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Der Police Sergeant und passionierte Vogelbeobachter William South hat zwei gute Gründe, wieso er nicht in einem Mordfall ermitteln will, der seinen Heimatort erschüttert. Die Zugvögel machen gerade Zwischenhalt an der Küste von Kent. Und er ist selbst ein Mörder.
Souths Verbrechen liegt lange zurück und ist nie aufgedeckt worden, er war damals noch ein Kind und lebte in Nordirland. Doch nun scheint ihn die Vergangenheit einzuholen. Als ein Freund von South brutal ermordet aufgefunden wird, ist allzu schnell der Täter ausgemacht: Danny Fraser, ein Landstreicher, der sich anscheinend selbst gerichtet hat. South kennt ihn aus seiner Kindheit und glaubt nicht, dass er der Mörder war. Doch was hat Fraser überhaupt nach Kent verschlagen?
An der Seite seiner neuen Vorgesetzten Alexandra Cupidi, einer gerade aus London zugezogenen alleinerziehenden Mutter, sucht South nach den wahren Hintergründen des Mordes. Stets erfüllt von der Angst, dass sein lange gehütetes Geheimnis gelüftet wird.
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Seitenzahl: 423
William Shaw
Der gute Mörder
Thriller
Aus dem Englischen von Christiane Burkhardt
Suhrkamp
Für meinen Bruder Christopherund alle anderen Jungs,die auf Bäume geklettert sind.
Es gab genau zwei Gründe, warum William South nicht ins Mordermittlerteam wollte.
Zum einen war Oktober: Die Zugvögel erreichten die Küste.
Zum anderen war er selbst ein Mörder – auch wenn das niemand wusste.
Doch diese Gründe nannte er dem Polizeidisponenten natürlich nicht. Stattdessen baute er sich vor seinem Schreibtisch auf und sagte: »Meine Güte, ich hab noch einen Riesenstapel Zeugenaussagen, die ich bis Donnerstag durchgehen muss – ganz zu schweigen vom bevorstehenden Bürgergespräch. Ich hab keine Zeit für so was.«
»Ach was«, konterte der Disponent gelassen.
»Warum ausgerechnet ich? Das kann doch der Constable machen.«
Der Disponent war ein Mann mit jungenhaften Zügen, der beim Reden ständig blinzelte. »Das solltest du lieber Detective Inspector McAdam vom Dezernat für Schwerverbrechen fragen, denn der wollte unbedingt dich dabeihaben. Tut mir leid, Kumpel.«
Und da South keine Anstalten machte zu gehen, vergewisserte er sich, ob auch niemand zuhörte, und senkte die Stimme. »Weißt du, Kumpel, die Neue ist nicht von hier und braucht noch etwas Beistand. Du bist als Streifenpolizist für den Abschnitt verantwortlich, und deshalb will dich McAdam dabeihaben. Damit du sie mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut machst. Ich kann nichts dafür.«
Es war noch früh am Tag. South brauchte eine Weile, bis der Groschen fiel. »Es ist also in meinem Abschnitt passiert?«
»Warum sollte man dich sonst ins Team holen? Sie sitzt übrigens schon draußen im Wagen und wartet.«
»Ich versteh nicht ganz. Worum geht es denn?«
»Das haben sie uns noch nicht verraten, der Fall ist gerade erst reingekommen. Jetzt hau schon ab, Bill! Sei so nett und mach deinen Job, damit ich meinen machen kann.«
Es war ein ganz normales Büro auf einem ganz normalen Revier in der Provinz: weiße, leicht zerschrammte Wände, graue Auslegeware, die vor dem aufgeräumten Schreibtisch des Sergeants, wo schon andere über Einsatzbefehle diskutiert hatten, ziemlich abgewetzt war, und ein Plakat mit dem Slogan: Hinhören. Dazulernen. Besser werden. Kent Police
»Würdest du bitte jemand anders einteilen?«
»Er hat ausdrücklich nach dir verlangt.«
»Angenommen, ich führ sie heute rum – kann dann anschließend jemand anders übernehmen?«
»Jetzt mach mal halb lang, Bill«, sagte der Disponent und blinzelte wieder, bevor er sich erneut seinem Computerbildschirm zuwandte.
South war seit mehr als zwanzig Jahren Polizist und galt als sehr gewissenhaft. Aber vor Mordermittlungen hatte er sich bisher stets drücken können.
Vielleicht war die Sache ja in ein, zwei Tagen erledigt. Sobald die Neue eingearbeitet war, würde er seine normalen Aufgaben wieder aufnehmen, die gemütliche Routine moderner Polizeiarbeit, in seinem Abschnitt. Er war ein guter Polizist. Was sollte da schon schiefgehen?
William South hielt kurz inne, bevor er die Glastür des Reviers aufstieß. Draußen wartete der blaue Ford Focus bereits mit laufendem Motor. Am Steuer saß die Neue, und ein Blick genügte, um ihn nervös zu machen.
Ungefähr Ende dreißig, glattes braunes Haar, frisch vom Friseur: eine Frau, die eine neue Stelle antritt. Ungeduldig trommelte sie mit den Fingern aufs Lenkrad. Sie würde sich bestimmt gleich auf die Mordermittlungen stürzen. Sie war noch neu hier, und das war ihr erster Fall. Bestimmt konnte sie es kaum erwarten, sich zu beweisen.
Eine gute Polizistin? Insgeheim wünschte er sich schon jetzt, dass sie ihr Metier nicht wirklich beherrschte.
Seufzend öffnete er die Tür. »Alexandra Cupidi?«
»Und, wie soll ich dich nennen? Bill? Will?«, fragte sie.
»William.«
»William?«
Grinste sie ihn etwa an?
»Na gut, Wil-li-am …« Sie betonte jede einzelne Silbe und zeigte mit dem Kinn auf den leeren Sitz neben sich. »Dann heiß ich A-lex-an-dra.«
Er öffnete die Beifahrertür und warf einen Blick ins Wageninnere. Sie trug ein beiges Leinenkostüm, das vermutlich genauso neu war wie ihre Frisur, aber schon jetzt verknittert und formlos aussah. Und das Auto? Es war erst Dienstag, sie konnte es also gerade mal einen Tag gefahren haben. Trotzdem war es bereits die reinste Müllhalde. Im Fußraum wimmelte es nur so von leeren Chipstüten und Zigarettenschachteln, und auf dem Beifahrersitz lagen Bonbonpapiere und Krümel.
»Entschuldige«, sagte sie. »Es ist gestern ziemlich spät geworden.«
Er setzte sich in den Abfall und zog den Sicherheitsgurt vor seine stichsichere Weste. Soweit er wusste, hatte sie sich aus London hierher versetzen lassen – allein das genügte, um misstrauisch zu werden.
Detective Sergeant Cupidi griff nach dem Becher im Getränkehalter und nahm einen großen Schluck von ihrem Kaffee. »Und du bist Streifenpolizist in Abschnitt drei?«
South nickte bedächtig. »Stimmt genau.«
»Gut.«
»Und dort gab es einen Mord? Hätte man mich nicht verständigen müssen?«
»Ich verständige dich doch gerade. Was ist die kürzeste Strecke?«
»Wohin genau? Der Abschnitt ist groß.«
»Entschuldige.« Sie fasste in ihre Jackett-Tasche, holte ein Notizbuch heraus, löste das Gummiverschlussband und blätterte bis zur letzten beschriebenen Seite. »Lighthouse Road, Dungeness«.
Er sah sie forschend an. »Bist du dir sicher?«
Sie wiederholte die Adresse.
Am besten, er stieg sofort aus und ging wieder aufs Revier, tat so, als wäre ihm nicht gut.
»Und dort ist es passiert?«
»Wieso, was ist dort?«, fragte sie.
»Soll das ein Scherz sein? Zum Einstand im neuen Job oder so?«
»Ich versteh nicht ganz …«
»Das ist meine Straße. Ich wohne da.«
Sie zuckte mit den Schultern. »Genau deshalb wollte dich der Detective Inspector vermutlich unbedingt dabeihaben.«
South überlegte. »Wer ist das Opfer?«
Sie setzte den Blinker und fädelte sich in den Verkehr ein, warf einen kurzen Blick auf das aufgeschlagene Notizbuch und versuchte, ihre Schrift zu entziffern. »Ich habe keinen Namen. Die Adresse lautet … ich kann das nicht richtig lesen. Arm Cottage?«
»Arum Cottage.«
»Dort ist es passiert.«
»Robert Rayner«, sagte South.
