, Zetterborg.

Als Eliel Zetterborg auf den Tag genau vor fünfzig Jahren mit Eetu Montto die EZEM Rohrsystem AG gründete, konnte man aus dem Namen des Unternehmens noch auf seinen Geschäftsbereich schließen. In der Werkstatt im Industriegebiet Herttoniemi fummelte man damals nicht an Computern herum, sondern schmiedete und drehte Teile, aus denen etwas Reelles und Greifbares gebaut wurde. Keine Stromleitungen und Transistoren, sondern nach Blut und Schweiß riechender Stahl. Schwerindustrie im wahrsten Sinn des Wortes.

Eliel schließt die Augen und spürt den süßen Geruch des glühend heißen Metalls in der Nase, hört das Knistern, das entsteht, wenn die Schweißer sich hinten in der südlichen Fertigungshalle an der Puusepänkatu an die Arbeit machen.

»Alles in Ordnung?«, fragt Joonas und blickt sich verstohlen im Treppenhaus um. Joonas Lamberg, Eliels langjähriger Chauffeur und Leibwächter, begleitet ihn auch an diesem Abend und wird dann am Steuer des Maybach in der Muukalaiskatu warten, bis Eliel fertig ist. Danach wird Joonas ihn zum Festplatz bringen, der im benachbarten Viertel ist. Normalerweise würde Joonas jetzt schon Feierabend machen, aber die Lage ist im Moment nicht normal: Viele gewöhnliche Menschen hassen Eliel Zetterborg und den Vorstand der RealEst aus tiefstem Herzen, deshalb ist es besser, wenn Joonas den ganzen Abend in der Nähe bleibt.

»Danke, ja. Wir sehen uns bald unten wieder«, antwortet Eliel, schließt die Tür auf und gibt den Code in die Alarmanlage ein.

Joonas nickt knapp, späht nach oben und geht dann zu Fuß die Treppe hinunter. Das tut er jeden Abend, um sich zu vergewissern, das sich niemand ins Treppenhaus geschlichen hat, der dort nicht hingehört. Joonas ist loyal und gewissenhaft. Er war früher beim Einsatztrupp der Polizei und ist immer noch gefährlich, obwohl er schon fast fünfzig und unbewaffnet ist.

Eliel Zetterborg klopft die Schuhe auf der Fußmatte ab und zieht den Mantel aus, der auf dem Weg vom Auto zur Haustür an den Schultern nass geworden ist. Die Wohnung duftet nach dem neuen Putzmittel, das die Putzfrau auf seine Bitte hin gekauft hat. Es überdeckt den muffig-süßlichen Geruch der Antiquitäten und der aus der Kriegszeit stammenden Möbeltextilien, gegen den Eliel in letzter Zeit eine Antipathie entwickelt hat. Dieser Geruch erinnert ihn daran, dass er alt geworden und – wie alle anderen auf Erden – dazu verurteilt ist, früher oder später zu sterben. In seinem Fall zweifellos früher. Seit Anne-Maries Dahinscheiden erscheint ihm jeder Tag wie ein langsames Abgleiten zum Tod, es ist, als würde sein Herz von Tag zu Tag seltener schlagen, bis es eines Nachts plötzlich stehen bleibt und ihn von seiner Qual erlöst.

Eliels Blick fällt auf die gelbe Plastiktüte, die im Flur herumsteht. Die Putzfrau hatte die Bücher am Vormittag in die Stadtbibliothek in der Rikhardinkatu bringen und bei der Gelegenheit die Vorbestellungen abholen sollen. Verflixt. Die Frau wird offenbar nachlässig.

Eliel geht weiter, die Hände in den Hosentaschen, und seufzt tief. Das Firmenjubiläum stimmt ihn nostalgisch.

Ein halbes Jahrhundert. In dieser Zeit ist RealEst zu einem globalen Börsenunternehmen herangewachsen, und es wird immer schwieriger, Gemeinsamkeiten mit dem kleinen Metallbetrieb zu finden, den er vor fünfzig Jahren mit Eetu gegründet hat.

Das Jahr 1970 war wie eine andere Wirklichkeit: Das von Kekkonen geführte, finnlandisierte Land unterschied sich fundamental vom heutigen Finnland, im Guten wie im Schlechten. Aus der Sicht seiner Eltern zweifellos im Schlechten. Eliel Zetterborgs Vater war Politikredakteur bei der Zeitung Helsingin Sanomat und trat entschieden für die Pressefreiheit ein. Seine Mutter machte als Bühnenschriftstellerin Karriere. Die künstlerischen und liberalen Zetterborgs empfanden die Nachkriegsatmosphäre als bedrückend und einlullend; vielleicht war das einer der Gründe, weshalb ihr einziger Sohn Eliel ein aktiver Gegner der Selbstzensur wurde, die der finnische Staat gegenüber der Sowjetunion betrieb. Andererseits profitierte die EZEM Rohrsystem AG (die im Zusammenhang mit der Fusion und der Börsenlistung im Sommer 1990 den Namen RealEst AG annahm) besonders in den 1980er Jahren erheblich vom bilateralen Handel zwischen den beiden Ländern, was seine Auffassung von der Sowjetunion deutlich positiver färbte. Solange der Nachbar im Osten zufrieden war, lief das Geschäft.

Opportunistischer Wendehals.

Eliel weiß, dass er ein Paradebeispiel dafür ist, wie man in der Hoffnung auf die schnellen Gewinne, die der Kapitalismus bietet, seine Ideologie verrät. Im Lauf der Jahre wurde ihm immer wieder vorgeworfen, er habe seine Prinzipien verkauft, von so vielen verschiedenen Menschen, dass er sich gar nicht mehr darüber ärgern mag. Außerdem stimmt es ja, auch wenn das alles Jahrzehnte zurückliegt. Dennoch bereut er nichts, keine Sekunde. Die Entscheidungen haben ihm und Anne-Marie ein großartiges Leben ermöglicht. Ihnen und Axel, der im Gegensatz zu Eliel in Wohlstand und Überfluss aufwachsen durfte. Mitunter überlegt Eliel, ob sich sein Sohn bei kargerem Nährboden anders entwickelt hätte: Ist ihre Beziehung gerade deshalb so schwierig, weil ihre Ausgangspositionen so sehr verschieden waren?

Eliel stellt sich vor den großen Spiegel und betrachtet sein weißbärtiges, gefurchtes Gesicht. Das Display des Handys blinkt auf der Kommode, aber er will nicht drangehen. Das Telefon hat heute so oft geklingelt wie nie zuvor. Reporter, Gratulanten, Berufs- und Hobbypolitiker, Beinahe-Freunde, Schulterklopfer. Schmarotzer. Heute ist ein großer Tag für die finnische Industrie und für RealEst. Die mittlere Führung des Unternehmens feiert gerade in einem riesigen Zelt auf dem Marktplatz Hietalahti, wo im Rahmen des Festprogramms verschiedene Künstler auftreten. Die Führungsgruppe und die Vorstandsmitglieder samt Ehepartnern versammeln sich im Salon des nahe gelegenen Restaurants Saslik zum Jubiläumsdinner.

Schlächter.

Eliel schließt die Augen und versucht zu vergessen.

Er sieht sie immer noch vor sich, die weißen Transparente, die den hellen Sonnenschein reflektieren. Es sind Dutzende, und sie werden von Hunderten Händen gehalten. Auf ihnen stehen in großen Buchstaben alle nur denkbaren Beschimpfungen. Tausende Menschen haben sich vor der Fabrik versammelt, und keiner von ihnen ist gekommen, um die fünfzigjährige Erfolgsgeschichte des Unternehmens zu feiern. Der Lärm, den die wütende Menschenmenge erzeugt, ist ohrenbetäubend, und als Dirigent wirkt ein Gewerkschafter, der mit seinem Megafon auf einem Podest steht.

Eliel öffnet die Augen und spürt, wie sein Herz hämmert. Diese undankbaren Knilche. Natürlich ist die Maßnahme radikal, aber sie wurde nicht leichtfertig beschlossen. Wenn die Fabrik zu retten wäre, würde sie gerettet. Bei dem Beschluss des Vorstandes, die Einheit in Kouvola zu schließen, geht es nicht darum, Produktionskosten zu senken, vielmehr soll die Rohrleitungstätigkeit heruntergefahren werden, weil sie einfach nicht mehr rentabel ist. Die Fabrik, die fast dreitausend Menschen beschäftigt, ist schon seit zehn Jahren ein Minusgeschäft im Unternehmen, und das Plus, das die anderen Bereiche der Geschäftstätigkeit erwirtschaften, ist kein hinreichender Grund, sie bis in alle Ewigkeit weiterzuführen. Noch problematischer als die Schließung der Fabrik ist wohl, dass es kaum möglich sein wird, die Menschen, die ihren Arbeitsplatz verlieren, in den anderen Bereichen des Unternehmens zu beschäftigen. Das Umfeld, in dem die RealEst AG tätig ist, hat sich in den letzten zehn Jahren wesentlich verändert. Selbst wenn die Firma die teure Umschulung bezahlt, wird ein fünfzigjähriger Metallarbeiter nie lernen, auch nur eine Zeile zu programmieren. Jedenfalls nicht schnell genug.

