Der Gestählte von Dasgar - Constanze Hoffmeyer - E-Book

Der Gestählte von Dasgar E-Book

Constanze Hoffmeyer

0,0

Beschreibung

Als ein Gestählter von Dasgar hält Rhaz sein Wort. Immer. Er begleicht seine Schuld. Jede. Die Mission um einen Gegenstand von unerklärtem Wert kostet ihn um ein Haar das Leben. Um den Dienst zu beenden, schließt er wider besseres Wissen einen Pakt mit einer Hexe. Ohne den Preis dafür zu kennen. Bald ahnt Rhaz, dass die Hexe nichts Geringeres fordert als seine Seele. Und dass ihm keine Wahl bleibt. Denn eine Schuld muss beglichen werden, gleich zu welchem Preis.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 500

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Über das Buch:

Als ein Gestählter von Dasgar hält Rhaz sein Wort. Immer. Er begleicht seine Schuld. Jede.

Die Mission um einen Gegenstand von unerklärtem Wert kostet ihn um ein Haar das Leben. Um den Dienst zu beenden, schließt er wider besseres Wissen einen Pakt mit einer Hexe. Ohne den Preis dafür zu kennen. Bald ahnt Rhaz, dass die Hexe nichts Geringeres fordert als seine Seele. Und dass ihm keine Wahl bleibt. Denn eine Schuld muss beglichen werden, gleich zu welchem Preis.

Über die Autorin:

Dystopien. High Fantasy. Dark Fantasy.

In diesen Genres ist Constanze Hoffmeyer daheim, sowohl als Leserin wie auch als Autorin. Spannung muss sein. Facettenreiche Charaktere, Handlung abseits des Mainstreams. In ihren Büchern dürfen Leser*innen mitfiebern und ganze Welten erkunden, die sie in ihren Bann ziehen.

Ein Gestählter von Dasgar flieht nicht. Niemals.

Ein Gestählter von Dasgar hält sein Wort. Immer.

Ein Gestählter von Dasgar begleicht seine Schuld. Jede.

Der Pfad von Dasgar ist ein Pfad der Ehre.

Inhaltsverzeichnis

EINE LEHRE MACHT NOCH KEINEN MEISTER.

DAS SCHICKSAL IST EIN VERRÄTER.

EINE SCHULD MUSS BEGLICHEN WERDEN, GLEICH ZU WELCHEM PREIS.

AUCH EINE HALBE WAHRHEIT IST DIE WAHRHEIT.

NICHT KLAGEN. NICHT SCHREIEN. NICHT ZERBRECHEN.

FREIHEIT IST EINE ILLUSION.

EIN SCHICKSAL IST NUR EIN WEG VON VIELEN.

ES KANN NUR AUF EINE WEISE ENDEN. MIT EINEM TOD.

SELBST EIN NIEMAND KANN JEMAND SEIN.

WAS ZERREIßT, KANN SICH ZUSAMMENFÜGEN.

KAMERADSCHAFT IST EINE EHRENSACHE.

WO KEIN WEG SICH AUFTUT, LÄSST SICH EINER EBNEN.

WENN ES ENDET, DANN ENDET ES FÜR IMMER.

LEST EBENFALLS:

EINE LEHRE MACHT NOCH KEINEN MEISTER.

Die Pfeilspitze steckte noch drin, im Fleisch seines Schenkels. Abgebrochen, der Schaft, vergiftete das Eisen seinen Organismus. Zugleich bewahrte es seine Arterie vor dem Ausbluten. Nichts spürte er mehr, nur die stumpfe Qual der Spitze in seinem Fleisch und der Stichwunden am Oberleib. Und die Hände der Heilhexe auf seiner Haut.

Diese beäugte ihn. Forschend, aber sie verriet nicht ihre Gedanken. „Bist du wach?“

Er lag schon länger wach, doch erst allmählich bekam die Welt ihre Konturen zurück und das Geschehen einen Zusammenhang. Er belebte die Stimme. Endlich gehorchte sie wieder, wenn auch Blut ihm die Zunge beschwerte. „Ja.“

„Banditen?“

Über die Müdigkeit schöpfte er Atem. Der Schlaf lockte, die Erschöpfung abzustreifen. Zu genesen. Oder zu sterben. Er wehrte beides ab, traute dem Gefühl von Sicherheit durch die Finger der Fremden nicht. „Ja.“

„Du hattest Glück.“

„Ja.“

„Sind sie entkommen?“ Es klang nicht, als interessiere sie die Antwort, oder vielleicht kannte sie diese bereits.

Er verbiss ein Seufzen. „Ja.“

„Und du weißt nicht, wer sie waren?“

„Nein.“

Sie stockte in der Bewegung. Tarnte es, indem sie das Begutachten der Pfeilwunde beendete, sich aufrichtete und tastete. Erstaunlich versiert befühlte sie die Schnitte und die Stiche, auch die Bisse, und störte sich nicht an seiner Blöße. Er selbst tat es wohl. Nackt auf ihrem Behandlungstisch, der Tafel einer fragwürdigen Fremden. Er entsann sich nicht, sich entkleidet zu haben, oder dass sie ihn seiner Sachen entledigt hätte. Auch nicht, wie er hergekommen war.

Er schob die Bedenken beiseite, fürs Erste. Ließ es geschehen und ließ sie gewähren. Lag still und atmete tief. Gleichmäßig. Ungerührt. Nur keinen Schmerz genehmigen. Kein Misstrauen zeigen. Keine Scheu. Er brauchte sie, brauchte ihre Gabe. Das Blut auf seiner Haut, jetzt an ihren Fingern, verriet es schon, ihr neuerliches Erstarren, die sinkenden Augenbrauen bestätigten es. Es stand nicht gut. Die Wunden schwärten. Sie stanken. Brannten. Nässten.

Derer zu viele.

Mit leichten Fingern fuhr die Heilhexe darüber. Mehr Falten bildeten sich auf ihrer Stirn als ohnehin schon, noch tiefere Furchen kerbten ihre Mundwinkel. Die Lippen, blättrig vom Alter, kräuselten sich. „Wie lange hast du da gelegen?“

Ich weiß es nicht. Dergleichen war ihm noch nie widerfahren, dass ein Bann ihn überwältigte, und dass er ihn selbst nicht brechen konnte. Dazu verdammt, an Ort und Stelle zu verrecken. Zu verbluten. Am Fieber zu sterben. Zu verdursten. Von Wildvieh zerfleischt zu werden.

„Du hattest Glück“, wiederholte die Hexe und beugte sich dichter an die Wunden heran. Ihre Frage stellte sie nicht noch einmal, aber er sah ihr an, dass sie wusste, keine Schar belangloser Banditen vermochte einen Bann von solcher Macht und Dauer zu legen. Dagegen blieb ihm rätselhaft, ob sie auch durchschaute, dass er wusste, keine herkömmliche Heilhexe konnte einen solchen Bann wieder lösen. Wer bist du? Was bist du? Ein Blick, fast als vernehme sie die Gedanken, und ein kaum merkliches Schütteln des Kopfes. Vielleicht nur seines Zustands wegen.

Er schluckte die trockenen Reste seiner Starre in der Kehle, und eine Menge Blut. „Ich bin durstig.“

Die Heilhexe gab einem Lakaien einen Wink. „Bring den Tee.“

„Ja, Herrin“, säuselte dieser. Die Stimme ein Wind, weder weiblich noch männlich, das Gesicht verschleiert, die Gestalt verhüllt, huschte das Wesen davon. Nichts als eine Wolke rotblühender Seide.

Die bewegte Luft streichelte ihm die Wangen, den bloßen Oberleib, und sie beschwerte die Erschöpfung, die wie ein Senklot über ihm schwebte. Er schloss die Augen und hörte ein Stöhnen über die eigenen Lippen entfleuchen. Schwächling. Obgleich vermutlich die wenigsten an seiner Stelle noch lebten. Ein Schauer schüttelte ihm das Blut, einer von Fieber und Kälte, beides zugleich.

Seine Zeit lief ab.

Die Heilhexe schien es ebenso zu denken. Sie wartete nicht auf den Tee des Lakaien. Stattdessen richtete sie sich auf, bog den Rücken durch und schob die Ärmel rauf. Dann überlegte sie es sich anders, streifte das Gewand gänzlich ab und legte, bloß noch im Mieder, die Hände auf seine Brust. Die ihrige dehnte sich derart unter ihrem Atemzug, dass es die Falten ihres Leibes glättete, für einen Augenblick. Dann senkte sie die Lider.

Ein Stich der Bangnis traf ihn, weil sie sich ohne jede Form der Betäubung anschickte, seine Wunden zu behandeln. Der Gedanke von vorher kam ihm, diesmal mit mehr Macht. Schwächling. Zähne zusammenbeißen, Augen zu und durch. Das tat er. Bereit für die Angst, gewappnet vor der Qual. Gefasst auf den Tod. Sie wirkte fähig, aber nicht viele wussten eine solche Infektion wie seine zu kurieren. Zumal, weil wegen des Banns fast jede Lebenskraft ihm fehlte. Und er zu viel Blut verloren hatte. Somit, gefasst auf den Tod. Nicht auf die Wolke, in die er plötzlich schwebte. Sie dampfte ihm förmlich aus dem Hirn, beschworen von den Händen der Heilhexe. Glaubte er. Oder seiner Erschöpfung.

Oder dem Tod.

