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Bei einer Seance kommt Robert Craven einem fremden Geist auf die Spur, der sich im Körper einer toten Frau eingenistet hat. Das Geistwesen, das sich ihres Körpers bedient, sammelt unzählige Ratten als graue Armee um sich. Als Robert und sein Freund Howard die Pläne des Geistes gefährden, wirft dieser ihnen sein Heer entgegen. Doch als wäre dies noch nicht genug, erwartet die beiden auf dem nahe gelegenen Friedhof von St. Aimes eine weit größere Gefahr ...
Der legendäre Hexer-Zyklus - komplett und in chronologischer Reihenfolge erzählt, mit vielen Hintergrundinformationen des Autors:
Der Hexer - Die Spur des Hexers
Der Hexer - Der Seelenfresser
Der Hexer - Engel des Bösen
Der Hexer - Der achtarmige Tod
Der Hexer - Buch der tausend Tode
Der Hexer - Das Auge des Satans
Der Hexer - Der Sohn des Hexers
Der Hexer - Das Haus der bösen Träume
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Seitenzahl: 1286
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
ENGEL DES BÖSEN
Vorwort
Wenn der Stahlwolf erwacht …
Engel des Bösen
Im Land der GROSSEN ALTEN
DAGON – GOTT AUS DER TIEFE
Vorwort
Der Clan der Fischmenschen
Dagon – Gott aus der Tiefe
Wo die Nacht regiert
WER DEN TOD RUFT
Vorwort
Die Prophezeiung
Gefangen im Dämonen-Meer
Wer den Tod ruft
Über den Autor
Weitere Titel des Autors
Impressum
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Bei einer Seance kommt Robert Craven einem fremden Geist auf die Spur, der sich im Körper einer toten Frau eingenistet hat. Das Geistwesen, das sich ihres Körpers bedient, sammelt unzählige Ratten als graue Armee um sich. Als Robert und sein Freund Howard die Pläne des Geistes gefährden, wirft dieser ihnen sein Heer entgegen. Doch als wäre dies noch nicht genug, erwartet die beiden auf dem nahe gelegenen Friedhof von St. Aimes eine weit größere Gefahr …
WOLFGANG HOHLBEIN
DER HEXER
ENGEL DES BÖSEN
Als Wolfgang Hohlbein mit »Der Hexer« die Mythenwelt Howard Lovecrafts für den deutschen Heftroman adaptierte, stellte er sich einer großen Herausforderung. In erheblichem Umfang widersprachen Lovecrafts Protagonisten und auch die an der Grenze zwischen Horror und Science Fiction angesiedelte Dämonenwelt der GROSSEN ALTEN den im Heftroman gängigen Klischees, obwohl freilich eine Reihe von Kompromissen geschlossen werden musste.
Es begann damit, dass Robert Craven keinesfalls dem Abziehbild eines Heroen entspricht, der sich mit Begeisterung der Aufgabe stellt, die Welt von dämonischem Gezücht zu befreien. Robert ist ein Mensch, der ungefragt ein Erbe antreten muss, das er gar nicht will. Sein Kampf gegen die GROSSEN ALTEN entspringt nur dem Wunsch, selbst zu überleben. Erst als junger Mann erfährt er, dass sein Vater ein berüchtigter Hexer war und auch in ihm diese magischen Fähigkeiten schlummern. Und der Fluch, den sein Vater auf sich geladen hat, geht auch auf ihn über.
Es hat von anderen Autoren Versuche mit unterschiedlichem Ergebnis gegeben, den Cthulhu-Mythos in die Gegenwart zu verlegen. Hohlbein entschied sich für eine andere Vorgehensweise, er verlegte den Handlungszeitraum nach hinten, in die Zeit noch vor Lovecrafts Geburt. Die ersten Hexer-Romane spielen im Jahr 1883, oft auf den Tag genau einhundert Jahre vor Erscheinen des jeweiligen Heftes. Eine komplett in der Vergangenheit spielende Grusel-Heftserie stellte eine Neuheit auf dem deutschen Markt dar, kam aber gerade deshalb bei den Lesern gut an, wie zahlreiche Briefe gerade zu diesem Thema belegen. Nach nur acht Heften im Gespenster-Krimi erschien »Der Hexer« 1985 als eigenständige vierzehntägliche Serie.
Als ein weiterer geschickter Schachzug erwies es sich, H.P. Lovecraft selbst als Mitstreiter Roberts in die Serie einzubauen, auch wenn der echte Lovecraft zu dieser Zeit noch gar nicht gelebt hat. Das jedoch ist ein Geheimnis, das erst nach und nach im Zuge der Serie weitgehend aufgeklärt wurde.
Zwei Jahre lang erschien »Der Hexer« als eigene Serie, dann wurde er eingestellt. Möglicherweise war das Konzept für eine Heftserie doch zu ungewöhnlich, die Zyklenstruktur zu kompliziert für Gelegenheitsleser, Robert zu sehr Anti-Held für die an blonde Geisterjäger-Recken gewöhnte Leserschaft.
An den Geschichten selbst kann es schwerlich gelegen haben, denn schon kurze Zeit später feierte »Der Hexer« im Taschenbuch mit Nachdrucken der Hefte ein Comeback, und die Bücher verkauften sich ausnehmend gut, wozu wenigstens teilweise auch die inzwischen enorm gewachsene Popularität Wolfgang Hohlbeins beitrug. Erschien die Heftserie nur unter dem Pseudonym Robert Craven (der Held erzählt in Ich-Form seine eigene Geschichte), stand auf den Taschenbüchern Hohlbeins Name.
Allerdings wurde in den Taschenbüchern nur ein Teil der Hefte nachgedruckt. Erst mit der vorliegenden Edition hat der Leser die Möglichkeit, die vollständigen Abenteuer Robert Cravens noch einmal zu erleben.
Oder die phantastische Welt des Hexers zum ersten Mal zu betreten.
Frank Rehfeld
Dieser Band enthält die Hefte:
Der Hexer 10: Wenn der Stahlwolf erwacht
Der Hexer 11: Engel des Bösen
Der Hexer 12: Im Land der GROSSEN ALTEN
Der Mann war lautlos aus den Schatten einer Seitengasse getreten, in denen er gelauert und die Straße beobachtet haben musste. Jetzt stand er reglos da wie eine grässliche Statue, die nur zu dem Zweck erschaffen worden war, jedes menschliche Leben, jedes menschliche Gefühl und jede Ähnlichkeit mit dem Wesen, nach dessen Vorbild sie gefertigt worden war, zu verhöhnen. Von den Füßen aufwärts bis zu den Schultern war er ein ganz normaler Mensch; ein massiger Mann mittleren Alters, in einfache, zerschlissene Hosen und eine schwarze Arbeitsjacke gekleidet.
Doch auf den breiten, leicht vorgebeugten Schultern ruhte der spitze, von drahtigem braunen Fell bedeckte Schädel einer Ratte!
Sekundenlang stand ich wie erstarrt da, gleichermaßen gelähmt durch den entsetzlichen Anblick wie auch auf eine Art fasziniert. Für eine Sekunde stritten zwei grundverschiedene Gefühle in meiner Brust – auf der einen Seite das nackte Entsetzen, mit dem mich der Anblick des Wesens erfüllte; auf der anderen eine absurde, fast wissenschaftliche Neugier, die beinahe stärker war als die Furcht und der Wunsch, herumzufahren und zu flüchten.
Plötzlich hob der Rattenköpfige die Hand und trat auf den zerborstenen Wagen und mich zu; im gleichen Augenblick fiel die Lähmung wie ein hastig abgestreifter Mantel von mir ab. Ich prallte zurück, stieß einen krächzenden, ungläubigen Schrei aus, stolperte und fiel der Länge nach hin. Eine Ratte schoss quiekend davon, als ich sie unter mir zu begraben drohte – nicht ohne mich im Vorbeigehen noch einmal kräftig in die Hand zu beißen –, und der Mann mit dem Rattenkopf stieß einen leisen kichernden Laut aus.
Abermals kam er näher. Der Blick seiner kleinen, matt schwarzen Rattenaugen schien sich an meinem Gesicht festzusaugen; gleichzeitig vollführten seine Hände – auch sie waren, wie ich jetzt bemerkte, nur noch beinahe menschlich – kleine, kompliziert anmutende Gesten. Ich hörte einen Laut, den ich erst nach Sekunden als den Schrei einer menschlichen Stimme identifizierte, gefolgt von einem fürchterlichen Scharren und Kratzen, dann einem ekelhaften Rascheln, als rieben sich zahllose kleine, weiche Körper aneinander. Hastig wandte ich den Kopf, um nach der Ursache dieses bedrohlichen Geräusches zu sehen.
Besser gesagt – ich wollte es.
Ich führte die Bewegung nicht einmal halb zu Ende.
Es war nicht so, dass mir meine Muskeln nicht mehr gehorchten oder irgendetwas sie lähmte; vielmehr hatte ich für einen kurzen, schrecklichen Moment das Gefühl, als ob hinter meiner Stirn ein zweiter, fremder Wille sei, kaum weniger stark als mein eigener und von düsterer, animalischer Art.