Zieh nach Schweden wie Nalle Wahlroos, du verdammtes Schwein.

Eliel seufzt. Er liest die Textnachricht, die schon vor fünfzehn Minuten gekommen ist. Axel hat sie geschickt.

Bin auf dem Weg zum Restaurant. Sei pünktlich.

Er denkt an seinen Sohn. An dessen fein geschnittenes Gesicht und seine überraschend hohe Stimme. In Axels Stimme schwingt eine Spur von jazzigem Whiskybass mit, wie bei seiner verstorbenen Mutter, von der der Sohn nicht nur das schöne Gesicht, sondern auch den grazilen Körperbau geerbt hat.

Das seltsame Sodbrennen, das ihn während der Fahrt gequält hat, ist zurückgekehrt. Der Besuch in Kouvola war wahrhaftig nicht erhebend. Eliel weiß, dass er den Vorstandsvorsitz in der RealEst AG in weniger als einem Jahr niederlegen wird, und gerade deshalb ist er bereit, die Kugel zu kassieren. Die Schelte der Nation auf sich zu nehmen. Dann kann sein Nachfolger einen neuen Anfang machen und vielleicht sogar die Unterstützung der Gewerkschaft gewinnen, sodass er das Unternehmen zu den nächsten großen Erfolgen lotsen könnte.

Eliel denkt kurz über seine Antwort nach und begnügt sich dann mit einem kurzen Ok.

Gleich darauf spürt er einen stechenden Schmerz in der Brust. Einen Augenblick lang hat er das Gefühl, keine Luft zu bekommen. Er setzt sich auf den Hocker im Flur.

Verdammt.

Für einen 74-Jährigen ist sein körperlicher Zustand hervorragend – er hat kürzlich den Halbmarathon in der Seniorenklasse in zwei Stunden und vierzehn Minuten geschafft. Aber ausgedehnte Abende im Restaurant mit Zehn-Gänge-Menüs und den dazugehörigen Weinen machen ihn geistig und körperlich müde. Vermutlich wäre es gut, das Herz noch einmal untersuchen zu lassen, doch er scheut vor Arztbesuchen zurück und vermeidet sie so lange wie möglich. Verdammt noch mal. Wenn heute nicht das Firmenjubiläum wäre, würde er es sich mit einem Glas Whisky auf dem Sofa bequem machen und sich Emmerdale ansehen.

Eliel geht langsam durch den Flur zum Wohnzimmer. Die langen, bräunlich gebeizten Dielen knarren unter seinen Merinosocken. Die dekorative Deckenlampe im Wohnzimmer erwacht zum Leben, als er den Schalter berührt. Er knöpft die Manschettenknöpfe auf und lässt die Ärmel über die Hände fallen.

Die Nadel des Plattenspielers senkt sich langsam auf die schwarze Scheibe. Johann Sebastian Bach: Sicilienne, Konzert in d-Moll, Bach-Werke-Verzeichnis 596. Nach Eliels Meinung das schönste Werk, das jemals komponiert wurde. Es macht ihn so wehmütig und traurig, dass es an Masochismus grenzt, es sich anzuhören. Das Konzert erinnert ihn an Anne-Maries Beerdigung, daran, wie Axels Vetter es zu Beginn der Gedenkfeier auf dem Klavier gespielt hat, hier in diesem Zimmer vor ungefähr drei Jahren. Seither sind also schon mehr als tausend lange Tage und Nächte vergangen, aber die Wohnung riecht immer noch nach Anne-Marie. Letztlich ist es also ganz egal, welches Putzmittel die Putzfrau kauft.

Anne-Marie.

Heute sollte er etwas anziehen, das ihn an Anne-Marie erinnert.

Eliel geht am Flügel vorbei zur Sitzgruppe und bleibt vor dem Gemälde stehen, das darüber hängt. Das Ölgemälde, das einen Auerhahn zeigt, lässt sich an einem Scharnier zur Seite klappen, sodass der in die Wand integrierte Safe sichtbar wird. Als Eliel den Zifferncode eingibt, ertönt ein Signalton, und der Safe öffnet sich.

Aus dem obersten Fach nimmt er seinen vielleicht wertvollsten Schatz, eine Vacheron Constantin Genève mit einem Gehäuse aus achtzehnkarätigem Gold. Der finanzielle Wert der Uhr ist nicht umwerfend, aber der ideelle ist umso größer: Anne-Marie hat ihm die Uhr 1969 zur Hochzeit geschenkt.

Eliel spürt das Gewicht der Uhr am Handgelenk, es fühlt sich fremd, zugleich aber auch vertraut an. Er geht zum Flügel und betrachtet das geräumige Wohnzimmer, die Perserteppiche, die vor langer Zeit handgefertigten Kommoden und die großen Ölgemälde mit den dekorativen Goldrahmen.

Er will heute Abend nicht zu der Feier gehen. Nicht ohne seine Frau.

Und dann hört er etwas über die Musik hinweg.

Er ist an dem Barschrank neben dem Flügel stehen geblieben, doch der Fußboden knarrt immer noch. Als läge ein Abstand von einer Sekunde zwischen seinen Schritten und dem Geräusch, das sie verursachen.

Er hält den Atem an. Plötzlich ist er sicher, dass sich außer ihm noch jemand in der Wohnung aufhält. Er blickt hinter sich, aber die bogenförmige Türöffnung zur Küche ist leer. Die Küche liegt im Dunklen, nur durch die Fenster, die zur russischen Botschaft gehen, fällt ein wenig Licht. Eliel schüttelt den Kopf. Das alte Jugendstilhaus führt sein eigenes Leben.

Im Hintergrund ertönt immer noch J. S. Bach, so schön wie jeden Abend.

Deine Sinne spielen dir einen Streich. Es war ein anstrengender Tag.

Eliel öffnet den Schrank und wählt die männlich-breitschultrige Flasche Macallan Reflexion. Wenn das Gefühl, das ihm die Brust einschnürt, unerträglich wird, sagt er seine Teilnahme am Abendessen ab. Das Älterwerden hat immerhin eine gute Seite: Wenn man etwas nicht tun will, hat man immer einen Vorwand – das Alter selbst. Dagegen kann keiner etwas sagen.

Die braune Flüssigkeit plätschert in das Glas wie Wasser aus einem klaren Bergbach.

Doch die Dielen knarren erneut, diesmal lauter. Eliel leert sein Glas, der Whisky mit dem leichten Pflaumenaroma brennt im Hals.

»Hallo?«, ruft Eliel energisch, obwohl er weiß, dass niemand antworten wird. Das hat er zuletzt getan, als Anne-Marie noch lebte. Wenn er abends nach Hause kam und nicht wusste, ob seine Frau in der Wohnung war oder nicht.

Er stellt das Glas auf den Barschrank und hüstelt in die Faust.

Natürlich ist er allein in der Wohnung. Bei seiner Ankunft war die Alarmanlage ja eingeschaltet, und die Tür im Flur ist seitdem nicht gegangen.

»Hallo?«, hört er sich wiederholen. Er weiß, das würde er nicht tun, wenn er hundertprozentig sicher wäre, dass außer ihm niemand in der Wohnung ist. Der Zweifel ist wie ein Schwert in der Brust.

»Wer ist da?«

Das Knarren ertönt diesmal hinter der Zwischenwand in der Küche. Dann ein schleifendes Geräusch, das mit einem kurzen Schnalzer endet. Die Küchenschublade.

Eliel spürt, wie ihm die Kälte den Rücken hochkriecht, bis zum Nacken.

Er greift nach seinem Handy und sucht in der Kurzwahl nach Joonas’ Nummer.

Nun sind die Schritte immer deutlicher zu hören.

Und dann sieht er sie, die dunkle Gestalt, die ruhig aus der finsteren Küche tritt. Das Handy entgleitet ihm und fällt zwischen seinen Füßen auf den Boden.

