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Diese Sammlung enthält 15 neu übersetze Kurzgeschichten aus der Feder von H. G. Wells, des bekannten "Vater der Science Fiction". Kleine Geschichten um Wissenschaft, menschliche Selbstüberschätzung und den ewigen Kampf mit der Natur. Die Menschheit befindet sich an der Schwelle zur Neuzeit: Elektrizität, Mikrobiologie und Kernphysik klopfen an die Tür eines von technischen Fortschritt und Kriegen dominierten Jahrhunderts. 1. Der gestohlene Bazillus 2. Die seltsame Orchidee 3. Das Observatorium in Avu 4. Die Triumphe eines Präparators 5. Der Straußenhandel 6. Durch das Fenster 7. Harringays Versuchung 8. Der fliegende Mann 9. Der Diamantenmacher 10. Die Aepyornis-Insel 11. Der bemerkenswerte Fall von Davidsons Augen 12. Der Gott der Dynamos 13. Der Einbruch im Hammerpond Park 14. Eine Motte – Genus Novo 15. Der Schatz im Wald Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 216
H. G. Wells
Der gestohlene Bazillus
Und andere wundersame Geschichten
H. G. Wells
Der gestohlene Bazillus
Und andere wundersame Geschichten
(The Stolen Bacillus)Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Nadine Erler 2. Auflage, ISBN 978-3-954188-84-0
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Inhaltsverzeichnis
Vorwort der Übersetzerin
1. Der gestohlene Bazillus
2. Die seltsame Orchidee
3. Das Observatorium in Avu
4. Die Triumphe eines Präparators
5. Der Straußenhandel
6. Durch das Fenster
7. Harringays Versuchung
8. Der fliegende Mann
9. Der Diamantenmacher
10. Die Aepyornis-Insel
11. Der bemerkenswerte Fall von Davidsons Augen
12. Der Gott der Dynamos
13. Der Einbruch im Hammerpond Park
14. Eine Motte – Genus Novo
15. Der Schatz im Wald
Widmung
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Ihr Jürgen Schulze
Auf zwei Planeten
Der Herr der Welt
Der Brand der Cheopspyramide
Die Macht der Drei
Befehl aus dem Dunkel
Die Spur des Dschingis-Khan
Der gestohlene Bazillus
Der Krieg der Welten
Der Unsichtbare
Die ersten Menschen auf dem Mond
und weitere …
»Ah! Jetzt sehe ich es«, sagte der Besucher. »Aber so viel ist gar nicht zu sehen. Kleine Streifen und rosa Fitzelchen. Und doch können diese winzigen Teilchen – bloße Atome – sich vermehren und eine ganze Stadt vernichten! Herrlich!«
Die vorliegenden Erzählungen stammen aus der Zeit der Jahrhundertwende. Aus heutiger Sicht herabsetzende Begrifflichkeiten wurden übernommen, um eine authentische Übersetzung zu gewährleisten. Wir weisen darauf hin, dass es sich hier um die Ansichten des Autors und seiner Zeit handelt, die nicht die Gesinnung des Verlegers und der Übersetzerin widerspiegeln.
»Dies wiederum«, sagte der Bakteriologe und schob einen Objektträger unter das Mikroskop, »ist ein Präparat eines gefeierten Bazillus – des Cholera-Bakteriums.«
Der bleichgesichtige Mann blinzelte mit einem Auge durch das Mikroskop. Er war offensichtlich nicht an dieses Gerät gewöhnt und hielt sich mit seiner schlaffen weißen Hand das andere Auge zu. »Ich sehe sehr wenig«, sagte er.
