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»Ich lerne Klavier spielen.« Mit diesem Satz beginnen am 22. September die Aufzeichnungen, in denen die Ich-Erzählerin in Hanna Johansens neuem Buch Der Herbst, in dem ich Klavier spielen lernte während dreier Monate dieses Vorhaben protokolliert, das sie weit in die Kindheit in Norddeutschland führt und wieder zurück in die Gegenwart, zur Gartenarbeit im Herbst, zum Wechsel von Beständigkeit und Verlust von Fähigkeiten und Kräften, zur Frage nach dem Zuhause. Wie lernte das Kind, das sie einmal war, die wichtigen Dinge für das Leben? Wie verändert sich das Lernen mit dem Älterwerden? Diese Fragen treiben die Schreiberin um. Sie ist hartnäckig und merkt: »Sobald eine Schwierigkeit einigermaßen überwunden ist, kommt die nächste.«
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Seitenzahl: 317
Hanna Johansen
DER HERBST, IN DEM ICH KLAVIER SPIELEN LERNTE
Tagebuch
DÖRLEMANN
Alle Rechte vorbehalten © 2014 Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN 978-3-908778-60-8www.doerlemann.com
22. September
Ich lerne Klavier spielen. Was dieser Satz bedeutet, weiß ich noch nicht. Es gefällt mir, das nicht zu wissen. Dagegen verwirrt mich, was er früher bedeutet hätte. Meine Großeltern hatten ein Klavier, ein schwarzes, die väterlichen Großeltern, bei den mütterlichen gab es nicht mal ein Schifferklavier, sondern eine Quetschkommode, aber immer einen der vielen Onkel oder älteren Vettern, die uns damit verzaubern konnten. Auf der väterlichen Seite stand das Klavier, es gab nur einen, der es spielte, und den konnte ich ebenso wenig leiden wie die Art, wie er das Klavier spielte. Er war der ältere Bruder meines Vaters und von Statur genauso pompös, wie er in die Tasten griff. In den Kriegsjahren haben wir ihn dort zu Weihnachten spielen gehört, nachdem ich eine gute Wegstunde auf einem Schlitten durch den Winter gezogen worden war. Mein Vater war einer, der nicht Klavier spielte, aber gern fotografiert hat, darum nehme ich an, dass er das Bild aufgenommen hat, das mich auf dem Schlitten zeigt, und stelle mir vor, dass er den Schlitten nur kurz an meine Mutter abgegeben hat, um uns zu fotografieren. Er war seit Mai 1940 Soldat und hatte Weihnachtsurlaub.
Die Ehe meiner Eltern hat den Krieg nicht überstanden, im Herbst kam ich in die Schule, und von da an habe ich die Großeltern nur noch allein besucht, um meinen Vater zu treffen oder um eine Ferienwoche auf dem Dorf zu verbringen. Im Hühnerhof konnte ich auf der Schaukel sitzen, in der Stube mit dem Klavier spielen, mit viel Neugier und wenig Erfolg, und bei seltenen Gelegenheiten dem unerfreulichen Onkel beim Klavierspielen zuhören. Das Musikmachen hat mich angezogen, das Pompöse abgestoßen.
Mein Großvater war Hauptlehrer an einer vierklassigen Dorfschule, darum wohnte er mit seiner Familie in der an die Schule angebauten Wohnung, einer Wohnung mit größeren Räumen als damals üblich, und höher waren sie auch. Darum hatte er ein Klavier.
Meine Freude an dem Instrument gefiel ihm so sehr, dass er versprach, ich würde es später einmal erben.
Seitdem sind mehr als sechzig Jahre vergangen, ich habe vieles gelernt und erlebt, nicht aber, wie es ist, Klavier spielen zu lernen. Das will ich jetzt.
Gestern hat mein Liebster mir sein Klavier gebracht. Das war traurig, denn er kann es nicht mehr brauchen, weil seine Hörnerven so nachgelassen haben, dass er Töne nur noch falsch hört. Und es war eine Freude, sagt er, weil es zu mir kommt und nicht irgendwohin. Es ist auch gar kein Klavier, sondern ein Keyboard, auf dem man auch Streichinstrumente oder Chöre erzeugen könnte. Aber ich will nur Klavier spielen lernen.
