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Max Seeck

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Beschreibung

"Ich wollte darüber schreiben, wie die sozialen Medien ihre dunkle Seite auf brutalste Art und Weise zeigen können." MAX SEECK

Helsinki 2020: Zwei erfolgreiche Blogger sind spurlos verschwunden. Kurz darauf wird deren Tod in den sozialen Medien gemeldet. Ein geschmackloser PR-Gag? Als eine junge Frau, gekleidet wie ein Manga-Mädchen, am Strand tot angespült wird, vermutet die Kriminalpolizei einen Zusammenhang. Jessica Niemi übernimmt die Ermittlungen, und sie kommt schon bald einem skrupellosen Netzwerk auf die Spur, das offenbar Mädchen an Manga-Fetischisten vermittelt.

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Inhalt

CoverÜber dieses BuchÜber den AutorTitelImpressumWidmungMottoProlog123456789101112131415161718192021222324252627282930313233343536373839404142434445464748495051525354555657585960616263646566676869707172737475767778798081828384858687888990919293949596979899100101102103104105106107108109110111112113114115116117Danksagung

Über dieses Buch

Helsinki 2020: Zwei erfolgreiche Blogger sind spurlos verschwunden. Kurz darauf wird deren Tod in den sozialen Medien gemeldet. Ein geschmackloser PR-Gag? Als eine junge Frau, gekleidet wie ein Manga-Mädchen, am Strand tot angespült wird, vermutet die Kriminalpolizei einen Zusammenhang. Jessica Niemi übernimmt die Ermittlungen, und sie kommt schon bald einem skrupellosen Netzwerk auf die Spur, das offenbar Mädchen an Manga-Fetischisten vermittelt. Zum Sex – und zum Töten …

Über den Autor

Max Seeck war zunächst im Vertrieb und Marketing einer finnischen Firma tätig. Mittlerweile widmet er sich jedoch ganz dem Schreiben. Mit großem Erfolg: HEXENJÄGER war sein internationaler Durchbruch, und er ist inzwischen der erfolgreichste Thriller-Autor Finnlands. Als einer von wenigen europäischen Autoren stand er auf der NEW-YORK-TIMES-Bestsellerliste. Max Seeck lebt mit seiner Familie in Helsinki.

M A X S E E C K

T E U F E L SN E T Z

T H R I L L E R

Übersetzung aus dem Finnischen vonGabriele Schrey-Vasara

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Titel der finnischen Originalausgabe:

»Pahan verkko«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2020 by Max Seeck

Original edition published by Tammi publishers, 2020

German edition published by arrangement with Max Seeck and Elina Ahlbäck Literary Agency, Helsinki, Finland

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2021/2023 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Katharina Rottenbacher, Berlin

Einband-/Umschlagmotive: © Alamy Stock Foto: Oula Heikkilä;

© shutterstock: Ann-Britt | brickrena | Resul Muslu

eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7517-0979-8

luebbe.de

lesejury.de

Für Otto und Frans

Prolog

Akifumi rollt die Ärmel ein paar Zentimeter höher und zieht in der Kücheninsel eine Schublade auf, in der in separaten Fächern Silberbesteck liegt. Kleine und große Messer und Gabeln für Vorspeise und Hauptgericht. Steakmesser separat. Dessertlöffel. Vier Paar Essstäbchen aus Metall. Einige Tee-Eier mit einer kurzen Kette. Stilvoll. Elegant.

»Hast du noch Hunger, Asuna?«, fragt Akifumi und hält sich eine Silbergabel vor die Augen. Die dunklere Stelle unten am Griff ist deutlich zu sehen. Ein ärgerlicher Schönheitsfehler in der eigentlich fast perfekten Umgebung – ein Fehler, den man leicht hätte beheben können, indem man den Gabelgriff zum Beispiel mit fluoridhaltiger Zahnpasta geschrubbt hätte.

»Nein«, antwortet das Mädchen und legt ein Bein über das andere. Sie hat sich auf Akifumis Aufforderung auf das Bett gesetzt, ohne sich den Mund abzuwischen. Verdammt, wie jung sieht die kleine Hure aus.

Akifumi holt einen Teller aus der Schublade und füllt ihn mit den Speisen, die auf dem Tisch stehen: Roastbeef mit grüner Pfeffersoße, gebeizter Lachs, Knoblauchkartoffeln, Salat und Brot. Das Essen könnte von einem mittelmäßigen Hochzeitsbüfett stammen, aber kleine Details wie das Arrangement, das hochwertige Besteck und die blendend weißen, nicht zerkratzten Teller machen das Ganze luxuriös. Akifumi stellt den Teller auf den Tisch, öffnet eine Flasche Champagner und füllt sein Glas. Der doppelte Malt-Whisky, den er vorhin gekippt hat, brennt immer noch in seiner Kehle und gibt ihm vorübergehend das Gefühl, unbesiegbar zu sein, obwohl sein Gesicht unter der Plastikmaske schwitzt.

»Davon bekommst du nichts«, sagt er und klopft mit dem Fingernagel an das Glas. »Schulmädchen dürfen keinen Alkohol trinken. Das ist gegen das Gesetz.«

Seine eigenen Worte erregen ihn mehr und mehr.

Asuna ist kein Schulmädchen. Natürlich nicht. Aber jung genug, um so auszusehen. Akifumi spürt, wie seine Hand sich zur Faust ballt und seine Zähne sich zusammenpressen.

Verdammte Hure.

Akifumi dehnt seine Nackenmuskeln. Nein, er hat doch keinen Hunger. Er leert sein Glas mit einem Schluck.

»Wo gehst du zur Schule, Asuna?«

Das Mädchen scheint zu zögern. Als sie zu einer Antwort ansetzt, legt Akifumi einen Finger vor den Mund. Ssh.

»Wenn ich es mir genau überlege … Sprich nicht mehr«, flüstert er, krümmt den Zeigefinger und winkt das Mädchen zu sich. »Komm her. Komm jetzt her.«

Das Mädchen zieht den kurzen Rock glatt und stöckelt auf hohen Absätzen zu ihm.

Akifumi atmet den frischen Apfelsinenduft ein, der Assoziationen an Reisen nach Fernost weckt, an glühende Sonne und Sonnencreme. Dann fasst er das Mädchen an den Zöpfen und drückt es nach unten.

»Mach es noch einmal, Asuna. Verflucht, mach es noch einmal, aber diesmal mit Gefühl.«

Und dann schlag ich dir da an der Betonwand den Kopf ein.

1

Samstag, 23. November

Lisa Yamamoto wartet, bis sich die verchromte Aufzugtür schließt. Dann atmet sie die Luft, die sich in ihrem Brustkorb angestaut hat, in einem einzigen langen Stoß aus. Sie nimmt die Prada-Sonnenbrille mit dem schwarzen Gestell ab und betrachtet sich in dem großen Spiegel an der Wand der Kabine. Das Make-up verdeckt Stress und Müdigkeit, vermag aber keine Freude in ihre Augen zu zaubern. Auf ihrem Gesicht liegt keine Spur von dem überschäumenden Jubel, den die Einladung zur Plattenveröffentlichung des angesagtesten Rappers in ganz Finnland – oder jedes anderen Künstlers – noch vor einigen Jahren ausgelöst hätte. Jetzt ist das vorherrschende Gefühl eher eine unangenehme Nervosität; sie bereut, dass sie vor dem Aufbruch nicht etwas genommen hat, das sie selbstsicherer gemacht hätte: etwas Stärkeres als Sekt. Allerdings wird irgendein Bekannter unter den geladenen Gästen schon dafür sorgen, dass sie bekommt, was sie braucht. Es wird genügen, dass sie den Betreffenden auf die richtige Art ansieht, dann kann sie mit einer aufputschenden Dosis zur Damentoilette gehen.

Lisa wirft im Spiegel einen Blick auf ihren Körper, der in dem beigen Criss-Cross-Kleid von Hervé Léger durchtrainiert und an den richtigen Stellen gerundet aussieht. Ihre äußere Erscheinung ist immerhin in Ordnung. In gewisser Weise ist ja auch alles ganz gut, und sie hat die Situation unter Kontrolle: Sie braucht an diesem Abend nur ein paar hübsche Fotos von sich und der Hauptperson zu machen und vielleicht noch einige Videostorys von anderen VIPs. Wenn man bedenkt, wessen Platte veröffentlicht wird, kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass die absolute Spitzenprominenz von Helsinki anwesend ist.

Lisa hört das Handy in ihrer Handtasche vibrieren. Bestimmt wieder Jason. Der Typ hat schon drei Mal angerufen. Gib’s endlich auf. Ihr Blick wandert vom Spiegel zur digitalen Nummerntafel. Eine rote Vier. Fünf. Sechs.

Der Aufzug summt eine kurze Melodie, dann öffnet sich die Tür. In die Kabine dringen ein dröhnender Bass und ein gewaltiges Stimmengewirr, durchsetzt von Ausrufen und Lachern.

Lisa mustert den roten Teppich vor der Garderobe, auf dem einige Gäste mit Blumensträußen oder Geschenkflaschen stehen. Nobodys, Neverheards. Zum Glück muss ich die nicht kennenlernen.

Der Portier Sahib, den sie schon seit Jahren kennt, sieht sie aus dem Aufzug kommen und nickt ihr unauffällig zu.

Lisa geht an den großen Glaswänden vorbei, die einen Panoramablick über die vom tagelangen Regen nassen Dächer bieten. Im Hintergrund ragt das festlich beleuchtete Hotel Torni über der niedrigen Silhouette von Helsinki auf wie ein kleines Empire State Building. Die Straßenlampen und das Licht, das aus den Fenstern der Gebäude fällt, lassen in der dunklen Stadt, die noch nicht durch eine Schneedecke erhellt wird, alles glitzern.