2

Joonas Lamberg öffnet die Tür und steigt aus. Der Nieselregen fällt auf seinen kahlgeschorenen Kopf, und der Baumwollblazer schützt kaum vor dem schneidenden Wind. Joonas will schon zum Mantel greifen, verwirft den Gedanken jedoch und schließt die Tür des frisch gewachsten Maybach. In seiner früheren Laufbahn beim Einsatztrupp der Polizei ist er in voller Sturmausrüstung in eiskaltem Wasser getaucht und hat bei klirrendem Frost acht Stunden lang reglos auf einem Blechdach gelegen und durch das Zielfernrohr seines Präzisionsgewehrs gestarrt. Er hat mehr als einmal geschossen, um zu töten, und ist ebenso oft selbst beschossen worden. Eine der Kugeln – die im November 1998 aus der Neunmillimeterwaffe eines finnlandschwedischen Bankräubers abgefeuert wurde – hat über seinem Knie eine ewige Narbe hinterlassen und das Ende seiner Karriere im Einsatztrupp eingeleitet. Joonas, den die Verhältnisse zum Wechsel in den Privatsektor gezwungen haben, ist auch mit Messern und Fahrradketten attackiert worden, aber in aller Regel als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen. Seit seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst hat er keine Waffe mehr getragen, obwohl er zu Hause eine hat. Nein, er verlässt sich auf Krav Maga, das israelische Selbstverteidigungssystem, in dem er jahrzehntelange Erfahrung und den schwarzen Gürtel der zweiten Expertenebene besitzt.

Es ist also klar, dass er seine Zigarette ohne Mantel rauchen kann, auch wenn der Wind vom Meer an diesem Abend geradezu mörderisch ist. Obwohl die Temperatur ein paar Grad über dem Nullpunkt liegt, fühlt man sich wie in einer klimatisierten Gefriertruhe.

Joonas steckt sich die Zigarette zwischen die Lippen, zündet sie mit dem Gasfeuerzeug an und kratzt an der Narbe an seinem Hals, die bei Kälte juckt. An einem der Gebäude in der Nähe klingelt eine Windglocke.

Er macht einen Zug und wirft einen Blick auf die Fenster seines Chefs. Seines Chefs, der in den letzten drei Jahren um zehn Jahre gealtert zu sein scheint. Nach dem Tod seiner Frau sind Zetterborgs Schritte allmählich steif geworden, und es ist noch schwieriger als früher, irgendeine Verbindung zu ihm aufzubauen.

Joonas denkt an seine Mutter, die ein Jahr jünger ist als Zetterborg und in einem Seniorenheim wohnt. Die Alzheimer-Krankheit hat sich in den letzten Monaten verschlimmert, die jüngsten Erinnerungen sind in Vergessenheit geraten, und die Zukunft sieht nicht rosig aus. Mitunter überlegt er, ob er seine Mutter aus dem Heim holen und für ihre letzten Tage irgendwohin bringen sollte, wo kein eiskalter Nieselregen fällt, sondern ein lauer Mittelmeerwind weht.

Joonas bläst den Rauch aus, den ein Windstoß schnell davonträgt.

Er wirft einen Blick auf seine Uhr, als wolle er nachsehen, wie lange die Zigarette schon brennt. Nach ein paar schnellen Zügen wirft er die Kippe weg und sieht im selben Moment, dass sein Handy auf dem Vordersitz des Maybach klingelt.

Er steigt ein und greift nach dem Telefon. Auf dem Display blinkt der Name Prinz Charles. An sich ein ungehöriger Witz, den Zetterborg senior sicher missbilligen würde, wenn er wüsste, welchen Beinamen Joonas Axel verpasst hat. Im Umgang mit der Familie ist Joonas immer höflich, aber nie kriecherisch oder zu offiziell. So hat es sein Chef ausdrücklich gewünscht.

»Joonas.«

»Hallo, Joonas … Ich ruf nur an, weil …« Axel Zetterborgs Stimme klingt aufgeregt.

Joonas tut das, was er am besten kann: Er wartet geduldig.

»Ist mein Vater bei dir?«, bringt Axel schließlich heraus.

»Dein Vater ist zu Hause. Ich warte im Auto vor der Tür.«

»Solltet ihr nicht direkt zum Restaurant kommen?«

»Dein Vater wollte vorher nach Hause.«

»Okay … Vater wird im Restaurant erwartet, und das weiß er.«

Joonas Lamberg beugt sich vor, um die Fenster an der Hausecke zu sehen. Dort brennt ein schwaches Licht.

»Er geht nicht ans Telefon. Sonst meldet er sich immer«, sagt Axel und klingt nun besorgt. »Ich würde ja nicht anrufen, aber er hat früher am Tag geklagt, dass er sich nicht ganz wohlfühlt.«

»Bestimmt kommt er …«

»Geh nachsehen.«

»Aber …«

»Tu, was ich sage, Joonas.«

»In Ordnung. Ich geh rauf«, sagt Joonas, öffnet die Tür und stemmt sich aus dem Wagen. Wahrscheinlich geht es dem Chef gut, aber selbst bei dem kleinsten Verdacht muss sekundenschnell gehandelt werden. Alles andere wäre unprofessionell.

Joonas läuft zur Tür und zieht den Schlüssel aus der Tasche. Er hat Axel immer noch am Apparat, als er die Treppe hinaufstürmt. Sechs Etagen in weniger als einer halben Minute. Die Kniescheibe funktioniert gut, obwohl sie auf dem Röntgenbild geradezu schaurig aussieht und jederzeit streiken kann.

»Ich bin jetzt oben an der Tür. Draußen war alles friedlich …«, sagt Joonas leicht außer Atem und klingelt.

»Ich hab auch nichts anderes vermutet, aber …« Axel unterbricht sich mitten im Satz, wohl weil er hofft, die wütende Stimme seines Vaters zu hören. Ich komm ja schon, verdammich.

Sie ist jedoch nicht zu hören, und die Tür wird nicht geöffnet.

Eine Weile steht Joonas, das Handy am Ohr, vor der Tür und starrt auf das Namensschild, auf dem mit weißen Buchstaben auf schwarzem Grund Zetterborg steht. Dann klopft er ein paarmal laut an. Die Sekunden verstreichen, bis zweifellos mehr als eine Minute vergangen ist.

»Joonas?«, fragt Axel, und jetzt ist die Unruhe in seiner Stimme unüberhörbar.

Joonas öffnet die Tür mit seinem eigenen Schlüssel.

»Axel«, sagt er, nachdem er das Wohnzimmer erreicht hat. »Hier ist tatsächlich was passiert.«

3

Kriminalhauptmeisterin Jessica Niemi beobachtet ein Eichhörnchen, das in seinem grauen Winterfell über den Weg trippelt und dann verblüffend schnell an einem dicken Baumstamm hochklettert. Die kleinen Wunder der Natur, wie zum Beispiel die Gewandtheit des der Schwerkraft trotzenden Nagetiers, haben sie seit jeher fasziniert. Sie verspürt von Jahr zu Jahr mehr Sehnsucht nach der Natur, vielleicht um Distanz von den Tragödien und entsetzlichen Menschenschicksalen zu gewinnen, denen sie bei ihrer Arbeit begegnet.

Das ist jedoch nicht der Grund, weshalb sie an diesem dunklen Januarabend in den Zentralpark gegangen ist.

Das Eichhörnchen ist aus ihrem Blickfeld verschwunden, aber Jessica hört, wie seine kleinen Krallen an der Baumrinde schaben, und sieht die Zweige in einigen Metern Höhe schaukeln.

Die von dichtem Wald umgebene Joggingstrecke ist dunkel, und bei dem eisigen Nieselregen sind kaum Ausdauersportler unterwegs. Jessica hat eine Taschenlampe mitgenommen, doch bisher hat das Licht der wenigen Laternen am Weg gereicht.

Jessica zieht den Reißverschluss ihrer Windjacke mit den Fingern der linken Hand hoch. Ihre rechte Hand ruht immer noch in einer Armschlinge. Nicht, weil es für die Heilung weiterhin notwendig wäre, sondern deshalb, weil die Armmuskeln immer schmerzen, wenn das Mitte Dezember verletzte Handgelenk frei herunterhängt.

Damals hat der Vorschlaghammer, den eine junge Frau geschwenkt hat, nicht nur Jessicas Handgelenk, sondern auch ihre Daumenwurzel getroffen. Er hat das Große Vieleckbein zertrümmert, und der Chirurg musste eine Meisterleistung vollbringen, um wenigstens halbwegs gute Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass der Daumen eines Tages wieder funktioniert. Trotz der gelungenen Operation hat Jessica eine langwierige Rehabilitation vor sich. Nach einer vorsichtigen Schätzung wird sie ihre Waffe auf dem Schießstand der Polizei in Pasila im Sommer zum ersten Mal wieder in die Hand nehmen können, vielleicht auch erst im Herbst. Falls sie überhaupt in ihren Beruf zurückkehren will. Im Moment steht das keineswegs fest.

