12,99 €
1969. Helen Tozer hat ihren Job bei der Polizei aufgegeben und kehrt gemeinsam mit dem schwer verletzten Detective Sergeant Cathal Breen auf die Farm ihrer Familie in Südengland zurück. Ein Ort mit einer furchtbaren Vorgeschichte: Fünf Jahre zuvor wurde Alexandra Tozer, Helens Schwester, hier ermordet. Breen, dem ursprünglich Nichtstun und Erholung verordnet wurden, verbeißt sich in den ungelösten Fall, und er entdeckt schnell, dass die Tozers nie die ganze Wahrheit über Alexandras Tod erfahren haben …
William Shaws packender Krimi führt uns ins England der 60er Jahre. Eigentlich sucht das Ermittlerduo Helen Tozer und Cathal Breen Ruhe auf dem Land, doch als Breen einen alten Mordfall wieder aufrollt, stört er damit den Täter von damals auf. Der schreckt vor nichts zurück, und schon bald ist Helen spurlos verschwunden …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 532
Veröffentlichungsjahr: 2016
William Shaw
History of Murder
Kriminalroman
Aus dem Englischen vonConny Lösch
Die englische Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel A Book Of Scarsbei Quercus, London.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 4691.
© Suhrkamp Verlag Berlin 2016© 2015 William Shaw
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar.
Umschlagfoto: ullstein bild / Wolfgang Kunz
Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
Den sehr geduldigen Mitgliedern des von Chris so genannten Schmelztiegels: Roz Brody, Mike Holmes, Janet King und C. J. Sansom.
»Wenn wir sündigen wollen, müssen wir leise sündigen.«
Eric Griffith-Jones, Attorney General, Kenia, Juni 1957
Sie liegt im weichen Gras, die Julisonne wärmt ihre Haut. Die Zweige der Esche hängen tief herunter, beschwert mit blättrigen Nussfrüchten. Sie schaukeln sanft in der von Süden heranwehenden Brise. Der starke Duft nach frisch geschnittenem Heu überdeckt alle anderen Gerüche.
Das Dickicht hier war ihr Lieblingsplatz. Ihr Geheimnis. Als Kind kroch sie durch die Schwarzdornhecken, flüchtete hierher, wenn sie ihrer Mutter beim Ausmisten des Hühnerstalls helfen sollte oder die blöde große Schwester ihr auf die Nerven ging. Gefunden wurde sie nie. Eine zwischen alten Hecken und Hartriegelsträuchern verborgene Senke. Das perfekte Versteck.
Um sie herum breiten sich Wurzeln aus, Nüsse reifen. Die Beeren eines Aronstabs nehmen eine rötliche Färbung an. Eine dicke Biene zwängt sich in den Kelch einer Fingerhutblüte, wütend summend versucht sie sich rückwärts wieder herauszuschieben. Sie liegt so still, dass sich ein Ochsenauge auf ihre Hand setzt, die Flügel öffnet und ihre Haut im Kontrast zu den dunklen rostbraunen Tönen noch blasser wirken lässt. Die letzten zwei Wochen war es trocken und warm gewesen.
Gestern noch hatte sie bäuchlings auf einem Handtuch am Ufer der Meeresmündung gelegen, das Bikinitop hinten geöffnet, hatte sie die ultravioletten Strahlen aufgesogen, während ihre Schwester auf dem oberen Feld bei der Heuernte geholfen hatte. Von weiter oben, von dem Fußweg, der über die Eisenbahnbrücke führte, hatte sie ein Trainspotter auf Beobachtungsposten ins Visier genommen, sich die Lippen geleckt und sein Fernglas auf das nackte Fleisch dort unten fokussiert.
»Alex«, ruft jetzt eine Stimme. Das ist ihre große Schwester. Eine flachbrüstige junge Frau, neidisch auf die Schönheit und den Müßiggang der Jüngeren. Darauf, wie Männer sie umschwärmen. »Alex?«
Schon seit mindestens einer Stunde ruft sie.
»Verdammt noch mal, du bist jetzt mit Melken dran. Ich hab's heute Morgen gemacht.«
Ein breiter West-Country-Akzent.
Es war ein Sommer der Diskotheken und Zigaretten. Spaß. Glamour. Der erste BH. Sie musste ihn sich von ihrem eigenen Taschengeld kaufen. Echtes französisches Parfüm. Reiche Männer mit Autos wollten mit ihr ausgehen. Dad schrie sie an, weil sie erst so spät nach Hause kam. Mum beschwerte sich, sie hätte doch wenigstens anrufen sollen. Die herrliche Macht der Schönheit in einer Zeit, in der die Jugend die Welt regiert.
Aber es gibt auch Bedeutenderes; Dinge, die tiefer gehen. A Hard Day's Night im Riviera sehen. Leise weinen, wenn John und Paul »If I Fell« singen. Und das neue Lied »It's All Over Now«. Wie Jeanne Moreau in Jules et Jim die Beine überschlägt.
Das Neue weht das Alte einfach weg. Ein Leben jenseits dieser blöden Farm, auf der man sich immer nur abrackern muss.
In einem geheimen Versteck bewahrt Alexandra eine Liste auf. Nicht in diesem hier. Hinter dem Nachttisch in ihrem blöden kleinen Zimmer, hinter der losen Wandverkleidung. Am Neujahrstag hatte sie den Hohlraum gefunden (nachdem sie nachts, betrunken vom Cider, im eiskalten Wasser der Mündung nackt gebadet hatte).