»Guten Abend«, grüßt der breitschultrige, glatzköpfige Portier, der sich in ein weißes T-Shirt und einen schwarzen Blazer geworfen hat, und hilft Lisa aus dem feuchten Mantel aus Kunstpelz und -leder. Ein Pärchen, das kurz zuvor seine Mäntel abgegeben hat, ist in einigen Metern Entfernung stehen geblieben und flüstert, offenbar über Lisa. Es gab eine Zeit, da hat sie die Blicke und die Aufmerksamkeit Wildfremder genossen. Jetzt sind sie ihr lästig. Warum zum Teufel glotzen die?

»Wie geht’s?«, fragt Lisa Sahib und deponiert Handtasche und Schuhbeutel auf dem Garderobentresen. Sie stützt sich ab, zieht gewandt die schwarzen Superstars mit den weißen Streifen aus und schlüpft in glänzende beige Pumps mit Zehn-Zentimeter-Absätzen.

»Die Party ist schon im Gange«, antwortet Sahib gelassen, verstaut Lisas Mantel und ihre Sneakers und reicht ihr eine Garderobenmarke, die durch die verschwitzten Hände tausender Gäste gegangen ist und entsprechend aussieht.

Lisa hört trotz der Musik, dass ihr Handy wieder vibriert. Vielleicht hat es die ganze Zeit geklingelt. Sie nimmt es aus der Tasche und schaltet es nach einem Blick auf das Display leise. Verdammt.

»Danke«, sagt sie lächelnd.

»Vorsichtig, es sind viele böse Jungs da«, mahnt Sahib augenzwinkernd. Lisa lacht auf und zwinkert zurück, obwohl sie ihn in Wahrheit nicht ausstehen kann.

Der Weg, den der rote Teppich markiert, führt zwischen dunklen Vorhängen hindurch, hinter denen die Blitzlichter der Fotografen aufflammen. Im Foyer hängt der typische Geruch eines Nachtclubs: Im Fußboden, dem Teppich und den Vorhängen hat sich im Laufe der Jahre der Geruch von ranzig gewordenem Parfüm, Schnaps und Zigaretten eingefressen, der selbst durch Renovierung nicht zu eliminieren ist. Eine Türsteherin, die Lisa nicht kennt, hält ihr den Vorhang auf, und sie betritt den hohen, hallenartigen Saal des Nachtclubs, der voll von trendig-festlich gekleideten Helsinkiern ist. Flammend gefärbte Haare, rätselhafte Make-ups und aufgespritzte Lippen, maßgeschneiderte Anzüge und Blazer, die die trainierten Körper betonen, halb ironische Hipster-Schnauzer und getrimmte Bärte. Lisa bleibt kurz stehen und betrachtet die Fotowand, groß wie ein Fußballtor, zu der die Gäste geführt werden wie auf ein mittelalterliches Schafott.

»Yamamoto!«, ruft eine Frauenstimme. Lisas Blick fällt auf eine bebrillte, untersetzte Reporterin, deren Namen sie vergessen hat, obwohl sie ihr wahrscheinlich einmal ein Interview gegeben hat.

»Hallo!«, sagt Lisa und entblößt ihre weißen Zähne in einem sorgfältig eingeübten Lächeln.

»Wir dürfen sicher eine kurze Story über dich machen?«

Lisa wirft einen Blick auf den Fotografen, der hinter der Frau steht und den Presseausweis einer Abendzeitung umgehängt hat. Die Story ist bestimmt ganz legit und gute Werbung für ihren Blog.

»Wenn ich mich zuerst da an der Wand fotografieren lassen darf.«

»Natürlich. Wir sind hier.«

»Okay. Super«, sagt Lisa und dreht sich zur Seite, um einen Englisch sprechenden Jungen zu umarmen. Sie kann sich nicht erinnern, ihn zu kennen. Hi! Good to see you. Yeah, talk to you soon!

Nachdem sie sich aus der Umarmung des begeisterten, nach süßlichem Rasierwasser duftenden Unbekannten gelöst hat, schreitet Lisa auf die Fotowand zu und stellt sich ans Ende der kurzen Schlange.

Sie betrachtet den halbdunklen Raum und das Menschenmeer, das in ihm wogt. Einige Gesichter sind ihr bekannt, einige unbekannt, die meisten irgendetwas dazwischen. Blasse Erinnerungen, verschwommene Momentaufnahmen. PTKV. Plaudern, tanzen, küssen, vögeln. Typischerweise in dieser Reihenfolge, aber Lisa erinnert sich, dass sie ein paar Mal vom Plaudern direkt zum Vögeln übergegangen ist. Und bisweilen wurde der Endpunkt wohl auch ohne Plaudern erreicht.

Weiter weg, im hinteren Teil des Saals, sieht sie ein Gedränge, das sich vom übrigen Gewimmel abhebt, Blitzlichter und Männer und Frauen, die sich der Reihe nach Schulter an Schulter vor die Kamera stellen. Im Mittelpunkt des Trubels steht der Star des Abends in glitzerndem Smoking und mit Zylinder: Kex Mace’s, mit richtigem Namen Tim Taussi, ein sechsundzwanzigjähriger Rapper, dessen im Vorjahr erschienenes, poppiges Hip-Hop-Album Spotify-Geschichte schrieb. Es stieg nicht nur in Finnland, sondern auch in den anderen skandinavischen Ländern und in Deutschland auf die Streaming-Listen auf.

»Geh ins Bild, Lisa«, ruft eine Frau, die eine Kamera mit langem Objektiv in der Hand hält, und Lisa stellt sich vor das Plattencover, das ein großes Spinnennetz zeigt. Kex Mace’s. Spider’s Web. Die Blitzlichter zucken nur einen Moment, vielleicht sogar frustrierend kurz. Die Fotografen haben Lisa nicht immer so leicht davonkommen lassen. Noch im vorigen Jahr hat das Blitzlichtgewitter sie sogar in den Schlaf verfolgt. Vielen Dank! Lisa ist frei. Nett, dich zu sehen, Lisa! Einen schönen Abend! Das Lächeln wirkt beinahe echt, und die Worte klingen aufrichtig, aber die Kälte dahinter entgeht Lisa nicht. Sie hat den sogenannten sozialen Blick, den Dutzende ähnlicher Veranstaltungen geschärft haben. Es interessiert keinen, wer du wirklich bist, interessant ist nur, wie du aussiehst und was du repräsentierst. Manche interessiert lediglich, ob sie beim Weiterfeiern früh um fünf, wenn alle Flaschen geleert und die Koks-Tütchen bis zum letzten Gramm leergesaugt sind, in deinen Mund ejakulieren dürfen.

Der nächste kurze Programmpunkt besteht darin, ein Glas Sekt von dem Tablett zu nehmen, das ein Kellner in schwarzem Hemd mit gelber Fliege in den behandschuhten Händen hält.

»Pass auf, dass du dich nicht im Netz verfängst«, sagt eine Promoterin, die einen geschmacklos kurzen Rock und ein bis zum Brustansatz ausgeschnittenes Top trägt, reicht Lisa ein Programmheft und zwinkert ihr zu.

Pass auf, dass du dich nicht im Netz verfängst. Verdammt affektiert und durchgestylt. Lisa ist erst seit einigen Minuten im Saal, aber schon jetzt drängt es sie, kehrtzumachen und zu verschwinden. Früher als erwartet braucht sie eine Aufmunterung, White Stuff, Schnee. Ihr Blick sucht nach jemandem, der ihr helfen könnte. Teme, Sakke, Taleeb … Die Typen sind vermutlich da, aber zwischen Hunderten von Gesichtern verborgen.

Und dann spürt Lisa, wie ihr Herz einen Schlag aussetzt. Dort ist er wieder: Der Mann hat die Hände in die Taschen gesteckt und steht vor den großen Fenstern zur Innenstadt. Der irgendwie anklagende, sich ins Bewusstsein bohrende Blick ist exakt derselbe wie beim letzten Mal. Rasch wendet sie sich ab und geht zur Bar, weiß aber, dass der Mann sie nicht aus den Augen lässt.

2

Mittwoch, 27. November

Der Song Free Your Mind von En Vogue, der in den Kopfhörern dröhnt, setzt kurz aus, als die Lauf-App ihr Feedback gibt. Geliefert wird sie von einer an sich freundlichen Frauenstimme, die jedoch die gleiche Düsterkeit und Seelenlosigkeit verströmt wie Tonbanddurchsagen: Strecke fünf Kilometer, Durchschnittsgeschwindigkeit zehn Komma zwei Stundenkilometer. Dann setzt die Musik wieder ein. Jessica Niemi atmet die frische Luft ein. Ihr Duft ist typisch für den Morgen nach der ersten Frostnacht im Herbst: Sie riecht nach dem Reif, den die Strahlen der Morgensonne vom Laub auf der Erde wischen, und nach den schmelzenden Pfützen, deren dünne Eisschicht unter den geschmeidigen Sohlen der Laufschuhe zerbricht.

Jessica hat das Gefühl zu fliegen, ihre Schritte sind leicht. Vor einigen Monaten hat sie nach langer Zeit wieder begonnen, zur Arbeit zu joggen, eine Aktivität, die schon oft am qualvollen Widerspruch ihres kaputten Körpers gescheitert ist. An schmerzenden Gelenken, am Nervenschmerz im Knie, an der bis in die Waden und Zehen ausstrahlenden Pein, gegen die normale Schmerztabletten machtlos sind. Jetzt läuft sie jedoch mühelos, und der Schmerz ist nicht zurückgekehrt. Natürlich wird er sich irgendwann wieder einstellen, das hat er immer getan. Bis dahin will Jessica jeden Schritt, jede mit Endorphinausschüttung endende Strapaze genießen. Im Nachhinein erscheint es verwunderlich, dass eine plötzliche Eingebung den Anstoß zum Laufen gegeben hat. Nach der Beerdigung ihres früheren Vorgesetzten Erne Mikson war Jessica wochenlang wie betäubt, sie saß zu Hause und dachte über die Ereignisse nach. Bis sie eines Tages die Laufschuhe anzog und nach draußen in die milde Frühjahrsluft stürmte. Wie Forrest Gump, witzelte ihr Kollege Jusuf später.