»Drehen Sie an dieser Schraube«, sagte der Bakteriologe, »vielleicht ist das Mikroskop für Sie nicht richtig eingestellt. Augen sind so verschieden. Nur ein kleines bisschen in eine Richtung – oder in die andere.«
»Ah! Jetzt sehe ich es«, sagte der Besucher. »Aber so viel ist gar nicht zu sehen. Kleine Streifen und rosa Fitzelchen. Und doch können diese winzigen Teilchen – bloße Atome – sich vermehren und eine ganze Stadt vernichten! Herrlich!«
Er stand auf, zog den Objektträger aus dem Mikroskop und hielt ihn gegen das Licht. »Kaum sichtbar«, sagte er und unterzog das Objekt einer gründlichen Musterung. Er zögerte. »Sind diese Bakterien – am Leben? Sind sie jetzt noch gefährlich?«
»Die hier wurden eingefärbt und abgetötet«, sagte der Bakteriologe. »Ich für meine Person wünschte, wir könnten alle Cholera-Bakterien des Universums einfärben und abtöten.«
»Ich nehme an«, sagte der blasse Mann mit einem leichten Lächeln, »dass es in Ihrer Umgebung kaum solche Dinge im lebendigen – im aktiven Zustand gibt?«
»Im Gegenteil, wir sind darauf angewiesen«, sagte der Bakteriologe. »Hier zum Beispiel …« Er ging durch das Zimmer und nahm eine von mehreren versiegelten Röhren in die Hand. »Hier sind lebende Bakterien. Es ist eine Kultur echter lebender Krankheitserreger.« Er zögerte. »Sozusagen Cholera in der Flasche.«
Ein Hauch von Zufriedenheit huschte über das Gesicht des blassen Mannes. »Es ist ein tödlicher Besitz«, sagte er und verschlang die kleine Röhre buchstäblich mit den Augen.
Der Bakteriologe sah die kranke Befriedigung in der Miene seines Besuchers. Dieser Mann, der heute nachmittag mit einem Empfehlungsschreiben eines alten Freundes zu ihm gekommen war, interessierte ihn gerade deshalb, weil er so anders war als er selbst. Das strähnige schwarze Haar und die tiefgrauen Augen, das zerfurchte Gesicht und das nervöse Auftreten, das übereifrige Interesse seines Besuchers waren eine Abwechslung von der phlegmatischen Nachdenklichkeit des normalen Wissenschaftlers, mit dem der Bakteriologe meistens zu tun hatte. Es war vielleicht kein Wunder, dass er einem Zuhörer, der so fasziniert von dem tödlichen Charakter des Themas war, eine dramatische Vorstellung bot.
Er hielt die Röhre gedankenvoll in der Hand. »Ja, hierin ist die Pest gefangen. Man muss nur so eine kleine Röhre wie diese zerbrechen und ins Trinkwasser schütten – und zu diesen winzigen Partikeln Leben, die man nur mit den besten Mikroskopen sehen und die man nicht riechen oder schmecken kann – und zu ihnen sagen ›Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Zisternen‹, und der Tod – ein geheimnisvoller Tod ohne Spuren, schnell und schrecklich, voll Schmerz und Erniedrigung – würde auf diese Stadt losgelassen und überall seine Opfer suchen. Er würde der Frau den Mann entreißen, der Mutter das Kind, den Staatsmann von seiner Pflicht abberufen und den Arbeiter von seiner Mühe. Er würde durch die Wasserleitungen fließen, durch die Straßen pirschen, hier und da ein Haus heimsuchen, wo die Leute ihr Trinkwasser nicht kochen, in die Brunnen der Mineralwasserhersteller kriechen, Salat würde mit ihm gewaschen werden, und er würde im Eis schlummern. Er würde darauf lauern, von Pferden aus dem Trog getrunken zu werden, und von ahnungslosen Kindern aus den öffentlichen Brunnen. Er würde in den Boden sickern, um aus Quellen und Brunnen an tausend Orten unerwartet wieder hervorzusprudeln. Setzen Sie ihn nur einmal im Trinkwasser aus – bevor wir ihn umzingeln und wieder einfangen könnten, hätte er die Bevölkerung deutlich dezimiert.« Er brach jäh ab. Man hatte ihm gesagt, dass Rhetorik nicht seine Stärke sei. »Aber hier ist der Bazillus sicher – ganz sicher.«
Der bleichgesichtige Mann nickte. Seine Augen leuchteten. Er räusperte sich. »Diese Taugenichtse von Anarchisten«, sagte er, »sind Dummköpfe, blinde Dummköpfe – verwenden Bomben, wenn so etwas erhältlich ist! Ich glaube –«
Ein sachtes Klopfen, nur ein leichtes Antippen mit den Fingernägeln ertönte an der Tür. Der Bakteriologe öffnete. »Nur eine Minute, Liebling«, flüsterte seine Frau.