Zitternd und gegen meinen Willen drehte ich den Kopf wieder zurück, stemmte mich halb in die Höhe und starrte den Rattenmann an. Etwas schien mit seinem Gesicht zu passieren – vielleicht auch mit meinen Augen, das wusste ich nicht –, aber plötzlich schienen seine Züge zu verschwimmen, sich aufzulösen wie eine Maske aus weichem Wachs, irreal und unwichtig zu werden. Alles, was noch Bestand in dieser schrecklichen Persiflage eines tierischen Antlitzes hatte, waren die Augen. Augen, die größer und größer zu werden schienen, grundlosen schwarzen Schächten gleich, in denen mein Wille und meine Lebenskraft versickerten wie Wasser in der Wüste.
Verzweifelt versuchte ich mich gegen den furchtbaren Einfluss zu wehren. Mit einem kleinen, noch klar gebliebenen Teil meines Denkens begriff ich, was mit mir geschah – der Rattenmann übernahm meinen Willen, machte mich mit der puren Kraft seines Geistes zu einem hilflosen Etwas. Es war nichts anderes als das, was ich selbst schon viele Male zuvor bei anderen getan hatte; und doch vollkommen anders. Denn während ich diese furchtbare Gabe, die ich von meinem Vater geerbt hatte, nur benutzte, wenn ich selbst in Lebensgefahr war und mich verteidigen musste, würde er mich töten.
Der Gedanke gab mir noch einmal neue Kraft. Mit aller Macht stemmte ich mich gegen den geistigen Druck, und für Sekunden schien es beinahe, als hätte ich Erfolg: Sein Gesicht hörte auf, vor mir wie eine Spiegelung im kochenden Wasser zu zucken, und seine Augen schienen zu flackern; der mörderische Sog ließ nach, und ich schöpfte neue Hoffnung.
Irgendetwas berührte meinen Fuß, aber ich ignorierte das Gefühl, torkelte einen Schritt auf den Rattenmann zu und hob abwehrend die Hände vor das Gesicht. Erneut zupfte etwas an meinem Fuß, dann gruben sich messerscharfe Krallen in meine Haut, und etwas Kleines, Pelziges begann in meinem Hosenbein nach oben zu kriechen.
Sekunden später schien sich eine Speerspitze in meine Haut zu bohren, als die Ratte ihr Ziel erreichte und ihre Zähne mit aller Kraft in meinen Oberschenkel schlug. Ich brüllte vor Schmerz, krümmte mich und fiel auf die Knie. Verzweifelt hämmerte ich mit den Fäusten auf die zuckende Ausbeulung in meinem Hosenbein, schrie erneut, als sich die Zähne des Nagers dadurch noch tiefer in mein Fleisch gruben, und schlug wieder zu. Diesmal traf ich besser; die Ratte zuckte noch einmal, verlor plötzlich ihren Halt und glitt an meinem Bein hinab.
Und trotzdem hatte sie ihr Ziel erreicht.
Ich war halb wahnsinnig vor Schmerz und Ekel. Als ich diesmal den Blick hob und den schrecklichen schwarzen Augen des Rattenmannes begegnete, hatte ich seinem Willen nichts mehr entgegenzusetzen.
Es war nicht einmal mehr ein Kampf. Er fegte meinen Willen beiseite wie ein Riese ein Spielzeugschwert, kam langsam weiter auf mich zu und hob die Hände. Ich sah, dass seine Fingernägel zu langen, mörderischen Krallen geworden waren. Ein schreckliches, gieriges Hecheln drang aus seinem halb geöffneten Maul.
Noch einmal versuchte ich mich mit meinen magischen Kräften gegen ihn zur Wehr zu setzen; und wieder spürte ich, wie mein Angriff verpuffte wie ein Wassertropfen, der auf eine glühende Herdplatte fiel. Resignierend und vollkommen erschöpft ließ ich mich zurücksinken, starrte dem Rattenmann entgegen und wartete auf den Tod.
Aber der tödliche Hieb kam nicht.
Einen halben Schritt vor mir blieb der Unheimliche stehen, starrte aus seinen grundlosen Augen auf mich herab und berührte mich schließlich beinahe sanft mit einer seiner Krallenhände an der Stirn. Und –
Es war eine Welt unter einer schwarzen Sonne. Es gab kein Licht, sondern nur eine ungesunde, graue Helligkeit, die aus dem Nirgendwo kam und sich matt auf den schwarzen Wellen des erstarrten teerigen Sumpfes spiegelte, der die Oberfläche dieser absurden Welt bedeckte. Hier und da durchbrachen Dinge den gewellten Boden, schwarze Strünke wie verbranntes Buschwerk, die aber lebten und sich wie in einem unfühlbaren Wind wiegten und wanden, peitschende Bündel grauschwarzer, narbiger Tentakel.
Da war das Mädchen. Sie war schlank und schmalschultrig und hatte dunkles Haar und große, traurige Augen. Ihre Haut wirkte in dieser bizarren Umgebung blass und leblos, und ihr Mund war zu einem stummen Schrei geöffnet, ohne dass ein Laut über ihre Lippen kam.
Sie rannte. Sie lief wie von Sinnen, ohne von der Stelle zu kommen, denn wie ein grausames lebendes Etwas, das sich angeschickt hatte, sie in ihrer Qual noch zu verspotten, bewegte sich der Boden im gleichen Maße zurück, in dem sie lief. Träge stiegen gewaltige Blasen aus dem nur scheinbar festen Schwarz der Erde und zerplatzten, und immer wieder stießen Büschel vibrierender haariger Tentakel nach dem Mädchen, griffen nach ihr und zuckten im letzten Moment zurück, als scheuten sie aus irgendeinem Grund davor zurück, sie zu berühren. Das Licht flackerte, und am Himmel erschien ein absurdes aufgedunsenes Etwas, das unmöglich eine Sonne sein konnte und ein bleiches, krank machendes Schlangenlicht verströmte.
Das Mädchen blieb stehen. Wieder zuckte der Boden wie ein lebendes Wesen und erbrach Tentakel und absurde Dinge aus lebendigem blasigem Schleim, aber diesmal zeigte sie keine Furcht, sondern blickte sich mit einer sonderbaren, fast unschuldigen Neugier um. Dicht hinter ihr brach der Boden auf, und aus dem Riss, der pulsierte und schwarze Flüssigkeit absonderte, stieg ein unförmiger Klumpen schwarz schillernder Materie, wand und bog und verzerrte sich und wuchs zu einem Etwas, das auf furchtbare Weise an eine Ziege erinnerte und gleichzeitig ganz anders war; nicht von dieser Welt, vielleicht nicht einmal aus diesem Kosmos.
Das Mädchen betrachtete das Tier einen Moment lang interessiert und drehte sich weiter herum. Schließlich blieb ihr Blick auf mir haften, und obwohl ich mir der Tatsache vollkommen bewusst war, dass dies alles nicht real, sondern nur eine Art Vision sein konnte, wusste ich doch mit der gleichen Sicherheit, dass sie mich erkannte.
Dann begann sie zu reden.
»Dies ist die letzte Warnung, Sohn des Hexers«, sagte sie. Ihre Stimme klang angenehm und dunkel, genau so, wie ich mir die Stimme eines Mädchens ihres Aussehens vorgestellt hatte, und es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass dies genau der Grund für ihr Timbre war: Nichts in diesem bizarren Wachtraum war real. Es waren meine eigenen Ängste und Wunschträume, die die geistigen Kräfte des Rattenmannes Gestalt werden ließen.
»Die letzte Warnung«, sagte sie noch einmal und mit großem Ernst. »Was geschehen muss, wird geschehen, und es liegt nicht in deiner Macht, irgendetwas am vorbestimmten Lauf der Dinge zu ändern, Sohn des Hexers. Wisse, dass die Zeit herannaht, da ER, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRECHEN SOLL, erwacht, und wisse, dass wir, die ihm dienen, DAS TIER erwecken werden. Und wisse, dass es nicht die Sache der Menschen ist, dies zu ändern.«
Ich wollte eine Frage stellen, aber ich konnte es nicht, denn ich war – obgleich die Hauptperson dieser albtraumhaften Szene – so doch nicht mehr als ein unbeteiligter Zuschauer, der hören und sehen konnte; mehr nicht. Trotzdem schien das Mädchen zu spüren, was in mir vorging, denn plötzlich lächelte es; wenn auch nur knapp und eher mitleidig.
»Aber wisse auch«, fuhr es fort, »dass es nicht in unserem Interesse liegt, dir oder irgendeinem anderen Menschen Schaden zuzufügen. Deshalb geh. Geh, und sei Mensch, und kümmere dich um die Dinge der Menschen, und dir wird kein Leid geschehen.«
Damit wandte sie sich um und ging. Der Boden zuckte und warf Wellen, wo ihre Füße den erstarrten schwarzen Sumpf berührten. Dann begannen die Dünenlandschaft und die furchtbare krank machende Sonne am Himmel zu verblassen, und – ich fand mich unversehens in der Wirklichkeit zurück, halb über dem zertrümmerten Wagen zusammengesunken und in den Klauen des schrecklichen Ungeheuers.
Mit einem Schrei bäumte ich mich auf, sprengte seinen Griff und schlug ihm mit aller Macht die Faust ins Gesicht. Der Rattenmann stieß ein pfeifendes Keuchen aus, torkelte zurück und brach in die Knie. Langsam kippte er zur Seite, verdrehte die Augen und schlug rücklings auf dem harten Kopfsteinpflaster auf, wobei sein schwarzer Helm herabfiel und über die Straße kollerte.
Verstört starrte ich die sonderbare Kopfbedeckung mit den drei kleinen, blitzenden Messingknöpfen an. Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass Rattenmänner im Allgemeinen keine schwarzen Hüte trugen, sondern diese Art von Kopfschmuck eher von den Londoner Bobbys bevorzugt wurde.