Der Weg von der Wohnung in der Töölönkatu zum Arbeitsplatz im Polizeigebäude im Stadtteil Pasila ist ungefähr dreieinhalb Kilometer lang, er führt am Ufer der Töölö-Bucht entlang und dann durch den Wintergarten und den Tiergarten in den Zentralpark. Um die Laufstrecke zu verdoppeln, biegt Jessica jedoch an den meisten Tagen – so auch heute – bei der Reitbahn in Laakso nach Westen ab und läuft kreuz und quer über die felsigen Waldwege bis zur Schrebergartenkolonie in Ruskeasuo.

Jessica läuft an der Reitschule vorbei, an deren nordöstlicher Seite auch die berittene Polizei von Helsinki ihren Sitz hat. Der von hohen Bäumen gesäumte Sandweg ist nur schwach beleuchtet, die Laternenpfähle stehen weit auseinander, und auf den hellen Hof der Manege folgt schlagartig die Dunkelheit des Waldes. Zwischen den Baumwipfeln fliegt ein großer Vogel.

He! Hörst du mich?

Jessica wirft einen Blick zurück, doch der Pfad ist leer. Es ist schwer zu sagen, ob sie den Ruf über die Musik hinweg tatsächlich gehört hat. Mitunter hört sie beim Laufen Worte und Ausrufe, die nur in ihrem Kopf existieren. Die Stimmen verfolgen sie schon so lange, dass sie oft gar nicht auf sie achtet.

Bleib stehen!

Jetzt klingt die Stimme allerdings zu real. Jessica zieht den Kopfhörer von einem Ohr und wirft erneut einen Blick über die Schulter. Sie sieht eine hochgewachsene Gestalt mit ausgestreckten großen Händen, die nach ihrer Windjacke greifen. Der Mann lehnt sich mit seinem ganzen Gewicht gegen sie und wirft sie zu Boden. Jessica spürt das Gewicht des Angreifers auf ihrem Rücken, ihre Wange drückt sich in den mit schmierigen Blättern vermischten, eisigen Schlamm.

»Hör mal«, sagt der Mann.

Schnapsgestank schlägt Jessica ins Gesicht. Oberschenkel klammern sich um ihren Hintern, der Mann sitzt auf ihrem Rücken, seine Finger winden sich um ihren Nacken. Der nach Salmiakschnaps stinkende Mund brummt direkt an ihrem Ohr. Dann dreht der Mann Jessica um. Nun sieht sie sein Gesicht, erkennt es aber nicht. Die geröteten, spitzen Wangen und der dichte Schnurrbart gehören einem vom Alkohol ausgezehrten Mann um die vierzig. Nun erinnert Jessica sich, dass sie vor einigen Minuten an einem Kerl in Lederjacke vorbeigelaufen ist, der auf einer Bank am Rand des Laufpfades saß und Terpentin trank.

»Heiligabend«, sagt der Mann fast flüsternd. »Heiligabend.«

Jessica starrt ihn verwundert an. Er muss übergeschnappt sein. Bis Weihnachten ist es noch ein Monat. Die Finger des Mannes pressen sich um ihr Kinn. Mit der anderen Hand hält er ihr rechtes Handgelenk fest.

Jessica sammelt ihre ganze Kraft und versucht, ihr Knie zwischen die Beine des Mannes zu rammen, aber der Mistkerl blockiert ihre Beine mit seinem Gewicht und ist wahrscheinlich so besoffen, dass er seine Eier nicht spürt.

Jessica hört ihren eigenen Puls und holt tief Luft. Der grobe Kies drückt sich tief in ihren Hinterkopf, aus den Augenwinkeln sieht sie den vereisten Sand und die modernden Blätter. Irgendwo in der Ferne ruft jemand nach einem bellenden Hund.

»Heiligabend«, schäumt der Mann nun mit gefletschten Zähnen. »Heiligabend.«

Jessicas Fingerspitzen fassen nach dem Pfefferspray in ihrer Jackentasche, den das finnische Gesetz als Schusswaffe deklariert. Neuerdings trägt sie die Sprühdose immer bei sich. Und im nächsten Moment bekommt der Mann eine ordentliche Portion Pfefferspray in die Augen. Das besoffene Gebrabbel bricht ab, nach kurzer, ungläubiger Stille folgt ein Schmerzensschrei. Mit der freien Hand schlägt Jessica gegen das Kinn des Mannes, immer wieder, bis ihm die oberen Zähne abbrechen und Blut aus seinem Mund spritzt. Sein Griff lockert sich. Überraschend geschmeidig richtet er sich auf und rennt in den Wald.

Jessica schnappt nach Luft und kämpft sich mühsam auf die Beine. Die Fingerknöchel ihrer rechten Hand bluten.

Der Mann ist nicht mehr zu sehen, doch tief im Wald hört Jessica Zweige knacken.

Sie lässt die Hand nicht sinken, sondern hält die Spraydose für eine erneute Attacke parat. Sie wartet und lauscht auf Geräusche aus dem Wald. Aber der Mann kommt nicht zurück.

Jessica greift nach ihrem Handy und wählt den Notruf. Nachdem sie eine Beschreibung des Angreifers gegeben hat, läuft sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen ist. Diesmal ist sie auf der Hut. Strecke sechs Kilometer, Durchschnittsgeschwindigkeit neun Komma ein Stundenkilometer.

3

Jessica tritt über die Schwelle und lehnt sich mit der Hüfte an den Türrahmen. Die heiße Dusche im Waschraum des Polizeigebäudes hat ihr erneut den Schweiß aus den Poren getrieben, sodass ihre dunkelblaue Bluse am Rücken klebt. Sie zupft sie unauffällig zurecht. Die rechte Hand, mit der sie auf das Kinn des Angreifers eingehämmert hat, tut höllisch weh. Es wäre wohl ratsam, sie beim Betriebsarzt röntgen zu lassen.

»Mach die Tür zu, Niemi«, sagt Hauptkommissarin Helena Lappi und klopft mit dem Zeigefinger auf die kabellose Maus. Sie spricht Jessicas Nachnamen aus, als würde er schlecht schmecken. Jessica schließt die Tür hinter sich, was den Raum noch kleiner wirken lässt. Der Parfümgeruch im Zimmer erinnert an eine teure und aufdringliche Seife.

Helena Lappi, intern zwangloser Hellu genannt, starrt immer noch auf ihren Monitor, was Jessica Gelegenheit gibt, sich umzuschauen. Der Raum ist weitgehend noch so wie zu Ernes Zeiten: eine minimalistische, karge Zelle, deren weiße Wände geradezu nach Formen und Farben schreien, die das Einerlei durchbrechen. Die Jalousien baumeln oberhalb der Fenster, und Steckdosen ragen in Vierergruppen auch da aus der Wand, wo niemand Strom braucht. Das Dienstzimmer ist in seiner Uniformität und Trostlosigkeit eine Klasse für sich. Dennoch wirkt es erst jetzt, ohne Erne, beklemmend und leblos: Der Mensch, der mit seinem großen Herzen die ganze Abteilung erhellt hat, ist nicht mehr da.

»Wir hatten noch keine Zeit, uns ausgiebig zu unterhalten«, sagt Hellu und bedeutet Jessica, Platz zu nehmen.

Jessica setzt sich, verschränkt die Hände im Schoß und sieht der etwas über vierzigjährigen Frau in die braunen Augen, die nicht ganz zu den blondgefärbten kurzen Haaren passen.

Auf dem Posten des Leiters des Gewaltdezernats ist es nach Ernes Ausscheiden im März turbulent zugegangen. Der erste Kandidat, ein auf das Rentenalter zugehender Bierbauch, hat die Einheit einige Monate lang geleitet, bis er eine Stelle in der Chefetage der Polizeiverwaltung ergattert hat. Der zweite verschwand stillschweigend, nachdem er ungefähr die gleiche Zeit im Dienst war. Einer zuverlässigen Quelle zufolge wurde er von Whisky lahmgelegt. Seine langjährige Freundschaft mit der Flasche hatte sich nach seiner Scheidung zur schicksalhaften Liebe vertieft. Ein klassischer Fall.

Bei Hellu dagegen hat man den Eindruck, dass sie nicht auf dem Absprung ist. Sie strotzt vor Eifer und Selbstsicherheit, was sie leider auch zu einer ätzend pedantischen Vorgesetzten macht. Jessica arbeitet erst seit ein paar Wochen unter Hellus Leitung, aber schon jetzt ist klar, dass die neue Chefin Präzision, Protokoll, halbmilitärische Disziplin und unbestechliche Bürokratie liebt. Die Spannung zwischen ihnen war vom ersten Tag an spürbar. Die Ursache ist Jessica nicht ganz klar. Jedenfalls sind die Flure im Polizeigebäude von Tag zu Tag schmaler geworden – als wäre es nicht vorgesehen, dass sie beide dort Seite an Seite gehen.

»Herzlichen Glückwunsch zu Kalasatama«, sagt Hellu trocken. Sie bezieht sich auf einen Mordfall in der Arcturuksenkatu im Stadtteil Kalasatama, dessen Ermittlung Jessica verblüffend schnell abgeschlossen hat. Die Tat an sich war kein großes Mysterium: Ein wegen Gewaltverbrechen vorbestrafter Mann hatte im Suff seinen alten Freund mit einem Baseballschläger totgeschlagen und die Leiche in einem persischen Teppich (oder vielmehr einer chinesischen Kopie eines Perserteppichs) in den Müllcontainer des Hauses geworfen.