Der Gedanke, sich beurlauben zu lassen, kam auch für Jessica überraschend. Sie hatte sich mit ihrer Chefin Hellu bereits darauf geeinigt, dass sie weiterhin normal in ihrer Einheit arbeiten konnte, wenn sie Einsätze, bei denen beide Hände gebraucht wurden, den anderen überließ. Und eine Zeitlang hatte Jessica auch das Gefühl, dass sie weiterarbeiten wollte. Hellu hatte ihr eine zweite Chance gegeben, trotz allem, was sie über Jessica und ihre Vergangenheit erfahren hatte. Hellu hatte ihr einen Rettungsring zugeworfen, und für kurze Zeit war Jessica bereit gewesen, sich daran zu klammern. Aber dann …

Jessica bleibt stehen und betrachtet die feuchte Joggingstrecke. Der Wind lässt das Wasser in den Pfützen tanzen, sie sind noch nicht zugefroren.

Genau hier ist es passiert. An dieser Stelle wurde Jessica im letzten November von einem betrunkenen Mann angegriffen. Er warf sie zu Boden und sagte immer wieder dasselbe Wort: Heiligabend.

Und nur fünfzig Meter von hier, mitten im Wald, wurde an Heiligabend die verkohlte Leiche eines Mannes gefunden.

Ein Windstoß lässt die kahlen Zweige der Bäume schaukeln. Jessica schreckt auf, als sie ein rasch näher kommendes Rauschen hört. Einige Sekunden später saust ein Radfahrer in engem Trikot vorbei und verschwindet so schnell, wie er aufgetaucht ist.

Jessica läuft es kalt den Rücken hinunter. Sie glaubt nicht an Zufälle. Sie weiß, dass etwas im Gang ist. Etwas, was sie allein herausfinden muss.

Sie erinnert sich, wie sie in der Weihnachtsnacht in ihrer Wohnung am Fenster stand.

Sie erinnert sich, was sie gesehen hat. Gehörnte Gestalten. Sie mussten zu der Hexenbande gehören, die vor einem Jahr viele Menschen ermordet und schließlich auch Jessicas Leben bedroht hat.

Aber trotzdem kann sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht restlos trauen. Es ist durchaus möglich, dass sich in ihrem Kopf zwei Welten vermischt haben, von denen nur eine real ist.

Und deshalb muss sie die Sache allein untersuchen, sich vergewissern, dass die Bedrohung echt ist. Andernfalls würde sie für alle Zeiten als verrückt abgestempelt.

Jessica aktiviert die Kamera an ihrem Handy, knipst die Taschenlampe an und geht vom Weg in den Wald, zu der Stelle, wo an Heiligabend die Leiche des Mannes gefunden wurde.

4

Kriminalmeister Jusuf Pepple, Ermittler bei der Einheit für schwere Verbrechen in Helsinki, parkt an der Kreuzung Vuorimiehenkatu und Muukalaiskatu, über die sich ein blauweißes Absperrband zieht. In der Stereoanlage seines Wagens dröhnt der Song Karhukirje von Fella Nalle, dessen Beat bestimmt bis zum nächsten Hauseingang dringt.

Finnischsprachiger Rap ist Jusufs Kraftquelle, er hat ihn seit den frühen Teenagerjahren aufgesogen, seit der Zeit, als bei den Partys in Söderkulla Punainen tiili, Renesanssi und Hampuusin päiväkirja aufgelegt wurden: alle Klassiker des einheimischen Hiphop.

Jusuf schaltet die Stereoanlage aus, greift nach seiner weißen Marlboroschachtel und schwingt sich aus dem Wagen. Die Temperatur liegt ein paar Grad über null, und das im Januar. Aber der kräftige Seewind, der aus dem Kaivopuisto-Park herüberweht, macht die Luft eisig. Die Schiebetür des Kleintransporters neben Jusufs Auto wird geöffnet, und eine blonde Frau mit einer Sporttasche steigt aus. Die beiden nicken sich fast unmerklich zu.

»Das Bügeleisenhaus«, sagt die Frau, während Jusuf eine Zigarette ansteckt.

»Hä?«

Die Frau zeigt auf das helle, dreieckige Gebäude vor ihnen.

»Das da. Eine Kopie aus Manhattan.«

Jusuf wirft der Frau einen gewollt überraschten Blick zu. Die Frau heißt Tanja, sie ist Tatortermittlerin und richtig süß. Jusuf hat beim letzten Betriebsfest einmal mit ihr getanzt, und kurz darauf haben sie sich geküsst. Weiter sind sie jedoch nicht gegangen. Jusuf weiß nicht recht, warum nicht. Vielleicht war die Trennung von Anna damals noch zu frisch, vielleicht dachte Jusuf, wenn er mit Tanja knutschte, wäre die Möglichkeit, dass Anna zu ihm zurückkehrte, endgültig ausgeschlossen. Er hing wohl den ganzen Herbst über noch an seinem früheren Leben, auch wenn es ihm damals nicht ganz bewusst war. Jedenfalls sind sie beide nie auf ihren intimen Tanz beim Betriebsfest zurückgekommen, was auch ein wenig seltsam ist. Als wären sich zwei einander völlig unbekannte Menschen für die Zeit eines magischen Kusses begegnet und hätten sich dann aus den Augen verloren, bevor die Kutsche sich in einen Kürbis oder was auch immer verwandelte.

»Wovon sprichst du?«, fragt Jusuf. Tanja setzt eine übertrieben enttäuschte Miene auf.

»Der Architekt Max Frelander hat sich bei einem Besuch in New York für das Flatiron Building begeistert. Das ist ein Wolkenkratzer auf der Fifth Avenue in Manhattan, dessen Grundriss ungefähr die Form eines Dreiecks hat. Frelander wollte einen Abglanz der großen weiten Welt nach Helsinki bringen, und das hier ist das Ergebnis.«

»Flatiron? Der Architekt hat im Stadtteil Kaivopuisto seine Version eines Hauses bauen lassen, das wie ein Bügeleisen geformt ist?«

»Nicht ganz. Er hat das Gebäude, das auf dem Grundstück stand, umgebaut, einige Stockwerke hinzugefügt und die Giebelwand abgerundet. Das war 1930 oder so.«

Jusuf betrachtet das achtstöckige Haus im Stil des Funktionalismus und zieht an seiner Zigarette. Das Poltern der Straßenbahn auf der benachbarten Tehtaankatu klingt wie der Beginn eines Erdbebens.

»Ein Abglanz der großen weiten Welt? Das überzeugt mich nicht so ganz.«

»Kein Wunder. Das Flatiron Building ist dreimal höher.«

»Flanders Versuch ist also ein Torso.«

»Frelanders.«

Jusuf sieht Tanja belustigt an und zeigt mit den Fingern, zwischen denen er die Zigarette hält, auf sie.

»Frelanders. Natürlich. Und du weißt das alles, weil …«

»Habe ich dir das damals nicht erzählt? Oder haben wir nur getanzt?«

»Haben wir wirklich nur getanzt?«

»Hauptsächlich.« Tanja lacht auf und streicht sich die Haare, die unter ihrer Mütze hervorlugen, hinter die Ohren.

»Ich bin eine fast fertige Architektin«, fügt sie hinzu.

Jusuf lächelt so breit, dass seine schneeweißen Zähne sichtbar werden.

»Wow. Wie in aller Welt wird aus einer fast fertigen Architektin eine kriminaltechnische Ermittlerin, die blutige Tatorte untersucht?«

»Eine Kehrtwende kann man auch am Ziel noch machen, Jusuf. Und noch leichter kurz davor.«

»Mag sein«, sagt Jusuf, um das leicht flirtende Gespräch zu beenden, und geht ein paar Schritte auf das Gebäude zu. Vielleicht können sie irgendwann da weitermachen, wo sie auf dem Betriebsfest aufgehört haben, aber an einem Tatort, wo die Leiche noch nicht einmal erkaltet ist, ein Treffen zu vereinbaren oder auch nur davon zu träumen, erscheint ihm unpassend.

Auf der Muukalaiskatu stehen außer den am Straßenrand parkenden Wagen drei Polizeifahrzeuge und ein Krankenwagen. Das blinkende Blaulicht, das die Hauswände zurückwerfen, ist ein so vertrauter Anblick für Jusuf, dass er es mit geschlossenen Augen in allen Einzelheiten beschreiben könnte. Es ist eine Nachricht an die Umgebung, die sich nie schön anhört. Als hätte der Tod sich ins Gästebuch eingetragen.

»Unser heutiger Kunde ist wohl ein etwas höheres Tier«, sagt Jusuf, lässt die Kippe fallen und tritt die Glut mit der Schuhspitze aus. Die siebte Zigarette des Tages ist mit Sicherheit nicht die letzte.