1964
Ich werde 17 und das wird mein bestes Jahr überhaupt. Ich schwöre, ich werde –
in einem Flugzeug fliegen
J. Lennon treffen
Poppen
Moped fahren lernen
FRANZÖSISCHEZIGARETTENRAUCHEN
Nach Liverpool fahren
Nach London fahren
Nach Afrika fahren
Für immer von zu Hause ausziehen.
»Verdammt, das ist nicht fair«, ruft die Schwester.
In weiter Ferne macht der Käfer halt. Seine Fühler zucken in der warmen Luft. Alle seine Sinne sind aktiv. Verarbeiten die gesammelten Informationen.
Einen Augenblick hält er auf dem grauen Baumstamm inne. Dann schwenkt er erneut seine Fühler umher. Mit einem beinahe unhörbaren Knacken öffnen sich die Flügeldecken. Zwei von Adern überzogene Flügel, die für seinen schlanken Körper viel zu groß wirken, breiten sich aus.
Er hat sein Ziel gefunden.
Leise summend fliegt er, folgt den Signalen der schwebenden Moleküle. Sie kommen ihm über die grünen Wälder entgegen, die Kuhweiden, Weizenfelder und das wärmer werdende Wasser. Je weiter er fliegt, desto stärker wird der Duft, der ihn anzieht.
Der Käfer ist lang, schwarz und grau, fast schon wie eine Ameise, kein schönes Insekt, aber eins, das Glück hatte. Der Juli ist außergewöhnlich warm. Eine Stunde später landet er im roten Matsch. Nah. Ganz nah.
Er krabbelt über Zweige und Sämlinge und dann hat er sein Ziel erreicht. Zuhause.
Ohne zu zögern, gräbt er sich mit seinem Unterkiefer in die weiche Haut. Die Fliegen sind schon da, summen. Sie werden Maden produzieren, von denen sich der Käfernachwuchs ernährt.
Langsam zieht die Sonne über den Himmel. Das Licht wandert in der entgegengesetzten Richtung über ihren nackten Körper. Die Zilpzalps stimmen ihr abgedroschenes Gezwitscher an. Der Vater des Mädchens ruft: »Alexandra!« Inzwischen klingt er ängstlich. Ein stiller Mann, der selten schreit. Aber jetzt brüllt er: »Alexandra?«
Immer Alexandra, niemals Alex.
In der Dämmerung zieht sich ein Dachs, gewarnt durch ihren Menschengeruch, in seinen Bau zurück und wartet, schnuppert in die Luft.
Die Schmeißfliegen tummeln sich jetzt dort, wo einst Brustwarzen waren; wo das Messer sie abschnitt. Dunkle, schwarze, blutverkrustete Kreise auf Teenagerbrüsten. Sie legen Eier auf ihre Haut, so dass die Maden sich hineingraben können. Fliegen schwärmen in ihren offenen Mund, tummeln sich auf trockenen Augäpfeln.
Ein Bauchpilz bricht neben ihrem Schenkel durch die Erde. Nachts nähert sich eine Füchsin, zunächst argwöhnisch. Sie schleicht um sie herum, schnüffelt erst, bevor sie versuchsweise am Bauch knabbert, wo die Haut bereits verletzt ist. Aber irgendwo bellt ein Fuchsrüde, und sie lässt ab von ihrem Schmaus.
Die Liste liegt unentdeckt hinter der Verkleidung.
Gauloises hat sie geraucht und mit dem Sex hat's auch
»Paddy. Wach auf. Du hast geschrien.«
Die Stimme einer Frau, ganz nah an seinem Ohr.
Cathal Breen schlug die Augen auf, sah aber im Dunkeln nichts. Was wollte die Frau in seiner Wohnung? Wie war sie hereingekommen? Hatte er jemanden mit nach Hause gebracht? War er betrunken gewesen? Schwer genug fühlte sich sein Kopf ja an. Aber nein. Getrunken hatte er nicht.
»Hat er wieder schlecht geträumt?« Eine weitere Frauenstimme im Dunkeln. Zwei Frauen?
Breen beugte sich vor, um die Nachttischlampe anzuknipsen, und stieß mit den Fingerspitzen an die Wand. Seit wann war da eine Wand neben seinem Bett?
Die schmerzenden Finger machten ihm bewusst, dass er sich gar nicht in seinem eigenen Bett befand. Er war nicht zu Hause in London.
Allmählich fiel es ihm wieder ein. Er hatte von der Schießerei geträumt, schon wieder. Eigentlich sollte er sich hier von seinen Verletzungen erholen. Seiner schmerzenden Schulter; von der Schusswunde. Wo war er?
Er drehte sich um, hätte fast die Nachttischlampe umgeworfen, als er nach dem Schalter tastete.
Licht. Er blinzelte.
Sie standen an seinem Bett, während er Mühe hatte, wach zu werden: Helen Tozer und die andere, die sich Hibou nannte. Er war krankgeschrieben und in Devon auf dem Hof der Tozers.
»Alles in Ordnung?«
»Haben wir dich geweckt?«
»Du hast schlecht geträumt.«
Noch immer atmete er schwer. Helen setzte sich neben ihn aufs Bett und legte ihm ihre kalte Hand auf die Stirn. Allmählich entspannte sich Breen.
Hibou blieb am Fußende des Bettes stehen. »Wovon hast du geträumt?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht mehr«, behauptete er.
»Psst«, schimpfte Helen mit Hibou. »Jetzt nicht.«
Endlich wusste er, wo er war. Im Zimmer des toten Mädchens.