Denn niemand anders hatte ich niedergeschlagen.
Die Sonne war aufgegangen, und ihr erstes Licht hatte die Nachtkälte und die grauen Nebelschleier vertrieben; und wie jeden Morgen hatte sich in das Geräusch des Windes und das dumpfe Murmeln des nahen Meeres schon mit dem ersten Lichtschimmer das Kreischen der Möwen gemischt.
Und doch war es kein Morgen wie jeder andere.
Rings um St. Aimes war die Welt erwacht wie seit Millionen Jahren, aber der kleine, nur aus einer einzigen Straße bestehende Ort war still geblieben. Hinter den Fenstern der Stadt war nicht ein einziges Licht entzündet worden. Die Läden und Türen waren geschlossen geblieben, nirgends war Rauch aus einem Kamin gekommen, hatten Männer ihre Häuser verlassen, um zur Arbeit zu gehen, oder Frauen ihre Kinder zum Ortsausgang geleitet, wo sie sich versammelten und zur Schule im Nachbarort gingen. Es war, als hätte der Ort an diesem Morgen die rechte Zeit verpasst; als schliefe er noch.
Oder als wäre er tot.
Kilian schauderte, als er diesen Gedanken dachte. Er wusste selbst nicht genau zu sagen, warum er eigentlich wieder hierher zurückgekommen war. Nach dem, was er während der Nacht auf dem Friedhof beobachtet hatte, hätte er eigentlich davonrennen sollen, so schnell und so weit er nur konnte. Er spürte deutlich die Gefahr, das Böse, das wie eine unsichtbare schleichende Krankheit von St. Aimes und seinen Bewohnern Besitz ergriffen hatte.
Und trotzdem war da noch eine zweite Stimme in ihm gewesen; leiser als seine Furcht, unaufdringlicher. Aber ebenso mächtig. Eine Stimme, die ihm befohlen hatte, zurückzukehren und zu warten. Worauf, das wusste er nicht.
Sein Herz begann rascher zu schlagen, als er den Ort betrat, und der Blick seiner kleinen, von Schnaps und Alter trüb gewordenen Augen huschte unentwegt über die doppelte Reihe einfacher schmalbrüstiger Häuser. Da und dort bewegte sich etwas in den Schatten. Manchmal durchbrach ein Kratzen und Schaben den monotonen Singsang des Windes, und hier und da glaubte er einen kleinen pelzigen grauen Ball davonhuschen zu sehen.
»Jaja, ihr seid da, nicht wahr?«, sagte er. Seine Stimme zitterte. Er sprach eigentlich nur, um sich selbst zu beruhigen, nicht, weil er glaubte, dass sie es hörten.
»Ihr grauen Herren seid da«, fuhr er fort, während er langsam die schmale Straße entlangschlurfte, auf der Suche nach etwas, von dem er selbst nicht wusste, was es war. »Ihr spürt es auch, nicht wahr?«, fragte er. »Ihr seid schlau, viel schlauer als wir Menschen. Ihr spürt das Böse, das in der Erde lauert.«
Etwas raschelte in den Schatten neben ihm; Kilian blieb stehen und strengte seine alten Augen an, sah aber nichts als einen grauen Schemen, der auf harten Pfoten davonhuschte.
»Will er mich holen, der graue Herr?«, fragte er. Einen Moment wartete er, ob die Ratte seine Worte gehört hatte und etwa zurückkam, dann schüttelte er den Kopf und ging weiter. Vor ihm, noch zwei, drei Häuser entfernt, öffnete sich eine Tür. Eine Frau trat heraus, blieb einen Moment reglos stehen und zog dann die Tür hinter sich zu. Kilian äugte ihr misstrauisch entgegen, als sie auf die Straße hinaustrat und sich nach Westen wandte, in die Richtung, aus der er gekommen war.
Die Frau schien ihn nicht einmal zu bemerken. Ihr Blick blieb leer, und Kilian musste zur Seite treten, um nicht mit ihr zusammenzustoßen. Kopfschüttelnd sah er der Frau einen Moment lang nach, dann drehte er sich wieder herum, machte einen Schritt – und blieb abrupt wieder stehen.
Vor ihm saß eine Ratte.
Das Tier war so groß wie ein Terrier, aber viel kräftiger, und seine Augen waren von wacher, sonderbar wissender Art. Sein Maul war leicht geöffnet, sodass Kilian die Ehrfurcht gebietenden Reißzähne des kleinen Ungeheuers sehen konnte, und die Krallen scharrten unentwegt über das noch taufeuchte Kopfsteinpflaster der Straße, aber es war nichts Drohendes in dieser Geste.
»Er will mich aber doch holen, der graue Herr«, sagte Kilian. Er kicherte, völlig grundlos und mit verzerrter, bebender Stimme, und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Ratte wandte sich um, trippelte ein paar Schritte die Straße herab und sah zu Kilian zurück. Ihre Barthaare zitterten.
»Ich komme«, sagte Kilian. »Aber der graue Herr muss auf mich warten. Meine Beine sind nicht mehr so jung wie die seinen.«
Die Ratte wartete geduldig, bis der Alte sich in Bewegung gesetzt und sie fast erreicht hatte, dann trippelte sie weiter.
Der Alte merkte nicht, wie sich hinter ihm mehr und mehr Türen öffneten und das halbe Hundert Einwohner von St. Aimes nacheinander auf die Straße hinaustrat und sich in westlicher Richtung in Bewegung setzte. Er bemerkte auch nicht die anderen, kleineren Wesen, die plötzlich von überall her auftauchten und auf lautlosen Pfoten in die Häuser huschten, die von ihren menschlichen Bewohnern verlassen worden waren …
Als ich gekommen war, war die Sonne gerade aufgegangen, und das altehrwürdige Gebäude schien noch nicht ganz erwacht zu sein und blinzelte gerade seine Müdigkeit fort. Jetzt stand die Sonne hinter den blind gewordenen Scheiben des kleinen Büros fast im Zenit und verriet mir, dass es fast Mittag war. Ich fühlte mich erschöpft und ein wenig müde. Ich hatte geredet, zugehört, wieder geredet und zugehört, Fragen beantwortet und selbst welche gestellt, und irgendwann, vielleicht vor einer Stunde, vielleicht auch vor drei oder vier, hatte das Gespräch angefangen, sich im Kreise zu drehen.
Mein Gesprächspartner – ein Hüne von annähernd fünfzig Jahren – wirkte genauso müde und erschöpft wie ich, obgleich er sich Mühe gab, eine seiner Stellung entsprechende würdevolle Haltung beizubehalten. Sein Name war Wilbur Cohen – Captain Wilbur Cohen, wenn ich genau sein wollte –, und er war so etwas wie der stellvertretende Leiter der Institution, in deren Mauern ich mich befand: Scotland Yard.
Es war das zweite Mal innerhalb weniger Monate, dass ich hier zu Gast war. Ein paar der äußeren Umstände waren anders – diesmal war ich wenigstens nicht in Handschellen hergeführt worden, das Büro war ein anderes, und auch der Mann hinter dem Schreibtisch unterschied sich (nicht nur äußerlich) von Tornhill; und wenn diese Unterredung vorüber war, würde ich als freier Mann nach Hause gehen können.
Trotzdem fühlte ich mich jetzt so unbehaglich wie beim ersten Mal; vielleicht mehr.
Cohen seufzte und unterbrach so das lange, unangenehme Schweigen, das sich zwischen uns ausgebreitet hatte. »Und das ist jetzt alles?«, fragte er.
Ich nickte und hielt seinem Blick gelassen stand. »Das ist alles, Captain. Mehr kann ich Ihnen nicht erzählen.«
»Sonst wirklich nichts?«, vergewisserte sich Cohen. »Keine Leichen mehr im Keller, keine verrückten Attentäter mehr hinter Hecken, keine Ratten oder vielleicht Spinnen, die –«
»Verdammt, hören Sie auf«, unterbrach ich ihn, lauter und um mehrere Grade gereizter, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Aber Cohens offen zur Schau gestelltes Misstrauen trieb mich schier zur Raserei. »Das ist alles, was ich Ihnen sagen kann, Captain.« Ich beugte mich vor, ließ die flache Hand auf den Tisch klatschen und setzte die beleidigteste Miene auf, die ich zustande brachte. »Wenn ich Sie daran erinnern darf, Captain – es ist reines Glück, dass meine Freunde und ich noch am Leben und nicht ebenfalls verschwunden sind. Sie tun so, als hätten Sie mich auf frischer Tat ertappt und verhaftet. Verdammt – ist es neuerdings strafbar, Opfer eines Mordanschlages zu sein?«
Mein Wutausbruch irritierte Cohen nicht im Geringsten. Und ich konnte es ihm nicht einmal übel nehmen, wenn er mir misstraute. Es war eine Menge geschehen, seit ich das Haus meines Vaters am Ashton Place bezogen hatte. Im Grunde war es nur einer ganzen Reihe mittlerer Wunder und Dr. Grays Redegewandtheit zu verdanken, dass ich bis zum heutigen Tage noch keine größeren Schwierigkeiten mit den Behörden bekommen hatte. Aber ich hatte während der letzten Stunden zunehmend das Gefühl bekommen, dass sich das in nächster Zukunft ändern würde. Selbst die englische Langmut kennt Grenzen.