Auf einmal lag er wieder auf der Erde, inmitten vertrockneten Laubes, und Klingen stachen auf ihn ein, schnitten in sein Fleisch, Hunde bissen sich in seinen Gliedmaßen fest. Er lag wehrlos, lag auf der Erde in seinem eigenen Blut, mit der Aussicht durch die Schleiergefilde ins Jenseits. Jeder Atemzug, als stemme er eine Eisenbank. Jeder Muskel, als handele es sich um Maden in seinem Fleisch, die er nicht gebieten konnte. Kampfunfähig. Schlimmer noch, bewegungsunfähig. Taub. Blind. Verdammt und überrascht von jenem Bann, genauso wie von der Macht der Heilhexe. Die Wirren des Dampfes und der Erschöpfung schläferten ihn ein, aber er fand die Kraft, irgendwo in seiner gestählten Seele, dem standzuhalten. Er sammelte seine Sinne ein und blinzelte gegen die Wolke der Schonung, die die Heilhexe ihm aufzwang. Er wollte nicht die Sinne einbüßen, sich nicht ergeben. Vor allem sich ihr nicht ausliefern, unwissend, wer sie war und was sie plante. Ob sie tatsächlich helfen wollte.

Solche Dienste kosteten. Solche beachtlichen nicht wenig.

Er überwand ihren einschläfernden Geistesbann. Ein Reigen explodierte in seiner Stirn. Was auch immer die Hexe ihm antat, es sandte ein Feuer der Qual durch jede seiner Adern. Die Pfeilspitze in seinem Fleisch glühte. Die Wunden seines Oberleibes, die Schnitte, Stiche und Bisse rissen auf. Fieber schüttelte seinen Leib, er begehrte auf. Die Heilhexe zwang ihn nieder, allein kraft ihres Geistes, der sich gegen seinen stemmte. Er ließ sie nicht ein. Er hielt die Barrikaden seines Geistes und stählte die Seele. Er hielt an sich selbst fest, und er hielt ihr stand. Es kostete alles an Anstrengung, zu der er sich noch imstande befand. Unmöglich zu ergründen, ob sie ihm half oder ob sie zu Ende brachte, was jene Angreifer begonnen hatten. Er glaubte Letzteres. Aber ich bin noch nicht fertig. Ich brauche mehr Zeit. Zeit, seine Kräfte zurückzuerlangen. Zeit, die Fehler zu korrigieren. Zeit, seinen Auftrag abzuschließen.

Die Schuld zu begleichen.

„Wehr dich nicht“, verlangte die Heilhexe. Heiser, beschwörend und auch ein bisschen angestrengt. „Lass mich helfen. Hab Vertrauen.“

Zu spät. Er traute niemandem mehr. Fremden nicht, erst recht keinen Vertrauten. Er raffte die Reserven seiner Seele zusammen, härtete den Panzer seines Geistes und sperrte sie aus. Nicht gänzlich, sie wehrte sich gründlich. Fäden ihrer Beschwörung blieben in seinem Verstand kleben wie Haare in einer Suppe. Er tastete sie an und hangelte sich daran aufwärts, aus ihrer Wolke hinaus und zurück in die Realität.

„Willst du sterben?“, keuchte sie. „Lass mich helfen.“

Die Fragen auf seiner Zunge wollten seine Lippen nicht passieren. Verdammt zu schweigen. In die Enge gedrängt. Er musste eine Entscheidung treffen. Ihr vertrauen oder sterben. Die Fäden ihrer Seele führten ihn aufwärts, an die Pforte ihres Innern heran. Diese ein mächtiges Portal. Einhaltgebietend, kaum zu überwinden. Jedoch, vor seinem Drängen schwangen die Flügel auf. Gemächlich. Stet. Leid strömte ihm entgegen. Geheimnisse, versunken in einem Sumpf der Ruchlosigkeit. Es verlangte ihn, einzutauchen. Zu forschen. Zu kosten. Zu zehren.

Er wollte es zu gierig.

Ein Moment der Unachtsamkeit, ein Zögern vor der durstigen Größe ihres Geistes, und sie schlug ihn mit der Macht ihres Zornes ob seines Eindringens zurück. Eine Urgewalt pflügte durch seinen Schädel. Diese riss ihn in einen Strudel der Schwärze.

Besinnungslosigkeit.

Verderben.

Tod.

Mehr Zeit. Nicht sterben. Er klammerte sich an die Glut seinerselbst. Wollte sich festhalten, wollte kämpfen. Merkte sogleich, dass es nicht Not tat. Sie ließ ihn nicht sterben. Im Gegenteil, sie holte ihn zurück. Ein Licht flammte vor seinen Augen. Sein Empfinden kehrte wieder, er fühlte ihre Finger auf der Stirn. Ihre Stimme drängte fast so mächtig wie ihr Geist ihn zurückgeschlagen hatte. „Wach auf.“

Er wachte auf. Hob die Lider, blinzelte. Atmete ein, befeuchtete die Lippen. Suchte die Schmerzen und fand keine. Es fiel leicht, sich aufzurichten, wenigstens halbwegs. Die Ellenbogen hinter dem Rücken aufgestützt, fand er sich auf ihrem Behandlungstisch. Dieser glich einem Altar, er ähnelte jedenfalls einer Opferstätte. Nach wie vor nackt, erfasste er das ihn beherbergende Gewölbe. Niedrig, steinern, etwas feucht. Wie eine Grotte, wie ein Grab. Fresken umgaben ihn, Laternen und Lakaien, verhüllte Wesen allesamt. Es mochten Menschen sein, Dryaden oder Faune. Oder anderes. Sie umstanden ihn im Pentagramm, jenem angeblich zauberkräftigen Symbol, welchem nicht mehr Macht anhing als die der Mythologie und des Glaubens. Die Kraft des Glaubens jedoch konnte einiges bewirken, er wusste es aus Erfahrung.

Er schaute weiter. Das Hauptportal verschloss die Sicht nach draußen. Unergründlich, ob Tag herrschte oder Nacht. Auch kein Geräusch verriet es. Im Innern dieser Weihestätte herrschte Totenstille.

Etwas fühlte sich merkwürdig an. Die Grotte zu fadenscheinig, die Gestalten zu inszeniert. Eine Bedrohung entdeckte er jedoch nicht, daher betrachtete er als Nächstes sich selbst. Seinen Leib, seine Haut und seine Wunden. Diese nichts weiter mehr als Narben. Noch frisch, noch roh, noch zart und juckend, aber verheilt. Nicht länger schwärend, nicht mehr gefährlich. Allein Schwindel beherrschte seinen Schädel, wegen des Blutverlustes, nahm er an. Diesen glich keine Gabe aus, selbst nicht die einer Heilhexe, wie er sie mächtiger nicht kannte. Er hatte mit vielem gerechnet, erst recht mit einem langen Heilungsweg. Mit vielem, vor allem mit dem Tod. Vor allem nicht hiermit. Er hob den Blick der Hexe zu, unschlüssig, ob Dank oder Furcht in seinem Innern vorherrschte. „Magie?“

Ihre Miene verriet nichts. Nichts über ihr Empfinden, ihr Können oder ihr Duell im Geiste. Nichts über den Ursprung ihrer Macht. „Du hättest nicht kämpfen müssen. Sieh meine Hilfe, ich habe es dir gesagt.“

„Magie?“

„Du gebietest über eine Seelengabe. Keine unbedeutende. Welche?“

„Impulskraft.“

Sie wirkte darüber keineswegs überrascht. Mehr, als wisse sie es bereits. „Du hast sie gut verborgen.“

Er vernahm das Unausgesprochene. Trotz meines Zustands, trotz meiner Schwäche. Es musste sie wurmen, dass sie es nicht vorher bemerkt hatte. Oder sie spielte ein Spiel mit ihm. Hatte es sehr wohl bemerkt und ihn eigens dazu hergeholt. Womöglich eine Schwarzhexe. Ihn wurmte es, dass er es offenbart hatte, und dass er in ihrer Schuld stand. Das am meisten. Er schob es von sich, vorerst, und verlieh der Stimme mehr Nachdruck. „Magie?“

Diesmal wich sie nicht aus. Etwas Finsteres umwölkte ihre Augen. „Ein Narr, wer an Magie glaubt.“

„Ein Narr bin ich wahrhaftig, wenn du es so sagst. Ich hätte daran sterben können. Wochenlang darniederliegen müssen. Ich …“ Es verschlug ihm die Stimme. Ein Husten, mehr ein Keuchen, entwich ihm, bis er sie löste. „Wie lange bin ich schon hier?“

Sie schmunzelte zum ersten Mal und wirkte eher zugänglich denn geheimnisvoll dadurch. „Nur diese eine Nacht, nachdem ich dich im Dunkeln fand.“

Etwas in ihren Worten warf Ungereimtes auf. Etwas in ihrer Stimme. Er kam nicht dahinter, was genau. Konnte es nicht ausmachen, sie danach nicht befragen. Eine Last senkte sich in sein Herz, zugleich hob sich eine andere heraus. „Wie erklärst du es dann, wenn nicht mit Magie?“

„Mit den Kräften der Natur. Den Gaben des Lebens. Den Fähigkeiten meiner Hände. Mit dem rechten Fokus im Geist.“

„Erkläre das.“ Ob seines harschen Tons verzog sie keine Miene. Ihm kam der Verdacht, dass sie es später sühnen wollte.