»Du sagst doch immer, ich explodiere noch, wenn ich über schlimme Sachen nicht rede«, sagte Hibou. »Nach allem, was ihm passiert ist, sollte er unbedingt drüber reden.«
In seinem Traum war wieder auf ihn geschossen worden; nur dieses Mal war er es gewesen, der vom Dach des Hochhauses stürzte, nicht Cox. Ein Blick auf die Armbanduhr. Zehn vor fünf. Die beiden Mädchen mussten sowieso bald arbeiten.
Entfernt hörte er Helens Mutter unten den Ofen anheizen. Schon bald würde sie mit einem ersten Becher Tee nach oben kommen.
Er setzte sich auf, endlich wach. Draußen hinter der Gardine war die Nacht tiefschwarz. Der Winter wollte nicht weichen.
Helen strich ihm über die Stirn. »Armer Paddy. Du brauchst noch ein bisschen, bis du dich erholt hast. Nicht nur von der Schusswunde, oder?«
Ihre Hand auf seiner Haut zu spüren war ein beruhigendes Gefühl. Eine fast mütterliche Geste. Fast.
»Wäre trotzdem besser, wenn er drüber reden würde«, sagte Hibou. »Ich meine, beinahe wäre er gestorben. So was macht einen doch verrückt, oder?«
Hibou wurde diese Woche siebzehn, sah aber älter aus. Das lag nicht nur an dem geliehenen Flanellnachthemd, sondern auch an den sichtbaren Rundungen ihres Körpers darunter. Erneut schloss er die Augen. Zwei Frauen bei ihm im Schlafzimmer; er sollte sich freuen, aber es gelang ihm nicht. Er hatte jedes Gespür für sich selbst verloren. Voller Angst wachte er auf, fühlte sich gar nicht mehr wie ein Polizist. Etwas war ihm abhanden gekommen.
Und eigentlich sollte er auch gar nicht mehr hier sein. Er hatte hier nichts zu suchen. Das Zimmer war nicht seins, sondern das des toten Mädchens. Tozers Schwester.
Wahrscheinlich wäre es wirklich besser, wenn er darüber reden würde, dachte er.
Niemand redete über das tote Mädchen, in dessen Zimmer er schlief. Cathal Breen konnte das verstehen. Manches bleibt besser verborgen.
Seit einer Woche war er jetzt schon auf dem Hof der Tozers. Aber obwohl das Mädchen nie erwähnt wurde, verging kein Tag, an dem sie nicht irgendwie gegenwärtig gewesen wäre. In den Gesprächspausen. Dem unsteten Blick ihrer Mutter und dem Schweigen am Esstisch. Das Foto auf der Kommode unten, auf dem sie alle neben dem Auto standen: einem Morris Oxford. Mrs Tozer in der Mitte, Mr Tozer, die Arme um Alexandra gelegt, die fröhlich in die Kamera strahlte. Helen ein bisschen abseits, die Stirn gerunzelt. Alexandra: die Schöne, schon als Teenager weiblich und feminin. Helen: die schwierige, schlaksige und ungelenke. Der Abstand zwischen ihnen, auch als Alex noch lebte.
Die Zeit verging hier sehr langsam. Jede Stunde wog schwer wie Blei. Breen machte das wahnsinnig. Ungefähr um acht stieg er aus dem Bett, zog sich langsam an, schlich durchs Haus.
»Sind Sie schon auf, mein Lieber? Wie schön.«
Zeitung lesen. Es mal mit einem Buch von Len Deighton versuchen. Das Kreuzworträtsel war unlösbar.
»Wo gehen Sie hin, mein Lieber?«, rief Mrs Tozer aus der Küche.
Er war Londoner. Polizeisergeant. An einem Ort wie diesem hatte er nichts anderes zu tun, als zu schlafen und sich von Mrs Tozer mästen zu lassen. Nachts träumte er schlecht.
»Ich geh nur spazieren«, rief er, gereizt, weil sie mitbekommen hatte, dass er raus wollte. Er hatte gehofft, sich davonschleichen zu können, ohne dass es jemand merkte.
»Packen Sie sich warm ein und seien Sie vorsichtig. Es bläst ein kalter Wind.«
Die ersten Tage hatte er im Bett verbracht, gespürt, wie ihn das Bauernhaus fest umschloss. Die dicken Wände und die tickenden Uhren machten ihn stumpf. Von Mrs Tozers Essen wurde er blass. Er musste raus.
Auf dem Weg durch den Flur zur Haustür war er sich bewusst, dass ihn ein zweites, in der Dunkelheit kaum wahrnehmbares Augenpaar beobachtete. Mr Tozer, Helens Vater, hockte bei zugezogenen Vorhängen im Wohnzimmer und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Er war nicht mehr er selbst, hieß es. Breen hatte versucht, ein bisschen mit ihm zu plaudern, aber ohne Erfolg. Anscheinend hatte er nur ein einziges Thema gekannt, nämlich Kühe, aber in letzter Zeit auch daran das Interesse verloren. Und wäre es wirklich besser, der alte Tozer würde darüber sprechen?
Es war ein Morgen ohne Licht. Draußen blickte Breen nach rechts, runter zur schwarzen Meeresmündung, dann nach links, den Hang hinauf. Als er sich in Bewegung setzte, ging er aber geradeaus, überquerte den zerfurchten Zufahrtsweg und lief aufs freie Feld. Das Gras war braun, abgestorben und voller Disteln. Er ging am Rand entlang bis zu dem Gehölz auf der anderen Seite, weil er glaubte, weniger leicht entdeckt zu werden, wenn er sich dicht an der Hecke bewegte.
