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Wenn Vielfalt einen Namen hat, dann ist der Goldene Pirat mit seinen märchenhaften Geschichten über Prinzessinnen und Könige, über Atzteken und Mixteken und über die Geister Zeitgeist und Weingeist sicherlich ein heißer Kandidat. Hier gibt es keine Konzentration auf Genres oder Zeitalter. Das Buch nimmt einen mit in unterschiedlichste Stimmungen, Welten und Situationen und bietet Wendungen und Lösungen, die voller Überraschungen sind. H.v.E. "...ich bin echt begeistert. Ich kann gar nicht sagen, ob es eine Lieblingsgeschichte für mich gibt, ich glaube nein, sie sind alle auf ihre Weise ganz wundervoll." Auszug aus der Rezension von Anke H., Hamburg
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Seitenzahl: 108
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Ich danke besonders meiner Frau
Thorina
und meiner Lektorin
Delia
für ihre Unterstützung.
Für Maja und Tilman
Hier findet ihr all die Geschichten, die mir damals noch nicht eingefallen waren
Das völlig volle Kind
Der alte Mann und das Knie
Der falsche Weg
Der goldene Pirat
Der hochmütige König
Der Jüngling und die Feen
Der König und sein Glaube
Die rettende Sünde
Die Sterngucker
Die träge Prinzessin
Die weise Waise
Der verborgene Freund
Die drei Brüder
Der Schüler und die Büste
Der Jäger und der Wolf
Der Troubadour
Der Zeitgeist und der Weingeist
Das Nissenhüttenleben
Der Student und das Tier
Das Sonntagskind
Der Autor
Es war einmal eine Zeit, in der gab es alles was man brauchte und sich wünschte in unbegrenzter Zahl und völlig kostenlos. Äpfel und Bananen, Autos und E-Bikes, Jacken und Hosen, Smartphones und Tablets und sogar Informationen über alles und jeden standen zur freien Verfügung. Man nannte diese Zeit deshalb die Vollzeit. Noch in der Vor-Vollzeit mussten Männer und Frauen arbeiten und Geld verdienen, um die Familien zu ernähren, Kinder mussten in die Schule gehen, um fit für das Erwachsenenleben zu sein.
In der Vollzeit nun, da war alles anders. Weder Vater noch Mutter mussten zur Arbeit gehen. Schulen und Universitäten, aber auch Museen und Konzerthallen hatten längst geschlossen, denn keiner spielte ein Instrument, konnte malen oder bildhauern. Die zahllosen Informationen konnte bald keiner mehr lesen, nur die Bilder sah man sich noch an, allerdings ohne sie zu verstehen. Niemand musste sich bemühen etwas zu erreichen oder zu erlernen. Die Sprache reduzierte sich immer mehr auf Laute der Ablehnung (Ne, Ne, Ne), der Zustimmung (Mh, Mh, Mh) und der Frage (Äh?). Selbst der Abfall entsorgte sich selber, Auch die Toten lösten sich nach ihrem kurzen erfüllten Leben in Luft auf. Alte Menschen gab es nicht. Alle waren gleich. Keiner fragte sich, woher diese Dinge und Dienstleistungen kamen, wer dafür verantwortlich war.
Man hörte von höheren Wesen. Die Ur-Ahnen hatten davon gesprochen. Die einen nannten es Gott, wiederum andere ganz anders. War ein Gott für das ganze verantwortlich? Oder vielleicht gleich mehrere Götter, denn einer kann so viel doch gar nicht schaffen! Aber keiner wollte die Situation stören oder hinterfragen und damit riskieren, dass sie aufhörte zu existieren. So stürzte sich jeder weiterhin in den Verbrauch und in die Nutzung dieser Angebote. Ob alt oder jung, ob in Afrika oder in Europa, ob Mann, Frau oder Kind.