Sie runzelte die Stirn. »Gut möglich. Die Frau, die den Mord gemeldet hat, heißt Gill Rayner.«
»Bob Rayner ist tot?« William blinzelte. Sie hielten an einem Zebrastreifen, wo eine Burkaträgerin einen altmodischen schwarzen Kinderwagen wie in Zeitlupe über die Straße schob.
Cupidi drehte sich zu ihm um. »Du kanntest ihn? Das tut mir leid.«
»Ein Nachbar. Ein Freund.« South schaute aus dem Seitenfenster. »Arum Cottage ist keine hundert Meter von meinem Haus entfernt.«
»Okay«, sagte sie. »Beziehungsweise gar nicht okay – entschuldige bitte.«
»Daher sollte ich lieber nicht an den Ermittlungen beteiligt sein. Ich kannte den Toten.«
Cupidi verzog das Gesicht. »Mist!«, sagte sie. Endlich war die Frau mit dem Kinderwagen an ihnen vorbei. Cupidi fuhr über die Kreuzung und hielt mit eingeschalteter Warnblinkanlage auf den Zickzacklinien dahinter.
»Warte kurz«, sagte sie und zückte ihr Handy. »Detective Inspector McAdam? Es hat sich was ergeben.«
Er hörte die Stimme ihres Vorgesetzten. Wegen des Verkehrslärms bekam er aber nicht mit, wie McAdam reagierte.
Cupidi schwieg und sagte anschließend zu South: »Er will wissen, ob ihr eng befreundet wart.«
»Eng? Ich denke schon«, sagte South. »Wir haben uns oft getroffen.«
»Haben Sie das gehört, Sir?« Sie sah auf ihre Armbanduhr. »Soll ich ihn wieder zum Revier fahren?« Sie lauschte erneut und sagte mehrmals »verstehe«. Anschließend legte sie auf.
Nachdem sie ihr Handy verstaut hatte, machte sie das Blaulicht an und fädelte sich wieder in den Verkehr ein. Die Autos vor ihnen stoben in Panik davon, fuhren die Bürgersteige hoch und hielten dort, weil sie nicht wussten, wohin.
»Und?«, fragte South.
»Er hat gesagt, dass du mich begleiten darfst, aber nur für Rückfragen. Zumindest heute, bis wir uns einen Überblick verschafft haben. Tu nur, was ich dir sage, verstanden?«
Weil sie die Straßen nicht kannte, fuhr sie mit einer gewissen Vorsicht an die Kreuzungen und zahlreichen Verkehrskreisel heran. Erst in den Außenbezirken konnte sie das Tempo beschleunigen und die Küste ansteuern.
»Was ist passiert?«, fragte er, als sie auf der Landstraße waren.
»Das weiß ich noch nicht. Der Anruf einer verzweifelten Frau ist gerade erst vor einer Stunde eingegangen. Die Spurensicherung ist schon vor Ort.«
Da fiel es ihm wieder ein: Bob hatte erwähnt, dass seine Schwester zu Besuch kommen wollte. Die beiden hatten vereinbart, dass sie alle zwei Wochen bei ihm vorbeischaute.
»Meine Güte, tut mir echt leid. Kommst du zurecht? Ich meine, er war schließlich dein Freud und …«
»Ich sollte nicht daran beteiligt sein«, sagte er.
»Aber das bist du doch sowieso, oder?«
Die Hochhäuser zur Rechten wichen erst Sozialbauten und dann Doppelhaushälften, Bungalows und Wohnwagen, in denen sich ihr Blaulicht spiegelte. Je weiter sie fuhren, desto offener wurde die Landschaft.
Links von ihnen gaben ein paar Lücken zwischen den Wellenbrechern den Blick auf den Kiesstrand frei. Der Verkehr ließ nach, und Cupidi gab Gas. Sie überholte und blendete auf, um einen entgegenkommenden Wagen zu warnen.
»Und dir gefällt es hier?«, fragte sie.
»Ich hab so gut wie mein ganzes Leben hier verbracht.«
»Und dagegen ist auch gar nichts einzuwenden.«
»Aber?«
Sie konzentrierte sich auf die Straße. »Kein aber. Ich kann mir das bloß nicht wirklich vorstellen. Es ist einfach sehr … eintönig hier, oder?«
Sie fuhren durch Marschland. Der Wind hatte das Gras braun verfärbt.
»Warum bist du dann hergezogen?«
»Ach, ich brauchte einfach Tapetenwechsel«, sagte sie betont nebenbei.
»Langsam. Gleich müssen wir abbiegen.« Er rutschte auf dem Sitz hin und her. Irgendwas bohrte sich in seinen Hintern. »Links«, rief er.
Die schmale Straße war voller Schlaglöcher. An der Küste knirschte Kies unter ihren Reifen. Nichts als plattes Land oder stille See, wohin das Auge sah. Verwitterte Häuser mit kaputten Fenstern und Satellitenschüsseln, die Rostspuren am Putz hinterließen. Eine riesengroße purpurgelbe UKIP-Flagge, die im Wind flatterte.
»Im Winter muss es hier ziemlich unwirtlich sein«, sagte sie.
»Es ist das ganze Jahr über unwirtlich.«
Sie befanden sich auf einer breiten Landzunge, die sich vom Marschland nach Süden erstreckte und von allen Seiten dem Wind ausgeliefert war.
Als sie ihre Spitze ansteuerten, fielen South mehrere Personen am Strand auf, die um ein Lagerfeuer saßen.
»Bitte fahr langsam«, sagte er zu DS Cupidi.
»Warum?«
South schaute aus dem Seitenfenster. Sie hatten die tief stehende Sonne im Rücken und waren zu weit entfernt, um Gesichter erkennen zu können. Er hatte nicht das Gefühl, dass er die Leute kannte. Feuer auf Kies waren nicht ungefährlich. Manchmal explodierten Steine durch die Hitze und verletzten Betrunkene.
»Penner?«, fragte sie.
»Sie kommen hierher, brechen in die alten Fischerhütten ein und verbrennen das Holz. Es sind allerdings schon länger keine mehr hier gewesen.«
Die Obdachlosen drängten sich ums Feuer und versuchten, sich an der erlöschenden Glut zu wärmen.
»Ich kann jetzt nicht anhalten«, sagte Cupidi. South zog ein Notizbuch aus der Westentasche, kritzelte »3 Männer, 2 Frauen?« hinein, legte das Gummiband darum und verstaute es wieder in seiner Tasche.
Sie näherten sich dem Ende der Landzunge. Auf einmal machte die Straße einen scharfen Knick nach rechts und führte wieder vom Meer weg.
»Und jetzt nach links«, sagte South, und sie bog erneut ab.
»Meine Güte, ist das rau hier.«
»Genau so mögen wir es.«
Von der Hauptstraße ging ein Weg ab. DS Cupidi betrachtete die großen Gebäude vor ihnen. »Was ist denn das?«
»Atomkraftwerk«, sagte South.
»Wow. Ich wusste gar nicht, dass das hier ist.«
Hinter dem alten schwarzen Leuchtturm ragten die Metall- und Betonblöcke um die beiden Reaktoren unnatürlich wuchtig aus der flachen Landschaft empor. Diese Kolosse waren von mehreren riesigen Stacheldrahtzäunen umgeben. Je näher Cupidi und South kamen, desto größer schienen sie zu werden. Ihre Anwesenheit machte die Gegend noch marsähnlicher. Nördlich davon marschierten reihenweise Strommasten landeinwärts über den breiten Kiesstrand.
»Hast du keine Angst, dass es eines Tages in die Luft fliegt?«
Er lebte hier, seit er dreizehn war. Auf einer seltsamen, fünf Kilometer langen Kieslandzunge, geschaffen von der Gegenströmung des Ärmelkanals.
Die einspurige Straße führte zu Bob Rayners Haus und zu den Coastguard Cottages. Vor dem sich drohend am Horizont abzeichnenden Atomkraftwerk standen ein paar kleine verstreute Fischerhütten, so als hätte sie jemand aus Versehen von einem Transporter fallen lassen. Seit ein paar Jahren hatten sie das Interesse von Millionären geweckt: Manche waren zu Luxusanwesen mit großen Glastüren und glänzenden Abzugsrohren umgebaut worden. Andere wirkten nach wie vor wie aus Sperrmüll zusammengezimmert.