Der Boden war glitschig und uneben. Er musste vorsichtig sein. Gestern hatte er zum ersten Mal das Bett verlassen und die Wunde in seiner Schulter war längst nicht verheilt, unter dem Mantel steckte sein Arm noch in einer Schlinge.
Er sah auf seine Halbschuhe hinunter, er hätte geeigneteres Schuhwerk anziehen sollen. Mit den Ledersohlen rutschte er auf dem nassen Gras und fürchtete außerdem, in Kuhfladen zu treten.
Das Dickicht war im Winter weniger undurchdringlich als im Sommer, doch nach über vier Jahren waren die Ranken, die die Polizei weggeschnitten hatte, wieder nachgewachsen.
Breen spähte in die dunkle Senke, konnte aber nichts erkennen. Das Unterholz war zu dicht, es war noch nicht hell genug. Mit dem Zeigefinger und dem Daumen seines gesunden Arms fasste er einen dornigen Zweig und zog ihn beiseite, allerdings entglitt er ihm, peitschte durch die Luft und verhakte sich in seinem Dufflecoat. Als er ihn wieder losmachen wollte, bohrte sich ein Dorn in seinen Daumen. Breen zuckte zusammen und starrte den Blutstropfen an, dann steckte er den Daumen in den Mund und leckte ihn ab.
Jetzt spähte er ein bisschen tiefer in die Dunkelheit hinein, versuchte zu erraten, wo die Leiche gelegen hatte. Es roch nach modrigem Matsch und stehendem Wasser. Er kam sich blöd vor, nicht richtig ausgerüstet für solche Unternehmungen, sein verletzter Arm unter dem Mantel behinderte ihn, fast wäre er wieder gegangen. Im Haus war es warm. Mrs Tozer backte Scones.
Vom Feld oben hörte er ein Rufen. Breen duckte sich. Er wollte nicht gesehen werden, am allerwenigsten hier.
»Ruhig, ruhig.« Eine Frauenstimme, ziemlich weit entfernt. »Stell dich dahinter.«
Breen atmete aus. Das Rufen hatte nicht ihm gegolten. Man hatte ihn nicht entdeckt. Er richtete sich wieder auf. Helen rief Hibou irgendwo auf der anderen Seite des Hügels Anweisungen zu. Im Winter waren die Tage auf dem Bauernhof kurz. In nur wenigen Stunden musste viel getan werden. Helen Tozer arbeitete hart. Und auch Hibou fasste kräftig mit an. Ihre Wangen waren ganz rosig geworden. Anscheinend gefiel es ihr hier sehr gut.
Breen beugte sich erneut vor, spähte in die Dunkelheit, durch das Gestrüpp und an einem alten rostigen Bettgestell vorbei. Natürlich hatten die Kollegen aus der Gegend alles gründlich abgesucht. Es gab hier nichts zu finden. Sinnlos, überhaupt herzukommen. Trotzdem trat er ein bisschen Geröll beiseite, um sich weiter ins Gehölz zu schieben.
Vorsichtig. Du bist hier, um wieder gesund zu werden.
Ein Trampelpfad war erkennbar, der weiter nach unten führte. Er fasste neuen Mut und hielt sich an einem toten Ast fest. Nur mal kurz gucken, mehr nicht. Wieder beugte er sich vor.
Dann rutschte er mit dem linken Fuß auf dem glitschigen roten Matsch aus.
Ein lautes Knacken. Der Ast gab nach. Er verdrehte sich, als seine Füße unter ihm wegglitten und er seitlich auf den kalten Boden knallte. Aufgeschreckte Krähen stoben in die Luft.
Schmerz, Schmerz, Schmerz; seine linke Schulter schrie. Ein greller, allumfassender Schmerz.
Er krümmte sich, kniff die Augen zusammen und versuchte, möglichst nicht laut zu schreien.
Scheiße, scheiße, scheiße.
Es roch moderig. Und er war über und über voll mit Matsch und Kaninchenkötteln.
Cathal Breen lag erneut im Bett, in dem Zimmer, das ihres gewesen war.
»Dann sind Sie also Polizist«, sagte der Arzt. Ein Mann mit gelben Fingernägeln und riesigen Augenbrauen.
»Ja«, sagte Breen. Der Schmerz hatte inzwischen nachgelassen.
»Schön, schön.«
Der Arzt schnitt ein weiteres Stück hautfarbenes Pflaster ab und klebte es auf den Verband an Breens Schulter. Breen gab sich Mühe, nicht zusammenzuzucken, als er es andrückte.
»Aus London?«
»Ja«, erwiderte Breen.
»Wo's immer neblig ist, hm?«
»Genau.«
»Sie sind mit der kleinen Helen befreundet, hab ich gehört?« Die Nikotinfinger des Arztes zitterten, während er sich weiter abmühte.
»Wir waren Kollegen bei der Met.«
Der Mann legte den Kopf in den Nacken, sah Breen durch seine Halbbrille von oben herab an. »Wie ich höre, zur Erholung hier?«
»So war das geplant.«
»Hab mir gleich gedacht, dass das nichts wird mit Helen. Ist doch kein Beruf für eine Frau, bei der Polizei«, sagte der Arzt. »Und ich weiß, dass sich ihre Mutter freut, sie wieder bei sich zu haben, wo sie hingehört, stimmt's?«
»Ich bin sehr froh«, sagte Mrs Tozer an der Tür. Rundlicher und kleiner als ihre kantige Tochter.