Als er wieder ins Labor kam, schaute sein Besucher auf die Uhr. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich Sie eine Stunde aufgehalten habe«, sagte er. »Es ist zwölf vor vier. Ich hätte gegen halb vier aufbrechen sollen. Aber es war einfach zu interessant. Jetzt kann ich leider keinen Moment länger bleiben. Ich habe eine Verabredung um vier.«
Er verließ den Raum und bedankte sich nochmals. Der Bakteriologe begleitete ihn zur Tür und begab sich dann nachdenklich wieder in sein Labor. Er fragte sich, welcher Herkunft sein Besucher sein mochte. Der Mann war sicher kein teutonischer und auch kein römischer Typ. »Jedenfalls ein morbides Geschöpf, fürchte ich«, sagte der Bakteriologe zu sich selbst. »Wie hingerissen er von diesen Kulturen von Krankheitserregern war!«
Plötzlich kam ihm ein beunruhigender Gedanke. Er ging zu der Bank bei dem Dampfbad und dann eilig zu seinem Schreibtisch. Dann suchte er hastig in seinen Taschen und stürzte zur Tür. »Vielleicht habe ich es auf dem Tisch in der Halle liegengelassen«, sagte er.
»Minnie!«, rief er heiser in die Halle.
»Ja, Liebling?«, kam eine ferne Stimme.
»Hatte ich etwas in der Hand, als ich gerade eben mit dir gesprochen habe, Liebling?«
Pause.
»Nichts, Liebling, denn ich erinnere mich –«
»Jetzt ist alles aus!«, schrie der Bakteriologe. Er rannte kopflos zur Haustür, die Treppen hinunter und auf die Straße hinaus.
Minnie hörte die Tür knallen und eilte aufgeschreckt zum Fenster. Am Ende der Straße stieg ein dünner Mann in eine Kutsche. Der Bakteriologe – ohne Hut und in Hausschuhen – lief hinterher und gestikulierte heftig. Dabei verlor er einen Schuh, aber es kümmerte ihn nicht.
»Er ist verrückt geworden!«, sagte Minnie. »Das kommt von seiner schrecklichen Wissenschaft!« Sie öffnete das Fenster und rief ihm nach. Der dünne Mann sah sich plötzlich um und hatte offenbar den gleichen Gedanken. Er zeigte hastig auf den Bakteriologen, sagte etwas zu dem Kutscher, die Tür der Kutsche knallte zu, die Peitsche sauste durch die Luft, die Pferdehufe trommelten, und einen Augenblick später waren die Kutsche und der Bakteriologe, der die Verfolgung nicht aufgab, hinter der Straßenecke verschwunden.
Minnie beugte sich aus dem Fenster und starrte sich noch eine Minute lang die Augen aus dem Kopf. Dann wich sie zurück. Sie war fassungslos. »Natürlich ist er exzentrisch«, sinnierte sie. »Aber einfach so durch London zu rennen – noch dazu in dieser Jahreszeit – ohne Schuhe!« Dann hatte sie einen glücklichen Einfall. Sie setzte hastig ihren Hut auf, nahm seine Schuhe, ging in die Halle, nahm seinen Hut und den Mantel von der Garderobe, ging vor die Tür und hielt eine Kutsche an, die langsam vorbeifuhr. »Fahren Sie mich bitte bis zum Ende der Straße und um den Havelock Crescent, und lassen Sie uns sehen, ob wir einen Herrn finden, der in einem Samtmantel und ohne Hut herumläuft.«
»Samtmantel, Ma’am, und kein ’ut. Sehr gut, Ma’am.« Und der Kutscher schwang ungerührt die Peitsche, als fahre er jeden Tag zu dieser Adresse.
Ein paar Minuten später wunderte sich eine kleine Gruppe von Kutschern und Nichtstuern, die sich um die Kutschenstation von Haverstock Hill scharte, als eine Kutsche, gezogen von einem gelblichen Klepper, in wilder Fahrt an ihnen vorbeipolterte.