„Kräfte finden sich vielerorts. In deinem Herzen. In deinen Muskeln. Jeder deiner Atemzüge setzt Kräfte frei. Jeder hier Anwesende. Die Tropfen, die an den Mauern abwärts perlen. Die Wurzeln der Bäume in der Tiefe. Ich schöpfe davon. Verteile sie, lenke Energien in ihre Bahnen, schicke Impulse auf den Weg. Weise ihnen einen anderen Zweck zu als ihren ursprünglichen. Keine Magie, bloß Distribution.“

„Landläufig nennt sich eben dieses Phänomen Magie.“

„Landläufig finden sich Narren und Ahnungslose. Magie wäre etwas, das die Natur nicht hervorbringen könnte. Etwas, das die Alte Mutter nicht gebar. Solche Dinge gibt es nicht.“

„Begriffsklauberei. Gleich, wie du dein Werk bezeichnest. Danke.“

Sie neigte den Kopf. Wie sie den Blick wieder hob, besaßen ihre Augen die Farbe und die Härte von Stahl. „Du gebietest Impulskraft, aber fragst nach Magie. Hast du überhaupt eine Ahnung, über was für eine Gabe du verfügst? Ist dir deine Macht bewusst?“ Sie neigte sich dicht heran, ihre Stimme tat einen Abgrund auf. „Kannst du sie beherrschen?“

Er unterdrückte ein Schaudern und spürte dennoch Gänsehaut die Arme hinab rieseln. Sie musste es sehen. Es kostete Mühe, ihr Starren zu erwidern, mehr als ihm gefiel, aber er hielt stand. Wich nicht aus. Legte so viel Kraft in seine Aura, wie er aufbrachte. „Ich wurde ausgebildet. Ich kenne das Wissen, von dem du sprichst. Ich verfüge über die Fähigkeiten, nach denen du fragst.“

Sie sah aus, als zweifele sie daran. „Und du hältst mein Werk dennoch für Magie?“

„Ich halte dein Werk für eine Kunst.“ Ihm fiel die Höhle ihres Innern ein. Das Leid darin, die Geheimnisse. Der Durst. Ein Sumpf, der ihr Wesen verbarg. Es mochte gütig oder grausam sein, dieses Werk ein Wunder oder Schwarzmacht. Mit einem Mal spürte er die Kälte auf der Blöße seines Leibes und die Erschöpfung, die nach wie vor ihm anhaftete. Seine Ellenbogen trugen die Last seines Körpers nicht länger. Er sank auf den Rücken, legte den Schädel zurück und schaute an die Decke. Der Schlaf rief. Nicht hier. Er hielt die Augen offen und suchte Kraft in seinem Willen, den Pfad fortzusetzen. Fehler korrigieren. Auftrag abschließen. Schuld begleichen. Er musste einen Weg finden, so wie immer. „Wo sind meine Sachen?“

Auf seine Frage, womöglich auf ein unmerkliches Zeichen der Heilhexe hin, trug ein Lakai ein Bündel heran und legte es neben dem Altar zu Boden. Eine Verneigung und er huschte davon.

Die Heilhexe gab einen Wink. Die Lakaien lösten das Pentagramm auf. „Du hast deinen Namen nicht genannt, Vagabund.“

Vagabund. Ja, so mochte er aussehen. Schmutzig, verausgabt, stinkend nach Schweiß, Krankheit und Blut. Jetzt vermutlich weniger als zuvor. Gleichwohl schien sie zu wissen, dass niemand die Kraft für einen so mächtigen Bann an einen Vagabunden verschwendete. Jemand mit solchen Fähigkeiten besaß andere Mittel, um einen Streuner auszurauben. Weniger zehrende. Nicht halb so gefährliche wie einen Bann dieser Webart. Er betrachtete das Bündel. Der Gedanke gewann an Schärfe. Und an Schmach. Ausgeraubt. Denn das, offensichtlich, hatten sie getan, die Scheusale. In jenem Bündel entdeckte er nur Kleidung und Rüstzeug. Keine seiner Waffen. Nicht seine Seelenklinge. Auch nicht seine Bagage. Neue Gänsehaut sauste ihm den Leib hinab.

„Nun?“

„Auch du hast keinen Namen genannt.“

„Du stehst in meiner Schuld, nicht umgekehrt. Nenn deinen Namen.“

Er glaubte nicht, dass sie damit seine Schuld als beglichen ansah. Jedoch, sie sprach mit Recht. „Rhaz.“

„Und weiter?“

„Rhaz Iksha Zar.“ Die wenigsten sprachen es richtig aus. Die meisten scheiterten am Rollen der Laute, an den abgehackten Vokalen und zugleich weichgedehnten Silben.

„Rhaz Iksha Zar“, wiederholte die Heilhexe einwandfrei, zu seinem Schrecken. Kaum jemand kannte noch die Alte Sprache.

Ich hätte lügen sollen. Er suchte seine Stimme, aber er fand sie deutlich zu spät.

Sie kam ihm zuvor und nickte. „Ich kenne die Sprache.

Ich weiß, was dein Name bedeutet.“

„So?“ Er verbiss den Drang, mit den Zähnen zu knirschen. Unergründlich, ob sie es tatsächlich wusste, ob sie ihn bloß testete oder beschämen wollte.

Sie gab es nicht preis, trat stattdessen heran und legte die Finger auf seine Haut. Schamlos fuhr sie die Stränge seiner Muskeln entlang, ertastete alte Wunden, streichelte vergessene Narben. Forschte, wonach auch immer, wog das Haupt und kräuselte die Lippen. „Du trägst zahlreiche Narben. Wenige für einen Gestählten von Dasgar.“

„Woher weißt du das?“ Er führte nichts bei sich, was ihn als solchen auszeichnete, nur seine Seelengabe und die Spuren des Drills an seinem Leib. Nicht viele erkannten sie als welche von Dasgar, noch weniger schauten überhaupt erst hin. Den allerwenigsten genehmigte er es. Ihren alten Augen konnte er es nicht versagen. Sie blickten scharf. Und wissend. Womöglich blendete sie ihn, damit er sie gewähren ließ, was bedeutete, dass sie über mehr Gaben verfügte als eine. Wie kaum jemand. Er kannte nur einen sonst.

Es machte sie zur Feindin. Potenziell, zumindest.

„Rhaz. Halte mich nicht für blind. Auch nicht für dumm. Stattdessen sag, denn wie ein Gestählter siehst du nicht aus. Hast du deinen Drill nicht beendet? Bist du gescheitert?“

Die Dreistigkeit der Frage weckte seinen Zorn. Allein, ihm fehlte die Kraft, diesen zu fokussieren. Er knirschte nun doch, mit den Zähnen. Unter Mühe löste er die Kiefer. „Ich habe ihn beendet. Ich war der Beste. Ist man der Beste, bleibt den Meistern nicht so viel Gelegenheit, einen zuzurichten.“

„Ich glaube, ich höre Seelenleid in deiner Stimme.“

„Ich glaube, du hörst falsch.“ Er glaubte auch, dass sie es ihm nicht abkaufte. Noch immer liegend auf dem Altar, hilflos ihr dargeboten, fand er kaum mehr die Beherrschung, ihrem Forschen standzuhalten. Ihm kam der Eindruck, erneut, dass etwas nicht stimmte. Sie verschwamm vor seinen Augen, als liege ein Schleier davor. Es mochte auch sein Zustand bewirken, daher schob er es von sich. „Ich bin durstig. Ich bin müde. Nenn deinen Namen, Hexe, damit ich dir angemessen danken kann. Danach breche ich auf und suche einen Ort der Ruhe.“

„Danken musst du mir nicht, und Ruhe findest du hier.“ Sie winkte einen jener verschleierten Lakaien heran. „Hilf ihm. Verpflege ihn. Weise ihm eine Kemenate.“ Auf dem Absatz machte sie kehrt und schwirrte hinaus.

Der Lakai verneigte sich. Dann trat er heran, langte ihn beim Arm und bot Stütze. Die Geste fühlte sich sacht an. Respektvoll. Nichts Demütigendes fand sich daran, dennoch überspülte ihn das Empfinden von vorher. Die Schmach. Diesmal so mächtig, dass er den Lakaien fortschlug, gröber als angemessen. Das Wesen wich nicht, und es schreckte nicht. Es verneigte sich nochmals und probierte es erneut. Solche beharrliche Ruhe strahlte es aus, dass er es nicht über sich brachte, es neuerlich zu schlagen. Mit einem Impuls, einem unhörbaren, mentalen, stieß er die Rage von sich und richtete sich auf, ohne die Hilfe anzunehmen. Wohl aber akzeptierte er das vom Lakaien gereichte Gewand, einen scharlachroten Mantel aus Seide mit Schnürung vor der Brust. Es bewahrte nicht vor der Klammnis der Grotte, bedeckte aber immerhin seine Blöße. Endlich. Er fand ein Nicken zum Dank an das Wesen gewandt. „Hast du einen Namen?“

Er rechnete nicht mit einer Antwort, aber es überraschte ihn mit einem Säuseln. Dieses geschlechtlos und ohne Ton, dabei trocken wie Wind, der Herbstlaub über ein Pflaster scheuchte. „Nein, Meister.“

Ein Stich.

Ein Funken.

Ein Flackern wie von einer Flamme, die daraus entsprang. Geschwind löschte er sie. „Sag das nicht. Nenn mich Rhaz.“

Als Absolvent des Drills von Dasgar stand ihm der Meistertitel zu. Jedoch, er schätzte ihn nicht. Eine Lehre machte noch keinen Meister. Das Leben schuf welche, und von allen Anwärtern erreichten die wenigsten wahre Meisterhaftigkeit. Die Heilhexe vielleicht, jedenfalls in ihrem Handwerk. Und der Bannsprecher mit seiner Fähigkeit, ihn, einen Gestählten von Dasgar, an den Boden zu ketten und zur Reglosigkeit zu verdammen. Zum Leiden. Zum Sterben.

Er verbot den Nachhall. Er erlitt kein Trauma. Durfte es nicht. Ich habe so etwas weggesteckt. Solches und Schlimmeres. Gleichwohl, das galt für früher, für den Drill. Danach hatte er angenommen, gegen derlei gewappnet zu sein, dass ihn nichts mehr überraschen, ihn kaum etwas bezwingen konnte. Oder jemand. Schon gar nicht ein Bandit, und mochte er von sonstwelchem Machthaber entsandt worden sein. Jetzt keimte der Verdacht, dass es nicht stimmte. Dass damals, im Drill, das Wissen um die Prüfungen ihn behütet hatte, und die Sicherheit, dass er leben oder sterben musste. Er, ein Niemand. Sein Tod hätte keine Bedeutung besessen, sein Leben noch viel weniger. Heute folgte er einem Pfad, und er musste ihn beenden. Ihn überkam die Ahnung, dass es scheußlichere Dinge gab als jene im Drill. Er unterzog sich keiner Abrichtung mehr. Er kämpfte.