»Ich vermute, sie hilft ihrem Vater jetzt auf dem Hof.«
»Hel macht heutzutage das meiste alleine. Mr Tozer ist nicht mehr er selbst.«
»Davon hab ich gehört.«
»Und das neue Mädchen hilft. Ein heimatloses Kind aus London.«
»Da haben Sie ja einige Münder zu stopfen, Mrs T.«
»Macht mir nichts. Ich hab gern Gesellschaft. Als Helen weg war, war's sehr still bei uns.«
Der Arzt brummte verständnisvoll, leckte sich über die Lippen und schnitt ein letztes Stück Heftpflaster ab. Bei dem Sturz war Breens Wunde wieder aufgeplatzt und hatte erneut angefangen zu bluten.
»Eine Schusswunde, vermute ich«, sagte der Arzt endlich. Offensichtlich hatte er es sich schon geraume Zeit kaum verkneifen können, eine entsprechende Bemerkung zu machen.
Breen sah Helens Mutter an, die immer noch an der Tür stand und bejahte.
Der Arzt pfiff durch die Zähne. »So was bekommt man hier nicht häufig zu sehen.« Ein Schmunzeln.
»Ich hab das Hemd gewaschen«, sagte Mrs Tozer. »Hab's in kaltem Wasser eingeweicht. Mit ein bisschen Essig geht das Blut wieder raus.«
»Sehr gut, Mrs T.«
»Wird er wieder, Doktor?«
Breen richtete den Blick an die Decke und betrachtete die Risse dort. Er wusste, welche Frage der Arzt ihm furchtbar gerne stellen wollte. Aber die Menschen hier waren anders als in London. Sie rückten nicht mit der Sprache raus. Wie ist das passiert? Wahrscheinlich waren sie genauso neugierig, aber sie wollten es sich nicht anmerken lassen.
Der Arzt legte die Stirn in Falten und arbeitete weiter. »Das Projektil muss das Schlüsselbein gestreift haben, würde ich sagen. Da hatten Sie wohl großes Glück.«
»Hat man mir in London auch gesagt.«
Der Arzt verstaute seine Schere wieder in seiner schwarzen Ledertasche.
»Eigentlich hätten Sie noch gar nicht aufstehen dürfen, das war sehr ungezogen. Sie müssen still liegen. Mrs Tozer? Passen Sie auf, dass der junge Mann im Bett bleibt.«
Helens Mutter, die immer noch an der Tür stand, nickte.
»Hab ich's schlimmer gemacht?«, fragte Breen und tastete mit der gesunden Hand nach einer Zigarette auf dem Nachttisch. »Wird es trotzdem heilen?«
»Ich verordne Ihnen strikte Bettruhe. Nicht aufstehen und nicht rumspazieren. Sie wollen doch keinen lahmen Arm zurückbehalten, oder?«
Breen zündete sich eine Zigarette an, ohne dem Arzt eine anzubieten. Er würde wahnsinnig werden, wenn er noch lange hier herumliegen musste, dachte er. In dem kleinen Zimmer. Diesem Zimmer.
Sie hatten ihm das Radio ans Bett gestellt. Als der Arzt gegangen war, hörte Breen Nachrichten. Die Regierung rief Reservisten auf, um die Aufstände in Ulster niederzuschlagen. Jemand vermutete, die Sowjets planten Bakterien zur Venus zu schicken, um dort Sauerstoff entstehen zu lassen. In London wurden die Geschworenen für den Prozess der Kray-Brüder im Old Bailey benannt.
Schon bei dem bloßen Gedanken an London bekam er Heimweh.
Er schaltete von FM auf VHF und drehte so lange am Regler, bis er den Polizeifunk gefunden hatte. Allerdings konnte er immer nur die Hälfte des Gesprächs verstehen. Irgendwo an einem Hang war ein Laster mit einer Panne liegengeblieben. Ein Rentner beschwerte sich über einen Landstreicher, der Gemüse aus seinem Schrebergarten geklaut hatte. Lächerliche Provinzverbrechen.
Breen schaltete das Radio aus und betrachtete erneut die Risse in der Zimmerdecke.
Hier passierte einfach nichts. Er hätte nicht herkommen dürfen.
Ungefähr um fünf Uhr brachte ihm Mrs Tozer Shepherd's Pie mit Kraut und Weißbrot. Sie weigerte sich zu glauben, dass Breen keinen Tee mochte, und brachte auch diesmal wieder eine Tasse mit. Aus reiner Langeweile aß er alles auf.
Ungefähr um acht kam Helen Tozer, roch nach Melkscheune.
»Du hast Soße im Gesicht«, sagte sie und setzte sich neben ihn aufs Bett.
»Wo?«, fragte er.
Sie zog ein kariertes Taschentuch aus ihrer Jeans und tupfte ihm das Kinn ab.
»Siehst müde aus«, sagte er.
»Noch eine Milchkuh trocken. Und Heu werden wir auch dazukaufen müssen.«
Sie steckte das Taschentuch wieder ein. Unten in der Küche hörten sie ihre Mutter, ihr Vater saß anscheinend im Wohnzimmer, denn der Fernseher lief laut. Die Dick Emery Show.
»Mein bescheuerter Vater hat nicht genug Futter für den Winter eingelagert. Ich weiß nicht, was in ihn gefahren ist. Früher wäre ihm das nicht passiert.«
»Und du? Geht's dir gut?«, fragte er.