Sie sahen stumm zu, wie sie vorüberfuhr und verschwand. Dann sagte der dicke Mann, der Old Tootles genannt wurde: »Das ist ’Arry ’Icks. Was ’at er?«
»Er schwenkt die Peitsche wie ein Wahnsinniger«, sagte der Stallbursche.
»Hoppla!«, sagte der arme alte Tommy Byles. »Da ist ja noch ein Irrer! Ich traue meinen Augen nicht!«
»Das ist der alte George«, sagte der alte Tootles, »und er fährt wie ein Verrückter! Gleich fällt er aus der Kutsche! Ist er hinter ’Arry ’Icks her?«
Jetzt kam Leben in die Gruppe um die Kutschenstation. Sie sangen im Chor:
»Vorwärts, George!«
»Das ist mal ein Rennen!«
»Du kriegst ihn!«
»Nimm die Peitsche!«
»Sie läuft wie der Wind!«, sagte der Stallbursche.
»Unglaublich!«, rief der alte Tootles. »Hier! Da kommt noch einer. Sind alle Kutscher von Hampstead verrückt geworden?«
»Diesmal ist es ein Mann«, sagte der Stallknecht.
»Sie läuft ihm nach«, sagte der alte Tootles. »Meistens ist es ja umgekehrt.«
»Was ’at sie in der ’and?«
»Sieht aus wie ein ’o’er ’ut.«
»Was für eine Schönheit! Drei sind hinter dem alten George her«, sagte der Stallknecht. »Da ist sie wieder!«
Minnie sauste vorbei, begleitet von tosendem Applaus. Es war ihr unangenehm, aber sie war der Meinung, ihre Pflicht zu tun, und so wirbelten sie den Haverstock Hill und die Camden Town High Street hinunter, wobei sie den Blick fest auf den Rücken des alten George richtete, der ihren flüchtigen Ehemann unbegreiflicherweise von ihr wegfuhr.
Der Mann in der ersten Kutsche saß zusammengekauert in der Ecke, die Arme fest verschränkt, und umklammerte das kleine Röhrchen, das solche zerstörerische Kraft enthielt. Er empfand eine sonderbare Mischung aus Angst und Euphorie. Vor allem befürchtete er, gefasst zu werden, bevor er seinen Plan ausführen konnte, aber dahinter verbarg sich eine unbestimmtere, jedoch größere Angst vor der Schrecklichkeit seines Verbrechens. Aber seine Euphorie überstieg die Beklemmung bei weitem. Kein Anarchist vor ihm war auf so eine Idee gekommen. Ravachol – Vaillant – all die wichtigen Leute, die er um ihren Ruhm beneidet hatte, versanken neben ihm in der Bedeutungslosigkeit. Er musste nur die Wasserzufuhr erreichen und die kleine Röhre entleeren. Wie genial er alles geplant hatte – ein Empfehlungsschreiben gefälscht und so ins Labor gelangt – und wie geistesgegenwärtig er die Gelegenheit genutzt hatte! Endlich würde die Welt von ihm hören. All die Leute, die ihn verspottet, beiseitegeschoben, andere ihm vorgezogen und sich nichts aus seiner Gesellschaft gemacht hatten, würden ihn jetzt ernstnehmen. Tod, Tod, Tod! Man hatte ihn immer als einen Menschen behandelt, der nicht zählte. Die ganze Welt hatte sich verschworen, ihn kleinzuhalten. Er würde sie alle lehren, was es hieß, einen Mann zu isolieren. Wie hieß die Straße, die ihm so bekannt vorkam? Great Saint Andrew’s Street natürlich! Wie lief die Jagd? Er lehnte sich aus der Kutsche. Der Bakteriologe war kaum noch fünfzig Yard hinter ihm. Das war schlecht. Er würde doch noch erwischt und aufgehalten werden. Er tastete in seiner Tasche nach Geld und fand einen halben Sovereign. Den warf er dem Kutscher durch die Klappe des Fahrzeugs ins Gesicht. »Mehr«, rief er, »wenn wir nur davonkommen!«
Das Geld wurde ihm aus der Hand gerissen. »Sie haben recht«, sagte der Kutscher, die Klappe schlug zu, und die Peitsche sauste auf das schweißnasse Pferd nieder. Die Kutsche schwankte, und der Anarchist, der gebückt unter der Klappe stand, stützte sich mit der Hand, in der er das Röhrchen hielt, an die Tür ab, um das Gleichgewicht zu halten. Er spürte, wie das feine Ding zerbrach, und die kaputte Hälfte fiel klirrend auf den Boden der Kutsche. Mit einem Fluch sank er wieder auf den Sitz und starrte bekümmert auf die zwei oder drei feuchten Flecken auf der Tür.