»Und darin leben Leute?«, fragte DS Cupidi.
»Warum nicht?«
South zeigte auf eine Häuserzeile, eine merkwürdig konventionelle Reihenhaussiedlung, die ein Stück von den Reaktoren entfernt lag. »Mein Haus ist da drüben.«
Das Auto bremste. Ein Hund lag auf der Straße. Alex Cupidi hupte ihn an. Gemächlich erhob sich das Tier und trottete in die dichte minzgrüne Vegetation.
Als sie über die von Schlaglöchern übersäte Straße fuhren, spürte William South, wie etwas vibrierte. Sein Handy? Aber als er es aus der Tasche zog, war das Display schwarz, und niemand hatte angerufen oder ihm eine SMS geschickt. Er verstaute es gerade wieder, als DS Cupidi sagte: »Hier muss es sein.«
Er hob den Kopf und sah Bob Rayners Bungalow. Ein kleines Holzhaus mit zwei kleinen Giebeln zur Straße raus, die ein M bildeten. Mehrere Kamine, die aus einem Ziegeldach ragten. Das Holz war erst vor kurzem rot gebeizt worden, doch die Farbe blätterte schon wieder ab. Das Haus stand ganz allein auf dem Kies, Algen und dünnes Gras versuchten, in seiner unmittelbaren Umgebung Fuß zu fassen. Wie die meisten Hütten hier war es vor fast hundert Jahren gebaut worden, als Ferienhaus für arme Leute – lange bevor es das Atomkraftwerk gegeben hatte.
Heute standen Polizeiautos und Transporter vor dem kleinen Gebäude. Ein halbes Dutzend verstopfte die schmale Zufahrt.
»Mist«, sagte er leise.
Bob, sein Freund.
»Alles okay?« Cupidi musterte ihn eindringlich und zog die Handbremse an.
Mit einem mulmigen Gefühl schaute er aufs Meer hinaus und mied ihren Blick. Eine Erinnerung brach sich Bahn: Polizeiautos vor dem Haus …
*
Er war dreizehn Jahre alt und zu spät zum Abendessen, so schnell er konnte, rannte er den Hügel hoch. Er hätte schon vor einer halben Stunde zu Hause sein müssen. Normalerweise machte sich seine Mum keine Sorgen, aber nach allem, was passiert war, flippte sie bestimmt aus vor Angst.
Und das war alles nur Miss McCrocodiles Schuld. Sie hatte ihn im Spar rumlungern sehen und sich sofort auf ihn gestürzt. »Billy McGowan, du armer kleiner Junge. Wer das getan hat, wird dem Zorn Gottes nicht entrinnen. Denn Gott wird alle Werke vor Gericht bringen, alles, was verborgen ist, es sei gut oder böse.«
Sie hatte ihm sogar eine Tüte Chips geschenkt.
Jetzt rannte er an der brummenden Hochspannungsanlage vorbei, am Spielplatz mit dem Klettergerüst, das erst vor kurzem rot-weiß-blau angestrichen worden war (und zwar nicht von der Gemeinde!) und an den gelangweilten Checkpoint-Soldaten, deren Gewehre auf den Asphalt zeigten, um endlich die Siedlung zu erreichen. RAUS MIT DEM PAPST, erst neulich wieder aufgefrischt. Und der schwarze Kreis auf der Wiese, wo der Feuerturm gestanden hatte.
Das Haus der McGowans lag auf dem Hügelkamm – dort, wo die Stadt endete und die Felder begannen.
Kaum war er in die Sackgasse eingebogen, blieb er abrupt stehen und keuchte.
Zwei Polizeiautos standen vor seinem Haus. Ein großer neuer Ford Granada Mk II mit dem orangen Streifen auf der Seite und ein alter Cortina, der schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Sie waren wieder da. Er versteckte sich hinter dem Imbisswagen.
Langsam kam er wieder zu Atem, doch er blieb, wo er war, spähte hinter dem Wagen hervor und wartete darauf, dass die Polizei wieder wegfuhr.
Obwohl es Sommer war, begann er zu frösteln. Er kniff die Augen zusammen und wünschte sich, er wäre tot.
Am besten, er brachte sich noch an Ort und Stelle um. Bestimmt wussten sie Bescheid. Er steckte in Riesenschwierigkeiten.
Die Schachteln mit den blauen Füßlingen und Latexhandschuhen standen neben Bobs glänzend weißem Fiberglasboot. Es war ein gutes Boot, ein Orkney Longliner, leicht genug, um es ins Wasser schieben zu können. South hatte Bob beim Kauf beraten und ihm gezeigt, wie man es benutzte. Er grub die Fingernägel in den Handballen.
Cupidi schien auch nicht gerade scharf darauf zu sein, aus dem Wagen zu steigen. Sie kaute auf ihrer Wange. »Na gut«, sagte sie schließlich. »Legen wir los.« Aber anstatt den Türgriff zu packen, schnappte sie sich eine Schachtel Zigaretten.
»Hattest du schon häufiger mit so was zu tun?«, fragte South.
»Kann man wohl sagen«, erwiderte Cupidi. »Das war mein Job in London. Und du?«
»Eigentlich nicht. Ehrlich gesagt nein. Nicht so.«
»Echt?«
South öffnete als Erster die Wagentür, und dabei fiel etwas auf den Asphalt. Wie er jetzt feststellte, hatte er während der gesamten Fahrt auf einem Handy gesessen. Er musste es beim Einsteigen übersehen haben. Es war pink und mit Nagellack-Herzchen und Glitzerstickern verziert. Das hatte also vibriert. Er bückte sich danach und hielt es DS Cupidi hin, die neben dem Wagen stand und versuchte, sich eine Zigarette anzuzünden.
»Meine Güte«, sagte sie.
»Gehört das dir?«
»Meiner Tochter. Sie muss es vergessen haben.« Cupidis Lid zuckte.
»In diesem Wagen?«
Cupidi wandte den Blick ab. »Ich weiß, was du jetzt denkst«, sagte sie. »Private Nutzung eines Polizeifahrzeugs. Das war ein Notfall. Ich hab gestern lange gearbeitet und den Wagen anschließend mit heimgenommen. Heute Morgen waren wir spät dran, so dass ich keine Zeit mehr hatte, mein eigenes Auto zu holen. Sie wär sonst zu spät in die Schule gekommen. Es ist ihre erste Woche hier: in einer neuen Stadt, in einer neuen Schule. Das war die totale Ausnahme, ehrlich.«
»Ich sag ja gar nichts.« South hob ergeben die Hände.
»Meiner Meinung nach hat sie es absichtlich liegen lassen.«
»Warum sollte sie?«, fragte South.
»Du hast keine Kinder, oder, William?«
»Nein.« Kopfschüttelnd gab er ihr das Handy.
Sie verstaute es in ihrer Handtasche. »Gut«, sagte sie. »Gehen wir.«
Ein Constable, den South kannte, sicherte den Tatort. Er stand vor dem blauen Absperrband und rieb sich fröstelnd die behandschuhten Hände. Einige Strandfischer hatten sich zu ihm gesellt, die Angelruten noch in der Hand. Einer von ihnen hatte einen durchnässten Terrier dabei, der vor seinen Füßen herumwuselte. Die Leute wollten einfach wissen, was passiert war, und das konnte man ihnen schlecht vorwerfen. Die Männer machten ein betroffenes Gesicht und versuchten, durch die offene Tür ins Haus zu spähen.
»Soll ich draußen warten?«, fragte South.
»Warst du schon mal in Mr Rayners Haus? Kennst du dich dort aus?«, wollte Cupidi wissen.
South nickte. Er war oft hier gewesen.
»Würdest du mich dann bitte begleiten?« Sie trat ihre halbgerauchte Zigarette aus. »Ich möchte, dass du dich dort genau umschaust.«
Durch die Fenster sah South die Silhouetten der Männer, die im Haus des Toten ihrer Arbeit nachgingen.
»Hi, Bill!«, rief der Polizist vor dem Absperrband.
»Hi, Jigger. Warst du schon drin?«, fragte South. Der Constable hieß eigentlich James mit Vornamen, doch niemand nannte ihn so.
Er nickte. »Ich war als Erster am Tatort. Ich bin schon seit heute Morgen da und warte auf euch.«
»Und, wie sieht’s aus?«
Der Constable schüttelte den Kopf. »Verdammt gruselig. Aber überzeug dich selbst.«
»Und es ist wirklich Bob Rayner? Irrtum ausgeschlossen?«
»Ja. Das hat uns die Anruferin bestätigt.«
»War sie noch da, als Sie gekommen sind?«, fragte Cupidi.