Helen Tozer sah hier auf dem Hof ganz anders aus. In London hatte sie Miniröcke und Mascara getragen. Hier lief sie in weiten Jeans und Strickpullis herum, die sich an den Ellbogen aufdröselten. Aber es war nicht nur ihr Aussehen. Offensichtlich fühlte sie sich hier genauso verloren wie er.
Sie zuckte mit den Schultern. »Nicht so richtig.«
Er genoss ihre Nähe, ihren warmen Körper an seinem. Oft kam das nicht vor.
Kennengelernt hatten sie sich in London, als sie noch im Polizeidienst gewesen war. Dann war sie zurück aufs Land gezogen, um ihren Eltern auf dem Bauernhof zu helfen. Ein Liebespaar waren sie nie gewesen. Jedenfalls kein richtiges. Nur ein einziges Mal hatten sie in seiner schlecht geheizten Wohnung in Stoke Newington Sex gehabt. Als sie beide betrunken waren. Er hatte auf eine weitere Chance gehofft, aber es hatte sich keine ergeben. Als er nach Devon gekommen war, um sich von seiner Verletzung zu erholen, hatte er sich vorgestellt, dass Helen sich um ihn kümmern würde. Stattdessen aber war sie den ganzen Tag draußen und arbeitete. Schließlich musste ja jemand den Hof führen. Und ihre Eltern hatten jetzt nur noch ein Kind.
»Bleib ein bisschen hier«, sagte Breen und griff nach ihrer Hand. Die Haut war rauher geworden. Sie zog sie weg und rutschte von dem schmalen Bett herunter auf die Füße.
»Ich geh in die Badewanne, dann ins Bett«, sagte sie. »Um fünf muss ich raus.«
Sie nahm sein Tablett, blieb aber an der Tür stehen und betrachtete ihn.
»Was?«, fragte er gereizt, weil sie so darauf bedacht war, Abstand zu halten.
»Dad hat dich gesehen«, sagte sie, »in dem Dickicht.«
In dem Dickicht, wo Alexandras Leiche gefunden worden war. Unten am Hang, ein kleines Stück vom Haus entfernt, auf einem Geländeabschnitt, der zum Pflügen zu steil war. Er versuchte Helens ausdrucklose Miene zu deuten.
»War er sauer?«
»Er mag's nicht, wenn da jemand rumschnüffelt.«
»Ich war nur neugierig, mehr nicht«, sagte Breen. »Wollte es mir mal ansehen … Mir ist so langweilig, wenn ich immer nur hier liege.«
»Na ja, jetzt musst du wohl noch viel länger liegen, oder?«, sagte sie und zog die Tür hinter sich zu.
Ermordete verschwinden niemals. Sie bleiben für immer. Wenn nicht geklärt wird, warum sie getötet wurden oder von wem, ist es noch schlimmer. Als Polizist wusste er das von den Familien und Freunden der Opfer, denen er im Lauf der Jahre begegnet war. Jetzt wo er hier lag, war das tote Mädchen überall im Haus präsent.
Unten hörte er jemanden abwaschen. Klappernde Teller.
Er schaltete das Radio wieder ein. »Gamma eins. Kann dich nicht hören, Over.« Irgendwo waren Eier von einem Fensterbrett verschwunden, geklaut.
Die hügelige Landschaft behinderte den Funkverkehr. Er entschied, dass er für Berge nichts übrig hatte, und sehnte sich nach dem flachen grauen London. Wo immer die Möglichkeit bestand, dass etwas geschah.
Damals, als sie Kollegen waren, hatte Helen Tozer Breen eigentlich gar nichts von ihrer Schwester erzählen wollen. Aber Breen war hartnäckig geblieben. Frauen waren emotionaler als Männer. Weniger rational. Das konnte sich auf ihre Arbeit auswirken. Er hatte verstehen wollen, weshalb sie überhaupt zur Polizei gegangen war, und so lange gebohrt, bis sie es ihm erzählte. Sie hatte es nicht gerne getan, aber irgendwie war es dann doch der Beginn ihrer Freundschaft gewesen.
Er lag wach, während ihm all das durch den Kopf ging.
Hatte man das Mädchen tot dorthin gelegt? Er vermutete es. Sie war brutal zugerichtet gewesen, so viel wusste er. Man konnte doch kein Schulmädchen auf einem Bauernhof ermorden, ohne dass es jemand mitbekam, oder? Wieso aber hatte sich der Täter die Mühe gemacht, ihre Leiche wieder herzubringen? Dafür musste es doch einen Grund geben. Sie sollte gefunden werden. Bedeutete dies, dass der Mörder den Hof gut kannte? Die Polizei hatte natürlich alles genaustens überprüft. Es musste Berichte geben.
Er versuchte, sich auf die linke Seite zu drehen, was aber so weh tat, dass er sich lieber aufsetzte. Blöd, einfach wach zu liegen. Er konnte doch sowieso nichts tun. Besser, er würde versuchen zu schlafen. Oder wenigstens an etwas anderes denken.
Damals hatte sie ihm erzählt, ihre Schwester sei vergewaltigt, verprügelt und mit einem Messer zerstochen worden. Ein brutaler Mord. Manche Täter wurden nie gefasst, das wusste er. Aber wie gründlich hatte man ermittelt?
Erst als er von Helen, die ungefähr um fünf Uhr früh zum Melken rausging, geweckt wurde, merkte er, dass er eingeschlafen war.
Kurz nach acht ging die Sonne hinter den Gardinen auf und Mrs Tozer kam mit Speck und Würstchen auf einem Tablett herein, nahm ihm den Aschenbecher ab.