Und versagte.

„Herr?“, fragte der Lakai und schaute ihn an. Jedenfalls wirkte es ganz danach, wie er den Schleier vor dem Antlitz ihm entgegen reckte.

Rhaz gewahrte, dass er dem Wesen aufgestützt stand. Zitternd. Schwitzend. Im Schwindel vor Verausgabung und Blutverlust. Ihm fiel der Blick auf das Bündel seines Zeugs, der Gedanke auf den Entschluss, aufzubrechen. Unmöglich.

Er konnte nicht los, noch nicht einmal für die verlorene Bagage. Er musste ruhen. Kraft schöpfen. Die Erinnerung besiegen, welche sich schon wieder ihren Weg auf seine Netzhaut brach. Er, liegend auf der Erde in seinem eigenen Blut. Klingen. Hunde. Schwäche. Schmerz.

Er schüttelte es ab. Restlos, vorerst. Stieß den Lakaien von sich und gab ihm ein Zeichen auf sein Bündel. „Trag das für mich. Geh voraus.“

Das Wesen verneigte sich und tat wie geheißen.

Entgegen seiner Erwartung trat er durch das Ausgangsportal nicht ins Freie, sondern in einen Stollen. Dieser schmal, die Wände gemauert und bemoost. Muffig. Alt. Uralt, vermutlich. Wurzelwerk behing die Wölbung, alle paar Schritt brannten Fackeln in ehernen Haltern. Der Tunnel wand sich, Abzweigungen führten in Finsternis, Türen verrieten Kammern. Er prüfte die Luft. Atmete tief, und atmete in den Bauch. Kein Hauch von draußen, nur der Geruch von Rauch, Fäulnis und Erde. Er sandte einen Impuls, ein mentales Tasten, von dem er annahm, der Lakai bemerke es nicht, auf der Suche nach einem Ausgang. Er stieß in Leere, fand keinen Weg nach draußen. Eine leichte Übung, der Impuls, dennoch übermannte ihn Schwindel. Um ein Haar strauchelte er. Die Folgen des Banns wogen schwerer als erwartet. Er tastete nach der Wand, stützte sich ab und tarnte die Schwäche, indem er zugleich den Schädel zurückneigte und die Aufmerksamkeit seines Begleiters ablenkte. „Wo geht es hinaus?“

„Wünscht Ihr, an die frische Luft zu treten, Meister?“

„Nenn mich nicht so.“ Ob der unbedachten Anrede überkam es ihn, das Wesen zu packen und seiner Frage mehr Nachdruck zu verleihen. Allein der Schwindel hielt ihn zurück. Der Tunnel verschwamm, wie zuvor die Grotte.

„Verzeiht, Herr.“ Eine Verneigung. „Wünscht Ihr, an die frische Luft …“

„Ich wünsche, dass du meine Frage beantwortest.“ Keineswegs hielt er den Verschleierten mehr für einen Menschen. Womöglich ein Faun, denen sagte man Begriffsstutzigkeit nach. Er löste sich von der Mauer, folgte dem Gang und gab dem Wesen ein Zeichen, die Führung wieder aufzunehmen.

Das tat es. „Die Weihestätte liegt abseits der Wohnstätten. Dort gibt es einen Ausgang.“

„Warum die Trennung?“

„Weniger Ablenkung. Das Treiben würde die Herrin stören.“

„Verstehe.“

Eine Weile ging es vorwärts, für sein Gefühl zu lang. Dann nahm das Licht zu. Es brannten Laternen mit farbigem Glas anstelle von Fackeln, und die Erde des Grundes wich gepflasterten Tunneln. Diese gewannen an Höhe und Breite. Teppiche mit kunstfertiger, wenn auch altmodischer Webart verhüllten die Mauern und verliehen den Stollen Wärme. Die Decke befand sich intakt, es drangen keine Wurzeln hindurch. Gestalten huschten über Kreuzwege, manchmal ihnen entgegen. Allesamt verhüllt. Sie verneigten sich, wenn er passierte, und eilten weiter. Ich stecke in einem Ameisenhaufen. Jedoch einem bedrückenden, mit dem etwas nicht stimmte. Er kam nicht dahinter, noch immer nicht. Flügeltüren, schnörkelreich und hoch, verrieten Räumlichkeiten, vielleicht Lehrkammern, Speisesäle oder Gemeinschaftshallen. Noch ein Stück weiter wähnte er hinter Türen von unscheinbarer Machart die Wohnstätten.

Gleichwohl, seine Ahnung gewann an Gewicht. „Was ist das für ein Ort?“

„Ein Ort der Rast. Ein Ort des Geistes. Ein Ort der Macht.“

„Verstehe.“ Er verstand nicht. Nicht vollends. Er ahnte jedoch, dass er Genaueres nicht erfahren würde. Nicht von dem Lakaien. Und dass viel mehr dahintersteckte als selbiger preisgab.

Dieser vollführte eine Verneigung. „Hier herein, Mei… Herr.“

Er trat durch die ihm offengehaltene Tür in eine Kemenate. Rustikal. Einfach. Ein Bett, eine Kommode, ein Waschtisch. Kein Feuer, nur Öllampen. Teppiche verliehen der Kammer Wärme. Von irgendwo wehte ein Lüftchen, welches das Innere frisch hielt, ohne die Behaglichkeit zu rauben. Gescheit gebaut. Er betrachtete, wie der Lakai sein Rüstzeug auf der Kommode platzierte und Licht machte, und rang sich ein Neigen des Kopfes ab. „Danke.“

„Zu Diensten, Herr.“ Eine Verneigung, und er wandte sich zum Gehen.

„Der Ausgang. Wo?“

Noch eine Verneigung. „Dem Stollen folgen. Zweiter Gang rechts. Sogleich links in die Große Grotte. Dort führt eine Treppe hinaus.“

„Danke.“

Verneigung. Dann machte das Wesen den Abgang und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Die Stille schlug Rhaz entgegen wie ein Fausthieb, und ebenso betäubend. Er schaffte noch, die Tür zu verriegeln, fiel auf das Bett und scheiterte daran, sich die Decken über den Leib zu ziehen. Halb so wild. Er fror nicht.

Albträume schwappten ihm ins Hirn, die ihn seiner Erholung berauben wollten. Er wehrte sie ab. Stück für Stück baute er die Barrikade wieder auf, die um seine Seele, die nach dem Bann in Trümmern lag. Und nach dem Eingreifen der Heilhexe. Auch die um sein Herz, das im erfahrenen Leid zerfließen wollte wie Schnee auf einem Scheiterhaufen. Statt der Zuversicht in sich selbst und der Gewissheit seines Pfades, warf er die Schmerzen ins Feuer, die Erschöpfung und die Erinnerung. Ein Trick aus dem Drill, der die Mentalität stärkte. Fadenscheinig, weil ein solcher Scheiterhaufen noch gloste, wenn die Flammen starben. Und weil Asche zurückblieb, selbst wenn er erlosch.

Aber es spielte keine Rolle, solange er die Barrikade hielt und den Fokus nicht verlor.

Also stählte er die Seele neu, so wie erlernt. Es fiel leicht. Endlosen Prüfungen verdankte er diese Fähigkeit, einige scheußlicher als das Erlebte, und jede mit dem Ziel, dass er sich in der Lage befand, sie zu nutzen. Sie zu perfektionieren. Sie zu beschleunigen. Jenen Zustand zu erreichen, in dem Geist und Leib eine Symbiose bildeten, keine Einheit mehr, damit die Wunden des Körpers den Fokus nicht beeinträchtigten. Erst recht nicht die Seelengabe. Es fiel leicht, aber er brauchte länger als gewöhnlich.

Letztlich erreichte er das Ziel. Er fand die Ruhe, die er so dringend brauchte, losgelöst von Albträumen und Echos. Schlief und lauschte zugleich mit dem befreiten Teil seines Geistes nach dem Geschehen. Er sandte Impulse aus. Tastete. Horchte. Kostete. Er gewahrte Schritte im Stollen. Stimmen, die Gespräche belanglos. Den Klang von Feuer, das energetische Singen der Flammen, die sich im Luftzug wiegten. Einmal ein Klopfen an der Tür, ein vergebliches Antasten des Knaufes, ein Scheitern ob des Riegels. Bestimmt die von der Heilhexe zugesagte Verpflegung.

Er wähnte sich nicht in Gefahr, wohl aber seine Bagage im Besitz des Bannsprechers. Also schöpfte er aus der Sicherheit, so viel Kraft er in möglichst kurzer Zeit nur schöpfen konnte, und schlug die Augen auf.

Neben seinem Lager saß die Heilhexe auf einem Stuhl und betrachtete ihn.

Das Verblüffen begrub er in seinem Innern, ehe es zur Schau trat. Hoffte er jedenfalls. Er regte sich nicht, noch nicht, sah sie an und barg die Rage in seinem Herzen. Rage auf sich selbst. Sie musste den Riegel geschoben haben mittels ihrer Kräfte, und er bemerkte es erst jetzt. Mit den Augen. Selbst jetzt nahm er sie nicht wahr, nicht mit den Impulsen seines Geistes. Sie beherrschte ihre Gabe. Sie machte sich unsichtbar für die immaterielle Ebene. Nicht bloß Tarnung, nicht bloß ein Verschleiern der Aura, sondern Blendung. Das Verzerren, das Täuschen der Wahrnehmung. So effizient, er merkte es noch nicht einmal, wie sie es vollbrachte. Er spürte es in der Energie der Umwelt nicht. Ein Ding der Unmöglichkeit, hätte er im Vorfeld angenommen. Wie macht sie das nur? Er fragte sie nicht.