»Ich habe mir immer schon gedacht, es ist nur eine Frage der Zeit, wann so etwas passiert«, meint Tanja. »Man sollte annehmen, dass die Bosse von RealEst sich in diesen Tagen besonders gut schützen.«

»Genau«, stimmt Jusuf ihr zu. Vor dem Haus befragen zwei Polizisten im Overall einen auf der Vortreppe sitzenden Mann in Anzughose und langem schwarzen Mantel. Das muss der Chauffeur und Leibwächter sein, den Hellu am Telefon erwähnt hat.

»Bis gleich. Ich zieh mir den Raumanzug über«, sagt Tanja und geht zu dem Kleintransporter zurück.

Jusuf winkt ihr zu, dann nimmt er Kurs auf die Haustür des einem Bügeleisen nachempfundenen Gebäudes. Er duckt sich unter dem Absperrband durch und hält den Kollegen im Overall seinen Dienstausweis hin. Er besucht schon seit sechs Jahren Tatorte, wird mitunter aber immer noch aufgehalten, wenn er polizeilich abgesperrtes Gelände betritt. Legere Kleidung und dunkle Haut taugen offenbar selbst in den 2020er Jahren nicht als Kennzeichen eines Kriminalmeisters. Jusuf ist immer noch die einzige farbige Person in der Abteilung und hat sich längst daran gewöhnt, mit langen Blicken und plumpen Kommentaren bedacht zu werden, wenn er neuen Kollegen oder Klienten begegnet.

Diesmal trifft er jedoch auf Streifenpolizisten, die er kennt.

»Wie sieht’s aus?«, fragt Jusuf und tritt, die Hände in den Hosentaschen, vor den einen der beiden Polizeimeister. Der Mann heißt Hallvik, ein mit allen Wassern gewaschener Kollege, dem Jusuf schon einige Male an Tatorten begegnet ist.

»Die Hauptkommissarin ist drinnen«, erklärt Hallvik, während sein Kollege die Befragung des Chauffeurs fortsetzt. Jusuf nickt und blickt dann fragend über Hallviks Schulter.

»Der Chauffeur«, sagt Hallvik leise. »Er hat den Notruf alarmiert.«

»Hat er irgendetwas gesehen?«

»Offenbar nicht«, antwortet Hallvik und spuckt einen Rotzklumpen aus. »Bei unserem Eintreffen war auch der Sohn des Opfers in der Wohnung. Axel Zetterborg. Anscheinend ist er aus einem Restaurant hergerannt, das ganz in der Nähe liegt und in dem eine ganze Gesellschaft, darunter auch das Opfer, zu Abend essen sollte.«

Jusuf schweigt eine Weile, wie um Hallviks Worte zu verdauen.

»Wo ist Axel Zetterborg jetzt?«

»Im Auto«, antwortet Hallvik und nickt zu dem Streifenwagen hin. »Er war total fassungslos. Wir mussten ihm ziemlich nachdrücklich befehlen, die Wohnung zu verlassen. Zwischen den ersten Aussagen der beiden scheint es aber keine Widersprüche zu geben.«

Jusuf wirft einen Blick auf den Wagen, in dem Axel Zetterborg auf weitere Informationen wartet. Seine Befragung sollte bald vorgenommen werden, damit er nach Hause gehen kann. Falls kein begründeter Verdacht besteht, dass er in den Tod seines Vaters verwickelt ist.

»Ihr wart als Erste in der Wohnung?«, vergewissert Jusuf sich bei Hallvik.

Der Kollege nickt.

»Was ist da passiert?«

»Das ist ein ziemlich trauriger Anblick. Ich würde sagen, sieh es dir selbst an, soweit man sich jetzt in der Wohnung bewegen kann, ohne Spuren zu verwischen … Ein paar Typen im weißen Overall sind ja schon da, und offenbar kommen noch mehr …«

»Okay«, sagt Jusuf und geht durch die offene Tür ins Haus. Er zieht die blauen Plastiküberzüge, die Hallvik ihm reicht, über die Schuhe, bindet sich eine Stoffmaske vor das Gesicht und streift die weißen Schutzhandschuhe über.

Der schroffe Rap-Sound, der ihm immer noch in den Ohren klingt, passt überhaupt nicht in die dekorative Eingangshalle, die er gerade betreten hat.

5

Auf dem Treppenabsatz im sechsten Stock steht eine Frau, deren kurze blondierte Haare an den Wurzeln schwarz nachwachsen. Hellu – offiziell Hauptkommissarin Helena Lappi – trägt eine schwarze Steppjacke und die vorgeschriebene Schutzkleidung. Jusuf sieht ihren Mund nicht, aber ihre Augen wirken müde und eine Spur verärgert. So sieht Hellu eigentlich immer aus, von wenigen Ausnahmesituationen abgesehen.

»Hallo«, sagt Jusuf, doch Hellu antwortet nicht. Sie dreht sich um und blickt durch die offene Tür in die Wohnung. Am Ende des langen Flurs zuckt Blitzlicht auf. Der Mittelpunkt der Foto-Session, einer der bekanntesten Industriebosse Finnlands, wird allerdings aus anderen Gründen fotografiert, als man am Tag des fünfzigsten Jubiläums seiner Firma vermuten könnte.

Jusuf bleibt vor dem Aufzug stehen, stützt die Hände in die Seiten und wirft einen Blick auf den Familiennamen an der Wohnungstür.

»Zetterborg«, sagt er leise.

»War das nicht schon klar?«, antwortet Hellu müde, klingt diesmal aber nicht besonders boshaft.

»Ja, schon, aber …«

»Ein wichtiger Fall, Jusuf. Der bisher größte für uns beide«, fährt Hellu fort, dreht sich zu Jusuf um und nimmt den Mundschutz ab. »Jemand hat Eliel Zetterborg ein großes Messer direkt ins Herz gestoßen.«

»Jesus Christus«, flucht Jusuf. »Haben wir irgendwas …«

»Joonas Lamberg, Chauffeur und Leibwächter. Vermutlich hast du ihn unten gesehen.«

Jusuf nickt. Ein leiser Knall ist zu hören, dem ein gedämpftes Summen folgt, als der Aufzug sich ruckelnd in Bewegung setzt und langsam im Schacht verschwindet. Irgendwo unten ertönen Männerstimmen.

»Lambergs Befragung ist jetzt das Wichtigste«, erklärt Hellu. »Er sagt, er habe Zetterborg bis an die Tür begleitet und gehört, wie sein Chef die Alarmanlage ausgeschaltet hat. Es kann also niemand in der Wohnung gewartet haben.«

»Vielleicht hat der Killer im Treppenhaus gewartet?«, meint Jusuf.

Hellu schüttelt den Kopf.

»Der Sicherheitsmann ist zu Fuß nach unten gegangen und hat dabei alle Stockwerke überprüft. Seinen Worten nach tut er das jeden Abend.«

»Die obere Etage auch?«, fragt Jusuf. Hellu nickt. »Und durch die Haustür ist niemand gekommen?«

»Lamberg hat niemanden gesehen. Er wirkt ziemlich wachsam, daher würde ich seinen Worten Glauben schenken.«

»Na verdammt, ist der Mörder dann aus einer der anderen Wohnungen gekommen?«

»Die Streife hat zusammen mit dem Hausmeister an jede Tür geklopft, in allen Wohnungen waren die Leute zu Hause, aber niemand hat etwas gesehen«, antwortet Hellu und zeigt auf die Tür gegenüber von Zetterborgs Wohnung. »Die Frau, die da drüben wohnt, sagt, sie hätte zur fraglichen Zeit vielleicht einen leisen Schrei gehört, war sich aber nicht sicher und konnte auch nichts Genaueres sagen.«

»Na ja, man sollte tatsächlich meinen, dass das Opfer geschrien hat«, sagt Jusuf.

»Vorläufig ist es völlig rätselhaft, wie der Täter in Zetterborgs Wohnung gekommen ist. Das Schloss ist unberührt. Zetterborg muss seinen Mörder selbst hereingelassen haben.«

»Und der Hintereingang?«, fragt Jusuf leise und muss zwangsläufig an die riesige Wohnung in Etu-Töölö denken, die seine Kollegin und Freundin Jessica Niemi besitzt.

»Unversehrt«, sagt Hellu, als sich unten das Gitter schließt und der Aufzug sich erneut in Bewegung setzt.

Jusuf setzt zur nächsten Frage an, aber Hellu hat warnend den Zeigefinger gehoben und hält sich das lautlos vibrierende Handy ans Ohr.

Lappi. Hallo. Ja … genau.