Er schauderte. »Nun ja! Ich nehme an, ich sollte der erste sein. Puh! Wie auch immer, ich werde ein Märtyrer sein. Das ist schon etwas. Aber es ist ein schmutziger Tod – trotz allem. Ich frage mich, ob es wirklich so schmerzhaft ist, wie behauptet wird.« Dann kam ihm ein Gedanke, und er suchte zwischen seinen Füßen. In dem kaputten Ende der Röhre befand sich noch ein kleiner Tropfen, und er trank ihn, um sicherzugehen. Es war besser, sicherzugehen. Er würde jedenfalls nicht scheitern.
Dann dämmerte ihm, dass es nicht mehr nötig war, dem Bakteriologen zu entkommen. In der Wellington Street befahl er dem Kutscher anzuhalten und stieg aus. Er rutschte auf der Stufe aus, und sein Kopf fühlte sich sonderbar an. Dieses Cholera-Gift wirkte schnell. Er winkte dem Kutscher, damit dieser aus seinem Leben verschwand, und stand mit verschränkten Armen auf dem Bürgersteig, um die Ankunft des Bakteriologen zu erwarten. Seine Haltung hatte etwas Tragisches. Das Bewusstsein des bevorstehenden Todes gab ihm eine gewisse Würde. Er empfing seinen Verfolger mit einem trotzigen Lachen.
»Vive l’Anarchie! Sie kommen zu spät, mein Freund. Ich habe es getrunken. Die Cholera wird ausbrechen!«
Der Bakteriologe in seiner Kutsche sah ihn neugierig durch seine Brillengläser an. »Sie haben es getrunken! Sie sind ein Anarchist! Das sehe ich jetzt.« Er wollte noch mehr sagen, hielt sich aber zurück. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er öffnete die Tür seiner kutsche, als wolle er aussteigen. Daraufhin winkte der Anarchist dramatisch zum Abschied, eilte in Richtung Waterloo Bridge davon und rempelte mit seinem infizierten Körper soviele Passanten an wie möglich. Der Bakteriologe war von diesem Anblick so gefesselt, dass er kaum die leiseste Überraschung zeigte, als auf dem Bürgersteig Minnie mit seinem Hut und den Schuhen und dem Mantel erschien. »Sehr lieb von dir, mir meine Sachen zu bringen«, sagte er und starrte immer noch in die gleiche Richtung.
Minnie war jetzt absolut sicher, dass er verrückt geworden war, und sagte dem Kutscher, er solle zu ihr nach Hause fahren.
»Meine Schuhe anziehen? Aber sicher, Liebling«, sagte er, als die Kutsche um eine Kurve fuhr und die schwarze, vorwärts marschierende Gestalt, die aus der Ferne winzig schien, aus seinem Blickfeld verschwand. Dann schoss ihm plötzlich ein grotesker Gedanke durch den Kopf, und er lachte. Dann bemerkte er: »Es ist allerdings wirklich sehr ernst. Siehst du, der Mann kam zu mir ins Labor, und er ist Anarchist. Nein, fall nicht in Ohnmacht, sonst kann ich dir nicht den Rest erzählen. Und ich wollte ihn beeindrucken, weil ich nicht wusste, dass er Anarchist ist. Deshalb habe ich ihm eine Kultur eines neuen Bakteriums gezeigt, von dem ich dir erzählt habe – das so ansteckend ist und, wie ich glaube, die blauen Flecken bei einigen Affen. Ich war so dumm zu sagen, dass es die asiatische Cholera sei. Und er ist damit weggelaufen, um das Wasser von London zu vergiften – und dann hätte es