Heute bin ich in die Stadt gefahren, um eine Klavierschule zu kaufen.
Mein Leben lang habe ich viele und vor allem feine Arbeiten mit meinen Fingern gemacht. Sie sind nicht ungeschickt. Darum traue ich ihnen zu, noch dazuzulernen. Genauer, ich traue meinem Kopf zu, noch dazuzulernen. In meinen frühen zwanziger Jahren habe ich neben dem Studium als Morgensekretärin gearbeitet und das Tippen mit zehn Fingern gelernt, also ein Buch gekauft, die Geläufigkeit meines Vierfingersystems aufgegeben und Fingerübungen gemacht, bis sich eine neue Geläufigkeit eingestellt hatte. Mit Vergnügen erinnere ich mich an das Gefühl beim d-a-s und k-ö-l und erwarte, dass sich das jetzt wiederholt, erwarte aber auch, dass es schwieriger wird.
Zeit will ich mir lassen. Geduld will ich haben. Und keine Ziele, schon gar keine hohen. Das Ziel soll immer der Schritt sein, den ich gerade mache. Der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, sagt man.
So habe ich mich an mein Klavier gesetzt.
Es war zu hoch. Wer einen Klavierhocker besitzt, würde den höher schrauben. Das weiß ich, weil mein Großvater einen Klavierhocker hatte. Ich habe keinen. Dafür kann man das Gestell, auf dem das Klavier liegt, in der Höhe verstellen, wenn man den Mechanismus versteht. Sehr lange habe ich daran herumprobiert, bis ich schließlich die richtige Höhe hatte, und ich fürchte, ich verstehe diesen Mechanismus noch immer nicht richtig.
Endlich konnte ich meine Finger auf die Tasten legen. Das Lehrbuch sagt, wie. Dann sagt es, was ich für den Anfang mit diesen Fingern tun soll, und die Schwierigkeiten können beginnen. Ich sehe mir bei meinen Versuchen zu und staune. Meine Finger sind Zusammenarbeit gewöhnt, nicht aber, ihre individuellen Rollen aufzugeben, um an ihrem Ort das Gleiche gleich zu machen wie die andern Finger. Nicht nur gleich stark sollen sie ihre Taste schlagen, sondern auch gleich lang und im richtigen Augenblick. Der kleine Finger würde das gern leiser machen als die stärkeren, und wenn er sich um mehr Kraft bemüht, um gleich zu klingen, wird er zu laut, was ich sehr verständlich finde. Woher soll er denn eine Kräfteskala im Kopf haben, die ihm bisher nie abverlangt wurde? Er hat noch viel zu lernen, und die andern Finger auch. Ich lobe ihn fürs Erste.
Beim d-a-s auf der Schreibmaschine ging es nur darum, die Finger in ungewohnter Reihenfolge zu bewegen und den richtigen Ort zu treffen. Auf dem Klavier hat die gleiche Abfolge mindestens zwei Dimensionen mehr. K-ö-l heißt hier e-g-f. Und d-a-s heißt e-c-d, wird aber nicht so geschrieben. Über Violinschlüsselnoten weiß ich das Nötigste, mit Bassschlüsseln hatte ich noch nie zu tun.
Um keine Langeweile aufkommen zu lassen, wende ich mich schon mal der nächsten Schwierigkeit zu, dem Akkord, und da hören die Vergleiche mit der Schreibmaschine auf. Vergleichbar ist nur noch, dass man aufs Blatt schaut und nicht auf die Finger. Vor dreißig Jahren habe ich Blockflöte spielen gelernt, und ich erinnere mich an das Üben von Fingerkombinationen und daran, wie schnell meine Finger gelernt haben, etwas anderes zu tun als die der anderen Hand. Auf den Tasten kommt mir das viel schwieriger vor. Warum? Es muss am Alter liegen, denken wir gern, und zwar aus Faulheit. Ich glaube eher, es liegt daran, dass auf der Flöte die Finger nur ein Loch verschließen mussten und nicht auch noch einen Ton erzeugen, das war Sache des Mundraums. Aber ich muss mich korrigieren. Die Finger dienen dem neuen Ton nicht durch Verschließen, sondern durch Öffnen, während sie in der Grundstellung alles verschließen. Das ist das Gegenteil von dem, was auf dem Klavier von ihnen erwartet wird.