Dafür fragte sie ihn. „Du wurdest also ausgebildet in Hinblick auf deine Gabe?“

„Ja.“

„Was lehrt man darüber in Dasgar? Wie man sie begräbt?“

„Wie man sie nutzt.“

„Du nutzt sie nicht, du fürchtest sie.“

„Du täuschst dich.“

„Ich täusche mich nie.“ So ruhig ihre Haltung, so hart ihre Stimme. „In Dasgar lehrt man Furcht. Furcht durch Gewalt. In Dasgar lehrt man Kampf. Kampf mit der Klinge. In Dasgar erschafft man Streiter, Krieger und Schlächter. Die besten, und solche ohne Gewissen.“

„So ist es. Deswegen schulde ich dir keine Rechenschaft.“

„Nicht Rechenschaft, aber dein Leben. Weil in Dasgar Gaben wie deine als Zweckmittel betrachtet werden und nicht als Seelen, die es zu hüten gilt.“

„Du sprichst in Rätseln, Hexe. Dafür habe ich keine Zeit.“ Er richtete sich auf. Schwungvoll, denn nach der Ruhe hielt er die Schwäche seines Körpers im Griff und glich sie durch die Kraft seines Geistes aus.

„Die Zeit solltest du dir nehmen, wenn du leben willst. Ich weiß nicht, welchen Pfad du beschreitest, aber er sieht dunkel aus. Ich kenne dein Ziel nicht, aber es muss bedeutsam sein, sonst würden solche Häscher nicht Jagd auf dich machen. Sonst würde man dich nicht zum Sterben im Wald zurücklassen. Wer hat dir das angetan, und warum?“

„Das geht dich nichts an.“

„Du täuschst dich.“

„Ich täusche mich nie.“ Er verengte die Lider. Jetzt stehend, nahm er sie ins Visier, so scharf er es gelernt hatte. Er verstärkte seine Aura mit einem Impuls. Für gewöhnlich brachte es die Leute ins Schaudern. Als jedoch seine Augen die ihrigen trafen, raste ein Zittern ihm selbst durch den Leib.

Sie dagegen saß ungerührt. „In Dasgar hat man dir beigebracht, deine Seelengabe zu kontrollieren. Nicht aber, sie zu perfektionieren. Oder zu befreien. Du liegst in Ketten und merkst es nicht. Leugne es nicht, deine Worte und Taten verraten es.“

Womöglich auch eine Seherin. Was sie noch schauriger machte. Oder eine gewöhnliche Prophetin, die von Spuk und Grusel sprach und wusste, wovor einfache Leute sich ängstigten. Aber er zählte nicht zu den einfachen Leuten, und er ängstigte sich nicht.

„Ich kann es dich lehren“, bot sie an.

„Warum solltest du das tun?“

„Weil ich glaube, dass du deine Gabe missverstehst.“

„Das kann dir gleich sein.“

„Weil ich glaube, dass du auf einem Pfad der Niedertracht wandelst. Und dass du Unheil verrichtest, wenn du deine Gabe nicht beherrschst.“

Er dehnte die Schultern und nahm sicheren Stand ein. „Was verleitet dich zu der Annahme?“

„Du sagst, du warst der Beste. In welcher Disziplin? Nahkampf? Fährtenlese, Tarnkunst? Bannspruch, Bannlösung? Oder in etwas anderem?“

Nicht durchschauend, worauf sie hinauswollte, sann er nach, die Antwort zu verweigern.

„Nun?“

„In allen.“ Er gab sie doch, die Antwort. Sie kam ihm über die Lippen, ohne, dass er es wollte, als dränge allein ihr Starren sie hervor. Womöglich tat es das. Wenn sie tatsächlich nicht nur Heilerin, sondern auch Blenderin war. Eine seltene Gabe. Noch seltener in Kombination mit einer anderen.

„Dachte ich mir“, schnaubte sie, erhob sich, wandte sich zur Tür und dann noch einmal ihm zu. „Komm mit. Ich will dir etwas zeigen.“

„Ich habe dafür keine Zeit.“

„Dir wurde etwas gestohlen. Du willst aufbrechen und es zurückerlangen. Was ich dir zeige, wird dir dabei helfen. Komm mit.“

Sie las mich wie ein Buch, wie ein Spürer es vermochte. Niemand sollte über eine solche Vielzahl an Gaben verfügen. Es gefiel ihm nicht. Noch weniger, dass er sie nicht durchschaute. Sie sah Niedertracht in ihm, einen dunklen Pfad, und bot dennoch ihre Hilfe an. Eine Hexe, vielleicht eine Schwarze. Wenn es stimmte, sollte er schleunigst die Beine in die Hand nehmen, zumal jeder Augenblick an diesem Ort mehr Abstand zwischen ihn und die Diebe brachte. Allein, ihre Worte schürten seine Neugier.

Wie sie voranging, folgte er.

Sich in seine Sachen zu kleiden, hielt er sich nicht auf, sondern zog die Schnürung des Seidengewands zusammen und trat aus der Kemenate.

Die Heilhexe schritt durch den Stollen, zurück in Richtung der Weihestätte. Das Pflaster am Boden wich Erde. Wurzeln behingen die Decke und wogten, wenn die Hexe unter ihnen passierte. Es mochte der Luftzug sein oder ein Tasten ihrerseits nach den Kräften, von denen sie sprach. Er sandte selbst einen Impuls aus und suchte danach. Das Echo brachte ihm die Präsenz über die Lakaien und die Erkenntnis über das Leben, das in der Erde pulsierte, nicht aber jene Energie. Erst recht kein Empfinden davon, diese nutzbar zu machen.

„Du bist grob“, schalt die Hexe und warf ihm über die Schulter einen Blick zu. „Schau nicht so, ich habe dein Tasten gespürt. Wie ein Hammerschlag gegen eine Mücke. Ein Schwertstreich für eine Fliege.“ Sie kicherte. „Kein Wunder, dass die Natur sich dir verschließt. Und dass du der Alten Mutter nicht vertraust.“

Er folgte ihr um eine Biegung, fort vom bekannten Pfad. Die Wände rückten zusammen, die Decke herab. Ein schmuckloser Gang, der nicht einlud, ihn zu beschreiten. „Du hast ein feines Gespür. Woher? Wer hat dich ausgebildet?“

„Ich selbst.“

„Wenn du es konntest, kann ich es auch. Ich brauche deine Hilfe nicht.“

„Du vermagst nicht, was mir gelang. Dasgar hat dich verdorben. Dich, dein Gespür und deine Gabe.“

„Du hast keine hohe Meinung von Dasgar.“

Abrupt blieb sie stehen, drehte sich zu ihm um und stieß den Finger gegen seine Brust. „Rhaz. Du hast keine Ahnung.“

„Und deine, woher stammt sie, und woher dein Wissen über Dasgar?“

„Rhaz.“ Wie sie seinen Namen sagte, schon wieder, klang es nach einer Beschwörung. „Ich weiß von Dasgar länger als du lebst. Ich kenne die Methoden der Meister. Ich sehe die Kadetten unter ihren Händen sterben, Burschen und Mädchen wie du. Wer überlebt, der blutet. Ich spüre, wie sie die Seelen verderben von denen, die sich Gestählte nennen. Wie er sie in Ketten legt, wie Hunde an eine Leine.“

Ein Stich.

Diesmal hielt er ihn unter Kontrolle. „Sie verderben nicht, sie stählen.“

„Deine Worte belegen die meinen. Eine Schande, denn in dir steckt mehr als in jedem sonst, der aus Dasgar hierher kam.“

„Wer außer mir kam noch hierher, und wann?“ Es hatte niemand je erwähnt, obgleich allein schon ihrer Macht wegen ganz Dasgar von ihr erfahren sollte.

Sie tat, als habe sie die Frage nicht vernommen. „Du hättest der Beste werden können.“

„Ich war der Beste. Ich bin es noch.“ Es klang starrsinnig, selbst in den eigenen Ohren, wie von einem Kind. Jener Bannsprecher war besser als ich. Diese Hexe ist besser als ich. Er biss sich auf die Zunge.

„Das denkst du.“ Ein Anflug von Bedauern zog in ihre Augen. „Komm.“

Nicht mehr weit, und sie lotste ihn in eine Kammer. Im Innern herrschte Dunkelheit. Zu seinem Erstaunen schloss sie die Tür und sperrte den Fackelschein des Stollens aus. Jeder Sicht beraubt, tastete er mittels eines Impulses, sog den Atem ein und schmeckte die muffige Feuchtigkeit von Erde auf der Zunge. Nichts sonst nahm er wahr. Nur, dass die Kammer ihn einschloss und ihre Decke so schwer wog, als wolle sie ihn lebendig begraben. Dann flirrte ein Leuchten vor seinen Augen, ein silbriges, wackeliges, welches die Wurzelgeflechte einhüllte. Darin machte er die Silhouette der Heilhexe aus. Und eine Ahnung. „Du bewirkst das?“

„Ich habe dir gesagt, Rhaz, Kräfte fließen überall.“

„Du machst sie sichtbar.“ Eine nützliche Fähigkeit. „Wie?“

„Seelengabe. Gespür. Impuls. Stets auf diese Weise, nie anders. Gleich, was du tust. Merk dir das.“

„Das werde ich.“ Er nahm sich vor, daran zu arbeiten. Über derlei Möglichkeiten hatte er keine Kenntnisse besessen und nie darüber nachgedacht, das in Dasgar vermittelte Wissen könne unvollständig sein, die Fähigkeiten nicht perfekt. Jetzt, da ihm der Gegenbeweis vor Augen stand, änderte es die Lage. Ich kann es lernen, egal, was sie behauptet. Konnte sie es, kann ich es auch. „Ist es das, was du mir zeigen wolltest?“

Sie lächelte. Statt zu antworten, kehrte sie ihm den Rücken zu, fingerte zwischen die Wurzeln und brachte das Flirren in Bewegung dadurch. Ein Klopfen. Ein Scharren. Sie zog einen Ziegelstein aus seiner Fassung, langte in die Öffnung, tastete eine Weile und holte ein Bündel heraus. Schmutzig, der Stoff, die Schnürung so spröde, dass sie brach, als sie sie löste. Sie warf die Reste auf den Boden und schlug den Stoff auseinander. Auf der Handfläche präsentierte sie ihm ein Amulett. Ein unscheinbares. Eines aus Horn. Ein kreisrundes. Eines ohne Zeichen. Eines, beschrieben mit Runen, deren Bedeutung sich ihm verschloss.