»Ja. Sie ist jetzt in Ashford. Um eine DNA-Probe abzugeben und so.«
Bestimmt würde man ihre Spuren mit anderen im Haus vergleichen. »Aber mit ihr war alles in Ordnung?«, fragte South.
Jigger atmete hörbar aus. »Das wohl kaum. Als wir ihn in der Truhe gefunden haben, ist sie kreischend aus dem Haus gerannt.«
»In der Truhe?«
»Dort war seine Leiche versteckt. Bevor ich die Ärmste einholen konnte, war sie schon fast am Strand. Sie hat gewimmert wie ein Tier.«
Cupidi kaute auf ihrer Unterlippe. »Welche Tatwaffe wurde verwendet?«
»Ein stumpfer Gegenstand, heißt es.«
»Haben Sie irgendeine Ahnung, warum?«, fragte sie.
»Mich dürfen Sie das nicht fragen.«
»Ich frag Sie aber«, sagte Cupidi. »Sie waren schließlich als Erster am Tatort.«
Der Constable reagierte gereizt. »Ein harmloser Einbruch dürfte es kaum gewesen sein.«
Cupidi nickte und zog den Reißverschluss eines weißen Schutzanzugs zu. »Das ist jetzt Mode. Zieh auch einen an, William.«
»Er hat mir erzählt, dass seine Schwester zu Besuch kommt.«
»Du kanntest das arme Schwein?«, sagte der Constable. »O je, mein Beileid, Kumpel.«
South nickte. Nachdem er einen Schutzanzug, Handschuhe und Füßlinge angezogen hatte, folgte er Cupidi zur Tür. »Warum nennt der dich Bill?«, fragte sie.
»Er hat mich nie gefragt, was mir lieber ist.«
Lachmöwen stürzten herab und kreisten in der Luft. Büsche zitterten im Wind. Und Polizeifunk hallte ins Leere.
»Alles okay, William?« Diesmal sprach sie so leise, dass es niemand sonst hören konnte.
Das war seine letzte Chance, sich zu drücken. Er konnte mildernde Umstände anführen und sich ins Auto setzen, die anderen allein ermitteln lassen.
Aber die Haustür stand sperrangelweit offen. Cupidi ging hinein. South holte tief Luft und folgte ihr.
In dem kleinen Haus war nichts mehr an Ort und Stelle. Bücher waren aus den Regalen gerissen, Schubladen auf den Boden geworfen und Schränke ausgeräumt worden.
Wie die meisten Häuser hier war es kaum mehr als ein Strandhaus: Wohnzimmer, Küche, Bad und zwei Schlafzimmer. Die Kriminaltechnik war überall, aber sein Blick fiel auf den Fotografen, der sich über eine Truhe unterm Wohnzimmerfenster beugte. Blitzlicht erhellte den Raum. Weitere Männer knieten vor den Wänden und untersuchten sie, vermutlich auf Blutspuren. Ein anderer besprühte den Boden sorgfältig mit einer Chemikalie, die Blut sichtbar machte.
South machte einen Schritt nach vorn. Etwas knackte unter seinen Füßen. Erschreckt schaute er hin. Nur eine trockene Nudel: Vorratsgläser waren in der Küche ausgeschüttet worden.
Cupidi stellte sich dem Beamten der Kriminaltechnik vor, der neben der offenen Truhe stand. »Sie sind neu hier, stimmt’s?«, sagte der Mann.
»Das ist meine erste Woche. Ich bin am Samstag hergezogen«, erwiderte Cupidi.
»Na dann herzlich willkommen.« Er machte eine weit ausholende Geste.
»Tausend Dank.«
South sah, wie sie zur offenen Truhe ging und angesichts ihres Inhalts kurz zurückzuckte. Der Kriminaltechniker hatte seine Arbeit unterbrochen und musterte sie forschend, als wollte er kontrollieren, ob sie diesem Job überhaupt gewachsen war.
Sie betrachtete den Toten eine Weile und rief dann: »Erkennst du ihn wieder, William?«
South zögerte.
»Das ist schon okay. Seine Schwester hat ihn bereits identifiziert«, sagte der Kriminaltechniker. »Er heißt Robert Rayner.«
»Würdest du trotzdem herkommen und einen Blick auf ihn werfen?«, bat Cupidi leise und hob den Kopf. South war oft in diesem Zimmer gewesen und hielt sich für einen genauen Beobachter. Aber diese Truhe war ihm noch nie aufgefallen. Sie musste in dem kleinen Erker als Sitzbank gedient haben. Bestimmt hatte ein Kissen darauf gelegen oder ein Teppich. Er versuchte, sich zu erinnern.
Bob Rayner war ein netter Kerl gewesen, ein guter Mensch, der zwar nicht kochen konnte, aber Wert auf gute Kleidung legte. Er hatte Radtouren gegen Krebs organisiert und ehrenamtlich bei der Wasserwacht gearbeitet. Erst letzten Sommer hatte er eine junge Touristin vor dem Ertrinken gerettet, es aber nicht weiter erwähnenswert gefunden, und hatte auf keinen Fall für die Zeitung fotografiert werden wollen. Er gehörte nicht zu den Reichen, die die Landzunge besiedelten und angesagte Architekten mit dem Umbau der Fischerhütten beauftragten, um sie dann nur wenige Wochen im Jahr zu nutzen und die schmalen Straßen mit dicken Autos zu blockieren. Er war gekommen, um zu bleiben. Und das war wirklich nicht jedermanns Sache: Von den Wochenenden einmal abgesehen, ging es hier äußerst ruhig zu. Die meisten, die ständig auf der Landzunge lebten, waren Eigenbrötler wie South, die die Abgeschiedenheit liebten.
Langsam ging South auf die Truhe zu.
»Das ist doch nicht deine erste Leiche, oder?«, fragte Cupidi.
Als Erstes sah er Bobs Kopf. Der verwirrte ihn zunächst, so dass er schon an einen Irrtum glaubte. Er erinnerte nämlich kaum noch an Bob. Die Proportionen stimmten nicht. Er war viel zu groß.
Er brauchte eine Weile, bis er begriff, dass der Kopf auf das Anderthalbfache seiner Größe angeschwollen war. Dunkles verkrustetes Blut füllte die Augenhöhlen und bedeckte sie. Jeder Millimeter Haut war rot, schwarz, blau oder gelb. Ein Ohr schien zu fehlen, an seiner Stelle befand sich nichts als Schorf, Knorpel und geronnenes Blut.
South trat näher. Der nackte Körper schillerte in allen Regenbogenfarben, war von der Taille aufwärts ein einziger Bluterguss. Es war, als trüge er einen Anzug in Orange, Rot, Violett, Schwarz, Braun und Gelb. Sein Schritt war schwarz.
Wer auch immer ihn ermordet hatte, hatte unablässig auf ihn eingeschlagen, mit enormer Brutalität. Er war nur noch ein einziger Fleischklumpen. Sein gesamter Körper wies Gewaltspuren auf.
Das Ganze war vollkommen absurd. So ein friedliebender, sanftmütiger, gelassener Mann. Und jetzt dieses Etwas hier, das keinerlei Ähnlichkeit mehr mit Bob aufwies und vermessen, fotografiert und mit Pinzetten untersucht wurde.
»Was war das für eine Waffe?«, fragte Cupidi.
»Das wissen wir noch nicht. Aber auf jeden Fall ein ziemlich schwerer Gegenstand.
»Am Tatortist nichts gefunden worden?«
»Nein.«
Auf dem Holz der Truhe befand sich kein Blut. Man hatte ihn also dort reingesteckt, als er schon tot war. Entsetzt musterte South seinen Freund. Armer Bob. Armer, armer Bob.
»Mein Beileid«, sagte Cupidi.
»Wie bitte?«
Obwohl er den Toten nach wie vor anstarrte, spürte er Cupidis forschenden Blick. »Das muss doch ein Schock für dich sein. Bestimmt bist du völlig aufgewühlt. Möchtest du kurz allein sein?«
Warum störte ihn dieses Mitgefühl in diesem Moment so? Vermutlich weil es nicht echt war. In Wahrheit war sie bestimmt überglücklich: Wenn er den Toten gekannt hatte, war er ihr erst recht von Nutzen. Andererseits konnte sie nichts dafür. Sie machte einfach nur ihren Job und war froh über alles, was sie kriegen konnte. Er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, alles in Ordnung.«
Er wich zurück, konnte aber immer noch eine Hand erkennen. Die andere befand sich unter dem Körper. Die Finger der sichtbaren Hand waren gebrochen und seltsam gekrümmt, so als hätte er versucht, die Schläge abzuwehren.