»Sie nehmen also an, dass Lady McPhaerson tot ist«, sagte er.
Jetzt war meine Geduld endgültig erschöpft. »Zum Teufel!«, brüllte ich, »hören Sie auf, mir die Worte im Mund zu verdrehen, Captain! Ich nehme überhaupt nichts an! Ich weiß nur, dass wir überfallen und um ein Haar umgebracht wurden und dass Lady Audley verschwunden ist!«
Cohen lehnte sich zurück und begann den Takt einer unhörbaren Melodie auf den Armlehnen seines Stuhles zu trommeln. »Und dass Sie einen Polizisten niedergeschlagen haben, der Ihnen versehentlich zu nahe gekommen ist«, fügte er hinzu. »Was war das, Craven? Eine Kurzschlusshandlung, pure Angst oder ein unbeabsichtigter Ausrutscher?«
»Was soll das, Cohen?«, fragte ich wütend. »Wollen Sie mir irgendetwas unterstellen?«
»Natürlich nicht, Mister Craven«, antwortete er ruhig. »Aber Sie müssen zugeben, dass Ihre Geschichte … nun, zumindest unwahrscheinlich klingt, nicht wahr? Sehen Sie, Craven, es sind ein paar Menschen ums Leben gekommen, seit Sie London mit Ihrer Anwesenheit beglücken – darunter einige Mitarbeiter Scotland Yards, und das ist etwas, das wir hier gar nicht schätzen. Und da kommen Sie mit einer Geschichte von Ratten, die am helllichten Tage eine Kutsche angegriffen haben sollen.« Er schüttelte den Kopf und schlug mit dem stumpfen Ende seine Bleistifte arhythmisch auf die Tischplatte.
»Es ist die Wahrheit, verdammt!«, erwiderte ich gereizt, beugte mich vor und streckte die Hände über den Tisch. Howard, Rowlf und ich waren verarztet worden, ehe man mich hierher brachte, aber die zahllosen kleinen Bisswunden waren noch deutlich zu erkennen. Außerdem sah mein Rock aus, als wäre ich damit in eine Häckselmaschine geraten. »Sehen Sie mich an!«, schnappte ich. »Oder meine beiden Begleiter. Und die toten Ratten und Pferde haben Sie doch auch gesehen!«
»Das habe ich«, bestätigte Cohen ungerührt. »Aber was beweist das? Ein paar tote Ratten, ein zerstörter Wagen, zwei bis auf die Knochen blank gefressene Pferde und eine verschwundene Lady der besten Gesellschaft Londons – das ist ein bisschen viel, um mit einem Achselzucken zur Tagesordnung überzugehen, mein lieber Craven. Meinen Sie nicht auch, dass Sie mir eine Erklärung schuldig wären?«
Er schüttelte rasch den Kopf, als ich etwas sagen wollte, und seufzte hörbar. »Nein, sagen Sie es nicht, Craven. Ich weiß, dass Sie von nichts wissen und ein unschuldig Verfolgter sind. Wahrscheinlich ist alles nur eine einzige entsetzliche Verwechslung. Diese dummen Ratten haben Ihren Wagen schlichtweg mit einem Spatzennest verwechselt, das sie ausräubern wollten.« Seine Stimme troff vor Hohn.
»Wenn Sie mich irgendeiner Straftat verdächtigen, Captain«, sagte ich eisig, »dann reden Sie am besten mit meinem Anwalt weiter. Er wartet draußen.«
Cohen machte eine wegwerfende Geste. »Hören Sie mit Ihrem Rechtsverdreher auf, Craven.«
»Dr. Gray ist gewiss kein Rechtsverdreher!«
Cohen seufzte. »Ich weiß. Er ist einer der besten und teuersten Juristen des Landes. Das ist ja gerade das Schlimme.«
Er beugte sich vor, verschränkte die Hände vor sich auf dem Tisch und sah mich über den Rand seiner dünnen, goldgefassten Brille hinweg durchdringend an. »Sie sind Amerikaner, Mister Craven.«
»Das steht in meiner Geburtsurkunde«, sagte ich, »aber ich bin –«
»Ich weiß«, unterbrach mich Cohen. »Ich habe Ihre Karte studiert, Mister Craven. Trotzdem sind Sie de jure amerikanischer Staatsbürger.«
»Ein Ausländer«, antwortete ich gereizt. »Sagen Sie es ruhig.«
Cohen zuckte die Achseln. »Das haben Sie gesagt. Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Mister Craven. Sie haben uns eine Menge Ärger gemacht in den letzten Monaten. Eine Menge einflussreicher …« Er stockte, suchte einen Moment sichtlich nach den richtigen Worten und fuhr fort: »… sagen wir Persönlichkeiten Londons haben angefangen, sich Fragen zu stellen und gewisse Sorgen zu machen.«
»Sorgen? Was für Sorgen?«
Cohen zögerte einen Moment, starrte sekundenlang seine sorgsam manikürten Fingernägel an und schien zu einem Entschluss zu kommen. »Ich will nicht lange um den heißen Brei herumreden, Craven«, begann er mit deutlich veränderter Stimme. »Ich glaube kaum, dass Sie etwas mit dem Verschwinden von Lady McPhaerson zu tun haben, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass ich Sie einer Straftat verdächtigen würde. Und ich fürchte, bei Ihrem Einfluss und Ihren nicht unbeträchtlichen finanziellen Mitteln dürfte es mir schwerfallen, Sie auch nur offiziell unter Anklage zu stellen.«
»Was soll ich dann noch hier?«, fragte ich wütend.
Cohen lächelte kalt. »Mir zuhören, Craven«, sagte er ruhig.«Es geht nicht darum, ob und was ich Ihnen beweisen kann. Es geht um Sie, Mister Craven. Sie verbreiten Unglück. Ich werfe Ihnen nicht vor, irgendetwas Ungesetzliches getan zu haben, aber Sie verbreiten Unglück. Die Leute, die in Ihre Nähe kommen, entwickeln einen verhängnisvollen Hang, auf dramatische Weise ums Leben zu kommen. Das müssen Sie zugeben.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, fragte ich scharf.
»Es sind nicht meine Worte«, erwiderte Cohen gelassen. »Ich spreche im Auftrag … sagen wir, anderer. Wären Sie ein irgendwer, Mister Craven, würde ich Sie einfach beim Kragen nehmen und in den tiefsten Keller des Tower sperren, so lange, bis ich die Wahrheit herausbekommen hätte. Aber zufälligerweise sind Sie kein irgendwer, sondern einer der reichsten und höchstwahrscheinlich auch einflussreichsten Männer der Stadt, wenn nicht des Landes.«
»Gut, dass Sie es einsehen«, knurrte ich.
»Das ändert gar nichts«, sagte Cohen gelassen. »Nicht viel jedenfalls. Ich werde ein Auge auf Sie haben, verlassen Sie sich darauf.« Er lächelte, blickte einen Moment konzentriert aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas ungemein Wichtiges zu sehen, und sah mich dann wieder über den Rand seiner Brille hinweg an. »Das Allerbeste«, sagte er leise, aber sehr, sehr ernst, »wäre, wenn Sie die Stadt verlassen würden, Mister Craven. Vielleicht sogar die britischen Inseln.«
Es dauerte einen Moment, bis ich begriff. »Sie … Sie wollen mich aus der Stadt werfen?«, fragte ich. »Mich des Landes verweisen? Mit welcher Begründung?«
»Mit keiner«, antwortete Cohen. »Wie gesagt – ich rede in quasi halb offiziellem Auftrag. Es gibt Leute, die es für besser halten würden, wenn Sie dem britischen Empire den Rücken kehren würden. Natürlich verweise ich Sie weder aus der Stadt noch des Landes. Das kann ich nicht. Noch nicht.«
»Aber Sie legen mir nahe zu gehen, bevor Sie es können.«
Cohen nickte. »Ja. Was nicht ist, kann durchaus noch werden, wissen Sie? Ich würde es bedauern, wenn ich Sie in Handschellen an Bord eines Schiffes führen müsste, das in die Staaten fährt.«
Ich antwortete nicht gleich. Nicht, dass mich Cohens Worte wirklich überrascht hätten. Nach allem, was vorgefallen war, hatte ich schon damit gerechnet, in irgendeiner Zelle zu sitzen, die ich erst in fünfzig Jahren wieder verlassen konnte. Wenn überhaupt. Aber es widerstrebte mir, so kampflos beizugeben. Und ich war unschuldig.
Zumindest in juristischem Sinne.
»Überlegen Sie es sich«, sagte Cohen und stand auf. »Es hat keine Eile. Wie Sie sich denken können, muss ich Sie sowieso bitten, die Stadt in nächster Zeit nicht zu verlassen. Aber sobald die Untersuchungen abgeschlossen sind, sollten Sie meinen Vorschlag ernsthaft ins Auge fassen. Vielleicht sehe ich in ein paar Tagen bei Ihnen vorbei und hole mir Ihre Antwort ab. Es sind da sowieso noch ein paar … Kleinigkeiten zu besprechen.«
Ich stand ebenfalls auf und starrte ihn einen Moment mit einer Mischung aus Zorn und Niedergeschlagenheit an.
»Diese … Persönlichkeiten, von denen Sie gesprochen haben, Captain«, sagte ich, das Wort auf die gleiche, eigenartige Weise betonend wie er zuvor, »wer sind sie?«
Cohen schwieg, und nach ein paar weiteren Sekunden verließ ich endgültig das Büro und trat auf den Korridor hinaus.