Jedenfalls scheint diese Tonerzeugung meine Finger jetzt so abzulenken, dass sie es nur selten schaffen, gleichzeitig aufzutreffen. Arpeggio heißt das, aber ein Arpeggio ist nicht erwünscht, und schon gar kein chaotisches. Nach Harfenart heiße das, sagt der Duden, und dabei kommt mir in den Sinn, dass ich auf meinem Klavier außer Geigen zwar nicht die Harfe, wohl aber das Cembalo spielen könnte. Wenn ich es könnte.
Schon der erste Akkord will gelernt sein, erst recht der Wechsel zum Dominantseptimakkord. Dieser Wechsel überrascht mich damit, dass die betroffenen Finger ihn ohne große Mühe zustande bringen, der Zeigefinger tut sowieso bereitwillig alles, was ich ihm auftrage, und der kleine Finger hat viel Erfahrung darin, nach links auszugreifen, denn das kann nur er. Aber wenn sie alle in den Grundakkord zurückkehren sollen, würde ich am liebsten mit der andern Hand nachhelfen.
Nun noch ein erster Versuch mit beiden Händen. Melodie und Begleitung. Habe ich gesagt, auf der Flöte habe sich leicht gelernt, dass die Hände unterschiedliche Dinge tun? Hier nicht. Es scheint daran zu liegen, dass sie nicht gemeinsam an einem Ton arbeiten, sondern getrennt an ihren eigenen Tonfolgen, und das in eigenen Rhythmen. Das Buch fordert mich außerdem auf, die Begleitung leiser zu spielen als die Melodie, und damit bin ich definitiv überfordert.
Bis hierher und nicht weiter. Es war sowieso unvernünftig viel für die erste Stunde, aber ich war zu neugierig, um es nicht auszuprobieren. Und jetzt bin ich neugierig, wie viele Wochen ich brauche, um das Pensum dieser ersten Stunde zu lernen. Lernen sage ich, aber das Wort kommt mir unpassend vor. Wahrscheinlich ist es etwas ganz anderes.
23. September
Heute ist ein duftender Septembertag, nur ein Hauch von einem Wind, damit man die Frische fühlen kann, ein leises Wehen in der Birke, kein Rauschen, kein Rascheln. Als ich aufgestanden bin, war das Licht noch im Morgennebel versteckt. Ich habe mir vorgenommen, morgens zu üben, noch vor dem Frühstück. Um etwas Neues zu lernen, schien mir, sollte ich mich an feste Regeln halten. Ob die Regel, für die ich mich entschieden habe, vernünftig ist, wird sich zeigen.
Ich bin kein Morgenmensch. Darum wünsche ich mir beim Aufwachen immer, den Tag noch nicht beginnen zu müssen. Ich weiß, wie undankbar das ist. Sollte ich nicht vor Freude singen angesichts der Tatsache, dass ich noch einen Tag vor mir habe? Irgendwann wird das schließlich nicht mehr der Fall sein. Aber die Erfahrung hat gezeigt, dass mir in der Frühe die Dinge schwerer fallen als später am Tag. Das war schon in der Schule so. Wenn die Lehrerin sagte, man schreibe die schwierige Mathematikarbeit ausnahmsweise in den beiden ersten Stunden, wenn wir alle noch frisch seien, wusste ich nicht, was sie meinte. Ich war erst zwei Stunden später frisch. Aber ich habe daraus gelernt, dass es Menschen gibt, denen es damit anders ergeht, und dieses Wissen ist auch etwas wert.