In einem kleinen Dorf nun, in der Nähe des 54. Breiten- und 10. Längengrades, lebte ein kleiner Junge. Die Freiheiten des Lebens hatten leider auch bei ihm bereits ihre Spuren hinterlassen. Er war noch wie üblich schlank und gesund zur Welt gekommen. Eine Entbindung war aber für die Eltern nicht nur die Befreiung von dem Kind, nein, stets auch, so glaubten die Eltern, die Rettung vor dem Hungertod des Neugeborenen. Doch die übermäßigen Angebote, dargereicht durch seine Familie, durch Großeltern, Nachbarn und Freunde, brachten ihn umgehend in die gewünschte Form. Er glich seinen Eltern schnell wie ein Fettnapf dem anderen Und es machte sie glücklich ein Kind zu haben, das sich nicht, aber auch gar nicht, von den anderen fetten Kindern unterschied. Nur eine Sache beunruhigte sie. Die Augen! Sie verschwanden nicht wie üblich zwischen den Fettringen des Gesichtes.
Normalerweise wurden sie beim Lachen vollständig zu strichfeinen Sehschlitzen. Die Eltern fingen an, sich Sorgen zu machen. Sie waren sich einig, das mit den Augen wollte man im Auge behalten.
Gar nicht viel später, vielleicht nach zwei, drei Jahren, gab das inzwischen völlig aus der Form geratene Kind erste Laute von sich. Laute, die vorher niemand vernommen hatte. Die Eltern waren irritiert und hielten die Laute anfangs für eine weitere Störung. „Erst die Augen, nun auch noch der Mund!“, sagten sie in ihrer reduzierten Lautsprache, und einigten sich darauf, dass sie auch das mit den Lauten weiter im Auge behalten wollten.
Als er erwachsen war, man nannte es „Völlig Voll“, unterschied ihn kaum etwas von den anderen „Völlig Vollen“. Er konnte wie alle anderen nur kurze Strecken gehen, wenn er überhaupt aus seinem Sessel hochkam und aß nur fettes Zeug, um schnell satt zu werden und um nicht zu viel Energie beim Essen zu verschwenden. Aber sein Kopf war etwas Besonderes. Die Augen waren noch größer und schöner geworden, die Laute, die er von sich gab, klangen wie Musik und waren merkwürdigerweise von allen zu verstehen. Sein Kopf war voller Gedanken und Ideen. Er erzählte von seinen Visionen, wie er sie nannte. Diese malten eine bessere Welt voller Zufriedenheit und Güte. Die Gedanken waren so phantastisch und anrührend, dass die Menschen wie gebannt an seinen Lippen hingen.
Eines Tages rief er alle zusammen und sagte:
„Ich hatte einen Traum, in dem lebten wir alle zusammen in einem großen Land, in dem wir alle Platz fanden. Wir liebten es, die Äcker zu bestellen und die Wälder zu roden, wir bauten Schulen und Universitäten, Theater, Museen und Konzerthallen, ein jeder hatte seine Arbeit und ein jeder erkannte die Arbeit des anderen als wichtig und richtig an. Wir halfen dort, wo es Hilfe brauchte, und wir gaben denen, die nichts hatten, außer sich selber. Ich sah Menschen, die alt, grau und glücklich waren und ich sah Eltern, die sich über gesunde, schlanke Kinder freuten und die sich dieses neue Bild des Menschen zum Vorbild machten!“
Die Menschen fragten: „Wer ist es, der solche Dinge sagt?“
Er aber erwiderte. „Der Schöpfer aller Welten war es, der euch die Last des Lebens nehmen wollte. Er half euch bei allem was ihr tatet und wolltet und übersah, dass er euch dabei die Freude am Leben nahm. So ging euch auch der Sinn des Lebens verloren, der Grund, weshalb es euch gibt. Ich bin sein Bote und ich bringe euch die Freude zurück, und ich sage euch, der Sinn des Lebens ist das Leben an sich!“
-HvE-
Es gab einmal eine Zeit, in der konnte man länger leben, als der Körper es hergab. Schwer bepackt mit der Lebensleistung, fiel es dann jedem einzelnen zunehmend schwerer in die Stiefel, oder auf den Bock zu kommen. Selbst der Gang in die Waschecke wurde scheinbar immer länger und der Spiegel zeigte voller Mitleid nur noch matte Umrisse. Doch der Kopf, ja, der Kopf, war zwar alt und grau, ja, häufig greisenhaft entstellt, aber immer noch klar, weise und von den Erfahrungen eines abwechslungsreichen Lebens gefüllt.