für unsere zivilisierte Stadt düster ausgesehen. Und nun hat er es hinuntergeschluckt. Natürlich kann ich nicht sagen, was passieren wird, aber es hat das Kätzchen blau gemacht – und die drei Welpen – und den Spatz hellblau. Aber das Problem ist, dass ich Kosten und Mühe auf mich nehmen muss, um mehr vorzubereiten. An diesem warmen Tag meinen Mantel anziehen? Warum? Weil wir vielleicht Mrs. Jabber begegnen? Meine Liebe, Mrs. Jabber ist doch kein Luftzug. Aber warum soll ich an einem warmen Tag einen Mantel tragen, wegen Mrs. – oh! Sehr gut.«
Der Kauf von Orchideen ist immer eine unsichere Angelegenheit. Man sieht einen schrumpeligen braunen Klumpen vor sich, und was den Rest angeht, muss man sich auf sein Urteil verlassen, auf den Verkäufer oder sein Glück, je nach Geschmack. Die Pflanze kann im Sterben liegen oder tot sein, oder vielleicht ist sie nur ein ganz ordentlicher Fang und ihr Geld wert, oder vielleicht – denn das passiert immer wieder – entfaltet sich vor dem hingerissenen Blick des Käufers langsam, Tag für Tag, Veränderung, neue Schönheit, eine neue Wendung des Blattes oder eine zartere Farbe oder eine unerwartete Anpassung. Stolz, Schönheit und Gewinn blühen gemeinsam auf einem feinen grünen Stamm und vielleicht sogar Unsterblichkeit. Denn das neue Wunder der Natur braucht vielleicht einen besonderen neuen Namen, und welcher wäre passender als der seines Entdeckers? »Johnsmithia«! Es gibt schlimmere Namen.
Vielleicht war es die Hoffnung auf so eine glückliche Entdeckung, die Winter-Wedderburn dazu brachte, diese Auktionen so häufig zu besuchen – und außerdem vielleicht noch die Tatsache, dass er sonst nichts zu tun hatte. Er war ein schüchterner, einsamer, nicht besonders tüchtiger Mann, dessen Einkommen gerade reichte, um nicht in Not zu geraten, und der nicht genug Energie hatte, um sich eine interessantere Arbeit zu suchen. Er hätte Briefmarken oder Münzen sammeln, Horaz übersetzen oder Bücher binden oder eine neue Art Kieselalgen entdecken können. Aber er züchtete nun einmal Orchideen und hatte ein beeindruckendes kleines Treibhaus.
»Ich habe das Gefühl«, sagte er beim Kaffeetrinken, »dass mir heute etwas passieren wird.« Er sprach ebenso, wie er sich bewegte und dachte – langsam.
»Oh, sag so etwas nicht!«, sagte seine Haushälterin, die auch seine entfernte Cousine war. Denn »etwas, das passierte« war ein Euphemismus, der für sie nur eine Bedeutung hatte.
»Du verstehst mich falsch. Ich meine nichts Unangenehmes … obwohl ich kaum weiß, was ich eigentlich meine. Heute«, fuhr er nach einer Pause fort, »werden bei Peters’ Pflanzen von den Andamanen und aus Indien verkauft. Ich fahre hin und sehe mir an, was sie haben. Vielleicht kaufe ich etwas Großartiges, ohne dass es mir bewusst ist. Das kann sein.« Er hielt ihr seine Tasse hin, damit sie ihm Kaffee nachschenkte.
»Sind das die Sachen, die der arme Junge gesammelt hat, von dem du mir neulich erzählt hast?«, fragte seine Cousine, als sie ihm seine zweite Tasse eingoss.