Die Hauptkommissarin verschwindet im Flur von Zetterborgs Wohnung und lässt Jusuf im Treppenhaus zurück.

Im selben Moment hält der Aufzug. Ein etwa fünfzigjähriger bärtiger Mann, der aussieht, als wäre ihm gerade ein Gespenst begegnet, steigt aus. Auf der Brust seines schwarzen Hoodies steht in großen Buchstaben Haus-Makkonen.

Jusuf sieht Hellu an, die neben ihm aufgetaucht ist und das Handy kurz sinken lässt. »Der Hausmeister«, erklärt sie, dann setzt sie das Telefongespräch fort.

»Guten Abend«, sagt Jusuf, als der Mann die Aufzugtür schließt, auf dem Treppenabsatz stehen bleibt und die Hände in die Seiten stützt.

»Guten Abend, ich bin Jari Makkonen, der Hausmeister …«

»Jusuf Pepple von der Polizei.« Jusuf zeigt dem Mann seinen Dienstausweis, der um seinen Hals hängt. »Sie haben mit den Streifenbeamten an allen Wohnungen im Treppenaufgang A geklingelt?«

»Ja, an allen zwölf«, bestätigt Makkonen und steckt die Hände in die Taschen seiner weiten schwarzen Jeans, vermutlich, weil er nicht weiß, was er mit ihnen anfangen soll. Zwischen seinen oberen Zähnen hat Kautabak einen Farbfleck hinterlassen, und sein Atem riecht nach stark gewürztem Essen.

»Wohin führt der Hintereingang der Wohnung?«, fragt Jusuf.

»Zum Dachboden und nach unten in den Innenhof.«

»Gibt es da einen Aufzug?«

Makkonen schüttelt den Kopf.

»Kommt man vom Dachboden in die anderen Treppenaufgänge?«

»Nein.«

Jusuf betrachtet den grau getönten Bart des Mannes, der am Ende zusammengebunden ist.

»Waren Sie mit den Polizisten auf dem Dachboden?«

Makkonen nickt.

»Und vom Innenhof kommt man durch die Toreinfahrt auf die Straße …«

»Genau. Und natürlich in die Treppenaufgänge B und C. Und an der anderen Seite des Hauses auf die Vuorimiehenkatu, da ist ja auch ein Eingang.«

»Passt ein und derselbe Schlüssel für die Haustüren aller Treppenaufgänge?«

»Nein, die Schlüssel sind so profiliert, dass man nur die Tür zum eigenen Aufgang aufschließen kann.«

»Wie weit ist es von der Toreinfahrt zur Tür des Aufgangs A an der Straßenseite?«

»Um die zwanzig Meter«, antwortet Makkonen. Jusuf sieht die hohen Bäume an der Muukalaiskatu vor sich, deren kahle Äste jemandem, der sich vor dem Haus bewegt, Schutz bieten können. Es ist durchaus möglich, dass jemand durch die Toreinfahrt geschlüpft ist, ohne dass Zetterborgs Leibwächter es bemerkt hat. Und falls der Täter gewusst oder gemerkt hat, dass Lamberg auf der Straße Wache hält, hat er sicher den Eingang an der Vuorimiehenkatu benutzt.

»Wohnen Sie hier im Haus?«, fragt Jusuf nach kurzem Schweigen.

»Nein«, antwortet der Hausmeister mit ungläubiger Miene, als wäre der Gedanke völlig absurd. »Ich wohne in der Pietarinkatu. Ich arbeite noch für drei andere Immobilien als Hausmeister.«

Jusuf wirft erneut einen Blick auf Hellu, die ihm immer noch den Rücken zukehrt und etwas ins Telefon murmelt. Als Ermittlungsleiterin hat sie natürlich viele Dinge gleichzeitig zu erledigen, aber es wäre angenehmer, wenn sie ihre telefonischen Besprechungen zum Beispiel im Auto auf der Rückfahrt nach Pasila erledigen würde. Na, Hellu ist und bleibt eben Hellu.

»Gibt es im Haus Überwachungskameras oder irgendetwas anderes, das uns weiterhelfen könnte? Elektrische Verriegelungen, elektronische Kontrollsysteme oder so was?«, fragt Jusuf, aber Makkonen schüttelt wieder den Kopf.

Hellu beendet endlich ihr Gespräch und gesellt sich zu den beiden Männern im Treppenhaus. Sie betrachtet den nervös wirkenden Hausmeister kühl, als würde sie seine Angst riechen und Kraft aus ihr schöpfen.

»Sie müssen in den nächsten Stunden … und Tagen erreichbar sein«, sagt sie.

»Ja, natürlich«, antwortet Makkonen und blickt über die Schulter der Hauptkommissarin, offenbar in der Hoffnung, wenigstens einen kurzen Blick auf das zu erhaschen, was in der Wohnung vor sich geht.

»Kriminalmeister Pepple wird Sie kontaktieren«, fährt Hellu fort und starrt den Mann unverwandt an, bis er wieder in den Aufzug steigt und auf den Knopf für das Erdgeschoss drückt. Jusuf beobachtet, wie der erschrockene Blick des Hausmeisters zwischen den Etagen verschwindet. Dann nickt Hellu zur Wohnung hin. Showtime.

6

Axel Zetterborg hört die Stimmen, die von außen in den Wagen dringen, bekommt aber nicht mit, worüber die Streifenpolizisten reden. Er betrachtet seine Hände, die endlich aufgehört haben zu zittern.

Auf den Autos, die in der Muukalaiskatu parken, blinkt Blaulicht. Die Szene könnte direkt aus einem zweitklassigen Actionfilm stammen.

Axel stößt einen nervösen Seufzer aus.

Sein Vater ist tot. Das ist schwer zu glauben.

Und gleichzeitig ist alles völlig klar.

Sein Vater ist jetzt an irgendeinem Ort, der hoffentlich nicht besser ist als die Hölle. Gut so.

Axel ballt die Fäuste.

Er hat alles für die Firma getan, hat gegen den Wunsch seiner Frau seit Jahren auf seinen Urlaub verzichtet und verlockende Stellenangebote ausgeschlagen, die er im Lauf der Zeit bekommen hat, sogar von jenseits des großen Teichs. Sein Privatleben ist abwechslungsreich, na schön, aber er hat trotzdem immer das Beste für die Firma im Sinn gehabt. Seinem Vater hat das nicht gereicht. Scheiße. Für Axel hatte der Erfolg der RealEst sogar Vorrang vor dem Kinderwunsch seiner Frau. Das heißt, vielleicht liegt die Kinderlosigkeit doch daran, dass Axel keine Kinder will: Er hat seine Frau endlich dazu überredet, die jahrelange, fruchtlose und verdammt teure Kinderwunschbehandlung zu beenden. Seine Spermien sind jedenfalls nicht das Problem, das hat er schon einmal bewiesen.

Axels Hand fährt in die Hosentasche, die jedoch leer ist. Die Polizisten haben ihm das Handy abgenommen und gesagt, er bekomme es nach der vorläufigen Befragung durch die Kriminalpolizei zurück.

Axel vergräbt das Gesicht in den Händen. Wie anders hätte dieser Abend im besten Fall verlaufen können. Er hätte sich im Salon des Saslik maßvoll betrunken, seine Unbesiegbarkeit mit ein paar Linien Koks verstärkt und sich dann frühzeitig verzogen, zuerst in die VIP-Lounge des Restaurants Teatteri und dann in den Striptease-Club in der Uudenmaankatu. Der große Tag des Unternehmens hätte mit einem unvergesslichen Höhepunkt enden sollen: Er hatte die Mannerheim-Suite im Hotel Kämp reserviert, wo er mit Shirley oder irgendeiner anderen Hure aus der Bar den Druck der ganzen Woche ablassen wollte. Vielleicht hätte er zwei gleichzeitig mitgenommen, die hirnlosen Hühner stundenlang gefickt und beim Zimmerservice massenweise Hamburger bestellt. Jetzt kann er von alldem nur träumen.

Sein Vater ist tot.

Wie hat sich alles Gold so schnell in Scheiße verwandeln können?

Axel schlägt die Fäuste gegen das Rückfenster des Polizeifahrzeugs.

7

Jusuf betritt die Wohnung, die nach Museum riecht. Neben der Tür liegt ein Stapel folierte Bücher.

»Ist Zetterborg ein Bücherfreund?«, fragt Jusuf und geht in die Hocke, um sich die Bücher anzusehen.

»Fass die bloß nicht an«, warnt Hellu in mahnendem Ton. »Vielleicht haben sie was mit dem Fall zu tun.«

Jusuf hält jedoch schon eins der Bücher in seinen behandschuhten Fingern. James Joyce – Ulysses. Ein Klassiker und Ziegelstein, vor dessen Lektüre er sich in der Oberstufe gedrückt hat. Auf der Schmutztitelseite prangt der Stempel der Stadtbibliothek Helsinki.