Gray, der die ganze Zeit auf mich gewartet hatte, um sofort eingreifen zu können, falls ich doch in Schwierigkeiten geraten sollte, sprang von der unbequemen Holzbank auf und kam mir mit fragendem Gesicht entgegen. »Nun?«
»Nichts, nun«, sagte ich seufzend. »Er hat mir nahegelegt, das Land zu verlassen, oder wenigstens die Stadt.«
Gray erbleichte. »Er hat – was?«, keuchte er.
»Mir gesagt, ich solle verschwinden, ehe ich Ärger kriege«, antwortete ich. »Jedenfalls lief es darauf hinaus. Und das Schlimmste ist, er hat sogar Recht.«
Gray fegte meine Antwort mit einer wütenden Bewegung beiseite, trat an mir vorbei und streckte die Hand nach der Türklinke aus. »Warte hier auf mich«, sagte er. »Ich kläre die Angelegenheit.«
Ich hielt ihn mit einem raschen Griff zurück. »Das hat doch keinen Sinn«, sagte ich. »Cohen hat ja Recht. Ich kann nicht die Hände in den Schoß legen und so tun, als wäre nichts geschehen.«
»Natürlich nicht«, schnappte Gray. Seine grauen, von einem Netzwerk winziger Fältchen eingefassten Augen blitzten. »Aber ich kenne Cohen. Wenn er keinen Dämpfer bekommt, wird er dein Schweigen als Zeichen von Furcht auffassen und das nächste Mal einen Schritt weiter gehen. Warte unten in der Halle auf mich. Das hier dauert nur einen Moment.« Damit drückte er die Klinke herunter und stürmte in Cohens Büro, ohne sich die Mühe zu machen, anzuklopfen.
Einen Moment lang blickte ich die geschlossene Tür noch kopfschüttelnd an, dann wandte ich mich nach links und ging langsam den nur schwach erhellten Korridor zur Treppe hinab. Vermutlich hatte Gray Recht – man musste Leuten wie Cohen auf die Finger klopfen, wenn man nicht Gefahr laufen wollte, dass sie anfingen, Katz und Maus zu spielen und einem dabei die Rolle der Maus zudachten. Aber meine Fähigkeit, Konflikte auszutragen, war einfach erschöpft. Ich war müde, fühlte mich schwach, hatte Hunger und Durst, und in meinem Kopf drehte sich alles. Im Grunde wollte ich nur noch nach Hause.
Ich ging die Treppe hinunter und trat in die hohe, nach vorne offene Säulenhalle hinaus. Obwohl es für diese Jahreszeit kalt war, fühlte ich mich im Freien einfach wohler. Es war absurd – die Beamten von Scotland Yard und ich waren im Grunde Verbündete, die zusammenhalten sollten. Aber im Augenblick waren sie meine Feinde.
Fröstelnd zog ich den Mantel enger um die Schultern zusammen, trat an den Straßenrand und winkte einer Mietdroschke. Die ersten beiden Fuhrwerke rollten einfach vorbei, obgleich ich deutlich erkennen konnte, dass sie nicht besetzt waren. Aber die Kutscher hatten wohl meinen zerfetzten Mantel und den blutigen Anzug darunter gesehen und angesichts des Hauses, vor dem ich stand, einen zwar verständlichen, aber falschen Schluss daraus gezogen.
Erst der dritte Kutscher hielt an und fragte brummig nach der Adresse, zu der er mich fahren sollte. Als ich sie ihm nannte, erbleichte der Mann, denn Ashton Place gehörte zu den Orten, mit denen man Dinge wie goldene Toilettenschüsseln und diamantbesetzte Türknöpfe in Verbindung bringt. Aber an diesem Tag vermochte ich mich nicht recht über seine Verblüffung zu amüsieren.
Als sich der Wagen in Bewegung setzte, blickte ich eher zufällig aus dem Fenster und zum Gebäude von Scotland Yard zurück.
Auf der breiten Freitreppe saß eine Ratte und starrte mir nach.
Mit dem Licht des neuen Tages war das grüne Wabern und Wogen blasser geworden. Aus der gleißenden Kuppel war ein blasser Schein geworden, nicht mehr als ein sanfter, kaum noch wahrnehmbarer Hauch im hellen Glanz der Sonne. Dafür hatte das Pulsieren am Grunde des Grabes zugenommen. Aus den finsteren Schatten waren Arme geworden, ein zuckender, auf schwer zu beschreibende Weise fließender Körper mit lichtlosen Augen aus Flecken treibender Schwärze, deren Blick älter als die Welt war, die sie sahen.
Die Fremde hatte wieder am Kopfende des Grabes Aufstellung genommen, und wie während der Nacht waren Penwick und Rowland an den beiden Längsseiten der rechteckigen Grube aufmarschiert und zur Reglosigkeit erstarrt. Bizarre menschliche Statuen mit übergroßen Rattenköpfen, deren schwarze Augen das Licht der Sonne wie polierte Knöpfe widerspiegelten …
Auch die Ratten waren wieder da, eine wirbelnde, amorphe Masse graubraunschwarzer Körper, die die drei Gestalten und das offene Grab in respektvollem Abstand umgaben.
Der Friedhof selbst war kaum wiederzuerkennen. Die meisten Grabsteine und -platten waren umgeworfen oder zerschlagen, zahllose Gräber geöffnet, die Särge darin zerborsten und mit brutaler Kraft aufgebrochen, sofern sie nicht schon von selbst verfault und bei der ersten Berührung zerfallen waren. Nur wenige Gräber waren noch unversehrt.
Lange Zeit stand die Fremde mit dem knöchernen Rattenschädel still da, dann, wie auf ein geheimes Zeichen hin, erwachte sie aus ihrer Starre, hob den Arm und stieß einen absurd klingenden Laut aus, wie ihn eine menschliche Kehle niemals zustande gebracht hätte. Am anderen Ende des Friedhofes entstand Bewegung, und zwei der Gestalten, die bisher reglos zwischen den verwüsteten Gräberreihen gestanden und zu der Fremden und ihren beiden unheimlichen Begleitern hinübergeblickt hatten, stiegen in ein aufgebrochenes Grab hinab. Ein Kratzen und Scharren wurde laut, dann das Splittern von Holz.
Die Frau in der grünen Toga hob langsam die Arme, ergriff den knöchernen Rattenschädel, den sie wie einen bizarren Helm auf dem Kopf trug, und nahm ihn ab; langsam und in einer beinahe zeremoniell anmutenden Geste. Eine vage, unruhige Bewegung ging durch die Masse der Ratten, als darunter das Gesicht einer dunkelhaarigen, jungen Frau zum Vorschein kam.
Langsam näherten sich zwei Männer dem Grab, den schlaffen, in halb vermoderte weiße Tücher eingeschlagenen Körper zwischen sich tragend, den sie aus dem erbrochenen Sarg genommen hatten. Die Ratten wichen lautlos zur Seite und bildeten eine Gasse für die beiden Männer und ihre schreckliche Last.
Sie erreichten das Grab, blieben stehen und blickten abwartend zu der Fremden hinüber. Die Frau starrte in die Grube hinab. Ihre Lippen formten … Laute. Worte einer düsteren, vor Äonen untergegangenen Sprache, und ihre Hände vollführten kleine Gesten. Dann hob sie mit einem Ruck den Arm und deutete fordernd auf den Toten, den die beiden Männer gebracht hatten.
Es gab keinen Laut, als die beiden den Leichnam in das Grab warfen und das grüne Glühen ihn aufsaugte. Nur das Wabern und Wogen in seinem Zentrum wurde stärker, und das unbeschreibliche Etwas, das im Herzen des grünen Lichtes Gestalt anzunehmen begann, schien erneut um eine Winzigkeit lebendiger und stofflicher zu werden …
Wieder bewegten sich die Lippen der Fremden, und diesmal war es ein Wort in der Sprache der Menschen, das sie formten. Nur ein Wort, aber immer und immer wieder. »Bald«, flüsterte sie. »Bald.«
Aus dem Grab erklang ein grässlicher, saugender Laut; wie zur Antwort. Es klang fast wie ein Schmatzen.
Howard hatte sich meinen Bericht schweigend angehört, aber ich wartete vergebens darauf, dass er antwortete oder auch nur mit dem Verziehen einer Miene auf meine Worte reagierte. Er war ein wenig blass, und in seinen Augen stand noch immer der gleiche, dumpf verzweifelte Ausdruck wie am Morgen, wenngleich er sich auch sichtlich gefangen hatte. Seine Hand lag auf dem Ledereinband des Buches, in dem er gelesen hatte, als ich zurückkam. Es war einer der Bände aus der Geheimbibliothek meines Vaters. Das Chaat Aquadingen. Howard wusste, wie wenig gern ich es sah, wenn er in diesem Buch las. Aber ich hatte kein Wort darüber verloren. Er kannte die Gefahr, die diese verbotenen Bücher darstellten, wahrscheinlich besser als ich. Er würde seine Gründe haben, sich derart krass über meinen Willen hinwegzusetzen.
»Ich verstehe einfach nicht, was das bedeutet«, sagte ich – zum wahrscheinlich zehnten Mal, seit ich hier herauf in die Bibliothek gekommen war.