»Ja«, sagte er und wurde bei einem Stück Toast melancholisch. »Mir passiert nie etwas«, bemerkte er und begann, laut zu denken. »Ich frage mich, warum? Anderen Leuten passiert eine Menge. Zum Beispiel Harvey, erst letzte Woche. Am Montag hat er ein Sixpence-Stück gefunden, am Mittwoch sind alle seine Hühner herumgetorkelt, am Freitag ist sein Cousin aus Australien nach Hause gekommen, und am Samstag hat er sich den Knöchel gebrochen. Was für eine Aufregung – im Vergleich zu meinem Dasein.«
»Ich glaube, ich wünsche mir gar nicht soviel Aufregung«, sagte seine Haushälterin. »Das kann nicht gut sein.«
»Ich denke, dass es anstrengend ist. Aber … siehst du, mir passiert nie etwas. Als kleiner Junge hatte ich nie Unfälle. Als ich heranwuchs, habe ich mich nie verliebt. Nie geheiratet … ich frage mich, wie es ist, wenn einem etwas passiert, etwas wirklich Bemerkenswertes. Dieser Orchideensammler war erst sechsunddreißig – zwanzig Jahre jünger als ich –, als er starb. Und er war zweimal verheiratet und einmal geschieden, er hatte viermal Malaria, und einmal hat er sich den Oberschenkel gebrochen. Er hat einmal einen Malaien getötet und wurde einmal von einem vergifteten Pfeil verwundet. Und am Ende waren die Schlingpflanzen im Dschungel sein Tod. Es muss alles sehr lästig gewesen sein, aber auch interessant – außer den Pflanzen vielleicht.«
»Ich bin sicher, dass es nicht gut für ihn war«, sagte die Dame mit Überzeugung.
»Vielleicht nicht.« Und dann sah Wedderburn auf die Uhr. »Dreiundzwanzig nach acht! Ich fahre mit dem Zug um viertel vor zwölf, also ist genug Zeit. Ich denke, ich ziehe meinen Kamelhaarmantel an – er ist gerade warm genug – und meinen grauen Filzhut und braune Schuhe. Ich nehme an –«, er warf einen Blick aus dem Fenster, auf den blauen Himmel und den Garten im Sonnenlicht, und dann mit einem Anflug von Nervosität auf das Gesicht seiner Cousine.
»Ich denke, du solltest einen Schirm mitnehmen, wenn du nach London fährst«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Bis zum Bahnhof kann noch viel passieren.«
Als er zurückkam, war er beinahe etwas aufgeregt. Er hatte einen Kauf getätigt. Es kam nur selten vor, dass er sich schnell genug zum Kauf entschließen konnte, aber diesmal hatte er es getan.
»Das sind Vandas«, sagte er, »und eine Dendrobe und einige Palaeonophis.« Er sah seine Neuerwerbungen liebevoll an, als er seine Suppe ab. Sie lagen vor ihm auf dem blütenweißen Tischtuch, und er erzählte seiner Cousine alles über sie, während er sich beim Abendessen Zeit ließ. Er hatte die Gewohnheit, zu ihrer und seiner Unterhaltung all seine Ausflüge nach London abends Revue passieren zu lassen. »Ich wusste, dass heute etwas passieren würde. Und ich habe sie alle gekauft. Ich bin sicher, dass einige von ihnen – einige von ihnen beachtlich sein werden. Ich weiß nicht, warum, aber mir ist, als habe mir jemand erzählt, dass sich einige großartig entwickeln werden Die da«, er wies auf eine schrumplige Knolle, »hatte keinen Namen. Vielleicht ist es eine Palaeonophis – vielleicht auch nicht. Es kann eine ganz neue Art sein. Und es war die letzte, die der arme Batten gesammelt hat.«
»Die gefällt mir nicht«, sagte die Haushälterin. »Sie hat so eine hässliche Form.«
»Ich finde, sie hat kaum eine Form.«
»Ich mag diese hervorstehenden Dinger nicht«, sagte seine Haushälterin.
»Sie wird morgen eingepflanzt.«
»Es sieht aus«, sagte die Haushälterin, »wie eine Spinne, die sich tot stellt.«
Wedderburn lächelte und begutachtete die Wurzel mit schiefgelegtem Kopf. »Es ist tatsächlich kein hübsches Exemplar. Aber aus diesem verdorrten Äußeren kann man keine Schlüsse ziehen. Es kann eine sehr schöne Orchidee daraus werden. Morgen habe ich viel zu tun! Heute abend muss ich mir überlegen, was ich mit den Dingern mache, und morgen gehe ich an die Arbeit. ‒ Der arme Batten wurde tot oder sterbend in einem Mangrovensumpf gefunden«, fing er wieder an, »und eine dieser Orchideen lag zerfetzt unter ihm. Es ging ihm schon einige Tage schlecht, er hatte irgendein Dschungelfieber, und ich nehme an, dass er in Ohnmacht gefallen ist. Diese Mangrovensümpfe sind eine sehr ungesunde Gegend. Es heißt, diese Gewächse hätten jeden Blutstropfen aus ihm herausgesogen. Vielleicht hat ihn genau diese Pflanze das Leben gekostet.«
»Deswegen gefällt sie mir noch lange nicht besser.«
»Männer müssen arbeiten, auch wenn Frauen vielleicht weinen«, sagte Wedderburn mit Würde.