So lebte ein alter Mann schon lange allein in seiner kleinen Kammer, ohne sich viel bewegen zu müssen, denn eine liebe Nachbarin sah manches Mal nach ihm und brachte Essbares und Notwendiges. Und so machte er sich trotz anwachsender körperlicher Schwächen kaum Gedanken über seine Zukunft.
Eines Tages nun, wohl Monate, vielleicht auch Jahre nach seinem letzten Bummel durch sein Revier, quälte er sich mal wieder die Treppe hinab auf die Straße und versuchte sich dort in den Strom der vorbeieilenden Menschen einzureihen. Sie kamen ihm schneller und gehetzter vor als letztes Mal und auch jünger. Diese ruhelose Umtriebigkeit der Menschen machten es ihm schwer mitzuhalten. Gerade, als er dies dachte, stieß ihn ein junger Mann an, ja rempelte ihn fast um, so dass beide auf den Gehweg fielen. Als sie sich aneinander festhaltend wieder aufstellten, sahen sie sich kurz ins Gesicht. Da sah der alte Mann den Schrecken in den Augen des Fremden. „Was ist los, was ist passiert!“, stammelte der alte Mann, aber da war der Rempler schon weitergegangen. Verunsichert blieb er zurück. Die anderen Fußgänger fluchten nun leise, weil sie sich um den verwirrten alten Mann vorbei bemühen mussten. Ein jeder sah ihn vorwurfsvoll an und erschrak, um dann schnell weiter zu gehen. Hatte er sich in den letzten Monaten so zu seinem Nachteil verändert? Nachdem er unter Einsatz seines Lebens und unter heftigen Beschimpfungen der Kutscher die Straße überquert hatte, spürte er einen heftigen Groll, ja, fast einen Zorn. Haben die Menschen die Achtung vor dem Alter verloren, keinen Respekt mehr? Als er sich dann einem heraneilenden Fußgänger in den Weg stellte, fluchte dieser und herrschte den alten Mann an “Was machen Sie hier, woher kommen Sie?“
Der alte Mann antwortete immer zorniger werdend: „Ich wohne hier, hier gegenüber!“ Aber, waren Sie noch gar nicht bei der ´Time and Trouble Agency´?“, fragte der Mann erstaunt. „Sie müssen sofort dorthin, so können Sie hier nicht rumhumpeln, oder wollen sie das?“, sagte er und verschwand, bevor der alte Mann nach Sinn und Ort der Agency fragen konnte. Nun spürte er, dass die Menschen einen deutlichen Bogen um ihn herum machten und sich auch nicht mehr ansprechen ließen. So ging er weiter, immer darauf bedacht, nicht im Wege zu gehen und zu stehen.
Gar nicht viel später hörte er ein lautes Klopfen in einer Seitenstraße. Neugierig beschleunigte er seine kurzen Schritte, bog um die Ecke und blieb erschrocken stehen. Er stand vor einem riesigen Geschäft. Quer über ihm, mehrere Meter lang, erstreckte sich ein Schild, das gerade festgehämmert wurde. Die Wand war auffällig protzig und farbig und hatte in der Mitte eine Eingangs- und eine Ausgangstür. Durch die Eingangstür strömten viele Menschen mit ernster Miene, durch die Ausgangstür kamen andere lachend aber auch nachdenklich wieder heraus.
Von oben rief ein Handwerker: „Na, Alter, bist aber spät dran!“ Er betrachtete stolz das angebrachte Schild. „Time and Trouble Agency!“, murmelte er zufrieden. „So, Alter, nun geh schon rein, bevor es zu spät ist!“ und stieg von der Leiter. „Bevor was zu spät ist?“, fragte der Alte. Bekam aber keine Antwort. Der Handwerker war schon gegangen.