Er betrachtete es eine Weile und wartete auf eine Erklärung. Es kam keine. „Was ist das?“

„Es ist für dich.“

„Was ist es?“

„Ein Artefakt. Es spürt Energien und bündelt Kräfte.“

„Woher stammt es? Wie stellt man so etwas her?“

„Es ist ein Erbstück. Es existieren nicht mehr viele seiner Art. Nimm es.“

Das tat er nicht. „Warum gibst du es mir?“

„Es kann dir helfen. Mit deiner Seelengabe und deinem Gespür.“

„Dann hilft es auch dir. Trotzdem gibst du es her?“

„Mir nützt es nichts. Es kann nichts verrichten, was ich nicht selbst vermag. An meine Lakaien wäre es verschwendet, niemand hier besitzt eine Gabe wie ich. Oder wie du. Hier gerät es eines Tages in Vergessenheit. Dazu ist es zu wertvoll.“

Es kam ihm nicht recht vor. Etwas stimmte nicht. Er wollte es nehmen. Eine Ahnung hielt ihn zurück. Keine deutliche, nicht mehr als ein vages Gefühl. Er fasste sie ins Auge und durchforschte ihre Miene. Darin fand er nichts, nur Geheimnisse. „Was ist mit dem dunklen Pfad? Der Niedertracht, von der du sprachst? Fürchtest du nicht, ich könne damit ein Unheil verrichten?“

Darauf gab sie keine Antwort.

Er wartete. Eine Weile, ehe ihm aufging, dass sie ihr Schweigen wahrte. Er senkte den Blick auf das Amulett und hob ihn dann neuerlich in ihr Gesicht. „Ich schulde dir schon mein Leben.“

„Ein Leben ist eine Ehrensache. Ich verlange keinen Gegenwert dafür. Nimm es.“

„Wenn ich es annehme, was schulde ich dir dann?“

„Einen Dienst.“

„Welchen?“

„Es wird sich zeigen, wenn es so weit ist.“

Also ein Pakt. Er wollte keinen Pakt mit einer Hexe schließen. Nicht einen solchen, zumal nicht mit ihr. Jede Schuld musste beglichen werden. Ein Leben mochte sie als eine Ehrensache betrachten, als ein Geschenk ohne Gegenwert, wie sie es sagte. Etwas Materielles jedoch, ein Artefakt, dessen Wert sich nicht bemessen ließ, konnte ihm nur Unheil bringen. Er betrachtete sie, danach das Amulett. Und schluckte. „Welche Art von Dienst?“

Schweigen. Sie mochte sinnieren. Vielleicht in ihrem Pfuhl der Geheimnisse forschen oder in ihren Ränken der Täuschung einen Plan schmieden. Die freie Hand hebend, strich sie mit den Fingern über das Amulett. Zärtlich fast, und besitzergreifend.

Er schluckte. „Und wem schulde ich einen Dienst?“

„Ura.“

„Ura, und weiter?“

„Nur Ura, Rhaz Iksha Zar.“

Es wirkte betörend, wie sie die Hornscheibe streichelte. Er spürte ein Pulsieren und nahm die Kraft wahr, die es so unscheinbar in sich barg. Ihm kam der Verdacht, dass sie es auflud, gerade eben. Dass sie etwas von ihrer Blutwärme, ein wenig vom Flimmern der Wurzeln und sehr viel von seiner Atemkraft in das Artefakt steuerte.

Eine Menge von ihm.

Er musste es nehmen. Tat es nicht. Noch nicht. „Und ich würde dich finden, hier?“

„Hier, dort, anderswo. Manches Schicksal ist gewiss. Besteht eine Schuld, dann wirst du mich finden. Nimm es.“

Er nahm es. Wissend, dass er dafür zahlen musste, eines Tages. Aber wenn es stimmte, was Ura sagte, mochte die Kraft des Artefaktes ihm helfen, seine Bagage zurückzuerlangen. Für den Augenblick zählte allein das. Er legte es sich auf die Handfläche, befühlte es mit den Fingern und betrachtete es mit Impulsen seiner Seelengabe. Diese kehrten verstärkt zu ihm zurück und weiteten seinen Geist. Er spürte nicht länger nur die dumpfe Leere der Stollen und den Widerhall der Lakaien, sondern bis in die Erde hinein. Fühlte Wurzeln und Gewürm. Er drang sogar bis in die Freiheit vor. Gewahrte den Ausgang aus diesen Tunneln genau dort, wo er ihn aufgrund der Beschreibung des Lakaien wähnte. Allein die Hexe blieb unsichtbar für seinen Geist, nach wie vor.

Er hob die Augen ihr zu. „Wie machst du das?“

Sie musste wissen, wovon er sprach. Ein Mundwinkel hob sich. Es sah nicht wie ein Lächeln aus. „Seelengabe. Gespür. Impuls.“ Mit einem Mal erlosch das Flirren der Wurzeln. Dunkelheit hüllte sie ein. Dann öffnete die Heilhexe die Tür und trat in den Fackelschein der Stollen. „Du willst aufbrechen, Rhaz. Was brauchst du?“

„Nichts.“ Er wusste, wie man in der Wildnis überlebte. Zwar mochte es ihn aufhalten, sich darum zu kümmern, aber die Schuld bei Ura wollte er nicht weiter steigern. Obschon ihm der Verdacht kam, dass ein wenig Verpflegung und vielleicht ein paar Waffen keinen Einfluss auf den Preis für das Amulett nahmen. „Sag mir nur, waren meine Hunde bei mir?“

„Waren sie. Sie lagen wie du unter dem Bann.“

„Und leben sie?“

„Zwei von ihnen. Dem dritten war nicht zu helfen.“

„Gut.“ Eine Menge an Zeit und Mühe der Abrichtung steckte in den Viechern. Wenigstens zwei am Leben zu wissen, machte die Arbeit nicht vergeblich. „Wo sind sie?“

„Das sind wilde Kreaturen, Rhaz.“

„So soll es sein. Wo sind sie?“

„Ich konnte sie nicht einlassen. Es lüstet sie nach Blut. Sie sind draußen.“

„Und meine Stute?“

„Da war keine Stute.“

„Dann haben die Banditen sie gestohlen.“ Das erschwerte die Verfolgung. Andererseits, falls sich die Diebe im Wald hielten, könnte er abseits der Pfade abkürzen und käme durch das Dickicht zu Fuß sogar besser voran.

Sie langten an seiner Kammer an. Er legte eine Hand an den Knauf, die linke. Die gekrümmten Finger der rechten führte er an die Lippen und küsste sie, berührte die eigene Stirn und danach die der Heilhexe. Ein tiefer Atemzug, und er besiegelte den Pakt. „Danke, Ura, für deine Hilfe, dein Obdach und deine Gaben. Ich, Rhaz Iksha Zar, bekenne meine Schuld und gelobe, sie zu begleichen. Möge die Alte Mutter meinen Eid bezeugen. Möge sie deinen Pfad behüten, und mögest du ihr treu bleiben.“

In ihren Augen lag ein Funken. Sie verbarg diesen, indem sie den Kopf neigte und die Geste wiederholte. Sie küsste die Finger, berührte die eigene Stirn und dann seine. „Danke, Rhaz Iksha Zar, für dein Gelöbnis und für die Aufrichtigkeit deiner Seele. Ich, Ura, akzeptiere die Schuld und gelobe, deinen Eid anzuerkennen. Möge die Alte Mutter diesen Pakt besiegeln. Möge sie deinen Pfad mit meinem eines Tages wieder kreuzen, und mögest du ihr treu bleiben.“

Ihm erzitterte das Herz. Wie ein Paukenschlag schoss der Pakt durch seinen Leib, vom Scheitel bis in die Zehenspitzen und wieder zurück.

Selbst Ura erbebte.

„Die Alte Mutter erkennt dein Gelöbnis an“, schloss sie, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte von dannen.

Geschwind trat Rhaz in die Kemenate und schloss die Tür. Für einen Moment lehnte er sich mit dem Rücken daran an. Er senkte die Lider, schöpfte Atem. Erforschte das flaue Gefühl in seinem Innern und das Pulsieren des Amuletts in seiner Hand.

Ein Pakt mit einer Hexe.

Was für eine Tragödie.

Er konnte nicht einmal ausmachen, was ihn dazu bewogen hatte, den Handel zu akzeptieren. Ich konnte den Bann nicht lösen. Ich brauche diese Kraft, um es mit dem Bannsprecher aufzunehmen. Ein paar plausible Gründe. Auch die Schuld seines Auftrags musste er begleichen, diese vor allen anderen. Gleich zu welchem Preis. Ich hatte keine Wahl. Noch ein Grund. Ich muss wieder der Beste sein, und das Amulett hilft mir dabei. Und einer mehr. Er fand noch welche, überzeugende und fadenscheinige. Es begrub die vage Furcht, dass die Heilhexe kraft ihrer Gabe ihn zu diesem Handel beeinflusst, dass sie ihn geblendet hatte. Was keine Rolle spielte, weil diese Schuld nun bestand, gleich auf welche Weise sie geschlossen war.