»Wiederholte Schläge«, sagte der Mann von der Kriminaltechnik, als könnte er Gedanken lesen.
»Was glauben Sie, wie viele das waren?«, fragte South.
»Das ist zwar nicht gerade mein Fachgebiet, aber bestimmt mehrere Hundert.«
»Entweder, da war jemand richtig sauer auf ihn«, sagte Cupidi, »oder wir haben es mit einem Geisteskranken zu tun. Vielleicht sowohl als auch.«
»Solch raffinierte Schlussfolgerungen bringt man euch also in London bei?«, fragte der Forensiker.
»William, was meinst du? Hat er irgendjemanden gegen sich aufgebracht?«
»Genau das ist es ja gerade. Er war einfach nicht der Typ, der sich mit anderen anlegt. Einen liebenswürdigeren Menschen kann man sich kaum vorstellen. Er war eher still und unscheinbar« sagte South. »Einfach nur ein netter Kerl.«
»Was war sein Beruf?«, fragte Cupidi.
South war auf einmal völlig erschöpft. Er wollte sich setzen, aber an einem Tatort wie diesem war das unmöglich. Er versuchte, sich an das zu erinnern, was er wusste. »Er war pensioniert. Ein ehemaliger Lehrer«, sagte er.
»Welche Fächer?«
»Äh, Englisch, glaub ich. Tut mir leid, aber so genau weiß ich das nicht mehr.«
»Verheiratet?«
South schüttelte den Kopf. »Alleinstehend« sagte er und merkte, dass er sich nicht daran erinnern konnte, Bob je danach gefragt zu haben. Aber alles andere war schwer vorstellbar. War er geschieden? Getrennt lebend? Er hatte keine Ahnung.
»Hatte er eine Geliebte?«
»Schau dich um«, sagte South. »Nirgendwo Fotos. Er hatte niemanden, nur seine Schwester. Kinder gibt es auch keine.«
Cupidi sah sich gründlich im Zimmer um und inspizierte dabei auch genauestens das Chaos auf dem Fußboden. Die meisten Leute haben irgendwo Familienfotos, ein kleines goldgerahmtes Bild auf dem Kaminsims oder der Kommode. Rayner besaß nichts dergleichen.
»Wahrscheinlich bin ich immer davon ausgegangen, dass er schwul ist«, sagte South. »Einer vom alten Schlag, der nicht darüber redet. Oder asexuell. Ich dachte, das liegt am Alter. Dass man nicht zu privat wird. Er war einige Jahre älter als ich. Ich habe hier nie jemanden gesehen. Er hat auch nie von jemandem erzählt.«
»War das nicht seltsam?«
South schüttelte den Kopf.
»Ich fände das seltsam«, sagte Cupidi. »Hast du nie nachgefragt?«
»Nein.«
»Männer sind mir wirklich ein Rätsel!« Sie seufzte.
»Genau das hab ich vermutlich so an ihm gemocht.«
Nicht, dass sie in all den Jahren ihrer Bekanntschaft nicht geredet hätten. Aber Rayner hatte ihn nie ermutigt, Fragen zu seinem Privatleben zu stellen. Und hatte ihn auch nie ausgefragt. Etwas, das ganz nach seinem Geschmack war. Sie hatten über das geredet, was gerade so anstand: übers Wetter, über den Zustand der Hütten und Häuser, darüber, wie sehr sich der Kies am Bach gestaut hatte, wie man den Kraftstofffilter eines Dieselmotors wechselt, und natürlich über Vögel. Bob Rayner war sehr wissbegierig gewesen.
»Irgendwelche Einbruchspuren?«, fragte Cupidi den Kriminaltechniker.
»Noch nicht. Soweit ich weiß, stand die Tür offen, als die Frau hier ankam.
Jemand, den Bob Rayner kannte? Vielleicht jemand, den sie beide kannten?
»Schau dich gründlich um, William«, sagte Cupidi. »Fällt dir in diesem Zimmer irgendwas Ungewöhnliches auf? Fehlt irgendwas?«
Er hatte nie groß auf Bobs Einrichtung geachtet. Warum auch? Das Haus war zwar von außen ungewöhnlich, aber von innen stinknormal. Es gab Hunderte von Büchern, hauptsächlich Romane: Dickens, Austen, ein paar Booker-Prize-Gewinner. Ein paar Naturbücher. Und ein paar Kunstbände über Maler wie Picasso und Chagall, wie man sie in jedem gutbürgerlichen Haushalt findet. An den Wänden ein Ölgemälde von Enten und eine gerahmte Landkarte von South Kent aus dem 19. Jahrhundert.
Ihm fiel auf, dass die Tür des Barschränkchens offenstand. »Er hatte immer Single Malt im Haus. Es ist keiner mehr da.«
»Gut.« Sie machte sich eine entsprechende Notiz. »Lass dir Zeit. Was ist mit Wertsachen? Weißt du, wo er sie aufbewahrt hat?«
South starrte auf den Boden. Viele von Bobs Büchern waren ruiniert, sie waren aufgefallen und hatten Eselsohren. Bob hätte das gehasst, er war ein sehr ordentlicher Mensch gewesen.
South musste sich dringend konzentrieren, aber leicht war das nicht. Er brauchte ein, zwei Sekunden und warf einen Blick in den Flur. Dabei fiel ihm auf, dass der Haken neben der Tür leer war. Er suchte den Boden davor ab. »Ich glaube, sein Fernglas fehlt.«
»Sein Fernglas?« Sie nickte und machte sich eine weitere Notiz. »Sonst noch was?«
South schüttelte den Kopf. »Was ist mit dem Schlafzimmer?«
Der Bungalow war lange vor den beiden riesigen Atomreaktoren gebaut worden, die jetzt den Blick nach Westen verdunkelten. Der erste stammte aus den Sechzigern, der zweite war zwanzig Jahre später errichtet worden. Vom großen Schlafzimmer hatte man einst eine fantastische Aussicht gehabt, da es auf den endlosen Kiesstrand hinausging. Doch Bob hatte stets im kleineren Schlafzimmer geschlafen, von dem aus das Atomkraftwerk nicht sichtbar war. Das größere mit Blick auf die Reaktoren hatte als Gästezimmer und Büro gedient.
Die Türen des Kleiderschranks standen offen, die Schubladen waren zur Hälfte herausgezogen. Unterlagen waren auf dem Bett verteilt und Socken auf dem Boden.
»Vielleicht hat er beim Nachhausekommen einen Einbrecher überrascht«, sagte South.
Sie sahen sich im zweiten Schlafzimmer um. Auch hier waren die Schubladen eines Aktenschranks hervorgezogen. Ein Kriminaltechniker untersuchte die Griffe auf Fingerabdrücke.
»Oder jemand möchte, dass es wie ein Einbruch aussieht. Wir werden noch mal zurückkommen, wenn die Spurensicherung hier fertig ist. Dann schauen wir uns alles ganz genau an.«
»Wir?«
»Mach dir keine Sorgen, ich kümmer mich um Ersatz.«
»Das kannst du gern versuchen«, sagte er. »Aber es wird keinen Ersatz geben. Ich weiß nicht, wie das in London ist, aber wir haben kaum genug Personal für einen normalen Wochentag, geschweige denn fürs Wochenende.«
»Für mich ist das Timing auch alles andere als ideal. Eigentlich hatte ich gehofft, mich erst ein bisschen einarbeiten zu können, bevor ich es mit einem solchen Fall zu tun bekomme.« Sie seufzte. »Aber wer weiß? Vielleicht haben wir ja Glück, und das Meiste ist schon in wenigen Tagen geklärt. Ich geh mal kurz raus, eine rauchen. Wenn du hier fertig bist, sagst du mir, ob noch irgendwas fehlt.«
Er sah dem Kriminaltechniker eine Weile zu. Es war eine gewissenhafte Arbeit, noch aus dem winzigsten Fleck einen Beweis zu schmieden. Dementsprechend methodisch wurde jetzt das ganze Haus abgesucht. Es würde also noch dauern, bis Detective Inspector McAdam und sein Team Bobs Habseligkeiten durchgehen konnten, um zu gucken, was entwendet worden war.