»Deshalb hab ich ja das Gummi übergezogen«, sagt Jusuf fingerschwenkend.

Er weicht Hellus strengem Blick aus, legt das Buch zurück und folgt der Hauptkommissarin ins Wohnzimmer.

Eliel Zetterborg liegt auf dem Rücken zwischen Flügel und Barschrank. Sein Hemd, das den Ärmeln nach ursprünglich weiß war, hat sich rot gefärbt.

»Die Tatwaffe?«, fragt Jusuf und zeigt auf das mit einem gelben Nummernzettel markierte, lange und blutige Küchenmesser, das nur einen Meter von dem Opfer entfernt aus einem Dielenbrett aufragt. Allem Anschein nach wurde es in den Fußboden gestoßen.

»Was für ein Durchbruch«, sagt Hellu und weicht einem kriminaltechnischen Ermittler im weißen Schutzanzug aus, der einen Instrumentenkoffer trägt. »Es stammt aus dem Messerbänkchen in der Küchenschublade.«

Jemand kommt zur Tür herein, und gleich darauf hört Jusuf die technischen Ermittler in der Küche miteinander reden. Er erkennt Tanjas Stimme.

»Eigenartig«, sagt er leise.

»Was?«

»Dass die Mordwaffe ein zufälliger Fund sein soll, ein Messer aus der Küche. Wenn jemand in der Absicht hier eingedrungen ist, Zetterborg zu ermorden, würde man annehmen, dass er eine Waffe mitbringt.«

»Vielleicht hatte er nicht die Absicht, Zetterborg zu töten«, meint Hellu, doch Jusuf schüttelt den Kopf.

»Der Täter hat das Opfer erstochen und die Klinge dann aus der Brust gezogen. Er muss gewusst haben, dass der Tod dadurch schneller und sicherer eintritt«, sagt er und sieht Hellu von unten an. »Klingt nicht gerade spontan, auch wenn er die Waffe aus der Küche geholt hat.«

Hellu hüstelt trocken.

»Andererseits hat man das ja auch schon erlebt: eine völlig ungeplante Tat, mit der sich trotzdem ungezügelte und lange anhaltende Gewalt verbindet. Vielleicht war jemand in räuberischer Absicht in der Wohnung und sah sich gezwungen, den überraschend aufgetauchten Zetterborg zu töten, um ihn als Augenzeugen auszuschalten.«

»Kann sein … Ich finde es nur etwas naiv, von einem Raub auszugehen, wenn man bedenkt, dass Zetterborg im Moment einer der meistgehassten Männer in ganz Finnland ist. Außerdem zeugt es doch auch von Planmäßigkeit, dass es dem Täter gelungen ist, auf unerklärliche Weise das Alarmsystem zu umgehen und obendrein unbemerkt zu verschwinden. Vor dem Haus hat ja ein eiserner Sicherheitsprofi Wache gehalten, der bestimmt nicht in einem Micky-Maus-Heft geblättert hat …«

Hellu schüttelt kaum merklich den Kopf.

»Immer mit der Ruhe, Jusuf. Dass das Eindringen in die Wohnung geplant war, bedeutet nicht unbedingt, dass dasselbe auch für die Bluttat gilt«, wendet sie ein und blickt sich um. Jusuf seufzt hinter seinem Mundschutz und überlegt, wieso seine Chefin unbedingt glauben will, dass es sich um eine spontane Tat handelt, nur weil die Mordwaffe aus der Küche des Opfers stammt.

»Na, einen Selbstmord können wir jedenfalls ausschließen«, sagt er und geht ein paar Schritte zu der Leiche auf dem Fußboden hin.

Hellus Handy klingelt wieder, und sie verzieht sich auf den Flur.

Lappi. Noch nicht. Ja, ja …

Jusuf wirft einen Blick auf seine Uhr. Sie zeigt fünfundzwanzig nach sieben. Der Wind peitscht den eisigen Regen gegen die Fenster. Unten auf der Straße rattert eine Straßenbahn. Das Geräusch lässt Jusuf an ein mittelalterliches Fuhrwerk denken, das gekommen ist, um die Leiche des alten Mannes zu holen und sie durch dichten Nebel an einen Ort zu bringen, zu dem andere keinen Zutritt haben.

Jusuf sieht sich um und versucht sich eine Art Gesamtbild von der Situation zu verschaffen. Ist es möglich, dass der Täter einen Schlüssel zu der Wohnung hat und die ganze Zeit hier war? Jusuf denkt an den Fall der Hexenbande vor einem Jahr: Jessica und er waren in Kulosaari in ein Luxushaus am Meer gekommen, wo eine tote Frau im schwarzen Abendkleid verblüffend aufrecht am Esstisch saß. An jenem Abend hatte sich der Mörder am Tatort versteckt und konnte später, im weißen Overall eines Tatortermittlers, aus dem Haus schlüpfen. Einen solchen Fall hatte es noch nie gegeben, und den gleichen Fehler wird die Polizei nicht noch einmal machen. Seit dem Fall in Kulosaari werden alle Tatorte äußerst genau untersucht, oft sogar mit einer Wärmebildkamera. Dennoch hat Jusuf das unangenehme Gefühl, dass in dieser geräumigen Wohnung irgendetwas oder jemand der Aufmerksamkeit der als Erste eingetroffenen Streifenpolizisten entgangen ist.

»Jusuf«, sagt Hellu. Sie hat ihr Gespräch beendet und steht in der Türöffnung zwischen Küche und Wohnzimmer.

»Erstens: Nicht der Leibwächter hat bei der Notrufzentrale angerufen, sondern Eliel Zetterborg selbst. Lamberg hat das Telefonat weitergeführt, nachdem er hereingekommen war, und den Krankenwagen angefordert.«

»Okay, ändert das die Situation?«

»Das weiß ich nicht. Finde es heraus. Zweitens: Ich muss nach Pasila.«

»Pressekonferenz?«

Hellu nickt.

»Du bist ab jetzt der Hauptermittler in diesem Fall.«

Jusuf spürt ein Grummeln im Magen. Mit so einer Bombe hat er nicht gerechnet.

»Hä?«

»Hä, hä?«, ahmt Hellu ihn nach. »Harjula ist gerade erst auf dem Rückweg aus Tampere. Wir können uns später eine andere Lösung überlegen, falls der Druck zu stark wird.«

Jusuf nickt. Die unerwartete Verantwortung treibt ihm den Schweiß auf die Stirn. Er hat Dutzende Gewaltverbrechen untersucht, aber noch nie als Hauptermittler.

»Aber wenn du jetzt schon das Gefühl hast, dass …«, beginnt Hellu. Jusuf schüttelt hastig den Kopf.

»Hab ich nicht«, sagt er und lächelt unmerklich. Der erste Schock hat sich schnell in gespannten Eifer verwandelt. »Ich übernehme das, Hellu. Danke für dein Vertrauen.«

8

Die Zweige auf dem vor Kälte steifen Moos knacken unter Jessicas Schuhen, als sie zwischen den Bäumen hindurch zu der Stelle geht, an der an Heiligabend die Leiche des Mannes gefunden wurde. Jessica flucht leise, als ein dünner Zweig unter ihre linke Hand fährt, die sie schützend vor das Gesicht gelegt hat, und sie schmerzhaft an der Wange kratzt. Vom Stadtteil Ruskeasuo ist das Heulen eines Einsatzfahrzeugs zu hören. Die Luft im Wald wirkt feuchter und kälter als auf dem Asphalt der von Hochhäusern gerahmten Mannerheimintie.

Jessica stiefelt tiefer in das Dickicht, bis die Bäume einem blanken Felsen weichen.

Als sie das Display ihres Handys einschaltet, sieht sie, dass Jusuf ihr zwei Textnachrichten geschickt hat, beschließt aber, sie nicht zu lesen. Jetzt muss sie sich konzentrieren. Sie sucht die Fotos von der verkohlten Leiche und vergleicht sie mit der dunklen Landschaft, die vor ihr liegt.

Es ist dieselbe Stelle. Daran besteht kein Zweifel, obwohl der Brandmord keine sichtbaren Spuren am Felsen hinterlassen hat. Der auf den Fotos zu sehende Kreis aus kleinen Steinen hat seine Form verloren, einige wurden wohl zur genaueren Untersuchung mitgenommen.

Jessica hockt sich hin und hebt einen der Steine auf. Ein normaler, daumengroßer Stein, der vermutlich aus der näheren Umgebung hierhergeholt wurde.

Es handelt sich zweifellos um eine Art Ritualmord.