»Es bedeutet, dass das, was du gesehen hast, kein Unfall war«, sagte Howard mit seltsam flacher, ausdrucksloser Stimme. »Die Polizei glaubt, dass die Ratten die Tollwut hatten oder der Junge sie gereizt hat, nicht?«
»Ich weiß nicht, was die Polizei glaubt«, antwortete ich rasch. Ich hatte ihm nicht viel von Cohen erzählt; wir hatten dringendere Sorgen als einen Polizeicaptain, der mich aufs Korn nehmen wollte. »Aber ich nehme es an.«
»Es stimmt nicht«, antwortete Howard. »Das war Mord, Robert. Ein kaltblütiger, berechnender Mord. Die Ratten haben diesen armen Teufel zerrissen, damit du es siehst.«
Seine Worte ließen mich schaudern. Ich hatte geahnt, dass es so war, aber es gab einen Unterschied zwischen Ahnen und Wissen.
»Jemand hat sie geschickt, meinst du?«, flüsterte ich stockend.
Howard nickte. »Nicht jemand«, sagte er betont. »Sie. Dieser arme Kerl musste um einer sinnlosen Machtdemonstration willen sterben; nur, um uns zu zeigen, wie groß ihre Macht ist.« In seinem Blick erschien wieder dieser Ausdruck von Vorwurf, mit dem er mich schon die ganze Zeit gemustert hatte und den ich mir nicht erklären konnte.
»Ich habe über alles nachgedacht, während du weg warst«, fuhr er fort. Er lächelte müde, zündete sich eine Zigarre an und ließ die freie Hand mit einer erschöpften Bewegung auf den Einband des Chaat Aquadingen hinunterfallen. »Du hast mir alles über deine … Vision erzählt?«, vergewisserte er sich. »Du hast nichts vergessen, keine Kleinigkeit? Nichts weggelassen, weil es dir unwichtig erschien?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Nichts. Aber es war alles so … so unwirklich. So … falsch.«
Der Ausdruck von Sorge auf Howards Zügen verstärkte sich noch. Müde beugte er sich in seinem Sessel vor, klappte das Chaat auf und ließ die dünnen Pergamentblätter zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchrascheln, als suche er eine bestimmte Stelle, schlug das Buch dann aber mit einem Seufzer wieder zu und zog an seiner Zigarre, bis die Spitze beinahe weiß glühte.
»Er, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRICHT … DAS TIER … Was, zum Teufel, hat sie damit gemeint?«, murmelte ich. »Und wer ist sie überhaupt? Wer ist diese Frau, die harmlose Tiere dazu bringt, Menschen zu zerfleischen?«
Howards Lippen verzogen sich zu einem dünnen, irgendwie bitteren Lächeln. »ER, DESSEN NAMEN MAN NICHT AUSSPRICHT – weißt du wirklich nicht, was das bedeuten soll? Hast du so wenig in den Schriften gelesen, die dir dein Vater hinterlassen hat?«
Ich starrte ihn an, und plötzlich hatte ich das Gefühl, von einer eisigen, unsichtbaren Hand berührt zu werden. Ein kurzer, rascher Schmerz zuckte wie eine Nadel durch mein Herz. »Du … du meinst …«
»Cthulhu«, sagte Howard ungerührt. »Ja. Die Zeit seines Erwachens rückt heran. Aber das«, fügte er rasch hinzu, als er mein abermaliges Erschrecken bemerkte, »muss nichts bedeuten. Diese Wesen sind es gewohnt, in anderen Zeiträumen zu rechnen als wir. Dieses Heranrücken kann durchaus noch hundert Jahre bedeuten. Oder auch tausend.«
»Oder ein paar Tage«, sagte ich finster.
»Oder ein paar Tage«, bestätigte Howard ungerührt. »Ja. Aber was mir trotzdem die größeren Sorgen bereitet, ist dieses andere, von dem das Mädchen gesprochen hat. DAS TIER.« Er sog an seiner Zigarre und stieß eine übel riechende Qualmwolke in meine Richtung.
»Ich habe versucht, die Antwort in diesem Buch zu finden«, fuhr er mit einer Kopfbewegung auf das Chaat Aquadingen fort, »aber leider umsonst. Es sind alle möglichen Dinge erwähnt, aber nichts, was die Bezeichnung DAS TIER trüge. Wenn wir das NECRONOMICON noch hätten –«
»Wir haben es aber nicht«, unterbrach ich ihn grob. Howard sah mich misstrauisch an. Er argwöhnte noch immer, dass ich eine weitere Abschrift dieses Buches besitzen würde, und er kam der Wahrheit damit auch näher, als mir lieb war. Aber es gibt ein paar Dinge, in denen ich nicht bereit bin, auch nur um einen Deut von meinen Prinzipien abzuweichen. Das NECRONOMICON gehört dazu.
»Schade«, sagte er schließlich.
Ich nickte. »Sehr schade«, bestätigte ich. »Aber wir werden auch so herausfinden, was diese sonderbare Warnung zu bedeuten hat.«
Die Andeutung eines Lächelns erschien auf Howards müden Zügen. »Darf ich daraus schließen, dass du nicht vorhast, sie dir zu Herzen zu nehmen?«
»Ich habe nicht vor, Lady Audley im Stich zu lassen, wenn es das ist, was du meinst«, sagte ich. »Ich bin sicher, dass sie noch lebt, Howard. Und ich fühle mich verantwortlich für das, was mit ihr geschehen ist. Dieser Narr Cohen hat nicht einmal so Unrecht mit seinen Vorwürfen.«
Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte durch einen Spalt in den Gardinen auf die Straße. London bot einen erbärmlichen Anblick, bedachte man, dass wir den 20. August schrieben und die Stadt eigentlich unter der Sommerhitze stöhnen sollte. Die Sonne stand zwar am Himmel und gab sich redliche Mühe, genau das zu erzielen, aber von Westen her trieben immer wieder düstere graue Wolken über die Stadt.
»Es ist ein bisschen spät, sich Vorwürfe zu machen, findest du nicht?«, fragte Howard.
Ich nickte, ohne mich zu ihm herumzudrehen, »Sicher. Trotzdem trifft mich die Schuld an allem, Howard. Ich hätte diesen Wahnsinn niemals beginnen dürfen. Alles hat auf dieser verdammten Séance ange …«
Ich sprach nicht weiter. Irgendetwas hinter meiner Stirn machte deutlich hörbar »Klick«.
Und plötzlich wusste ich es. Plötzlich hörte ich noch einmal die Worte, die Lady Audley während der unseligen Séance ausgestoßen hatte, sah ich noch einmal das Mädchen, dessen Bild mir der Rattenmann geschickt hatte, die bizarre Welt, in der es existierte, das Wesen, das es begleitet und das ich für unwichtig gehalten hatte. Plötzlich fügten sich die Puzzleteile zu einem Bild.
DAS TIER …
Die schwarze Ziege.
Die schwarze Ziege mit den tausend Jungen …
Wie von der Tarantel gestochen fuhr ich herum und starrte Howard an. Mein Gesicht muss eine Maske puren Entsetzens gewesen sein, denn Howard sprang auf und blickte mich erschrocken an. »Was ist los?«, fragte er.
Ich antwortete nur mit zwei Worten, aber ich sah, dass sie ihn mit der gleichen Wucht trafen wie mich.
»Shub-Niggurath!«, sagte ich. »Howard, DAS TIER ist nichts anderes als Shub-Niggurath.«
Sie lag in einem winzigen, fensterlosen Raum, der nur von einer einzelnen rußenden Petroleumlampe erhellt wurde, als sie erwachte. Ein Mann hockte auf einem Schemel neben ihrem Bett, das Gesicht von ihr abgewandt und die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt; in leicht vorgebeugter Haltung, als schliefe er. Die Luft roch verbraucht, und es war ein Gestank wie nach schmutzigen Tieren im Raum, den sie sich nicht gleich erklären konnte. Dann knüpfte dieser Gestank eine Verbindung zu den Bildern, die sie in ihren Albträumen gequält hatten, und plötzlich begriff sie, dass es keine Albträume gewesen waren, dass alles wahr war – der schreckliche Tod des rothaarigen Jungen, der Angriff auf die Kutsche, Ratten, die wie eine braune Flut heranstürmten und Craven und Mister Phillips und ihren armen Leibdiener verschlangen, die durchgehenden Pferde, die sich aufgebäumt und die Kutsche umgeworfen hatten, die zahllosen Ratten, die durch die Tür und Spalten in den zerborstenen Wänden hereingequollen waren, das ekelhafte Gefühl ihrer Berührung, und dann der schreckliche Mann mit dem Rattenkopf – dies alles war wirklich geschehen!
Lady Audley McPhaerson fuhr mit einem gellenden Schrei in die Höhe, bemerkte zu spät, dass ihre Hände zusammengebunden und mit einem kurzen Strick am Bettgestell festgeknüpft waren, und sank mit einem schmerzhaften Keuchen wieder zurück.
Der Schrei weckte den Mann neben ihr aus seiner Erstarrung. Mit einem Ruck hob er den Kopf, drehte sich im Stuhl herum und stand dann ganz auf.
Lady Audley schrie erneut, als sie sein Gesicht sah.