Er versuchte, sein Taschenbuch zu lesen, hatte aber auch jetzt nicht mehr Spaß daran als am Tag zuvor. Anschließend stand er auf und stellte einen Stuhl ans Fenster. Helen hatte ihm einen Block und ein paar Bleistifte mitgebracht; sie wusste, dass er gerne zeichnete. Seine Bemühungen zu skizzieren, was er durch das kleine rechteckige Fenster sah, wirkten aber eher unbeholfen. Was kaum seine Schuld war. Die anheimelnden weichen Hügel und dichten Hecken sahen an sich schon aus, als hätte ein Kind sie gezeichnet. Gesichter waren ihm lieber. Menschen. Dinge.
Er stieg wieder ins Bett. Gähnte. Döste.
Später am Vormittag kam Hibou und setzte sich eine Weile zu ihm. Es war ihre Pause von der Feldarbeit.
»Hat Helen dir gesagt, dass du mich besuchen sollst?«, fragte Breen.
»Ja«, gestand sie und wurde rot. Nach ein paar betretenen Sekunden sagte sie: »Macht mir nichts aus.«
In London hatte Hibou zerbrechlich und feminin gewirkt. Hausbesetzer hatten die Ausreißerin bei sich aufgenommen, ihr Drogen verabreicht und sie sexuell missbraucht. Sie war ängstlich und schüchtern gewesen. Hier auf dem Land war sie immer noch auf ihre rosige englische Art auffallend hübsch, sogar in Latzhose und mit Kopftuch. Aber sie war selbstbewusster geworden, hatte Muskeln bekommen. Die Arbeit schien ihr gutzutun. Es kam wieder Leben in sie.
»Hel hat gesagt, heute Morgen hatten wir fast fünfhundert Liter Milch.«
Breen bemühte sich, interessiert zu klingen. »Ist das gut?«
»Das ist noch viel besser als gut. Letzte Woche waren es nur 300. Aber eigentlich müssten wir doppelt so viel bekommen. Angeblich lieben Kühe Musik.«
»Willst du ihnen vorsingen?«
Sie schnaubte. »Dann wird die Milch noch sauer. Ich hab Mrs Tozer gefragt, ob ich mal versuchen darf, Butter zu machen. Nur Eier haben wir total wenig. Keine Ahnung, warum.«
»Kann es sein, dass die geklaut werden?«
Sie zog eine Schnute. »Hier in der Gegend? Glaub ich kaum. Wieso?«
»Hab gerade was im Radio gehört. Dir gefällt es hier, oder?«
Hibou nickte. »Ich glaube, ich kann das ganz gut«, sagte sie. »Mich um solche Sachen kümmern.«
Hibou war Helens Projekt. Sie hatte sie aus London hierhergebracht, um ihr über den Heroinentzug hinwegzuhelfen. Sie war jetzt genauso alt wie Alexandra, als diese gestorben war. Breen hatte Helen immer unterstellt, sie deshalb retten zu wollen.
»Ich finde, alle sollten ihr Essen selbst anbauen«, sagte Hibou. »Es geht ums Verbundensein.«
»Womit denn?«, fragte Breen.
»Mit dem Land, der Natur. Allem. Mit der Erde.«
Breen wandte sich ab.
»Du lachst mich aus«, sagte sie.
»Tut mir leid.«
»Spürst du das nicht? Als wir alle noch von dem gelebt haben, was wir selbst angebaut haben, waren wir viel enger mit der Erdenergie verbunden, dem Mond und den Sternen.«
»Der Erdenergie?«
»Du spürst das nicht, weil du nie mit was anderem verbunden sein willst als dir selbst.«
»Ich dachte, Helen hat dich geschickt, damit du mich aufmunterst.«
»Dann denk dir was aus, worüber du reden willst«, sagte sie.
»Meinst du, Helen ist glücklich hier?«
»Warum denn nicht? Ich hab sie gefragt, ob ich im Frühjahr vielleicht ein biodynamisches Gemüsebeet anlegen darf. Ich könnte versuchen, die Sachen auf dem Markt zu verkaufen.«
»Biodynamisches Gemüse?«, fragte Breen.
»Klar, Biogemüse. Reformkost. Ohne Chemie. Natürlich und im Einklang mit den Mondzyklen.«
Breen sah sie an. »Seit Generationen bestellen die das Land«, sagte er. »Die brauchen niemanden, der ihnen erklärt, wie's geht, schon gar niemanden mit so versponnenen Hippieideen …«
Sie löste ihr Tuch, befreite die langen blonden Haare. »Mr Tozer hat gesagt, er hat nichts dagegen«, meinte sie und schüttelte den Kopf. »Er will mir tausend Quadratmeter hinter dem Haus dafür umpflügen. Nur damit du's weißt.«
»Ach was?«
Mr Tozer hatte sich seit Wochen kaum aus dem Wohnzimmer hinausbewegt. »Der alte Tozer will dir einen Acker für dein komisches Gemüse umgraben?«
»Ätsch«, stand ihr ins grinsende Gesicht geschrieben. »Biodynamisch«, sagte sie. »Nicht komisch.«
Breen schwieg.
»Außerdem hat Helen gesagt, dass wir Freitagabend mal alle zusammen ausgehen sollten, zur Belohnung«, erzählte sie. »Wenn's dir gut genug geht.«
»Ausgehen? Hier?« Wenige Meilen entfernt gab es eine kleine Marktstadt mit ein paar derben Pubs und einer Cider Bar, mehr nicht.