Mittels beherrschter Atemzüge fand er zurück zu seinem Gleichmut. Darin gewann seine Lage an Klarheit. Zustand richten und weitermachen. Einen Weg finden, so wie immer. Fehler korrigieren. Auftrag abschließen. Schuld begleichen. Er legte das Gewand ab und begann damit, am Waschtisch sich zu erfrischen. Derweil warf er einen Blick auf seine Wunden. Auf die neuen Narben, besser gesagt. Uras Werk grenzte an ein Wunder. Auch Dasgar beherbergte eine Heilhexe, und diese vollbrachte Erstaunliches. Manche Blutung vermochte sie zu stillen, die Heilung anzuregen, eine Infektion zu verhindern. Je nach Schwere sogar einer Verletzung den Charakter zu verleihen, sie liege schon Tage zurück. Jedoch, von vollständiger Heilung konnte keine Rede sein. Er kannte niemanden und hatte von niemandem je gehört, der derlei vollbrachte. Fragen formten sich in seinem Schädel, sein wachsendes Empfinden von Unheil nahm Gestalt an.

Er kämpfte es nieder.

Danach zehrte er die von einem Lakaien bereitgestellte Verpflegung. Neue Kraft strömte ihm ins Blut, die Muskeln fühlten sich fähiger an. Er dehnte sie. Alle. Lockerte sich und dehnte sie erneut. Dann besah er sich das lächerliche Bündel seines verbliebenen Rüstzeugs. Nur die Sachen, die er am Leib getragen hatte. Diese, schon gewaschen, zeigten Spuren seiner Erlebnisse, vor allem des jüngsten. Er schob das Vergangene in den Abgrund seines Verstandes und fokussierte das Gegenwärtige. Flickte die Löcher im Wams. Nähte das Leder seiner Hosen. Erneuerte die Schnürung der Stiefel. Kittete die Risse in der Kettenweste. Legte all das an, die Rüstung zuletzt, und fühlte sich endlich wieder wie er sollte. Wie ein Gestählter von Dasgar. Ausgeruht. Stark. Konzentriert.

Bereit.

Er löste einen Riemen von einer Tasche seines Wamses, womit er das Amulett einfasste, und hängte es sich um den Hals. Dann sandte er einen Impuls und erhielt so viele Echos, dass es ihn beschwingte. Er musste lernen, diese zahlreichen Eindrücke zu erfassen, zu filtern und zu ordnen. Vielleicht, sie zu nutzen. Eine leichte Übung, seine größte Stärke. Neues lernen. Unbekanntes adaptieren und umsetzen. Recht so.

Er verließ die Kemenate, leichten Schrittes ob der fehlenden Waffen und Bagage. So kam er zügig voran. Er durchmaß die Stollen nach der Weisung des Lakaien in Richtung Ausgang, passierte die Große Grotte, welche wie eine Empfangshalle wirkte, stieg Stufen hinauf und trat durch ein winziges Portal nach draußen.

Es dämmerte erst.

Noch spannte sich der Himmel wie Tinte über ihm, durch die Lücken des Laubdachs funkelten Sterne. Nebel schwebte durch das Dickicht. Darin klang die Wildnis gedämpft, das Singen der Vögel zaghaft. Ein Rundblick, ein Impuls. Gut verborgen, das unterirdische Reich der Hexe. Mit bloßem Auge bemerkte er es nicht, wie sich der Eingang an einem Felsen unter Weißdorn verbarg, zumal im Halbdunkel des frühen Morgens. Die Luft, schon lau, belebte ihm die Sinne und versprach einen Tag von drückender Hitze.

Er stieß eine Folge von Pfiffen aus. Es glich dem Bodenalarm einer Amsel, aber das Gehör seiner Hunde täuschte es nicht. Ein Augenblick des Wartens, und die beiden verbliebenen schnürten aus dem Dickicht heran, beinahe ohne Laute zu verursachen. Beides Hündinnen. Er richtete grundsätzlich keine Rüden ab. Einem solchen verkehrte eine läufige Hündin zu leicht den Schädel. Treulose, verräterische Nichtsnutze. Aber eine Kastration schmälerte die Seele, auch bei Viechern. Hündinnen benahmen sich zurückhaltender. Verlässlicher. Sie ließen sich strenger kontrollieren. Und sie kämpften blutiger.

Er sah den beiden entgegen. Eska, seine stärkste Kämpferin. Kay, seine fähigste Spürerin. Es fehlte Uka, die schnellste Läuferin seines Rudels. Schade.

Eska und Kay tappten heran. Die dreieckigen Ohren zurückgelegt, die Schädel gesenkt, schwangen sie die Ruten zur Beschwichtigung. Rhaz ging auf die Knie, winkte sie heran und genehmigte beiden, ihm Kehle und Kinn zu schnäuzeln. Im Gegenzug zauste er ihr grauschwarzes Stockhaar und hielt nach Wunden Ausschau. Er fand keine. An Glück konnte er kaum glauben und schrieb auch dies Ura zu, was ihre Fähigkeiten noch bedeutsamer machte. Die Heilhexe in Dasgar sagte, für die Genesung eines Viehs brauche es weniger Kraft, aber mehr Energie. Er verstand es nicht. Nicht vollends. Es zu wissen genügte jedoch, um darin einen weiteren Beweis für Uras Kunstfertigkeit zu finden. Und für ihre Macht.

Er richtete sich wieder auf und schnippte mit den Fingern, woraufhin die Hunde sich ihm zur Seite einordneten. Eska links, weil seine rechte die starke Kampfseite war, und Kay rechts, weil er sie als Nächstes voranschickte. „Kay, vor.“

Die Hündin gehorchte, schaute über die Schulter zu ihm auf und stellte ihm die Ohren entgegen.

„Hassel.“ Zu Beginn seines Auftrags hatte er nicht versäumt, die Hündinnen, und zwar zur Sicherheit alle drei, auf den Inhalt desselben zu schärfen. Sie kannten den Begriff und den damit verknüpften Geruch, und so zuckten beide mit den Nasen. Kay scharrte schon mit der Tatze die Erde. „Such.“

Der Ort des Überfalls musste sich ganz in der Nähe befinden, so rasch, wie Kay Witterung fand. Er warf einen Blick rundum. Gewahrte Blut den Waldboden besudeln, getrocknet und im dürren Laub kaum sichtbar. Eine Menge Blut, womöglich sein eigenes. Sehr wahrscheinlich sein eigenes. Ein Wunder fast, wenn nicht gänzlich, dass er gleich vor der Heimstatt der mächtigsten Heilhexe gefallen war. Ein Wunder, zu bedeutsam, um es als Zufall abzustempeln.

Jedoch, darüber zu sinnieren, blieb ihm keine Zeit, also tat er genau das. Er stempelte es als Zufall ab. Ein Zeichen, ein Schnaufen, und Kay preschte voran.

DAS SCHICKSAL IST EIN VERRÄTER.

Kay fand ihr Tempo. Geschwind wie ein Pfeil und wendig wie ein Wiesel flitzte sie im Gestrüpp voran. Nasenspitze, Schultern, Rücken und Rute bildeten eine Linie, sie lief s0o leicht wie eine Feder fiel. Rhaz jagte ihr nach, Eskas Schulter an seinem Knie. Seinen Rhythmus fand er schnell. Die Kraft seines Leibes mochte gelitten haben, nicht aber seine Ausdauer, und auch nicht sein Wille. Die Muskeln fühlten sich etwas zäher an, das Herz pumpte ein wenig schneller als gewöhnlich. Er glich es aus, indem er die Kraft seines Geistes in den Körper lenkte, statt damit die Umgebung auszuloten. Für den Augenblick genügte ihm das Gespür der Hunde. Ungewohnt, aber taktvoll klopfte das Amulett im Lauf gegen seine Brust. Vielleicht konnte es helfen, Energie aus dem Wald zu laden und zu verwenden.

Für Versuche dahingehend nahm er sich keine Zeit, vorerst, sondern hielt es sich für eine Rast vor. Zunächst galt es, den Abstand zu den Dieben zu verringern.

Das Spurten fiel ihm leicht. Niemand lief wie ein Gestählter von Dasgar. Er kannte die Sage, welche gebot, dass selbst der Reiter eines iverischen Reinbluts sich fürchten musste, wenn ein Gestählter von Dasgar die Verfolgung aufnahm. Er kannte auch jene Pferderasse für seine Ausdauer, diese gleichfalls berühmt für ihre Schnelligkeit. Er besaß selbst eine solche Stute, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach unter dem Diebesgut befand. Eine verfolgt hatte er noch nie, aber für sein Empfinden haftete der Sage die Wahrheit an. Ein Pferd, gleich wie tüchtig, brauchte seine Pausen. Er nicht. Auch nicht seine Hunde. Solche, die sein Tempo nicht schafften, richtete er nicht ab. Also hetzte Kay voran. Beschwingt zuerst. Später gefasst, aber nicht weniger konzentriert. Danach mit hängender Zunge. Er trabte ihr nach, gewandt mit leichten Schritten durch das Dickicht, bis Kay auf einen Pfad bog. Ein Wanderweg, der staubig zu dieser Jahreszeit mitten durch den Eskelforst führte und Ivera von Dargosh trennte. Ivera, wo er seine Mission verrichtet hatte. Dargosh, wo in den rauen Gipfeln von Dargalash sich Dasgar verbarg.

Sein Ziel.

Auf dem Pfad wandte Kay sich ostwärts, zurück in Richtung Ivera. Es legte nahe, dass seine Angreifer von dort stammten, wenigstens dort zu Diensten standen. Auch, dass deren Fürst Utrek ebenso viel Verlangen nach der Hassel spürte wie der Gebieter von Dasgar. Sein Auftraggeber. Und Gläubiger. Keine Überraschung also, denn was Letzterer begehrte, war selten ohne Wert.