»Danke«, sagt Jessica und versucht, neutral zu lächeln. Das ist die diplomatischste Form des Lächelns, aber schwieriger beizubehalten als jede andere. Hellu blättert in ihren Papieren und sieht Jessica von unten herauf an. Jessica schlägt ein Bein über das andere. Dabei stößt sie mit dem Knie gegen die Tischecke, und die Stifte im Ständer wackeln.

»Ich habe gerade mit der Staatsanwaltschaft gesprochen. Dort sind sie zufrieden, es wird eine leichte Arbeit für sie«, fährt Hellu fort.

»Sie können den Fall ja kaum vergeigen, immerhin haben wir ihnen die Waffe geliefert, das Motiv, die DNA, die den Täter …«

»Wie gesagt, Glückwunsch«, sagt Hellu und lässt die Maus los. Die Art, wie sie das tut, wirkt wohldurchdacht. Die an sich unbedeutende Geste beendet gewissermaßen die Ouvertüre. Das Vorspiel. Den Smalltalk. Du hast dein Lob bekommen, Niemi. Jetzt drehe ich dir den Hals um. Die Hauptkommissarin lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und schnalzt unheilverkündend mit der Zunge.

»Ich habe mich bemüht, mit allen zu reden. Das ganze Team kennenzulernen. Bei dir war das noch nicht möglich, weil du mit dem Kalasatama-Fall beschäftigt warst, aber jetzt …« Hellu krümmt die Finger ihrer linken Hand. Den Ringfinger schmückt ein offenbar bewusst schlichter Ring, wohl aus Stahl oder Weißgold. Am Handgelenk trägt sie eine massive Smartwatch, mit der sie sicher versucht, sich das ewige Leben zu biohacken. Oder etwas in der Art.

»Ich habe verstanden, dass du Hauptkommissar Erne Mikson sehr nahestandest. Dass du lange mit ihm zusammengearbeitet hast. Wie viele Jahre?«

Als Jessica Ernes Namen hört, muss sie an sein pockennarbiges Gesicht denken. An seine grauen Bartstoppeln, seine freundlichen Augen. An den leicht komischen Akzent und den beißenden Zigarettengeruch, den er zurückließ, wenn er hinausging.

»Acht«, antwortet sie nach einer Weile, als hätte sie die verstrichenen Sekunden nur gebraucht, um die mit Erne geteilten Jahre zu zählen.

»Und ich habe auch gehört, dass du ihn schon vorher kanntest. Dass ihr Freunde wart.«

»Waren wir. Ja.«

Hellu mustert Jessica aufmerksam, als suche sie in ihrem Gesicht nach weiteren Informationen über die Beziehung zwischen ihr und ihrem verstorbenen Chef. Dann wird ihr Blick ein wenig milder.

»Ja, eine traurige Geschichte. Mein Beileid, nachträglich. Niemand von uns hat zu viele gute Freunde.«

»Danke.«

»Krebs ist eine beschissene Sache.«

»Ja.«

»Der Grund, warum ich jetzt über Mikson spreche und Wunden aufreiße, die wohl noch nicht ganz verheilt sind, ist der folgende: Ich glaube, dass ich mit dir viel Arbeit haben werde. Im Vergleich zu den anderen in der Abteilung.«

Jessica leckt sich über die trockenen Lippen und wartet darauf, dass die Hauptkommissarin weiterspricht. Das geschieht jedoch nicht. »Viel Arbeit?«

Hellu wirkt ein wenig enttäuscht, als hätte sie erwartet, dass Jessica ihre Gedanken lesen kann.

»Hör mal.« Sie holt kurz Luft, bevor sie fortfährt: »Ich weiß, dass du eine gute Polizistin bist, Niemi. Das habe ich so oft gehört, dass ich es nicht bezweifle. Aber ich habe auch gehört, dass du zu Ernes Zeiten eine gewisse Neigung hattest, na ja … aus der Reihe zu tanzen. Anweisungen und Befehle mitunter zu missachten.«

»Aha.« Jessica gibt sich Mühe, ruhig zu bleiben. Sie spürt das Pochen ihrer verletzten Hand, die sie unter dem Tisch verbirgt. Sie braucht bald ein paar Schmerztabletten.

»Diese Information kam übrigens nicht von deinen Kollegen, sondern von weiter oben«, erklärt Hellu.

»Das musst du wohl sagen.«

»Meine Frage an dich, Niemi, lautet: Hast du so gehandelt, weil oder obwohl Mikson und du eine lange und enge Beziehung hattet? Das ist nämlich ein großer Unterschied«, sagt Hellu und lächelt fast unmerklich. Dann fährt sie fort: »Denn die letztere Alternative stellt mich natürlich vor eine größere Herausforderung. Sie würde ja bedeuten, dass ich mich darauf einstellen muss, hart durchzugreifen. Ich dulde schlicht und einfach keine Alleingänge. Ich bin nicht Erne Mikson.«

Zum Teufel, du kannst Erne ohnehin nicht das Wasser reichen, du aufgeblasene Kuh.

Jessica betrachtet die Frau, deren glänzende Augen direkt in ihre eigenen stieren. In Momenten wie diesem brennt sie vor Verlangen, der Autorität den Stinkefinger zu zeigen, der Polizei den Rücken zuzukehren und ihre Kündigung einzureichen. Das Gewaltdezernat braucht sie dringender als umgekehrt. So war es immer schon.

Die Fensterfugen knacken irritierend, obwohl draußen gar kein Wind geht.

»Erne und ich hatten eine bestimmte Arbeitsweise«, beginnt Jessica. »Und die sah nach außen manchmal vielleicht schlimmer aus, als sie war. Wer immer dein Informant ist – für ihn war es sicher unmöglich, die Dynamik zwischen Erne und mir zu verstehen.«

»Es wird dir also nicht schwerfallen, auf meine Art zu handeln?«

»Das ist schwer zu sagen, solange ich nicht weiß, was deine Art ist«, gibt Jessica zurück, obwohl sie ahnt, dass Hellu bei dieser Antwort rotsieht. Die Hauptkommissarin schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch – nicht wütend, aber fest genug, dass Jessica zusammenfährt – und stößt einen ätzenden Laut aus, bei dem man an den Buzzer und das große rote Kreuz an der Wand bei einem Fernsehquiz denken muss.

»Falsche Antwort, Niemi.«

»Ich meine bloß, wenn du als neue Chefin alles umkrempeln willst, dann gibt es natürlich negative Gefühle und Widerstand. Und nicht nur bei mir, sondern bestimmt bei allen. Unter Erne haben wir schließlich immer wirklich gute Ergebnisse erzielt. Warum etwas verändern, wenn es nicht …«

»Niemi«, unterbricht Hellu sie ruhig. »Du sagst gerade all das, was ich nicht hören will.«

»Aha.«

»Tatsächlich bestätigt dieses Gespräch das Bild, das ich von dir hatte.«

»Ich will keineswegs …«

»Wir kommen früher oder später auf die Sache zurück. Hoffentlich deshalb, weil ich dir für deine Fähigkeit, dich an die neue Situation anzupassen, Anerkennung zolle.«

»Hoffen wir es«, sagt Jessica müde und steht auf.

»Niemi.«

Wenn du mich noch einmal beim Nachnamen nennst, reiße ich dich an deinen blöden Wasserstoffperoxidhaaren.

»Ja?«

»Wir sind noch nicht fertig.«

Jessica setzt sich wieder und zählt in Gedanken bis zehn.

»Ich habe auch eine polizeiliche Angelegenheit zu bereden.« Hellu befeuchtet ihre Fingerspitze an der Zunge. »Sind dir die Gesichter bekannt?«, fragt sie und zieht zwischen ihren Papieren das Titelblatt einer Boulevardzeitung hervor. Jessica greift danach und betrachtet die Fotos, die zwei junge Menschen zeigen, eine Frau und einen Mann. Beide sind auf ihre Weise schön und trendy, die Bilder strahlen eine gewaltige Energie und Lebensfreude aus. Vorbilder, Trendsetter. In den letzten zwei Tagen hat Jessica die Fotos viele Male gesehen.

»Die Blogger.«

»Genau die.«

Lisa Yamamoto und Jason Nervander. Die populärsten Social-Media-Promis und Lifestyle-Blogger Finnlands. Zu beiden sind seit zwei Tagen besorgte Anfragen bei der Polizei eingegangen: Beide sind in der Nacht zum Sonntag nicht nach Hause gekommen, nachdem sie am Samstagabend auf einer Party zur Veröffentlichung des neuen Albums eines bekannten finnischen Rappers waren.

»Kriegen wir den Fall?«, fragt Jessica und legt das Blatt auf den Tisch. Die Möglichkeit, dass die Sache bei ihnen landet, ist ihr schon früher durch den Kopf gegangen. Vielleicht hat sie sogar insgeheim darauf gehofft. Vermisstenfälle sind oft faszinierender als normale Mordermittlungen. Sie sind wie eine Opernaufführung, bei der die Leiche vor der Pause gefunden werden muss. Der zweite Akt fällt aus, wenn die Vermissten lebend entdeckt werden. Manchmal werden sie nie gefunden.

»Noch gestern schien klar zu sein, dass es sich um irgendeinen Prank handelt, irgendeine Aktion, um ihre Followerzahlen in die Höhe zu treiben. Die beiden kennen sich nämlich, und sie haben massenhaft neue Follower bekommen, nur weil sie verschwunden sind. Aber heute Morgen ist dann was passiert, das den Verdacht weckt, es könnte sich um ein Verbrechen handeln.«

»Was denn?«

»Auf Lisa Yamamotos Instagram-Account ist ein neues Bild aufgetaucht.« Hellu legt einen weiteren Bogen vor Jessica hin. Es ist ein Instagram-Bild, das einen hohen, aus gelbbraunem Stein gebauten Leuchtturm zeigt.