Warum nur habe ich den Plan gefasst, vor dem Frühstück am Klavier zu sitzen? Steckt die Hoffnung dahinter, ein altes Muster durchbrechen zu können? Oder will ich mir das Lernen schwerer machen, als es sein müsste, damit ich eine Ausrede habe, wenn es schwerfällt? Das kann ich nicht glauben. Eher glaube ich, ich wollte einen Platz im Lauf des Tages finden, der noch frei ist. So kommt es mir vor, obwohl meine Stunden keine festen Regeln mehr haben, und wenn, dann vor allem durch die Radioprogramme, mit denen ich mich von meiner Arbeit abhalten lasse, wozu die täglichen Zeitungen und die Arbeiten im Haus und im Garten auch ihren Teil beitragen, vom Schwimmen und Einkaufen gar nicht zu reden, sodass ich kaum noch zum Schreiben komme. Dabei habe ich mit einem lange geplanten Buch endlich angefangen und wünsche mir, beim zweiten Kapitel möglichst bald voranzukommen. Jedenfalls erscheint mir die Zeit vor dem Frühstück plötzlich als eine, die ich aufwerten möchte.
Eine Überraschung waren heute früh meine ersten Schritte beim Aufstehen. Ich hatte einen Muskelkater. Nicht etwa in den Armen oder Händen, das hätte mich nicht überrascht, nachdem ich sie eine Stunde lang so anders gebraucht hatte als sonst, sondern in den Beinen und Füßen. Die Ursache kann nicht im Pedalgebrauch zu suchen sein, denn der liegt noch in weiter Ferne. Was mögen meine Beine zu meinen Bemühungen beigetragen haben? Sehr nützlich kann es nicht gewesen sein, aber vielleicht war es notwendig. Um ehrlich zu sein, die Schultern fühlen sich auch etwas anders an als sonst. Der Körper sollte lockerer sein beim Üben, folgere ich. Aber das ist leicht gesagt, wenn sich das Gehirn so anstrengen muss mit seinen Fingern.
Ich habe also, als die Morgennebel noch vor dem Fenster herumstanden, geübt. Nur eine halbe Stunde, um etwas für die Lockerheit zu tun und weil dann die Kontext-Sendung im Radio anfing, passend zum Frühstück. Wie erwartet stand es um meine Fingerfertigkeit genauso wie gestern, oder nicht ganz wie erwartet, denn im Geheimen pflege ich die Hoffnung, dass durch den Nachtschlaf sich das Gelernte befestigen könnte. Es schien mir aber ganz im Gegenteil wieder verlernt zu sein. Trotzdem ist möglicherweise doch genau das geschehen, ohne dass ich es wahrnehmen kann. Die Unterschiede sind zu winzig, und beim zweiten Mal erscheint uns das Noch-nicht-Können wie ein Rückschritt.
Kürzlich habe ich etwas gelesen über die Befestigung von Gelerntem. Da gab es einen Unterschied zwischen motorischem und wissensmäßigem Lernen, was die Verankerung durch Vorgänge während des Schlafens betrifft. Die Formulierungen sind falsch, in dem Artikel wurde eine andere Terminologie verwendet, was vielleicht auch den Inhalt verändert. Wenn ich schon gewusst hätte, dass ich bald Klavier spielen lernen würde, hätte ich mir vielleicht nicht die Terminologie, wohl aber die Ergebnisse der Studie genauer gemerkt. Mein Entschluss ist aber erst drei Tage alt, und jetzt weiß ich nicht, ob es bei meinem Vorhaben sinnvoll wäre, vor dem Einschlafen das Gelernte noch einmal zu wiederholen oder gerade nicht. Und ob ich statt am frühen Morgen vielleicht doch lieber am späten Abend üben sollte.
24. September
Gestern vor dem Schlafengehen habe ich noch eine Viertelstunde die einfachsten Dinge geübt, um meinem Gehirn die Möglichkeit anzubieten, sich über Nacht damit zu beschäftigen.