Rhaz kniete nieder auf dem Pfad. Frische Furchen einzelner Reiter und Wanderer, auch von Fuhrwerken, verdeckten die älteren Spuren, zumal der Sand, so trocken von der Dürre des Sommers, Tritte rasch verrieselte. Er sandte einen Impuls. Dieser brachte Echos zurück. Spuren vergehender, hier freigesetzter Energie. Manche vertraut. Kein Zweifel, Kay täuschte sich nicht in der Fährte, auch wenn es ihn erstaunte, den Nachhall seiner Angreifer noch zu spüren. Dem Amulett geschuldet, vermutlich. Er berührte es. Flüchtig, richtete sich auf und schickte die Hündin wieder voran. Kay preschte vorwärts, schnurgerade auf dem ebenso geraden Pfad, die Pfoten im Sand so fedrig, dass sie die Erde kaum berührte. Er hinterher, mit Eska, so lange, bis der Weg sich krümmte. Noch einmal hielt er inne. „Kay. Hassel.

Such.“

Die Hündin steckte die Zunge ein, witterte mit bebenden Flanken und reckte die Nase nordostwärts, der Krümmung des Pfades nach.

Ganz wie erwartet.

Die Straße zog sich über viele Wegruten und einige Biegungen hin zur Hauptstraße durch Ivera. Von seiner Hinreise wusste er, dass noch andere Pfade den Eskelforst querten. Er nahm jedoch an, dass die Diebe nach dem Anwesen des Fürsten strebten, und dann bildete die Hauptstraße das logische Ziel. Er beschloss, auf gerader Linie durch das Dickicht die Biegung abzukürzen. Ein Schnippen mit den Fingern. Kay trat rückwärts und ordnete sich, ganz wie Eska, mit Höhe der Schulter an seinem Knie zu seiner rechten Seite ein.

Einige konzentrierte Atemzüge. Er atmete tief und atmete in den Bauch. Brachte das Zittern seiner Muskeln, das Hetzen seines Herzens und den Schwindel im Hirn unter Kontrolle. Unverkennbar, er hatte zu viel Blut verloren. Wasser täte gut. Aber dafür wollte er keinen Umweg einlegen. Also suchte er die Orientierung am Stand der Sonne, fixierte eine Richtung und stürzte sich ins Gestrüpp. Schweiß flutete ihm das Rüstzeug, immer mehr, je weiter der Tag voranschritt. Die Sonne feuerte Hitze auf die Erde, als wolle sie diese mit einem Brandzeichen versehen. Das Getier im Wald verstummte, zog sich für den stickigen Abschnitt des Tages zurück und harrte in kühlenden Schlupfwinkeln aus. Nicht er. Er trabte voran, im steten Dauerlauf. Die Füße hob er hoch, damit die Ränke der Dornen ihn nicht hinderten, hielt die Richtung fest und sperrte mit Hilfe seiner Seelengabe die Hitze aus seinem Bewusstsein aus. Auch die Erschöpfung. Und den Durst.

Das Leder seines Rüstzeugs bewahrte ihn vor Kratzern durch die Sträucher, seine gestählte Ausdauer ihn davor, ob des Sengens in die Knie zu gehen. Er legte die Distanz der Krümmung zurück, fand wieder auf den Pfad und befragte Kay, ob die Richtung noch stimmte. Die Hündin bestätigte es. Er spurtete durch den Sand bis zur nächsten Biegung, welche in entgegengesetzter Weise verlief, und überbrückte sie auf dieselbe Art wie die andere zuvor.

Wie er zurück auf den Weg gelangte, zeigte sich dieser verbreitert, sodass ohne Schwierigkeiten zwei Fuhrwerke aneinander vorbei gelangten. Eines kam ihm entgegen. Ein Kaufmannskarren, dem Anschein nach, gezogen von einem Kaltblüter. Rhaz schickte Kay rüber an die linke Seite, sodass die rechte frei war, und ging mit dieser zugewandt dem Fuhrwerk entgegen. Langsamer, um durch seine Eile nicht mehr Misstrauen zu erwecken als nötig. Die Hündinnen, groß und kräftig und furchterregend, sollten seine Absicht nicht schmälern, also schnippte er mit den Fingern und bedeutete ihnen, sich niederzulegen. Beide gehorchten. Die Schädel auf die Tatzen gebettet, wirkten sie kleiner. Und täuschend friedlich.

Er selbst trat an den Karren heran. Zu beiden Seiten zeigte er die geöffneten Handflächen. „Der Alten Mutter zum Gruße, Herr.“

Der Kaufmann hielt das Ross an. Sein Blick huschte an ihm auf und nieder, dann hinüber zu den Wächtern links und rechts auf seinem Bock. Beide nickten. Der Händler neigte den Kopf. „Gruß auch, Meister.“

Ein Stich.

Ganz wie erwartet. Er hielt ihn im Zaum und gab ihn nicht preis. Die Nadel auf der Lederplatte seiner rechten Brust verriet ihn als solchen. Nicht als einen von Dasgar, es handelte sich um das allgemein gültige Symbol für den Meister einer Kriegskunst. Auch, wenn die Gemeinen nichts mit den Fähigkeiten eines Gestählten teilten. „Bitte um Auskunft, guter Herr. Kam Euch ein Kriegertrupp entgegen, auf dieser Straße? Sechs Mann, sieben Pferde?“

„Und zwei Hunde, größer als deine. Ja, die haben wir gesehen. Kameraden?“ Ein Zwinkern.

Seine Lage musste sich allzu deutlich kundtun, das reiterlose Ross des Kriegertrupps den Rest sprechen. „Ja, Herr. Wie lange ist das her, dass Ihr sie getroffen habt?“

Ein Augenblick des Schweigens. Sichtlich rang der Kaufmann mit seiner Neugier. Mit der Absicht, die Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge brannten. Ein Wind setzte das Laubdach in Regung, wenn dieser auch nichts Kühlendes besaß, und warf einen Schattentanz auf die Plane des Händlerkarrens. Rhaz betrachtete diesen für eine Weile und betrachtete danach den Händler auf dem Bock. Irgendetwas bewog den Kerl, die Fragen zu schlucken und die Neugier zu begraben, stattdessen Antwort zu geben. „Das war am frühen Morgen, bei Sonnenaufgang.“

Dann haben sie nicht viel Vorsprung. In der Annahme, dass er nicht mehr lebte, bestand schließlich kein Grund zur Eile. Sein Glück. „Danke, Herr. Habt Ihr Wasser?“

„Bezahlt Ihr dafür?“

„Nein.“ Seine Geldkatze befand sich in den Satteltaschen.

„Dann nein.“

Er spielte mit der Idee, mittels eines Impulses den Händler, dessen Wächter gleich mit, zu überwältigen. Auf dem Karren fand sich Wasser, ganz gewiss. Jedoch, nach seinen Verletzungen, dem Blutverlust und der Anstrengung des Tages sah er nicht ab, ob seine Kraft dazu genügte, und er setzte noch nicht ausreichend Vertrauen in das Amulett, weniger noch in sein Verständnis für dessen Funktionsweise. Also gab er nach, senkte den Blick und verneigte sich. „In Ordnung, Herr. Gleichwohl danke für die Auskunft. Fahrt wohl.“

„Gleichfalls, Meister.“ Ein Schwenk mit der Peitsche, und der Kaltblüter zog an.

Rhaz spähte vorwärts über die schnurgerade Straße und sann über die Worte des Kaufmanns nach. Heute noch ein gutes Wegstück, eine kurze Nacht und ein Spurt in der Frühe, dann holte er die Diebe morgen womöglich schon ein. Mit etwas Glück noch im Wald, auf neutralem Boden statt in den Ländereien von Ivera, wo sein Vorhaben als Verbrechen geahndet werden könnte. Besser, er erledigte das im Forst, dann durfte niemand Rechenschaft fordern. Auf wildem Terrain haftete niemand für wildes Geschehen. Ein Wagnis, das nicht wenige solcher Kaufleute wie derjenige eben mit dem Leben büßten. Dem entgegen stand der Handel. Güter aus Ivera erzielten in Dargosh einen umso höheren Preis und umgekehrt.

Er verschwendete keinen Blick nach dem Karren. Der Kerl fuhr mit seinen beiden Wächtern besser immerhin als die meisten sonst.

Er pfiff die Hündinnen auf die Pfoten und trabte weiter. Hielt Ausschau derweil nach Reflexen zwischen dem Strauchwerk, solchen von Licht auf einem Teich. Schaute nach den Nasen der Hunde, ob diese über die hängenden Zungen hinweg die Witterung von Wasser anzeigten. Prüfte selbst die Luft und sandte einen Impuls aus. Er fand nichts. Für etwas zu trinken müsste er den Pfad verlassen, suchen und forschen nach den richtigen Anzeichen, Fährten folgen.

Einen Umweg machen.

Kommt nicht in Frage. Eine Weile konnte er noch aushalten, die Hündinnen vielleicht auch. Also weiter. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen und lief vorwärts. Geschwind, nicht zu schnell, es glich dem Tempo seiner Stute im Trab.

Irgendwann sank die Sonne. Die Luft kühlte sich nicht ab, aber sie brannte weniger. Im Wald regte sich das Getier. Er hielt an. Augenblicklich fielen die Hündinnen in den Sand, bis auf den Brustpelz hingen ihnen die Zungen heraus. Ein Wunder, dass sie sich noch hielten. Ihn selbst überkam der Schwindel schlagartig. Ohne Vorwarnung. Er fiel vornüber. Würgte. In seinem Magen befand sich nichts, es zu erbrechen. Ein trockener Husten, mehr nicht. Ihm schlotterten die Muskeln. Jeder Einzelne. Um ein Haar sank er nieder, um zu ruhen. Standhalten.