Der alte Mann wankte nun zwischen leidenschaftlichem Unwillen und maßloser Neugierde, zwischen Zorn, über diese ungewohnten Frechheiten und ungeduldiger Wissbegier. Er ging hinein. Nach einem kurzen Gang stand er in einem riesigen Saal mit mehreren sorgfältig ausgerichteten Menschenschlangen. Jede Schlange stand vor einer Person in einer lächerlichen Phantasie-Uniform. Jeweils die erste Person einer Schlange unterhielt sich angeregt mit der gegenüberstehenden verkleideten Gestalt. Hier und da zeigte man auf eine gigantische Lichtwand, die sich von links bis nach rechts hoch über den Köpfen der Uniformierten hinzog. Darauf zu sehen waren bunte Abbildungen, die der alte Mann noch nicht klar erkennen konnte. Sie waren noch zu weit entfernt für seine alten Augen. Nachdem beide Personen vorn in der Schlange heftig genickt hatten, verließ die erste die Schlange und ging in eine Kammer, die der alte Mann erst jetzt als solche erkannte. Die nächste Person rückte nach und wurde nun die erste Person, und das ganze begann von vorn. Mit jeder neuen ersten Person rückte der alte Mann weiter nach vorn. Die Bilder auf der Lichtwand wurden deutlicher, erkennbarer. Letztendlich war er sicher: Er sah menschliche Abbildungen. Wie bei einer Explosionszeichnung einer Droschke wurde der Mensch in seinen Einzelteilen dargestellt. Daneben jeweils eine Zahl. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte er sich.
Gar nicht viel später war er die erste Person. Die Uniformierte guckte ihn freundlich an und sagte: „Hi, how you´re doin´?“ Sie lächelte mitfühlend. „What you wanna get rid of?“
Der alte Mann verstand kein Wort und schaute sich fragend um.
„What´s your pain center? Point to a picture!“
Hinter ihm in der Schlange sagte jemand in sein Ohr: „Sie will wissen, wo es weh tut, Opa!“
Nun, er hatte immer Probleme mit den Knien, lag wohl an der Treppe, die immer schwerer zu bewältigen war. „Knie!“, sagte er und zeigte auf das Knie auf der Bildwand.
„Both?“ Die Uniformierte wartete freundlich auf seine Antwort.
„Wie, boß?“ antwortete er.
„You´re french, aren´t you? Ok, both! Gimme your ID-Card!“
„Sie will deinen Personalausweis!”, sagte wieder die Stimme hinter seinem Ohr.
„Ja, ja!“, sagte er nun doch gereizt, fummelte den Ausweis aus der Hose und gab ihn der Uniformierten.
Diese gab irgendetwas in ein Gerät ein und sagte: „Ooh, man, you´re late, it is your final order, you know? But, you are lucky, today we can make a special bargain. We can give you some leasing returns. Is that okay for you?”
Der alte Mann hörte nur ´okay´ und nickte.
“Okay!” Die Uniformierte strahlte. „This is our best offer for you and, sorry, our last offer!“ Sie machte ein trauriges Gesicht und guckte noch einmal zur Sicherheit in ihr Gerät. „Okay, 10 years, this is a very good price!“
Der alte Mann guckte sich hilflos fragend nach hinten um. „Mensch, Opa, sie hat in deine Lebenszeit geguckt, da hast du noch mehr als zehn Jahre. Jetzt hast du noch eine schöne Zeit mit fast funkelnagelneuen Knien!“
„Hier wird mit Lebenszeit bezahlt?“, fragte der alte Mann.
„Ja, sagte die Stimme hinter ihm. „Du bezahlst hier nur die Bearbeitungsgebühr und ´Time and Trouble´ verkauft die Zeit an Bedürftige, die nur noch eine kurze Lebenszeit haben, aber noch viele Organe anbieten können!“
„Aber, geht das? Länger leben ohne Organe?“
„He, Opa, du kannst Fragen stellen, da drüben ist deine Replacement-Box. Alles Gute noch und genieß´ deine Leasing-Knie!“
-HvE-