»Was ist das?«

»Der Leuchtturm von Söderskär. In den äußeren Schären vor Porvoo. Sieh dir den Text an.«

Jessica lässt ihren Blick nach unten wandern und sieht unter den Ziffern, die Tausende von Likes dokumentieren, einen Text. Sekundenlang hat sie das Gefühl, die Feuchtigkeit an ihrem Rücken sei kein Schweiß, sondern feinkörniger Reif, den der Frost auf ein Ahornblatt gelegt hat. Eine schneidende Kälte durchfährt sie.

Ein stilles Grab tief drunten im Meer,

dort hilft der Prinzessin keiner mehr.

In ewigem Schlaf liegt sie so kalt,

Eis und Schnee bedecken sie bald.

4

Jessica hört einen Schuss. Dann einen zweiten. Und kurz darauf noch acht weitere in immer kürzerem Abstand. Jeder neue Schuss folgt schneller auf den vorigen, bis das Magazin mit den zehn Patronen leer ist und der Schieber der Waffe geöffnet bleibt. Dichter Pulvergeruch umgibt sie.

Jessica nimmt ihren Gehörschutz ab.

»Viel zu hastig. Du wirst es nie so eilig haben, zehn Schüsse abzugeben«, sagt sie, während Jusuf das Magazin entfernt und die Waffe auf den Tisch legt. Seine Hand ballt sich kurz zur Faust.

»Alles Treffer«, erwidert er gleichgültig und macht sich auf den Weg zur Scheibe. Außer ihnen beiden ist niemand da. Auf dem Schießstand im Polizeigebäude in Pasila gibt es keine Zielscheiben, die sich auf Knopfdruck auf Schienen dem Schützen nähern wie in amerikanischen Fernsehserien. Stattdessen findet man hier bewegliche und sich drehende Scheiben, die man an das jeweilige Training anpassen kann.

Jessica bindet ihre Haare zum Pferdeschwanz und folgt Jusuf, wobei sie seinen muskulösen Rücken betrachtet. Jusuf war immer sportlich, doch in den letzten Monaten hat er mehr Zeit im Kraftraum zugebracht als gewöhnlich. Den Anstoß zum aktiven Training gab vermutlich seine Krankschreibung, die von Ende Februar bis in den Mai dauerte und während der seine langjährige Beziehung in eine Sackgasse geriet.

Seit Jusuf seine Arbeit wieder angetreten hat, ist er zurückhaltend und distanziert. Vielleicht ist die Trennung der Grund. Oder das, was im Februar in Kulosaari geschehen ist. Wahrscheinlich ist es eine Summe aus beiden oder noch mehr Faktoren.

»Guck doch mal«, sagt er, zieht eine kleine Rolle aus der Tasche und überklebt die Einschusslöcher mit braunen Aufklebern. »Kopf, Kopf, Brust, Kopf, Brust, Kopf …«

Die lakonische Art, wie er die Treffer in der entfernt an einen menschlichen Torso erinnernden Scheibe aufzählt, ist gruselig. Jessica weiß, dass Jusuf nicht er selbst ist und dass es ihm nicht besonders gut geht. Er ist zwar fähig, seine Arbeit zu tun und auch genau genug zu schießen, aber durch das Polizeigebäude geht nicht mehr der alte Jusuf, dessen sprudelndes Lachen mitunter andere im Großraumbüro in der oberen Etage angesteckt hat. Für einen flüchtigen Moment denkt Jessica wehmütig daran, wie sehr sich die Dinge in diesem Jahr verändert haben. Und doch ist vieles gleich geblieben. Nur Erne und Mikael sind nicht mehr da. Beide sind tot, sowohl der Engel als auch der Dämon.

Schweigend kehren sie zum Schießstand zurück.

Jusuf bückt sich, um die Hülsen der Neun-Millimeter-Patronen vom Steinfußboden aufzusammeln. Die Leuchtröhren an der Decke verbreiten die einzige ihnen bekannte Farbe: Klinikweiß.

»Wie geht’s dir, Jessi?«

»Ein seltsamer Morgen. Irgendein besoffener Irrer hat mich beim Joggen angegriffen«, sagt Jessica kopfschüttelnd. Jusuf wirkt plötzlich besorgt.

»O Gott, Jessi. Bist du okay?«

Jessica hebt ihre rechte Hand, deren Fingerknöchel aussehen, als hätte sie sie einige Male gegen eine Backsteinmauer geschlagen. »Ich schon. Aber dem Mistkerl fehlt jetzt mindestens ein Schneidezahn.«

»Du lieber Himmel«, seufzt Jusuf und sieht Jessica prüfend an.

»Ich bin okay«, wiederholt sie nachdrücklich. »Und der Bekloppte wird sicher irgendwo gefunden.«

»Willst du auch schießen?«

»Nein«, antwortet Jessica. Im selben Moment fällt irgendwo auf dem Flur eine schwere Tür zu. Jessica streicht sich die Haare aus der Stirn. »Ich hab vorhin mit Hellu gesprochen.«

»Hauptkommissarin Lappi«, murmelt Jusuf. »Erne hatte Krebs. Die Frau ist Krebs.«

»Ja. Sie scheint mich nicht besonders zu mögen.«

»Die mag bestimmt keinen.«

»Da hab ich aber anderes gehört«, sagt Jessica und legt lächelnd den Kopf schräg.

»Was denn?«

»Dass sie dir immer auf den Hintern starrt, wenn du vorbeigehst. Oder wenn du im Besprechungsraum vom Stuhl aufstehst. Und dass du manchmal nur deshalb aufstehst.«

»Soweit ich weiß, ist sie mit einer Frau verheiratet.«

»Hintern ist Hintern.«

»Na, soll sie gucken. Ich tu mein Bestes«, sagt Jusuf und wischt sich den Schweiß von den Schläfen. Die Adern über den Oberarmen, die unter dem T-Shirt hervorlugen, treten durch das neue Trainingsprogramm und die Diät stärker hervor. Jessica hofft, dass Jusuf es mit dem Krafttraining nicht übertreibt. Leichtes Pumpen und Geschmeidigkeit passen besser zu ihm als breite Schultern und steife Riesenbizepse.

»Du bist doch jetzt frei, oder?«, fragt Jessica.

»Frei?«

»Ich meine, du hast gerade keine Ermittlungen am Laufen.«

»Ach so, ich dachte, du hättest eine Frau für mich. Nein, nichts am Laufen. Ich hab jetzt ein paar Tage Nina geholfen, einen Baustellenfall aufzudröseln, versuchter Totschlag.«

Jessica betrachtet die auf dem Tisch liegende Waffe und überlegt, ob Jusuf vorhat, noch eine zweite Runde zu schießen.

»Was hast du da?«, fragt Jusuf, der die Mappe unter ihrem Arm offenbar erst jetzt bemerkt. Eine der Hülsen rutscht ihm aus der Hand und rollt über den Boden.

»Die Blogger«, sagt Jessica.

Jusufs Miene hellt sich auf. Er richtet den Blick auf Jessica. »Sag bloß.«

»Du weißt von dem Fall?«

»Natürlich. Alle glauben ja, es wäre ein PR-Trick.«

»Das hatte ich auch gehört.« Jessica reicht Jusuf ihr Handy, auf dessen Display die Instagram-App mit dem Account der 25-jährigen Lisa Yamamoto zu sehen ist.

»Sieh dir den neuesten Post an«, sagt sie und zeigt auf das Bild mit dem Leuchtturm.

Jusuf klickt es an. Jessica beobachtet seine Reaktionen, sie hofft, das vertraute Aufleuchten in seinen Augen zu sehen. Die Verblüffung, die sich auf sein Gesicht legt, ist jedoch nicht so groß, wie sie erwartet hat. Sie will nicht glauben, dass Jusuf gleichgültig geworden ist, wahrscheinlich ist er nur chronisch müde. Jedenfalls ist es, als hätte die Palette seiner Gesichtsausdrücke einige ihrer Farben verloren, die hellsten und reinsten.

»In ewigem Schlaf liegt sie so kalt, Eis und Schnee bedecken sie bald. Was zum Teufel soll das heißen?«

Jusuf gibt ihr das Handy zurück.

»Für sich allein könnte es ein seltsamer Witz sein, Teil eines Pranks. Aber es gibt noch etwas, das hier ist noch merkwürdiger«, sagt Jessica und klickt auf Lisas Profilseite, auf der alle ihre Fotos zu sehen sind. »Sieh dir das an.« Sie zeigt auf die Biographie, die mit dem Pseudonym verlinkt ist.

Lisa Yamamoto

Promi

Blogger/Influencer

R. I. P.

1994–2019

5

Die Deckenlampen im Besprechungsraum sind ausgeschaltet, das Zimmer liegt im Halbdunkel. Nicht, damit das Bild, das der Projektor auf die Leinwand wirft, klarer zu sehen wäre, sondern lediglich deshalb, weil sich niemand aufraffen konnte, aufzustehen und das Licht anzuknipsen.

»Yamamoto?« Rasmus Susikoski hüstelt in die Handfläche. Dann kehren seine Hände auf den Tisch zurück, in die Gebetshaltung, die bei ihm eine Art Grundeinstellung ist. Die Ausgangsposition für seine typischen Gesten und Bewegungen, wie Nasekratzen und am Daumennagel kauen.

Rasmus ist der Kraftprotz des Gewaltdezernats, wenn man die Sitzmuskeln als Maßeinheit wählt. Der ausgebildete Jurist, der mit vierunddreißig immer noch bei seinen Eltern wohnt, ist sozial nicht sehr talentiert, dafür wurde er aber mit reichlich Grips geboren. Auf seinem Dienstausweis steht Sonderberater, und er bekleidet im Polizeigebäude in Pasila eine Zivilstelle. Jessica hat oft darüber nachgedacht, wieso Rasmus bei der Polizei und noch dazu im Gewaltdezernat gelandet ist. Vielleicht steht dahinter eine Art Berufung: der Versuch eines Jungen, der in der Schule gemobbt wurde, die Spirale des Bösen aufzuhalten. Oder etwas in der Art.