Draußen durchwühlte ein Mann in weißem Schutzanzug die grüne Mülltonne. Er trug einen Mundschutz. Sorgfältig entnahm er ihren Inhalt und verstaute ihn in transparenten Beweisbeuteln.
Cupidi hatte die Ellbogen auf die Motorhaube des Polizeifahrzeugs gestützt und telefonierte. »In einer halben Stunde«, sagte sie. »Kann der Detective Inspector bis dahin hier sein?«
Als South sich näherte, beendete sie das Telefonat, nahm eine Schachtel Zigaretten aus ihrer Umhängetasche und bot ihm eine an. Der schüttelte nur den Kopf und fixierte etwas hinter ihr am Himmel. Er zückte sein Notizbuch und schrieb »Jg. Raubmöwe/Skua?« sowie die genaue Uhrzeit.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, fragte sie.
»Ich mach bloß ein paar Beobachtungen«, sagte er. Der Vogel ging auf eine Silbermöwe los, direkt an der Küstenlinie, und versuchte, ihr die Beute abzujagen. Wie immer nahm sich South vor, Bob davon zu erzählen – bis ihn die Erkenntnis traf wie ein Schock: Bob war tot. Er hätte sich so gefreut, diesen Vogel zu sehen.
»Ich hab schon gemerkt, dass du dir gern Notizen machst. Das gefällt mir.« Sie nickte anerkennend. »Und? Was kannst du mir noch über Mr Rayner erzählen?«
South verstaute sein Notizbuch wieder in der Westentasche. »Er ist vor etwa vier Jahren hergezogen und hat das Cottage auf Anhieb gekauft. Erst hatte ich nicht viel mit ihm zu tun, denn hier bleibt man eher für sich. Aber er hat sich für Vögel interessiert oder wollte was über sie lernen, jedenfalls habe ich ihn im Naturschutzgebiet gesehen. Lauter ehemalige Kiesgruben. Er war jeden Tag dort. Er hatte nicht viel Ahnung, zumindest nicht am Anfang, aber dafür eine komplette Ausrüstung. Ein Fernglas für achtzehnhundert Pfund. So sind wir ins Gespräch gekommen.«
»Du bist Vogelbeobachter?«
»Eher so was wie ein Hobbyornithologe, kein Vogelbeobachter.«
Cupidi verzog das Gesicht. »Und was ist da der Unterschied?«
South schüttelte nur den Kopf. »Egal, ist nicht so wichtig.«
»Ist das normal? Achtzehnhundert Pfund für ein Fernglas?«
»Heutzutage durchaus. Aber er hatte sichtlich wenig Erfahrung mit der Beobachtung von Vögeln, als er herkam. Manche Leute sind so, sie träumen ihr ganzes Berufsleben davon, haben aber nie Zeit dafür.«
Das Absperrband knatterte im Wind.
»Hat er erwähnt, dass ihn irgendwas bedrückt?«
South schüttelte den Kopf. »Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr wird mir bewusst, dass ich ihn eigentlich kaum kannte. Im Grunde genommen so gut wie gar nicht. Ich weiß nur, dass er mal Lehrer war und eine Schwester hatte, das ist alles. Dabei haben wir uns fast täglich gesehen. Ich zieh gern in der Abenddämmerung los. Das ist ein guter Zeitpunkt. Zu dieser Jahreszeit beginnt die direkt nach Dienstschluss. Ich hab ihn in der Regel drei, vier Mal die Woche besucht, und dann sind wir gemeinsam losgezogen. Aber wir haben nie sehr viel geredet, bloß über Vögel.«
»Vögel?«
»Ja, auch wenn du das komisch findest.«
»Sarge!«, rief der Kriminaltechniker neben der Mülltonne. »Gucken Sie mal.«
Cupidi ging zu ihm, gefolgt von South. Der Mann im weißen Schutzanzug hielt eine blauweiße Einkaufstüte auf, damit Cupidi hineinsehen konnte.
»Verbandsmaterial?«, fragte sie.
»Ungefähr zwanzig Packungen, alle ungeöffnet.« Der Mann griff in die Tüte und holte eine der kleinen Schachteln heraus. »›Saugstark, für leicht nässende oder blutende Wunden‹«, las er laut vor.
»Hatte dein Freund irgendeine Krankheit, die Verbandsmaterial erfordert hätte?«, fragte Cupidi.
»Nein, nicht, dass ich wüsste«, sagte South.
»Der arme Kerl da drin hätte es bestimmt gut gebrauchen können.« Der Mann nahm eine der Packungen zwischen Zeigefinger und Daumen. »Glauben Sie, der Mörder hat die mitgebracht?«
South spähte in die Tüte. »Gibt es eine Quittung?«
»Das wäre allerdings wirklich schräg, oder?«, sagte der Kriminaltechniker, während er in der Tüte wühlte. »Verbandsmaterial zu einem geplanten Mord mitnehmen. Nein, keine Quittung.«
Das Handy in Cupidis Handtasche klingelte. »Nur eine Minute«, sagte sie und zog die Tasche zu sich ran, um darin herumzuwühlen. Sie fand ihr Telefon, bevor das Klingeln aufhörte. »Ich kann jetzt nicht reden. Ich bin im Dienst«, sagte sie. Und dann: »O.«
South sah, wie sie die Augen aufriss.
»Was hat sie denn angestellt? … Sind Sie sicher? … Verstehe. Es passt nur gerade nicht so gut.«
Sie entfernte sich und dämpfte ihre Stimme, damit man sie nicht mehr hören konnte.
South schloss die Augen und versuchte, sich daran zu erinnern, wann er seinen Freund zum letzten Mal gesehen hatte. Er war nach der Arbeit joggen gewesen, er lief abends gern ein paar Kilometer. Es war schon dunkel gewesen. Doch es fiel ihm schwer, sich zu vergegenwärtigen, wie Bob ihm gewinkt und welchen Eindruck er dabei gemacht hatte.
*
»Was zum Teufel machst du da, Billy?«
Als er die Augen wieder öffnete, stand Sergeant Ferguson neben dem Imbisswagen, in Uniform und mit Schirmmütze.
»Ich bin bloß auf dem Heimweg.«
»Ach ja?« Ferguson lächelte. »Na, dann komm, mein Junge. Ich hab schon überall nach dir gesucht.«
Ferguson legte Billy die Hand auf die Schulter und schob ihn auf sein Haus am Ende der Sackgasse zu. Der Sergeant war ein dünner Mann, der in seiner Uniform regelrecht zu ertrinken schien. Aber es gab unangenehmere Kandidaten.
Warum musste sich seine Mutter eigentlich immer anziehen wie ein Teenager? Mann, war das peinlich! Sie stand im Flur und telefonierte.
»Gott sei Dank, da ist er ja endlich.« Sie legte auf. »Billy, wo hast du bloß gesteckt? Ich bin fast umgekommen vor Sorge. Abendessenszeit ist längst vorbei.«
»Miss McCorquadale wollte mit mir reden«, sagte er.
Seine Mutter runzelte die Stirn. »Aha. Und worüber?«
»Sie hat gesagt, dass sie für mich betet. Und dass ich immer zu ihr kommen kann.«
»Diese bigotte Wichtigtuerin«, schimpfte seine Mutter. »Sag ihr, sie soll sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern.«
Hinter ihr spähte der Inspector der Royal Ulster Constabulary aus dem Wohnzimmer. Der rotgesichtige, nach Bier stinkende Hüne war schon zwei Mal da gewesen.
Seine Mutter zog ihn an sich, obwohl die Bullen zusahen. Billy spürte ihre Brüste in seinem Gesicht. »Lass mich!« Er zappelte.
»Hallo, Billy.« Der Inspector rang sich ein schiefes Grinsen ab, als Billy sich losriss und an ihm vorbei ins Wohnzimmer schoss. Seine Mutter folgte ihm.
Seit sie den Teppich entfernt hatten, sah das kleine Zimmer noch kahler aus. Aber das hatte sein müssen, wegen dem vielen Blut. Auch Dads Lieblingssessel fehlte.
Der Inspector hielt einen Stift in der einen und ein blaues Notizbuch in der anderen Hand. »Was sagten Sie gleich wieder, Mrs McGowan?«, fragte er betont leutselig.