Es war das Gesicht einer Ratte! Der Mann war der Unheimliche aus ihrem Traum, das Ungeheuer, das plötzlich neben der Kutsche aufgetaucht war und sie aus dem zerborstenen Wagen gezerrt hatte, während die Ratten über ihren Körper krochen, sie mit ihren widerlichen Schnauzen beschnüffelten und betasteten, an ihren Kleidern und Haaren zerrten …
Lady McPhaerson hörte erst wieder auf zu schreien, als der Rattenmann sie in die Höhe riss und ihr eine schallende Ohrfeige versetzte. Die Hysterie verging so schnell, wie sie gekommen war, aber zurück blieb ein Entsetzen, das alles übertraf, was sie in ihrem langen Leben auch nur geahnt hatte. Ihre Augen schienen vor Grauen schier aus den Höhlen zu quellen, während sie das struppige Rattengesicht des Unheimlichen betrachtete.
Und dann begann das Wesen zu sprechen; mit seltsam hoher, quietschender Stimme, die Worte von einem fürchterlichen Rasseln und Hecheln begleitet, aber trotzdem verständliche Worte – und das war fast ein noch größerer Schock für Lady Audley als der pure Anblick des Scheusals.
»Es hat keinen Zweck, wenn Sie sich wehren«, krächzte es. »Sie fügen sich nur Schmerzen zu. Niemand wird Ihnen etwas zuleide tun, solange sie keine Dummheiten machen, Mylady.«
Mylady!, dachte Lady Audley entsetzt. Das Ungeheuer nannte sie Mylady! Bitterer Speichel sammelte sich unter ihrer Zunge. Sie schluckte ein paar Mal, um den Brechreiz niederzukämpfen, biss sich selbst auf die Zunge und wartete, bis der brennende Schmerz das Entsetzen, das ihre Sinne vernebelte, vertrieben hatte. Trotzdem zitterte ihre Stimme so heftig, dass sie alle Kraft aufwenden musste, um die wenigen Worte verständlich hervorzubringen.
»Wer … wer sind Sie?«, wimmerte sie. »Was haben Sie mit mir vor? Wo bin ich und was –«
Der Rattenmann unterbrach sie mit einer unwilligen Geste seiner nur noch halb menschlichen Klauenhände. »Mein Name ist Penwick«, sagte er, »aber das tut nichts zur Sache. Sie werden alles erfahren, wenn die Zeit gekommen ist. Vorerst brauchen Sie keine Angst zu haben. Ich bin nur hier, um auf Sie Acht zu geben – nicht, um Ihnen irgendetwas zuleide zu tun.«
»Vorerst«, wiederholte Lady Audley leise. »Und später?«
»Sind Sie hungrig?«, fragte der Rattenmann, als hätte er ihre Frage gar nicht gehört.
Lady Audley schluckte, schüttelte kurz und abgehackt den Kopf und versuchte sich abermals aufzurichten. Diesmal ging es, wenngleich der Strick ihre Bewegungen sehr behinderte und sie sich nur zur Hälfte erheben konnte.
»Sagen Sie es nur, wenn Sie irgendwelche Wünsche haben«, krächzte Penwick. »Sie dürfen diesen Raum nicht verlassen, aber ansonsten stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Sie … Sie könnten mir diese Fesseln abnehmen«, sagte Lady Audley mit einer Kopfbewegung auf ihre zusammengebundenen Hände.
»Das darf ich nicht.«
Lady Audley schluckte schwer. »Seien Sie nicht albern, junger … junger Mann«, sagte sie mit allem Mut, den sie aufzubringen vermochte. »Ich bin eine alte Frau, was könnte ich schon gegen einen so starken Mann wie Sie unternehmen? Die Fesseln tun mir weh.«
Das braune Rattengesicht starrte sie drei, vier endlose Sekunden lang an, dann nickte es, eine Geste, die den Schrecken, den sein Anblick brachte, noch vertiefte, denn sie bewies Lady Audley, dass dieses grauenerregende Wesen irgendwann einmal ein ganz normaler Mensch gewesen sein musste.
»Wahrscheinlich haben Sie Recht, Mylady«, sagte Penwick. »Es ist wohl nicht nötig, dass Sie die Unbequemlichkeit noch länger ertragen. Die Tür ist ohnehin abgeschlossen, und den Schlüssel habe ich in der Tasche.« Er klopfte bezeichnend auf die rechte Seite seiner schweren Arbeitsjacke, beugte sich vor und zerriss die fingerdicken Stricke um Lady Audleys Handgelenk mit einem kurzen, kräftigen Ruck.
Lady Audley schwang mit einem erleichterten Seufzer die Beine von der Liege und rieb ihre schmerzenden Handgelenke. Ihr Blick blieb unverwandt auf Penwicks Rattengesicht geheftet.
»Wenn Sie sonst noch einen Wunsch haben …«, sagte der Rattenmann.
Lady Audley nickte und streckte die Hand aus. »Helfen Sie einer alten Frau beim Aufstehen, junger Mann.«
Penwick trat – ganz Gentleman-Ratte – vor, ergriff ihre rechte Hand und zog sie behutsam auf die Füße. Lady Audleys gute zwei Zentner kamen zitternd und bebend in die Höhe.
Aber sie begnügte sich nicht damit, aufzustehen, sondern stieß sich mit der anderen Hand ab, verstärkte so Penwicks Zug noch – und riss das rechte Knie in die Höhe. Die Bewegung war vielleicht nicht sehr schnell und ganz bestimmt alles andere als elegant, aber hinter dem Knie, das Penwick da traf, wo es weder menschliche noch rattische Männer besonders schätzen, steckte die ganze Wucht ihrer zwei Zentner Körpergewicht.
Penwick stieß ein krächzendes, fast komisch klingendes Quietschen aus, krümmte sich – und kollidierte zum zweiten Mal mit Lady McPhaersons Knie.
Diesmal traf der Schlag sein Gesicht. Penwick quietschte erneut, warf die Arme in die Luft und kippte nach hinten. Er war bewusstlos, ehe er auf dem Boden aufschlug.
Sekundenlang stand Lady Audley da und blickte kopfschüttelnd auf den Rattenmann hinunter. Dann raffte sie ihre Röcke zusammen, ging umständlich neben ihm in die Hocke und begann seine Taschen zu durchwühlen. Penwick regte sich stöhnend. Seine Krallenhand fuhr scharrend über den Boden und hinterließ millimetertiefe Scharten in dem harten Holz. Seine Lider zitterten.
Lady Audley runzelte missbilligend die Stirn – und ließ sich nach vorne fallen. Penwick stieß keuchend die Luft aus, als ihre Knie seine Rippen knacken ließen, verdrehte die Augen – und verlor abermals das Bewusstsein.
»So ist es brav«, sagte Lady Audley, während ihre Hand in Penwicks Tasche glitt und mit einem gewaltigen, doppelbärtigen Schlüssel wieder zum Vorschein kam. »Bleib nur schön liegen, mein Junge, sonst müsste ich dir wirklich wehtun.«
Hinter ihr erklang ein leises, perlendes Lachen.
Lady Audley fuhr mit einem Schrei herum – und erstarrte.
Die Tür hatte sich lautlos geöffnet, während sie damit beschäftigt gewesen war, Penwick nach dem Schlüssel zu durchsuchen. Helles Sonnenlicht strömte in den Raum, ließ den Schein der Petroleumlampe verblassen und zeichnete die Konturen der Gestalt nach, die in der Tür erschienen war. Aber obwohl sie im Gegenlicht nicht mehr als ein tiefenloser schwarzer Schatten war, erkannte Lady Audley doch die Konturen einer schlanken, gut gewachsenen jungen Frau. Nur ihr Kopf schien irgendwie missgestaltet; eckig. Es war nicht der Umriss eines menschliches Kopfes.
Zitternd vor Schreck, aber noch immer von dem Willen erfüllt, ihr Leben so teuer wie nur möglich zu verkaufen, richtete sich Lady Audley vollends auf und spannte sich, als die Fremde auf sie zutrat.
»Wer sind Sie?«, fragte sie scharf.
Die Frau schloss die Tür hinter sich, und im weichen Licht der Petroleumlampe wurde aus dem flachen Schatten die Gestalt eines sehr jungen, leicht bekleideten Mädchens. Ihr Gesicht war hinter dem gebleichten Weiß eines knöchernen Rattenschädels verborgen.
»Du hast dich wirklich nicht verändert, Tante Aude«, sagte sie. »Nicht einmal in all den Jahren. Ich hätte mir denken sollen, dass Penwick allein nicht mit dir fertig wird.« Damit hob sie die Hände an den Kopf, nahm den bizarren Schädelhelm ab und ließ abermals dieses helle, perlende Lachen hören.
Lady Audley hatte das Gefühl, innerlich zu Eis zu erstarren. Sie hätte das Gesicht des Mädchens nicht zu sehen brauchen, um zu wissen, wem sie gegenüberstand. Es war dieses Lachen, das sie um mehr als alles andere in Erinnerung behalten hatte.
»Cindy!«, flüsterte sie mit bebender Stimme.