Der Mond schien zum Fenster herein, rund und von einem leuchtenden Hof umgeben. Rechts unter dem Mond war ein heller Stern zu sehen, was mich erstaunt hat, denn Sterne sieht man hier in Stadtnähe sonst kaum, und schon gar nicht in mondhellen Nächten. Bei solchen Ausnahmen vermute ich, dass es ein Planet sein könnte. Ich sage nicht gern Stern oder Planet, weil es bedeutet, dass ich nicht weiß, welcher es ist. Sie haben alle ihre Namen, und ich erkenne nur die Venus, weil sie gleich nach der Sonne untergeht, und die konnte es nachts um halb zwölf nicht sein, wenn der Vollmond sich seinem Zenit nähert. Der Sternenhimmel gehört zu den Dingen, über die ich schon immer mehr wissen wollte, um nicht so pauschal von Sternen sprechen zu müssen, weil ich nicht einmal die Fixsterne von Planeten unterscheiden kann. Über den Mond weiß ich etwas mehr als über die Sterne und wundere mich nicht, wenn er beim Abnehmen täglich später auf- und untergeht, bis er als Neumond am Tageshimmel steht, um dann als zunehmende Sichel immer weiter hinter der Sonne zurückzubleiben. Nur warum er sich ausgerechnet so um die Erde dreht, dass er uns immer die gleiche Seite zuwendet, habe ich noch nicht verstanden.
Aber jetzt lerne ich Klavier spielen. Die Himmelskörper kann ich mir später vornehmen.
Ich gehöre zu denen, die vor dem Einschlafen lesen, und dabei kann es sehr spät werden. Das macht normalerweise nichts, weil ich dann morgens länger schlafe. Aber gestern habe ich mich gefragt, ob ich aufs Lesen verzichten sollte, wenn ich vor dem Frühstück schon etwas vorhabe. Ich habe nicht verzichtet und bin um halb sechs wieder aufgewacht. Das ist nichts Besonderes, ich gehe dann ins Bad und schlafe nachher gleich wieder ein. Heute nicht. Der Himmel zeigte schon ein erstes Morgengrauen, und in meinem Kopf war alles in Bewegung.
Das Morgengrauen war, wie gesagt, draußen am Himmel und nicht wie sonst in meinem Kopf. Allmählich nahm das Licht im Fenster zu. Ich vertrage es schlecht, wenn beim Aufwachen die Welt nicht zum Fenster hereinschaut, darum lasse ich die Fensterläden offen und habe keine Vorhänge. Man könnte meinen, das sei ein atavistischer Reflex aus den Kriegsjahren, als die allgemeine Verdunkelung geboten war, aber ich glaube, es ist einfacher. Wenn das Licht ausgesperrt wird, fühle ich mich eingesperrt, und es fällt mir noch schwerer, mich auf den Tag zuzubewegen, als ohnehin schon. Während der Himmel oben noch dunkel war, entstand ein rötliches Geschiebe über dem Hügel im Osten, das an Stärke zunahm, also einen Sonnenaufgang ankündigte, wie er vor einem Regentag aussieht. Und während die Helligkeit wuchs, mischten sich gelbe Töne ins Rote. Also vielleicht nicht den ganzen Tag Regen.
Weil ich Sonnenaufgänge meistens verschlafe, bleiben sie mir, wenn ich sie erlebe, stärker in Erinnerung. Vor vierzig Jahren wurde mein erster Sohn geboren, im Herbst, und wenn man ein Neugeborenes im Hause hat, verpasst man keine Sonnenaufgänge. Die bleiben dann für immer mit diesem neuen Glück und dieser neuen liebevollen Sorge verknüpft, und das umso mehr, als das Aufgehen der Sonne auch so schon ein Vorgang ist, der intensive Gefühle wachrufen kann.
Den Sonnenaufgang selber kann man hierzulande aber kaum irgendwo sehen, denn wenn sie sich über den Hügel stemmt, die Sonne, ist der Tag bereits fortgeschritten. Dabei habe ich noch Glück, es gibt nicht wenige Gegenden, in denen sie es, sobald der Sommer vorbei ist, gar nicht mehr über die Berge schafft. Jetzt, im September, kann ich sie aber auch nicht über den Hügel jenseits des Sees kommen sehen, weil sie es hinter den Nachbarhäusern tut.