»Ich wüsste nicht, dass ich etwas gesagt hätte.«
»Ich habe Sie um die Namen der Komplizen Ihres Mannes gebeten.«
»Notieren Sie doch einfach, was Sie wollen«, erwiderte Billys Mutter. »Sie wissen ganz genau, dass ich kein Wort sagen werde.«
»Leider ja«, sagte er bedauernd. »Aber Ihnen muss auch klar sein, dass nach so einem Vorfall alle möglichen Gerüchte die Runde machen werden. Und das kann heutzutage tödliche Folgen haben. Je eher wir herausfinden, wer …«
»Ich habe ein Kind«, sagte sie. »Es hat jetzt nur noch mich. Sie wissen, dass ich nicht das Geringste verraten darf.«
»Ja«, pflichtete ihr der Inspector frustriert bei.
»Mein Mann war ein verdammter Idiot«, fuhr Billys Mutter fort. »Immer schon. Musste er sich da mit reinziehen lassen? Und das hat er jetzt davon.«
Der Inspector war entsetzt, doch Sergeant Ferguson kannte das schon.
Sie trug nicht mal Schwarz, wie es sich gehörte. Neulich waren ein paar andere Mütter da gewesen, die flüsternd den Kopf geschüttelt hatten, aber eigentlich taten sie das immer. Sie trug nach wie vor Miniröcke und Plateaustiefel, was Billy bestenfalls peinlich war. Heute hatte sie diesen gelben Pulli an, der die BH-Träger hervorblitzen ließ. Musste das denn sein?
Ferguson legte seine Schirmmütze auf einen Stuhl und sagte: »Während du mit dem Inspector redest, könnte ich doch oben ein paar Takte mit Billy plaudern?«
»Ich weiß nicht recht«, sagte seine Mutter.
»Du kennst mich, Mary. Wir verstehen uns prächtig. Vertrau mir«, drängte Ferguson.
»Von mir aus«, mischte sich Billy ein, der froh war, seiner Mutter und dem Inspector entfliehen zu können. Fergie war okay.
»Geh schon mal vor, Billy«, meinte Ferguson.
»Sag kein Sterbenswort, verstanden? Kein Sterbenswort.«
»Kann ich noch einen Tee haben?«, bat der Inspector hastig. »Der schmeckt wirklich großartig.«
»Was ist denn?«, fragte Cupidi und kam über den Kies auf ihn zu.
Als er die Augen wieder aufmachte, strahlte auf einmal alles: Eine tief stehende Sonne hatte das viele Grau durchdrungen. »Alles bestens.«
»Du siehst scheiße aus. War dir schwindelig?«
»Nein, es geht schon wieder. Ich hab bloß nachgedacht. Es ist ein ziemlicher Schock.«
»Bist du sicher? Dann können wir ja los. Komm, steig ein«, sagte Cupidi.
Von seiner Warte aus konnte er das Meer hinter dem Kiesstrand nicht erkennen, aber die vom Wasser reflektierten Sonnenstrahlen tauchten die gesamte Umgebung in ein seltsames, fast übernatürliches Licht.
»Wohin fahren wir?«, fragte South, öffnete die Wagentür und setzte sich erneut in die sich türmenden leeren Keks- und Zigarettenschachteln.
Sie ließ den Motor an und nahm die unbefestigte Straße, die sie gekommen waren. Langsam entfernten sie sich von Bob Rayners Haus. »Zu einer Teambesprechung auf dem Revier. Um elf geht’s los.«
South sah auf die Uhr. Es war erst viertel nach zehn. »So lang werden wir nicht brauchen.«
»Ja. Aber vorher müssen wir noch bei der Schule meiner Tochter vorbeischauen. Nur fünf Minuten. Ich kann es immer noch nicht fassen. An ihrem zweiten Tag.«
»Du musst sie abholen?«
Ein Polizeiauto kam ihnen auf dem Schotterweg entgegen und blendete auf. »Mist!«, sagte Cupidi, fuhr an den Straßenrand und ließ das Fenster herunter.
Detective Inspector McAdam saß am Steuer, der Chief Inspector begleitete ihn. McAdam lächelte. »Am Tatort alles unter Kontrolle, Alexandra?«
»Ja, Sir. Ich fahr nur schnell zurück, um ein paar Sachen für unsere Besprechung auszudrucken.«
»Prima.« Er sah an Cupidi vorbei. »Das mit Ihrem Freund tut mir sehr leid, Bill. Was für ein Schock.«
»Ja, Sir.«
»Gut, wir sehen uns gleich auf dem Revier«, sagte der Inspector.
Auf den Straßen war inzwischen deutlich weniger los. Cupidi fuhr recht flott. »Das Schulsekretariat hat mich gerade angerufen. Sie schicken sie nach Hause.« Nach anderthalb Kilometern ergänzte sie: »Aber behalt das bitte für dich, okay?«
Ausgerechnet am ersten Tag der Ermittlungen in einem Mordfall klinkt sie sich einfach wegen irgendwelcher Familienangelegenheiten aus, dachte South.
»Komm schon«, sagte sie. »Jetzt sei nicht so streng mit mir. Ich bin alleinerziehend und hab gerade eine neue Stelle angetreten.«
»Ich sag doch gar nichts!«
»Was ist denn schon dabei? Ich brauch bloß fünf Minuten, höchstens!«
Ungefragt zog sie ihn in ihr unangemessenes Verhalten mit rein. Heutzutage galt schon jede Kleinigkeit als Verstoß gegen die Dienstpflicht, und ehe man sich versah, war man seine Beamtenpension los und konnte froh sein, wenn man bei einem privaten Sicherheitsdienst unterkam. »Gibt es sonst niemanden, der sich um sie kümmern kann?«
Sie sah ihn kurz von der Seite an und konzentrierte sich anschließend wieder auf den Verkehr. »Nein. Ehrlich gesagt, nicht.«
Sie rasten über die A259, eine lange gerade Deichstraße quer durchs Marschland. Nach mehreren Minuten sagte sie: »Ich wollte aus London weg, weil sie fünfzehn ist, und ich Südlondon nicht unbedingt ideal für sie finde. Dann ist diese Stelle frei geworden. Doch sie kennt niemanden hier und hasst mich gerade, weil ich sie um ihre Freunde gebracht habe. Kann sein, dass mich ein schlechtes Gewissen quält.«
South hätte ihr eigentlich einen Rüffel erteilen müssen. »Das muss aber nicht sein: Meine Mutter hat genau dasselbe getan, um mich vor bestimmten Problemen zu schützen.«
»Echt? Und, hast du ihr verziehen?«
South sagte nichts darauf. Schweigend fuhren sie übers platte Land, bis die ersten Häuser der Stadt auftauchten.
Cupidi kam aus dem Schulsekretariat, ein Mädchen mit einem Rucksack im Schlepptau. Es war dünn und trug einen steifen roten Schulpulli. Der dazugehörige Rock war in der Taille umgeschlagen, um ihn kürzer zu machen, und sein blondgefärbtes Haar wuchs am Ansatz dunkel nach.
Er konnte sie durchs offene Autofenster hören.
»Und?«, fragte Cupidi.
»Es war definitiv nicht meine Schuld.«
»An deinem zweiten Tag!«
»Die sind gemein und haben mich wegen meinem Aussehen und meinem Akzent geärgert.«
»Ach, Zoë.«
»Das sind doch alles grenzdebile Dorftrottel!«
»Und das hast du ihnen auch gesagt?«
South tat, als würde er nichts hören, und pulte an einem Fingernagel herum.
»Die sind auf mich los, dabei hab ich bloß Spaß gemacht. Das war doch nicht ernst gemeint, ich wollte nur witzig sein.«
»Mensch, Zoë«, sagte ihre Mutter. »Bemüh dich wenigstens, streng dich ein winziges bisschen an.«
»Das tu ich doch! Die ganze Kacke hier strengt mich brutal an.«
»Zoë, bitte!« Am Tatort hatte sie äußerst effizient gewirkt, so als hätte sie alles unter Kontrolle und würde die richtigen Fragen stellen. Hier, mit ihrer Tochter, wirkte sie fast schon hilflos. Und wegen des hellen, jugendlichen Teints des Mädchens außerdem älter.