»Man stelle sich vor, ohne jeden Trost in einem scheußlichen Sumpf zu sterben! An einem Fieber zu leiden und keine Medikamente zu haben außer Chlorodyne und Chinin – wenn man die Leute sich selbst überließe, würden sie von Chlorodyne und Chinin leben – und keiner da außer den grässlichen Eingeborenen! Es heißt, die Eingeborenen auf den Andamanen seien richtige Scheusale – jedenfalls können sie keine guten Krankenschwestern sein, weil ihnen die nötige Ausbildung fehlt. Und all das nur, damit Leute in England Orchideen bekommen!«
»Es war sicher nicht bequem, aber manche Männer scheinen solche Dinge zu genießen«, sagte Wedderburn. »Und die Eingeborenen aus seiner Gruppe waren zivilisiert genug, um auf seine Sammlung aufzupassen, bis sein Kollege – ein Ornithologe – aus dem Dschungel zurückkamen, obwohl sie nicht sagen konnten, was für eine Orchidee es war, und sie sie hatten verwelken lassen. Und das macht diese Dinge noch interessanter.«
»Es macht sie widerwärtig. Ich fürchte, dass noch ein paar Malaria-Erreger daran kleben. Und stell dir vor – auf dem hässlichen Ding lag eine Leiche! Das fällt mir jetzt erst ein. Oh! Ich kann keinen Bissen mehr essen.«
»Ich nehme sie vom Tisch, wenn du willst, und lege sie auf das Fensterbrett. Dort kann ich sie genauso gut sehen.«
In den nächsten Tagen hatte er ständig in seinem stickigen kleinen Gewächshaus zu tun und hantierte mit Kohle, Teakholz und all den anderen Geheimnissen des Orchideenzüchters. Er fand, dass er eine herrlich aufregende Zeit erlebte. Abends erzählte er seinen Freunden von den neuen Orchideen und sprach immer wieder von seiner Erwartung, dass etwas Seltsames passieren würde.
Einige der Vandas und die Dendrobie gingen in seiner Obhut ein, aber die seltsame Orchidee gab Lebenszeichen von sich. Er war begeistert und rief nach seiner Haushälterin, die gerade Marmelade kochte. Sie musste sofort sehen, was er für eine Entdeckung gemacht hatte.
»Das ist eine Knospe«, sagte er, »und demnächst werden eine Menge Blätter sprießen – und diese kleine Dinger, die da hervorschauen, sind feine Wurzeln.«
»Sie kommen mir vor wie kleine weiße Finger«, sagte die Haushälterin. »Ich mag sie nicht.«
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht. Sie sehen aus wie Finger, die nach einem greifen wollen. Ich kann mir nicht aussuchen, was ich mag und was nicht.«
»Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, ich kenne keine Orchideen, die solche Wurzeln haben. Das kann natürlich auch Einbildung sein. Du siehst ja, dass sie am Ende ein bisschen platt sind.«
»Ich mag sie nicht«, sagte seine Haushälterin wieder. Sie schauderte plötzlich und wandte sich ab. »Ich weiß, dass es albern von mir ist – und es tut mir sehr leid, besonders, da dir dieses Ding so gefällt. Aber ich muss die ganze Zeit an die Leiche denken.«
»Es muss ja nicht gerade diese Pflanze gewesen sein. Das war doch nur eine Spekulation von mir.«
Seine Haushälterin zuckte die Schultern. »Ich mag sie trotzdem nicht«, sagte sie.
Wedderburn fühlte sich durch ihre Abneigung gegen die Pflanze ein wenig gekränkt. Aber das hinderte ihn nicht daran, ihr von Orchideen im allgemeinen und dieser Orchidee im besonderen zu erzählen, wann immer ihm danach war.