Heute funktionieren meine Wiedereinschlaftricks nicht. Zu viel Bewegung im Kopf. Und etwas in den Händen, das sonst nicht da ist. Ich kann kein richtiges Wort dafür finden, am ehesten gleicht es einem Brodeln oder Rumoren. Außerdem kommen sie mir viel größer vor als sonst. Große müde warme Pranken sind es, besonders die linke. Und wenn ich die Handfläche aufs Bett lege, strahlt ihr von dort geradezu Hitze entgegen.
Etwas ganz Ähnliches lässt sich von den Füßen sagen. Groß und weich fühlen sie sich an, und die Sohlen brodeln. Ein ähnliches Gefühl hatte ich schon vor einer Woche, als ich noch nicht ans Klavierspielen dachte. Wir waren bei einer Ortschaft in der Nähe des Obersees, wo die Landschaft einen eher flachen Eindruck macht, an einem Flüsschen spaziert, das sich unerwartet tief in den Wald eingeschnitten hatte, nicht nur überraschend wild war und uns Stufe um Stufe entgegengesprungen kam, sondern weiter oben in einem veritablen Wasserfall herunterstürzte. Schön war an dem Spaziergang auch, dass ich Schuhe mit dünnen Sohlen hatte, die es erlaubten, das Geröll und die Unebenheiten auf dem Weg genau wahrzunehmen. Danach waren meine Füße den ganzen Tag in lebendiger Unruhe. Jetzt habe ich nichts mit ihnen gemacht, und sie fühlen sich doch gleich an. Vielleicht tun sie das aus schierem Mitgefühl mit den Händen.
Unterdessen gehen die Farben draußen in rosa und gelbe Schattierungen des Grauen über, um halb acht ist auch der letzte Schimmer von Tiepolo-Himmel vergangen und hat dem gewöhnlichen Tageslicht Platz gemacht. Ich stehe auf, dusche und setze mich ans Klavier.
Es steht am Fenster, wo ich ins Grüne schaue, nach Süden, in den Cornus, der groß geworden ist, wie ich es mir gewünscht habe, damit er den Hortensien Schatten gibt, solange der junge Quittenbaum das noch nicht kann. Dahinter steht das Nachbarhaus mit seinen fünf Wohnungen und dem hohen Dach, hinter dem zwei noch höhere Tannen wachsen, in denen sich die Stare sammeln, und rechts davon weitere Nachbarhäuser oder Dächer.
Ich übe mit meinen großen warmen Händen die einfachsten Dinge und tue es wie im Schlaf. Mal kommen die Tonfolgen gleichmäßig, mal ungleichmäßig, und es ist nicht nur der kleine Finger, der seinen Platz in der Reihe nicht finden kann. Andere können mit ihrer gewohnten Dominanz nicht umgehen, der Ringfinger muss sehen, wie er aus seinem Schattendasein herausfindet. Und der Daumen ist auch verwirrt. Sein ganzes Leben hat er als Gegenüber mit den andern vieren zusammengearbeitet und gute Arbeit geleistet, auch bei der Blockflöte, und jetzt soll er sich plötzlich einreihen und das Gleiche tun wie sie. Ich finde, er schlägt sich tapfer.
Der linken Hand nehme ich es nicht übel, wenn die Akkorde aus dem Ruder laufen. Der eine oder andere gelingt ja. Und ganz ausnahmsweise bleibt auch mal der Krampf beim Wechseln aus.
Ich habe es nicht eilig und bin zufrieden mit dem Gedanken, unscheinbare Dinge Tausende von Malen tun zu müssen, um sie zu »lernen«.
Zwanzig Minuten, stelle ich mir vor, als Erstes am Morgen und als Letztes am Abend. Die Zeit dazwischen soll bleiben, wie sie war. Ich will nicht mein ganzes Leben ändern, nur Klavier spielen lernen. Es sieht aber ganz danach aus, dass die Zeit dazwischen nicht bleibt, wie sie war. Vielleicht ist das nur am Anfang so, ich lerne schließlich nicht oft etwas ganz Neues, und wenn das Neue allmählich zur Gewohnheit wird, nutzt sich die Wirkung ab. Aber jetzt, am Anfang, ist mein Kopf in heller Aufregung.