»Warum soll ich mich überhaupt anstrengen? Ich wollte schließlich nie in dieses Kaff ziehen. Es ist nicht meine Schuld, dass wir hier sind.«
Cupidi wehten die Haare ins Gesicht, und sie strich sie zurück. »Und was ist mit den Mädchen, mit denen du gestritten hast?«
»Ich hasse sie. Ich hasse sie alle! Ich geh da nie wieder hin.«
»Hast du sie geschlagen?«
»Nicht echt. Ich hab mich bloß ein bisschen gewehrt, so wie das jeder tun würde.«
»Warum bist du nicht einfach weggegangen?«
»Du verstehst aber auch gar nichts, Mum!«, sagte das Mädchen.
Ein Windstoß erschütterte den Wagen. Bald würde es Winter werden.
Cupidi wühlte in ihrer Handtasche nach dem Autoschlüssel. »Dann musst du eben heute Nachmittag zu Hause bleiben und dir selbst was zum Mittagessen machen.«
»Bringst du mich nicht?«
»Das geht nicht, nicht jetzt. Das ist ein Polizeiauto, das darf ich gar nicht. Außerdem bin ich im Dienst.«
»Heute Morgen hast du mich auch gefahren.«
»Das war ebenfalls verboten.« Cupidi sah zu South hinüber.
»Das ist aber ewig weit.«
»Du wirst den Bus nehmen müssen.«
Ihre Tochter warf genervt die Arme hoch, als würde sie gekreuzigt. »Ich weiß nicht mal, welchen. Ich glaub, die haben hier gar keine anständigen Busse.«
Cupidi fuhr sich über die Stirn. Vorn auf dem Beifahrersitz fragte South leise: »Wo wohnst du denn?«
»Kingsnorth«, sagte Cupidi.
»Du musst die Hythe Road bis zum Tesco hochlaufen.« Er nannte ihr die Busnummer.
»Danke, William«, sagte Cupidi.
»Wer ist das überhaupt?«, fragte ihre Tochter, während die Mutter ihr Kleingeld für die Fahrkarte gab und das Handy, das sie am Morgen vergessen hatte. Das Mädchen marschierte drauflos, ohne sich noch einmal umzudrehen, den Rucksack über eine Schulter gehängt.
Ashford Police Station war ein städtischer, mit Ziegeln verkleideter Betonbau: fad und funktional. Eine Rampe führte in die Tiefgarage. Cupidi fuhr sie hinunter, stellte den Motor ab, nahm eine Mappe vom Rücksitz und ging wortlos zum Lift. South folgte ihr. Bestimmt machte sie sich Sorgen und überlegte, was sie bei der Morgenbesprechung vortragen sollte.
»Alles okay?«, fragte er im Lift.
»Ja, wieso?«
»Ich frag ja nur.«
South ging in den Besprechungsraum im ersten Stock und wartete dort. Grelles Neonlicht. Plastikbestuhlung. Jalousien vor den Fenstern. Es stank nach Putzmitteln, billiger Auslegeware und Schweiß.
Andere Polizisten kamen herein, Becher und Mappen in der Hand. Die meisten kannte er vom Sehen. »Ich wusste gar nicht, dass du jetzt im Dezernat für Schwerverbrechen bist, Billy.«
»Mich würden die nie nehmen, und wenn ich mich auf den Kopf stelle!«
»O, aufgepasst, Cupidi ist im Anmarsch.«
»Ich dachte, Cupido ist bis auf Pfeil und Bogen nackt?«
»Wir können von Glück sagen, dass dem nicht so ist.«
Gelächter. Cupidi stand vor der Tür und unterhielt sich mit dem Detective Inspector.
»Die bringt nichts als Ärger«, sagte einer der Ermittler.
»Wie bitte?«, hakte South nach.
Der Mann dämpfte seine Stimme. »Mein Schwager ist bei Scotland Yard. Cupidi soll sich dort mit der gesamten Dienststelle für Interne Ermittlungen angelegt haben.«
»Wieso denn das?«
Aber Cupidi stieß bereits die Tür mit dem Rücken auf und betrat den Raum – einen Kaffeebecher in der einen und einen Stapel Unterlagen in der anderen Hand. Ohne die anderen zu beachten, ging sie direkt auf South zu und sagte leise: »Kurze Frage: Lebst du allein?«
»Ja, wieso?«
Bevor sie darauf antworten konnte, war der Chief Inspector hereingekommen und klatschte in die Hände. »Lasst uns loslegen, Leute! Es gibt viel zu tun.«
Cupidi ging zu ihrem Platz am Ende des Raums, direkt vor einem Whiteboard, während Detective Inspector McAdam kurz zusammenfasste, was sie bereits wussten: Zeitpunkt des Leichenfunds. Vermutliche Todesursache: Schlag mit einem stumpfen Gegenstand gegen den Kopf. Vermutlicher Todeszeitpunkt: vor 24 bis 36 Stunden.
»Ein extrem brutaler Mord«, sagte der Detective Inspector. »Mr Rayner ist über einen langen Zeitraum hinweg zu Tode geprügelt worden.«
Cupidi befestigte zwei Computerausdrucke am Whiteboard.
South wandte den Blick ab. Er konnte hören, wie allen die Luft wegblieb.
»Schläge über Schläge, und das stundenlang.«
»Meine Güte«, sagte schließlich jemand.
»Da hat sich einer so richtig ausgetobt«, erklärte Cupidi.
»Ganz genau«, bekräftigte McAdam. »Man braucht enorm viel Kraft, um solche Verletzungen herbeizuführen. Das hilft uns bei der Erstellung des Täterprofils. Hat sonst noch jemand was beizutragen?«
»Der Täter ist jemand, der sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht beherrschen kann oder will«, schlug Cupidi vor. »Jemand, der so blind ist vor Wut, dass er kein Halten mehr kennt. Auch wenn man das heute nicht mehr gerne hört: Der Täter ist höchstwahrscheinlich ein Mann – bei der Brutalität, mit der vorgegangen wurde …«
Selbst bei diesem Wetter schien der Chief Inspector in seinem grauen Anzug zu schwitzen. »Wer auch immer das getan hat, ist gemeingefährlich«, sagte er. »Bestimmt war er schon mal gewalttätig. Noch wissen wir nicht, was ihn so aufgebracht hat. War er wütend auf Mr Rayner? Oder ging es um etwas ganz anderes?«
Der Chief Inspector hatte letztes Jahr aufgehört zu rauchen, sah aber keinen Deut besser aus. McAdam dagegen gehörte einer jüngeren Generation an, noch jünger als Cupidi. Er war einer von denen, die mit dem Rad zur Arbeit fahren und sich auf der Herrentoilette aus den Lycraklamotten schälen, um dann in einen schlichten, tadellosen Anzug zu schlüpfen. Als sich sein Haar zu lichten begann, hatte er es einfach abrasiert.
»Sergeant William South war ein Freund des Opfers«, sagte McAdam. »Ich habe ihn gebeten, die Ermittlungen in der Anfangsphase zu begleiten. Beschreiben Sie uns doch kurz, was das Opfer für ein Mensch war, Sergeant.«
Alle im Besprechungsraum starrten South an. Er sah die hochgezogenen Brauen und mitfühlenden Gesichter. Der Chief Inspector nahm an einem der Tische am Rand Platz, kaute auf seiner Wange und ließ South nicht aus den Augen. Abwartend legte er den Kopf schräg.
South versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Was wusste er über Bob Rayner? Verdammt wenig angesichts der vielen Stunden, die sie gemeinsam auf Hochständen im Naturschutzgebiet verbracht hatten.
»Junggeselle«, hob South an. »Ende fünfzig. In Pension. Ein ehemaliger Lehrer. Er hat Englisch unterrichtet, soweit ich weiß. Er kann nicht ganz unvermögend gewesen sein, denn diese Hütten kosten inzwischen ein Vermögen. Er hat Spenden für die Wasserwacht gesammelt … Und er hatte eine Schwester, die ihn alle zwei Wochen besucht hat.«
»Die Schwester, die die Leiche gefunden hat?«, fragte jemand.
South nickte. »Ansonsten habe ich kaum Besucher gesehen. Offen gestanden gar keine. Er war ein Einzelgänger. Bei der Vogelbeobachtung haben wir viel Zeit miteinander verbracht, aber er war kein Mann, der viele Worte macht. Sondern eher … ein stiller Typ.« Ihm fiel auf, dass ihn alle ansahen. Er fühlte sich verpflichtet, weiterzureden, merkte aber, dass es nicht mehr viel zu erzählen gab.
Cupidi eilte ihm zur Hilfe: »Ein teures Fernglas ist verschwunden und eine Flasche mit Spirituosen.«
»Whiskey«, schaltete sich McAdam ein.