»Das wird lustig. Lenkt dich ein bisschen ab.«
»Wovon?«
»Was auch immer dir die Laune verdirbt.«
»Und für dich ist das okay? In ein Pub gehen?«
»Bin doch keine Nonne«, sagte sie. »Am Samstag hab ich Geburtstag, also ist es auch ein bisschen eine Feier. Meinst du, Helen borgt mir was zum anziehen?«
»Hast du noch Verlangen danach? Du weißt schon … nach den Drogen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht, nur manchmal, wenn ich nichts zu tun habe«, sagte sie und schaute weg. »Deshalb gefällt mir die Arbeit auch so gut.«
»Deine Eltern werden an dich denken«, sagte er. »Ich kann mir vorstellen, dass Geburtstage schwer für sie sind, solange sie nicht wissen, wo du steckst.«
»Hel sagt immer wieder, dass ich ihnen schreiben soll.«
»Da hat sie recht. Wirst du ihnen sagen, wo du bist?«
Sie schüttelte wieder den Kopf. »Glaub nicht.«
»Vermisst du sie?«
Sie wurde rot. »Nein«, erwiderte sie, senkte aber den Blick und schaute auf ihre Hände.
»Jeder vermisst seine Eltern«, behauptete Breen. Sein Vater war im vergangenen Jahr gestorben.
»Ich nicht.« Jetzt sah sie wieder sehr jung aus; weniger Frau als Teenager.
Er drehte sich um. »Ich bin müde«, sagte er. »Ich will jetzt schlafen.«
»Wie du meinst.« Sie stand auf. »Bin ja nur hier, weil ich drum gebeten wurde.«
»Wirst du siebzehn?«
Sie nickte. »Ich weiß. Ganz schön alt«, sagte sie und schloss die Tür hinter sich.
Nachts ließ er das Fenster offen, obwohl es dadurch im Zimmer sehr kalt wurde. Er lag wach, lauschte den Eulen und den Nachtzügen. Irgendwann glaubte er, draußen etwas gehört zu haben, stand auf und stellte sich ans Fenster, zitterte im eisigen Wind und spähte in die Dunkelheit, konnte aber niemanden entdecken.
Vorsichtig zog er sich an, ein Unterhemd und Wollhemd von Mr Tozer, dann ging er nach unten.
»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Mrs Tozer.
»Nur ein bisschen die Beine vertreten.«
»Passen Sie dieses Mal aber besser auf sich auf«, sagte sie und lächelte ihn an.
Der langgestreckte Hühnerstall befand sich mehr oder weniger in der Mitte des Geheges. Als er sich näherte, kamen die Vögel auf ihn zu, erwarteten, etwas zu fressen zu bekommen.
Er hockte sich hin und betrachtete sie. Seltsame Kreaturen mit ihren Echsenaugen und den mechanischen Bewegungen. Da war ein Türchen, aber es war nicht verschlossen. Wäre kein Problem, sich nach Einbruch der Dunkelheit hier reinzuschleichen und Eier zu stehlen, dachte er.
Er zog den Riegel zurück und betrat vorsichtig das Gehege. Die Hühner gackerten und schnatterten um ihn herum, pickten im Dreck, wo das Gras abgewetzt war. Dann näherte er sich dem Stall. Eine Rampe führte zu einer kleinen Tür. Dort hockte er sich hin und spähte hinein, stechender Gestank schlug ihm entgegen. Blinzelnd zog er sich zurück und bückte sich, um den Boden zu betrachten. War das ein Fußabdruck? Er ging noch näher ran, um ihn so genau wie möglich begutachten zu können. Für Hibou war er zu groß. Aber er konnte von Mr Tozer stammen.
Auf dem Weg nach draußen öffnete und schloss er den Riegel mehrmals, lauschte auf das Geräusch.
Am Freitag öffnete Hibou die Tür unten an der Treppe, und plötzlich verstummten alle in der Küche.
»Was? Sieht das blöd aus?« Sie sah an sich herunter.
Seit ihrer Ankunft auf der Farm hatte man sie nie in etwas anderem als Latzhose oder Jeans gesehen. Jetzt trug sie einen kurzen blauen Cordrock und eine offene Wildlederjacke zum hellen Rollkragenpullover.
Mrs Tozer hatte Teig gerührt. Mit der Schüssel unter dem Arm hielt sie inne.
»Passt ganz gut, oder?«
Der alte Tozer gab eine Art Stöhnen von sich.
»Warum sagt denn keiner was? Hel? Du hast doch gemeint, ich kann mir was von dir borgen.«
Ein Klecks Teig platschte auf den Boden. Niemand rührte sich.
»Das sind nicht meine Sachen«, sagte Helen leise.
»Oh, aber ich dachte, du hättest …«
Breen sah Helens Eltern an, beiden war der Mund offen stehen geblieben.
»Hab ich in Paddys Zimmer gefunden«, erklärte Hibou. »Hab gedacht, die sind von dir … Tut mir leid.« Sie drehte sich um und wollte wieder die Treppe hochgehen. »Ich zieh mich um.«
»Ich hab sie nicht weggeworfen«, sagte Mrs Tozer.
»Nein.« Der alte Tozer hatte seine Stimme wiedergefunden. »Schon in Ordnung.«
Alle drehten sich zu ihm um. Seine Augen waren noch geröteter als sonst.
»Hab schon gedacht, dass sie ein bisschen, na ja, weit für Helen sind …«, sagte Hibou.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!