25.September
Ich muss meine linke Hand besser verstehen. Sie hat es nötig. Und während ich darüber nachdenke, höre ich im Radio eine Motette von Bach: »Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf«, singen sie. Ich hoffe, sie hat es gehört, meine Linke.
Schon im Sommer habe ich ihr Ungewohntes zugemutet. Die Linke ist aus allen Wolken gefallen, als sie schreiben sollte. Nur die Buchstaben ins Kreuzworträtsel. Ich war neugierig, wie und wie langsam sie lernen würde, und habe mir dabei vorgestellt, dass es vor fünfundsechzig Jahren für die rechte Hand genauso war, als sie schreiben lernen musste. Aber ich erinnere mich an keine Schwierigkeiten, mir ist, als hätte ich alles einfach gemacht. Das Schulgebäude und das Klassenzimmer sehe ich noch vor mir, obwohl ich schon nach einem halben Jahr in eine andere Schule gekommen bin, weil meine Mutter und ich umgezogen sind. Die abgewetzten Schulbänke aus einer fernen Vorkriegszeit mit ihrer Schräge, dem Ablagesims für den Griffelkasten und der Grube fürs Tintenfass, das wir noch nicht benutzen durften. Rätselhafte Runen der verschiedensten Art waren mehr oder weniger tief ins Holz geritzt und von Tinte geschwärzt, und ich fragte mich, ob ich sie eines Tages würde entziffern können. Dass an den Doppelpulten die Sitzbank für die vordere Reihe festgemacht war, kam mir sehr praktisch vor. Überrascht haben sie mich aber nicht, diese Bänke, weil ich sie schon von Großvaters Dorfschule in Mahndorf kannte. Die waren immer leer, wenn ich dort an der Tafel malen und das Gemalte mit einem nassen Schwamm wieder abwischen und die schwarzglänzende Tafel dann trockenreiben durfte. In meiner Klasse dagegen saßen mehr als fünfzig Kinder. An keins davon erinnere ich mich, auch an keinen Lehrer, nur daran, dass sie alt waren und alle paar Wochen ein neuer kam. Heute weiß ich warum. Viele waren längst pensioniert, und ab und zu kam einer aus der Kriegsgefangenschaft zurück, der dann an ihre Stelle trat. Alle hatten wir unsere Schiefertafel vor uns und einen Griffel in der Hand, und ich sehe die Reihen von i und e noch vor mir, die ich in der Schule und zu Hause geschrieben habe. Warum wir etwas, das wir längst konnten, immer wieder schreiben mussten, war mir unbegreiflich, und ich glaube nicht, dass es Vergnügen gemacht hat. Mit den andern Buchstaben war es das Gleiche. Dann kamen Buchstabenkombinationen und schließlich Wörter. Das ging alles viel zu langsam, als dass es Schwierigkeiten hätte machen können, und das war natürlich der Sinn der Sache. Aus der Fibel haben wir erste Sätze vorgelesen, »lene sei leise, male eine feine leine, ei so feine seife«. Auch das viel zu langsam. Und als ich alle Buchstaben lesen konnte, habe ich das dicke grüne Märchenbuch, aus dem meine Mutter in den Kriegsjahren immer vorgelesen hatte, mit ins Bett genommen, um selbst zu lesen, »Der Mond«, weil das Märchen schön kurz war. Welche Enttäuschung, als ich merken musste, wie schwer das war. Es war eine ganz andere Schrift, als wir sie gelernt hatten, sodass ich mir Wort für Wort buchstabieren musste und all meine Kraft brauchte, um den Sinn eines Satzes zu verstehen. Welche Erleichterung, wenn ich wieder einen Absatz geschafft hatte. Aber ich konnte die Musik nicht finden, die ich gehört hatte, wenn meine Mutter mir Märchen vorlas, und wusste nicht, ob das an diesem Märchen oder an mir oder an meiner Mutter lag.
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