»Sie ist Halbjapanerin«, erklärt Jessica und klickt ein neues Bild an. Jusuf sitzt am Tischende, lässt seine Fingerknöchel knacken und betrachtet das Bild finster.

»Und eine Art Promi?«, erkundigt sich Rasmus.

»Ein Social-Media-Promi.«

»Nie von ihr gehört.«

»Hast du einen Instagram-Account?« Jessica klickt das nächste Foto an. Ein Bild nach dem anderen erscheint auf der Leinwand.

»Ich?« Rasmus sieht Jessica an, als wäre die Frage völlig absurd. »Nein. Aber ich bin bei Facebook.«

»Selbst wenn, würdest du sie trotzdem nicht kennen«, sagt Jessica. »Vier Fünftel von Yamamotos Followern sind junge Mädchen. Zehn Prozent junge Männer und der Rest wahrscheinlich Perverse oder asiatische Fake-Accounts.«

»Rasse würde also gut in das letzte Zehntel passen«, lacht Jusuf. »Und ich meine jetzt nicht die Fake-Accounts.«

»Ich bin auch sonst nicht aktiv …«

»Du hast garantiert einen Stalker-Account, über den du dir junge Mädchen anguckst, unter dem Namen Fasmus Nusikoski oder so«, sagt Jusuf und wirft seinem Kollegen einen Blick zu. Rasmus errötet zuerst, doch dann stiehlt sich ein kleines, anerkennendes Lächeln auf sein Gesicht. Der introvertierte Rasmus scheint es zu genießen, dass er seinen festen Platz als Ziel des groben Humors im Team hat. Außerdem versteht Jusuf sich darauf, intelligent zu sticheln, ohne boshaft zu werden, nie so weit zu gehen, dass sein Gegenüber unangenehm berührt wäre. Im Gegenteil, derjenige, den er verspottet, lacht immer mit. Jusuf ist ein Meister auf diesem Minenfeld, auch wenn Außenstehende sein Verhalten vielleicht als Mobbing einstufen würden.

»Na, Rasse?«, fährt Jusuf fort. »Ärsche, stimmt’s? Oder doch Titten?«

»Schluss jetzt, Jusuf«, seufzt Jessica, muss aber unwillkürlich lächeln.

»Oder Füße? Bist du ein feet guy, holst dir einen runter und …«

»Wenn ich wählen müsste, dann …«, beginnt Rasmus vorsichtig.

»Es reicht, Jungs«, fällt ihm Jessica ins Wort. »Konzentriert euch.«

Jusuf und Rasmus tauschen ein schnelles Lächeln, dann richten sie den Blick auf die große Leinwand, wo die Bilder wechseln, als Jessica Hunderte Posts durchblättert. Auf den meisten Fotos posiert die Halbjapanerin Lisa Yamamoto allein vor der Kamera: Die Bildqualität ist gut, die Frau trägt Trendkleidung bekannter Marken, gelegentlich wurde auch ein scheinbar alltäglicher Look angestrebt. Ein Teil der Bilder wurde im Ausland gemacht, und auf vielen Aufnahmen ist unter Palmen oder auf den Plätzen mitteleuropäischer Städte auch eine Freundesschar zu sehen. Das Profil und die Marke der Frau wurden mit großem Geschick gestaltet: Ungeachtet der wechselnden Kleidungsstücke, Frisuren, Orte und Cliquen sind Stimmung und Stil der Bilder einheitlich. Die Follower wissen genau, was sie bekommen, wenn sie die follow-Taste anklicken.

»Die Vermisstenmeldung hat Lisa Yamamotos Mitbewohnerin erstattet, die keine Ahnung hat, wo Lisa sein könnte und mit wem«, sagt Jessica und lässt die Maus los.

»Und der andere, dieser Jason Nervander?«, fragt Jusuf.

»Seine Eltern wohnen in Lappland, sie stehen sich wohl auch nicht sehr nah, jedenfalls kam die Vermisstenmeldung vom Pastor der Gemeinde Kallio, einem engen Freund von Jason.«

»Und was hat dieser Pastor gesagt?«

»Nichts weiter, als dass Jason sich seit ein paar Tagen nicht hat blicken lassen«, berichtet Jessica.

»Es gibt also in beiden Fällen keine bekannte oder wahrscheinliche Erklärung für ihr Verschwinden?«

»Wir fangen bei Null an.«

»Verdammter Mist«, seufzt Jusuf und stützt die Ellbogen auf den Tisch.

»Wer gehört zum Team?«, fragt Rasmus.

»Wir drei«, antwortet Jessica schnell.

»Hä? Nicht mal Nina oder …« Jusuf schluckt.

»Hellu hat betont, dass wir zwar ein Verbrechen vermuten, aber noch nicht genug Anhaltspunkte dafür haben. Also beginnen wir zu dritt und bekommen Verstärkung, sobald feststeht, dass mindestens einer der beiden tot ist«, erklärt Jessica und reibt sich die Augen. »Die Technik hilft uns allerdings schon jetzt.«

»Was ist mit deiner Hand passiert?«, fragt Rasmus plötzlich. Er starrt auf Jessicas Hand, die auf dem Tisch liegt.

Jessica antwortet nicht gleich. Sie wirft einen Blick auf ihren geschwollenen Handrücken, auf die bläulich verfärbten Fingerknöchel und zuckt mit den Schultern.

»Ein Betriebsunfall«, sagt sie dann, lehnt sich zurück und schiebt die Hand unter die Achsel. Sie betrachtet das Foto auf der Leinwand, auf dem Lisa Yamamoto bis zu den Knien in türkisblauem Wasser steht, mit dem Rücken zur Kamera und dem Gesicht zu dem Wasserfall im Hintergrund. Die nassen schwarzen Haare zeichnen den gebräunten Nacken und die Schultern nach. Jessica hört beinahe, wie die auf dem Bild gefangenen Tausende Liter Wasser sich in Bewegung setzen. Die strahlende Sonne lässt das Wasser überall da funkeln, wohin die Kraft des Wasserfalls nicht reicht, wo er die Oberfläche nicht aufwühlt.

»Jessica?« Jusuf reißt sie aus ihren Gedanken.

»Was?«

»Die Arbeitsteilung?«

Einige Sekunden vergehen, dann beginnt Jessica die Aufgaben zu delegieren. »Rasse, du gehst zusammen mit den Technikern beide Instagram-Accounts durch. Such nach verdächtigen Dingen.«

»Wie zum Beispiel Kommentare?«

»In erster Linie. Und generell verdächtige Follower …«

»… von denen die beiden insgesamt über vierhunderttausend haben«, setzt Rasmus Jessicas Satz fort. Jessica sieht ihn an, doch seine Miene verrät keine Spur von Aufmüpfigkeit, obwohl seine Bemerkung wie ein Protest klingt. So oder so, die Aufgabe ist riesig und gleicht der sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen.

»Fang mit den Kommentaren an. Wenn die Geschichte das ist, wonach sie aussieht, wenn also ein Irrer Lisa und Jason umgebracht und Lisas Account gekapert hat, finden wir da bestimmt irgendwas«, sagt Lisa und schaltet ihren Computer aus. »Jusuf und ich befragen Lisas Mitbewohnerin.«

»Was ist mit dem verdammten Leuchtturm?«, fragt Jusuf.

»Söderskär. Da hilft uns die Polizei von Ost-Uusimaa. Hellu hat gesagt, dass heute zwei Beamte mit dem Boot zu der Insel fahren und sich umsehen. Kann ja sein, dass sie etwas finden.«

»Leichen?«

»Ich glaub nicht, dass sie Froschmänner dabeihaben.«

»Wäre das nicht angebracht?« Jusuf blättert in den Papieren, die vor ihm liegen. »In ewigem Schlaf liegt sie so kalt, Eis und Schnee bedecken sie bald … Sie sollten doch Taucheranzüge mitnehmen, wenn sie was finden wollen.«

»Die wissen schon, was sie tun. Sie haben dieselben Fakten vorliegen wie wir«, sagt Jessica, steht auf und zieht sich den Mantel an. »An die Arbeit, Rasse. Und wir fahren jetzt zu Lisas Wohnung, Jusuf.«

6

Die Ampel springt auf Grün, und Jusuf biegt von der Veturitie auf die Nordenskiöldinkatu ab. Jessica wirft einen Blick auf die Uhr an ihrem Handgelenk, eine Lady Panthère Vendôme von Cartier. Zwar sticht das Prunkstück aus sechzehnkarätigem Gold, das sie von ihrer Mutter geerbt hat, von ihrem ansonsten eher schmucklosen Stil ab, aber eigentlich ist es nicht einmal besonders teuer. Im Internet hat Jessica herausgefunden, dass man für die Uhr vielleicht zweitausend Euro bekommen könnte, vor allem wegen ihres Vintage-Status. Sicher auch mehr, wenn Jessica verraten würde, wem die Uhr früher gehört hat. Die Namen berühmter Ex-Besitzer treiben die Preise kräftig in die Höhe: Beispielsweise wurden vor ein paar Jahren für die Rolex Daytona des legendären Paul Newman fast achtzehn Millionen Dollar bezahlt. Jessicas Mutter war nicht so berühmt wie Paul Newman, ist aber bis heute die einzige finnische Schauspielerin geblieben, die den Aufstieg an den hellsten Sternenhimmel von Hollywood geschafft hat.

Starring Theresa von Hellens.

Der Geruch von Jusufs neuer Lederjacke steigt Jessica in die Nase.