Jessica hat den Bericht gelesen, dem zufolge dem unbekannten Toten zwei Vorderzähne fehlen. Instinktiv wirft sie einen Blick auf die Hand in der Armschlinge. Sie hat dem Schleicher, der sie angegriffen hat, Vorderzähne ausgeschlagen.

Als sie ein Knacken hört, blickt sie in die Richtung, aus der sie gekommen ist.

Die Wipfel der jungen Fichten am Rand des Felsens schaukeln im Wind.

Niemand ist zu sehen.

Ein ungutes Gefühl beschleicht Jessica: Sie sollte jetzt nicht allein auf diesem Felsen sein.

Vielleicht wartet dort im Dunkel jemand auf sie.

Vielleicht ist sie in eine Falle gelaufen.

Du bist nicht in Gefahr. Konzentrier dich, Jessica.

Jessica schüttelt den Kopf, knipst ein paar Fotos von der Fundstelle des Opfers und markiert sie auf der Karte ihrer GPS-App.

Dann steckt sie das Handy in die Manteltasche und geht mit zügigen Schritten denselben Weg zurück, auf dem sie gekommen ist.

Wieder knackt etwas.

Jessica hört, dass sich hinter ihr etwas bewegt.

Sie beschleunigt ihre Schritte und wirft einen Blick über die Schulter, sieht hinter den niedrigen jungen Fichten Hörner auftauchen und schreit entsetzt auf.

Im selben Moment tritt sie auf eine glitschige Stelle und landet bäuchlings zwischen zwei Kiefern. Sie stöhnt vor Schmerz, denn sie ist auf ihre verletzte Hand gefallen.

Schnell dreht sie sich auf den Rücken und richtet den Lichtkegel ihrer Taschenlampe auf die nur einen Steinwurf entfernten Bäumchen. Der gehörnte Kopf hebt sich, und gleich darauf tragen vier magere Beine das Wesen rasch davon.

Ein Waldren. Verdammt noch mal.

Jessica bemüht sich, gleichmäßig zu atmen, und rappelt sich mühsam hoch.

Die Joggingstrecke ist nur noch einige Meter entfernt, und dahinter leuchten die Lichter des Reitstalls.

Sie hört das Wiehern der Pferde und leise Stimmen.

9

Nina Ruska stöhnt leise. Ihre Knie schmerzen, sie haben sich schon so lange am Laken gerieben, dass sich garantiert bald Brandwunden bilden. Nina ist schon zweimal gekommen und wäre bereit aufzuhören, aber aus irgendeinem Grund hat Tom, der ihre Pobacken fest umklammert, noch kein einziges Mal abgespritzt.

»Wechseln wir die Stellung?«, haucht Nina, während Toms Penis immer wieder in sie eindringt. Einen Augenblick glaubt sie, der Mann hätte ihre Worte nicht gehört. Er unterbricht seine Bewegung nicht, seine Finger graben sich in ihren Rücken, und Nina spürt seinen Bauch an ihrem Hintern. Dann legt er den Mund dicht an ihr Ohr und stößt ein röchelndes Stöhnen aus.

»Sorry«, sagt Tom und sackt kraftlos neben Nina auf das Bett. Sie dreht sich auf den Rücken und schmiegt sich an ihn.

»Wofür?«

»Dass es so lange gedauert hat. Die Zündschnur wollte nicht brennen.«

Nina lacht auf und berührt ihre Knie, die sich anfühlen, als wären sie mit Sandpapier gescheuert worden.

»Bist du im Stress?«

»Ich glaub nicht«, sagt Tom und streicht sich die feuchten Haare aus der Stirn.

Sein starkes Deodorant steigt Nina in die Nase. Es riecht irgendwie echt finnisch: nach Wald und Teershampoo.

»Dein Handy hat vorhin geklingelt«, fährt Tom fort.

»Es ist stummgeschaltet.«

»Schon, aber es blinkt die ganze Zeit auf dem Nachttisch. Jusuf.«

»Das hat dich also gestört?«

»Eigentlich nicht, aber da blinkt das Bild von dem Kerl.«

Nina lacht laut.

»Warum guckst du auf Jusufs Foto, wenn du mich vögelst?«

»Wer ist er?«

»Eifersüchtig?«, fragt Nina, rückt von ihm ab und angelt nach ihrem Handy.

»Na, wenn er dich während einem einzigen Fick zweimal anruft, werde ich wohl fragen dürfen, wer er ist«, entgegnet Tom. Nina hört ihm an der Stimme an, dass er nur halb im Spaß spricht.

»Ein irrsinnig langer Fick … Guck dir meine Knie an.«

»Ich hab mich schon entschuldigt.« Tom nimmt seine Uhr vom Nachttisch. »Außerdem ist eine gute Potenz wohl nicht das schlimmste Verbrechen.«

Nina streicht mit dem Finger über seine Wange, schaltet das Display an und sieht, dass auch Hellu angerufen hat. Ist etwas passiert?

»Jusuf ist ein Kollege«, erklärt Nina und hält das Handy ans Ohr. Sie hat beschlossen, Jusuf zuerst anzurufen.

»Ein Polizist?«

»Ja«, sagt Nina, als das Freizeichen ertönt.

»Ist jemand ums Leben gekommen?«

»Offensichtlich«, antwortet Nina. Im selben Moment hört sie Jusufs Stimme.

Sie hört eine Weile schweigend zu. Okay, ich komm sofort, sagt sie dann.

Sie beendet das Gespräch und starrt nachdenklich auf das Display.

»Und?« Tom knipst das Uhrarmband seiner Submariner zu.

»Ich muss los.«

»Was ist passiert?«

»Mach den Fernseher an«, sagt Nina. Sie spürt, wie die rauen Fingerkuppen des Mannes über ihren Rücken gleiten, als sie aufsteht.

10

Jusuf blickt aus dem Fenster auf die Straße, als Helena Lappi sich ans Steuer ihres Toyota Primus setzt und geräuschlos davonfährt. Durch die geschlossenen Fenster und über den Straßenlärm hinweg wäre vermutlich auch das Motorengeräusch anderer Autos nicht zu hören, aber Jusuf weiß, dass Hellus Hybrid, der ständig geladen wird, beim Starten nicht den geringsten Laut von sich gibt. Der Gedanke, dass die halb gehässige Kriminalkommissarin sich gerade von einem Elektromotor davontragen lässt, ist aus irgendeinem Grund komisch. Tatsächlich ist Hellu selbst ziemlich komisch, natürlich ungewollt. Dagegen ist das, was in Eliel Zetterborgs Wohnung passiert ist, überhaupt nicht lustig.

Jusuf dreht sich um und mustert das geräumige Wohnzimmer. Der Perserteppich bedeckt fast den ganzen Fußboden. An seinem linken Rand liegt der tote Industrieboss im Licht der Scheinwerfer. Daneben stehen ein schwarzer Flügel und ein Barschrank voller Schnäpse.

Das Motiv für die Bluttat ist in geradezu grotesker Weise offenkundig und dürfte niemandem, der auch nur mit einem Ohr die Nachrichten verfolgt, ein Rätsel sein. Zetterborgs Unternehmen, das zu den größten in Finnland zählt, hat vor wenigen Tagen verkündet, dass es seine alteingesessene Fabrik in Kouvola schließen und Tausende Mitarbeiter entlassen wird. Der Vorstand des Unternehmens hat unmissverständlich erklärt, er habe der Unternehmensleitung entsprechende Anweisungen gegeben. In den Schlagzeilen und aktuellen Sendungen wird das Thema schon seit vielen Tagen pausenlos behandelt: Vor allem die Gewerkschaften, aber auch Dutzende Parlamentsabgeordnete und der Staatspräsident haben die beabsichtigte Schließung kommentiert und kritisiert. Sogar der Zentralverband der Arbeitgeber hat indirekt zu verstehen gegeben, dass die Entscheidung angesichts der guten Ergebnisse des Unternehmens haarsträubend sei, und soziale Verantwortung gefordert. Dennoch blieb es bei dem Beschluss: Eliel Zetterborg hat bei der heutigen Pressekonferenz kühn, ungeniert und ohne Zaudern gesprochen. Die Medien haben ihre Aufmerksamkeit darauf gerichtet, dass die radikale Maßnahme unmittelbar vor der 50-Jahr-Feier des Unternehmens ergriffen wird, und ganz besonders auf Eliel Zetterborgs festen Entschluss, in der Öffentlichkeit als Henker aufzutreten. Er hat wahrhaftig ein Kreuz auf sich genommen, one for theteam. Besonders, wenn man die Sache im Licht der Tragödie dieses Abends betrachtet.

»Ein ziemlicher Hammer.«