Ein als Oldtimer registrierter Chevrolet Camaro rast mit dröhnendem Motor an ihnen vorbei.

»Oje, überhöhte Geschwindigkeit und bestimmt noch mit Sommerreifen.« Jusuf steckt sich ein Stück Kautabak in den Mund und fährt fort: »Wenn wir jetzt ein Radargerät und freie Zeit hätten …«

»Wahrscheinlich 137«, meint Jessica.

»Was?«

Jessica mustert Jusuf und runzelt die Stirn. Er scheint nicht zu begreifen, wovon sie spricht.

»Erinnerst du dich etwa nicht an die 137? Als die Verkehrspolizei für jede zweite Geschwindigkeitsüberschreitung einen Strafzettel verteilt hat, auf dem ein Tempo von 137 Stundenkilometern angegeben war. Und aus irgendeinem Grund wurden die Dinger immer bei Regen verteilt.«

Jusuf schüttelt verwundert den Kopf.

»Es stellte sich heraus, dass die neuen Radargeräte die Geschwindigkeit der Scheibenwischer maßen. Immer 137 Stundenkilometer. Du glaubst nicht, wie viele Klagen deswegen eingereicht wurden«, sagt Jessica lächelnd.

Jusuf lacht schallend, dann hält er vor dem Zebrastreifen.

Jessica dreht am Knopf ihrer Uhr, während ihr Blick den in reflektierende Westen gekleideten Vorschulkindern folgt, die aufgereiht wie kleine Enten die Straße überqueren.

»Schön, dass wir zusammen ermitteln dürfen«, sagt Jusuf.

»Solange es nicht so läuft wie beim letzten Mal.«

Jessica beobachtet, wie die Kinder auf der Verkehrsinsel zwischen den beiden Zebrastreifen postiert werden. Die Kindergärtnerinnen schieben sie behutsam näher aneinander wie kleine Puppen, deren Vertrauen in die Erwachsenen und in die Gerechtigkeit des Lebens unerschütterlich ist. Die Köpfchen unter den Bommelmützen bleiben zum Glück noch viele Jahre von der Beklemmung verschont, die die Sinnlosigkeit der Welt auslöst. Ihre Schutzhülle würde platzen, wenn sie wüssten, dass Kindergärtnerinnen, Lehrer, Mütter, Väter, dass niemand der Erwachsenen den geringsten Schimmer vom Sinn des Lebens hat.

»Bist du okay?«, fragt Jusuf, als er wieder anfährt.

»Bist du’s?«

»Na ja, es war … Es war eine ziemliche Mangel.«

Jessica blickt zum Fenster hinaus. Über das Thema zu reden fiel ihr im Frühjahr schwer, im Sommer erschien es ihr fast lustig und jetzt irgendwie überflüssig. Der Hexenbande, die zahlreiche Menschen getötet hat, war etwas gelungen, was ihr nie im Leben hätte gelingen dürfen: Sie hat sich wie eine giftige Schlange in den Kern der Ermittlungen gewunden und ihre Zähne in sie alle geschlagen. Obendrein hat sie es geschafft zu entkommen.

Jessicas Handy klingelt. Rasmus ruft an.

»Hallo, seid ihr schon in Lisas Wohnung?«

»Wir sind doch gerade erst losgefahren, Rasse«, seufzt Jessica.

»Vermisst er uns schon?«, fragt Jusuf und klammert die Finger um das Lenkrad. Jessica schaltet die Lautsprecherfunktion ein.

»Ich wollte mich gleich melden, weil ich auf Instagram was Interessantes entdeckt hab.« Rasmus spricht schneller als sonst, was in der Regel auf besonderen Eifer hindeutet.

»So schnell?«

»Na ja, eigentlich hab ich ja noch gar nicht richtig angefangen, aber …«

»Spuck’s aus.«

»Zu dem neuesten und letzten Bild von Lisa Yamamoto …«

»Mit dem Leuchtturm?«

»Genau. Zu dem sind viel mehr Kommentare gekommen als zu irgendeinem der früheren, fast tausend. Hauptsächlich erschütterte und ungläubige, die Follower haben wahrscheinlich das Gedicht und den RIP-Eintrag gelesen und sind entsetzt und nehmen Anteil und …«

»Was hast du gefunden, Rasse?«, fragt Jessica. Jusuf stoppt an der nächsten Ampel und sieht sie neugierig an.

»Er stach mir ins Auge, als ich die Kommentare zu dem Leuchtturm-Bild überflogen habe. Er ist der einzige, der nicht auf Finnisch oder Englisch geschrieben ist, sondern auf Japanisch in der Kanji-Schrift.«

»Was steht da?«

»Ich hab die Zeichen in den Google-Übersetzer kopiert und rausgefunden, dass sie das Wort Masayoshi ergeben. Das bedeutet Gerechtigkeit.«

»Gerechtigkeit?«

»Ja. Gerechtigkeit, so wie justice.«

»Meint der Kommentator etwa, dass das, was Lisa zugestoßen sein könnte, gerecht ist? Dass sie es verdient hat?«

»So würde ich es verstehen«, sagt Rasmus.

»Wer ist der Kommentator?«

»Sein Pseudonym lautet Akifumi2511946. Das Profil ist nicht öffentlich, aber das Icon zeigt einen japanisch aussehenden jüngeren Mann.«

»Schick mir den Link zu dem Profil.«

»Okay.« Rasmus legt auf. Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, was Jessica, die ungeduldig auf das Display ihres Handys starrt, kaum registriert.

»Na sowas, Schneeregen«, sagt Jusuf und schaltet die Scheibenwischer ein. Als Jessica aufblickt, sieht sie große Schneeflecken, die schmelzen, sobald sie auf der Windschutzscheibe landen. Vor der Helsinkier Eishalle findet trotz des miserablen Wetters eine Art Basar statt. Zwischen den Buden laufen Scharen von Menschen herum, von denen viele die Kapuze über den Kopf ziehen. Die große Leuchttafel verkündet, dass die Eishockeymannschaft HIFK heute Abend gegen Ilves spielt. Jessica erinnert sich an die 90er-Jahre, als auch die zweite Helsinkier Mannschaft, Jokerit, ihre Heimspiele noch hier austrug. Damals gingen ihre Adoptiveltern regelmäßig mit ihr in die Eishalle, wenn die beiden Helsinkier Mannschaften gegeneinander spielten. Schon vor langer Zeit ist Jessica klargeworden, dass diese Jahre die einzigen waren, in denen sie ein normales Kinderleben führte. Davor lag die frühe Kindheit mit dem großen Haus und dem Chauffeur, den Palmen von Bel Air und dem trockenen Wind aus der Steppe. Und nach den wunderschönen Jahren mit den Niemis kehrte all das in ihr Leben zurück. Die Volljährigkeit und das Erbe. Der Tod der Adoptiveltern. Gerade, als wäre das Geld die Wurzel allen Übels, als läge ein Fluch auf den Summen, die auf ihre Konten überwiesen wurden.

»Jusuf«, sagt Jessica und sieht ihren Kollegen an.

»Ja?«

»Hast du jemals daran gedacht, dir Kinder zuzulegen?«

»Hä? Anna und ich haben uns doch gerade erst getrennt … So schnell geht das nicht.«

»Ja, ich weiß. Sorry.«

»Warum fragst du überhaupt?«

»Ich weiß nicht. Gerade jetzt habe ich das Gefühl, es wäre nicht fair, am allerwenigsten gegenüber dem Kind. Die Welt ist so krank«, sagt Jessica genau in dem Moment, als die Nachricht von Rasmus eintrifft.

7

Vor dem Haus, in dem Lisa Yamamoto wohnt, sind mehrere Stellplätze frei, und Jusuf parkt so nah an der Haustür wie möglich. Bevor Jessica aussteigt, zieht sie den Reißverschluss höher, damit die nassen Schneeflocken nicht auf ihrem Hals landen. Die blassgrüne Farbe des sechsstöckigen Eckhauses, das vor ihnen aufragt, erinnert an einen abgestandenen Gemüsesmoothie. Fast direkt neben der Haustür befindet sich eine kleine Rasenfläche, die ein einsamer kahler Baum schmückt. Dahinter rauscht der Verkehr auf der stark befahrenen Topeliuksenkatu vorbei.

»Da drüben hab ich mal gewohnt«, sagt Jusuf, als er die Autotür zuschlägt.

Jessica dreht sich zu Jusuf um, der in die Richtung zeigt, aus der sie gerade gekommen sind.

»Wo?«

»An der Ecke Minna Canth und Messenius.«

»Tatsächlich? Wann?«

»Vor zehn Jahren. Als Anna und ich aus Söderkulla in die Stadt gezogen sind.« Jusuf steckt die Hände in die Taschen seines Hoodies. Seine Jacke hat er im Auto gelassen, wahrscheinlich möchte er nicht, dass die nagelneue Lederjacke nass wird. Er schüttelt den Kopf und blickt mit wehmütiger Miene in seine Vergangenheit. Jessica weiß nicht, ob er die Absicht hat, über das Thema – über sich selbst und Anna und ihre gescheiterte Beziehung – zu reden, beschließt aber, keine weiteren Fragen zu stellen.

»Wo ist denn hier die Klingel?«, fragt Jessica, doch im selben Moment bewegt sich etwas hinter dem Türfenster, bald darauf öffnet ein alter Mann die Tür und hält sie Jessica und Jusuf im Hinausgehen auf.

»Haben die Handwerker sie noch nicht repariert?«, fragt er mit einer für sein Alter überraschend kräftigen Stimme.

»Was?«, fragt Jusuf den Alten, der neben ihnen stehen bleibt. Die Feuchtigkeit scheint ihn nicht zu stören.

»Die Klingel«, sagt der Mann und schwenkt den Arm. »Wird allmählich Zeit, verflixt nochmal.«

Jessica und Jusuf wollen gerade eintreten, als der Mann sie noch einmal anspricht.

»Moment mal, sind Sie von der Polizei?«

Er zeigt auf die Ausweise, die den beiden um den Hals hängen.

Jessica nickt. Im Regen, aus dem inzwischen ein Nieseln geworden ist, wird der Mantel des Mannes an den Schultern nass.

»Sind Sie wegen dem Lärm hier?«, fragt der Alte.

»Dem Lärm?«

»Ja. Heute früh hat wieder jemand kräftig gegen die Wände gedonnert.«

»Wieder?«

»Derselbe Lärm war in der Nacht zum Sonntag zu hören, verflixt nochmal.«

Die mit Raumspray gesüßte Luft hängt so schwer in der Wohnung, dass Jessica am liebsten ein Fenster öffnen würde. Das Wasser rauscht in den Leitungen, und aus dem Bad dröhnt das störend laute Rumpeln der Waschmaschine. In Momenten wie diesem sind lange Pausen im Gespräch eine Selbstverständlichkeit, man muss sie kommen und vergehen lassen, muss sie respektieren. In diesen Pausen achtet man ganz besonders auf die Geräusche in der Umgebung.

»Erzählen Sie das Ganze nochmal in eigenen Worten, von Anfang an«, bittet Jessica und lehnt sich mit verschränkten Armen an die Fensterbank.

Die junge Frau auf dem Sofa bürstet sich pausenlos die blonden Haare, ganz offensichtlich eine Ersatzhandlung, die das Gefühl der Hilflosigkeit durch eine nützliche Tätigkeit mildern soll. Während Jessica auf die Antwort wartet, blickt sie sich in dem gemütlichen Wohnzimmer mit der geräumigen und praktisch wirkenden Kochnische um. Die moderne Einrichtung, in der skandinavische Elemente dominieren, passt gut zu zwei jungen, urbanen Frauen. Die Dreizimmerwohnung hat zwei Schlafzimmer, für jede eins.

»Lisa ist am Samstag zur Party gegangen. So gegen sechs«, sagt Essi leise.

»Zu wessen Party?«, fragt Jessica, obwohl sie die Vermisstenmeldung zweimal gelesen hat. Jusuf setzt sich in sicherer Entfernung von Essi auf das Sofa.

»Zu Tims Veröffentlichungsfeier.«

»Tim?«

»Tim Taussi. Das ist dieser Rapper. Kex Mace’s.«

Jessica wirft Jusuf einen Blick zu. Kex Mace’s ist in Finnland jedem bekannt, der nicht völlig abgeschottet lebt. Die bis ins Letzte durchgestylten Songs und die übertriebenen, die amerikanische Gesellschaft verherrlichenden Texte finden jedoch vor allem bei jungen Frauen Anklang. Teilweise auch bei Männern, wie zum Beispiel bei Fubu, mit dem Jessica sich vor einiger Zeit gelegentlich getroffen hat. Fubus Musikgeschmack war zwar nicht der Grund für ihre Trennung, hat die gemeinsamen Abende aber auch nicht gerade schöner gemacht.

»Kennen Sie ihn?«, fragt Jusuf.

Essi sieht Jusuf aus glasigen Augen an, als wäre die Frage überflüssig.

»Tim? Ja.«

»Warum sind Sie nicht mitgegangen?«, fährt Jusuf fort.

»Ich war zu müde«, antwortet Essi und legt die Bürste auf den Tisch. »Ich hatte ein bisschen Schnupfen.«

»Okay«, sagt Jessica. Sie betrachtet die etwa zwanzigjährige Frau, eine hübsche Blondine mit Pagenkopf, einer kleinen Nase und großen braunen melancholischen Augen.

»Ich war unter der Dusche, so gegen neun oder zehn Uhr am Abend, als die Tür ging. Da dachte ich, Lisa wäre nach Hause gekommen, aber hier war niemand. Natürlich habe ich geglaubt, ich hätte mich verhört, aber jetzt ist alles so seltsam …« Essi presst die Lippen zusammen.

»Ist es möglich, dass jemand in die Wohnung gekommen ist? Haben Sie gemerkt, dass irgendetwas verschwunden ist?«, fragt Jusuf, aber Essi schüttelt den Kopf.

»Als ich dann am Morgen wach wurde«, erzählt sie weiter, »war es ungefähr acht. Auf dem Weg zur Küche habe ich gemerkt, dass die Tür zu Lisas Zimmer offenstand. Sie macht sie über Nacht immer zu, immer. Ich hab reingespäht und gemerkt, dass sie nicht im Bett lag. Hätte ja sein können, dass sie schon wach war. Aber die Tagesdecke lag auf dem Bett. Da ist mir klar geworden, dass sie überhaupt nicht nach Hause gekommen war. Ich wäre nämlich bestimmt wach geworden, wenn sie schon am Morgen wieder gegangen wäre.«

»Kommt das oft vor? Dass Lisa irgendwo anders übernachtet?«

»Nicht oft. Manchmal. Aber dann schickt sie mir meistens eine Nachricht. Damit ich mir keine Sorgen mache. Sie nimmt das ziemlich genau.«

»Ziemlich genau?«

»Na ja, manchmal treibt sie es eben zu wild, oder der Akku ist leer oder sowas. Aber irgendwie hab ich geahnt, dass diesmal was nicht stimmt.«

»Und Sie haben sie angerufen?«

»Zuerst hab ich ihr eine Nachricht geschickt. Aber als die bei WhatsApp nach einer Stunde noch nicht durchgegangen war, hab ich angerufen. Da war ihr Handy ausgeschaltet. Oder jedenfalls nicht zu erreichen.«

Jessica hört lautes Hupen auf der Topeliuksenkatu. In ihren Wimpern hängt ein Fussel, der sie am Auge kitzelt. Sie zupft ihn weg und betrachtet ihn einen Moment lang aus nächster Nähe, bevor er auf den Boden fällt.

»Und um halb fünf am Sonntagnachmittag haben Sie sich bei der Polizei gemeldet«, stellt Jusuf fest.

»Da hatte ich schon absolut alle Bekannten angerufen. Und keiner wusste, wann sie von der Party weggegangen ist und wohin. Bei der Nachfeier war sie nicht – jedenfalls nicht bei Tims Nachfeier in Ullanlinna. Das ist sicher.«

»Kennen Sie Jason Nervander?«, fragt Jessica.

»Ja, natürlich.« Essi seufzt verzweifelt auf. »Das ist so verdammt krank …«

Jessica wartet einen Moment, während Essi sich die Nase putzt und einen Blick auf ihr Handy wirft.

»Wissen Sie, ob Jason auf der Party war?«, fragt sie dann.

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nicht. Jason war eher in anderen Kreisen zugange.«

»Halten Sie es für möglich, dass Lisa und Jason gemeinsam verschwunden sind?«, fragt Jessica und geht langsam in Richtung Kochnische. An den weißen Wänden des Wohnzimmers hängen große gerahmte Manga-Zeichnungen von Gestalten, die mit ihren riesigen Augen und minimalistischen Nasen an die Zeichentrickfilme von Hayao Miyazaki sowie an Ginga Nagareboshi Gin und Pokémon erinnern.

»Dass sie sich absichtlich irgendwo verstecken?« Essi putzt sich wieder die Nase, diesmal kräftiger. Das Geräusch erinnert an einen kleinen Elefanten.

»Ja«, sagt Jessica und bleibt vor einem der Bilder stehen. Es zeigt ein Mädchen mit großen Augen, das ein blau leuchtendes Schwert zum Himmel streckt.

»Na ja, theoretisch wäre das schon möglich. Aber dann ist heute bei Instagram dieses Bild aufgetaucht.« Essi blickt unruhig zum Fenster. »Lisa würde sowas nicht zum Spaß posten, nicht mal als Aprilscherz.«

»Kommen wir auf Jason zurück. Wie gut kennen die beiden sich?«, fragt Jessica mit ruhiger Stimme.

»Die hatten mal was miteinander.«

»Eine Beziehung?«, erkundigt sich Jusuf, plötzlich hellwach.

Essi nickt. »Vor einem Jahr oder so. Aber das haben sie nie publik gemacht. Damals war Jason ziemlich oft hier.«

»Haben sie noch miteinander zu tun?«

»Glaub ich nicht. Ihre Trennung war ziemlich schmutzig.«

»Inwiefern schmutzig?«, fragt Jessica und geht von dem Schwertbild zum nächsten.

»Jason hat Lisa betrogen. Er hat sie angelogen, als sie ihn danach gefragt hat. Und dann wurde er erwischt. Lisa hätte es mir erzählt, wenn sie wieder Kontakt hätten.«

»Und trotzdem gehen die Leute, die Jason und Lisa kennen, davon aus, dass sie gemeinsam verschwunden sind«, sagt Jusuf.

»Die Leute sind eben blöd«, murmelt Essi mit weinerlicher Stimme. »Sie glauben zu wissen … Ziemlich wenige kennen Lisa wirklich. Die Menschen sehen Social-Media-Fotos von irgendwem und glauben, sie wüssten alles über ihn.«

»Stimmt«, sagt Jessica so leise, dass sie nicht sicher ist, ob man sie hört. Sie betrachtet nun eine Filzstiftzeichnung im Manga-Stil, die ein lächelndes blauäugiges Mädchen zeigt. Auf den weißen Locken liegt ein Kranz aus roten Rosen, und bei der Kleidung handelt es sich offensichtlich um eine japanische Schuluniform: Kniestrümpfe, ein kurzer dunkelblauer Rock und ein weißes, an eine Matrosenbluse erinnerndes Oberteil mit roten Schleifen. Obwohl die Zeichnung an einen Comic erinnert, ist sie alles andere als lässig. Ihr fehlen Verspieltheit und Ironie.