Es ging auf drei Uhr zu, als ich den Bahnhof erreichte. Unsere Reisevorbereitungen hatten nicht viel Zeit in Anspruch genommen; die Koffer waren noch gepackt seit dem verunglückten ersten Versuch, London zu verlassen, und wir hätten schon eher abreisen können, hätte Howard nicht darauf bestanden, Grays Rückkehr abzuwarten, um noch das eine oder andere mit ihm zu besprechen. Der weißhaarige Anwalt war eine gute Stunde nach mir eingetroffen, und auf seinem Gesicht hatte ein Ausdruck gelegen, als hätte er mit Cthulhu um seine Seele gepokert und verloren. Er hatte nicht sehr viel gesagt, aber nach dem wenigen, was ich ihm hatte entlocken können, schien der »Dämpfer«, den er Cohen hatte versetzen wollen, zu einem Bumerang geworden zu sein. Die »Persönlichkeiten«, von denen der Captain gesprochen hatte, mussten noch um einiges höher gestellter sein, als ich – und wohl auch er – bisher angenommen hatten. Es sah ganz so aus, als wäre mein »friedliches« Leben in London endgültig vorbei. Howard und er waren übereingekommen, dass Gray in meinem Haus bleiben und die Stellung halten sollte, bis wir aus St. Aimes zurück waren. Grays Einfluss und juristisches Können mochte auf jeden Fall reichen, mir bis zu unserer Rückkehr Luft zu verschaffen. Und wenn wir nicht zurückkamen, hatte Cohen ohnehin erreicht, was er wollte. Er hatte mir zwar verboten, die Stadt zu verlassen, aber ich hatte das sichere Gefühl, dass er ganz froh sein würde, wenn ich dieses Verbot missachtete und Fersengeld gab.
Trotzdem waren wir vorsichtig gewesen. Cohen war kein solcher Trottel wie Tornhill, der mir meine erste Bekanntschaft mit Scotland Yard versüßt hatte. Ich war ziemlich sicher, dass er mein Haus beobachten ließ, und so waren Howard, Rowlf und ich zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Richtungen aus dem Haus gegangen, wobei ich mich auf Howards Drängen hin noch zusätzlich mit einem viel zu weiten Mantel und einer albernen Kapuze getarnt hatte.
Anschließend war ich eine gute Stunde kreuz und quer durch die Stadt gegangen und gefahren, durch die Markthallen und ein großes Kaufhaus gelaufen, in drei verschiedenen Kneipen gewesen, die ich allesamt durch die Hintertür verlassen hatte, und sogar über ein paar Dächer geklettert und ein Stück weit durch die Tunnel der gerade im Bau befindlichen Untergrundbahn gerannt. Nicht einmal der Urvater sämtlicher Spürhunde hätte meine Fährte jetzt noch aufnehmen können.
Jetzt war ich auf dem Bahnhof und wartete auf den Zug. Trotz der Odyssee, die ich hinter mir hatte, blieb noch eine gute halbe Stunde Zeit, die ich damit verbrachte, möglichst unauffällig auszusehen und nach Howard und Rowlf Ausschau zu halten, die sicher längst auf mich warteten.
Ich fühlte mich nicht sonderlich wohl; trotz meiner Verkleidung und der Mühe, die ich mir gegeben hatte, einen hypothetischen Verfolger abzuschütteln, traute ich dem scheinbaren Frieden nicht. Cohen war kein Idiot. Wenn er mich beschatten ließ und wenn sein Mann ihm mitteilte, dass er meine Spur verloren hatte, würde er rasch die richtigen Schlüsse ziehen.
Das Einzige, was mich beruhigte, war die Tatsache, dass der Bahnsteig nahezu vor Menschen aus den Nähten platzte; es schien eine Unzahl von Leuten zu geben, die die Stadt verlassen wollten. Im Augenblick gab mir die Menge genügend Deckung, selbst wenn Cohen einen seiner Männer hergeschickt hatte. Und wenn wir erst einmal im Zug waren, würden wir sehen.
Eine Bewegung auf der anderen Seite des Bahnsteiges erregte meine Aufmerksamkeit. Rasch trat ich hinter eine der verwitterten Eisensäulen, die das Dach trugen, schlug die Kapuze ein wenig zurück und versuchte, über die Köpfe der dicht gedrängten Menge hinwegzuschauen.
Rowlfs hektisch gerötetes Bulldoggengesicht war unverkennbar, selbst über die große Entfernung hinweg. Er stand, beide Hände in die Jackentasche vergraben und ungeduldig mit den Füßen aufstampfend, vor der Tafel mit den Abfahrtszeiten und blickte abwechselnd auf die kleingedruckten Buchstaben und die Normaluhr, die über seinem Kopf von der Decke hing. Dann schlug er den Jackenkragen hoch und ging mit weit ausgreifenden Schritten zu der Teebude am anderen Ende des Bahnhofes hinüber. Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm folgen sollte, entschied mich aber dann dagegen.
Die Gefahr, erkannt zu werden, war zu groß. Wenn wir uns erst im Zug trafen, waren wir auf jeden Fall sicherer.
Der Gedanke ließ mich lächeln. Ich begann mich schon zu benehmen und – was schlimmer war – so zu denken, als wäre ich auf der Flucht. Dabei waren die Männer, vor denen ich mich im Moment verbarg, meine Verbündeten. Es war zum Verrücktwerden!
Ich sah auf die Uhr, stellte fest, dass ich noch knapp dreißig Minuten Zeit bis zur Abfahrt hatte, und wandte mich fröstelnd um, um ins Bahnhofscafé zu gehen. Es brachte niemandem etwas, wenn ich eine halbe Stunde hier herumstand.
Ich betrat das Lokal, suchte mir einen Platz in der hintersten Ecke, von dem aus ich den Eingang im Auge behalten konnte, ohne sofort selbst gesehen zu werden, bestellte einen heißen Kaffee und blickte unter dem Rand meiner Kapuze hinweg zur Tür.
Nach einer Weile näherten sich Schritte meinem Tisch. Ich sah auf und griff gleichzeitig in die Tasche, um eine Münze hervorzuholen.
Aber es war nicht der Ober, den ich erwartet hatte.
Der Mann vor mir war ein Riese mit schütterem Haar, einer dünnen, goldgefassten Brille und dem grimmigsten Gesichtsausdruck, der mir jemals untergekommen war. Und diesmal trug er nicht den abgewetzten grauen Anzug, mit dem ich ihn in seinem Büro gesehen hatte, sondern die schwarze Uniform der Londoner Polizei, auf deren Schultern die Goldtressen seines Captainsranges blitzten.
»Cohen!«, entfuhr es mir. »Sie?«
Er nickte – auf eine sehr grimmige, abgehackte Weise, zog sich unaufgefordert einen Stuhl heran und ließ sich darauf nieder. Das wackelige Möbelstück ächzte unter seiner Leibesfülle, aber Cohen schien es nicht einmal zu bemerken.
Finster starrte er mich durch die halb beschlagenen Gläser seiner Brille an und scheuchte den Kellner, der mit meinem Kaffee herankam, mit einer ungeduldigen Handbewegung davon.
»Es freut mich, dass Sie sich wenigstens noch an meinen Namen erinnern, Craven«, sagte er. »Um ehrlich zu sein, hatte ich schon fast gefürchtet, dass Sie unser Gespräch vom heutigen Morgen bereits vergessen haben könnten.«
»Worauf wollen Sie hinaus, Captain?«, fragte ich.
Cohen lächelte kalt. »Nichts, Craven, nichts. Sie wollen verreisen?«
»Ich folge nur Ihrem Rat«, antwortete ich bissig. »Heute Morgen konnten Sie mich nicht schnell genug aus der Stadt herausbekommen, oder?«
Cohen seufzte. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck, der gleichzeitig gelangweilt wie ergeben wirkte. Unbemerkt blickte ich an ihm vorbei zum Ausgang. Die beiden Männer, die rechts und links der Tür standen und interessiert in ihren Zeitungen blätterten, waren mir beim Hineingehen nicht aufgefallen. Aber ich war sicher, dass ich sie bemerkt hätte, wären sie zu diesem Zeitpunkt bereits dort gewesen.
Vor allem, weil einer von ihnen seine Zeitung verkehrt herum hielt.
So viel zu dem Gedanken an Flucht.
Ich straffte mich, schlug die alberne Kapuze, die ich noch immer über dem Kopf hatte, zurück und sah Cohen herausfordernd an. »Was wollen Sie von mir, Captain?«, fragte ich noch einmal. »Sie haben mir geraten, die Stadt zu verlassen. Jetzt tue ich es.«
»Ohne Koffer?«, fragte Cohen.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich reise immer mit kleinem Gepäck. Also – was wollen Sie?«
»Sie haben es sehr eilig, wie?«, murmelte Cohen lauernd. »Man könnte meinen, Sie laufen vor irgendetwas davon.«
»Sie selber haben mir gesagt –«
»Ich weiß, was ich Ihnen gesagt habe, Mister Craven«, unterbrach mich Cohen. Plötzlich klang seine Stimme ganz kalt, hart und unnachgiebig wie Stahl. »Aber das war heute Morgen, Craven. Mittlerweile haben sich gewisse Dinge geändert.«
»Gewisse Dinge?«, wiederholte ich lauernd. Plötzlich war ich mir sicher, dass Cohen mit einer ganz bestimmten Absicht hier war.
»Sehen Sie, Craven, selbst Scotland Yard ist nicht so dumm, wie ihr Amerikaner zu glauben scheint«, sagte Cohen. Seine Stimme wurde triumphierend, als er sich vorbeugte und mich anstarrte. »Haben Sie schon einmal den Namen Gloria Martin gehört, Mister Craven?«
»Martin?« Ich musste meine Verwirrung nicht einmal heucheln. »Gloria Martin?«
Cohen nickte. »Ein junges Mädchen, das sich vor ein paar Wochen auf eine Zeitungsanzeige hin bei Ihnen vorstellen wollte. Jedenfalls hat sie das ihrer alten Zimmerwirtin erzählt. Und das war das Letzte, was sie jemals einem lebenden Menschen erzählt hat, Mister Craven.«
»Vor ein paar Wochen? Ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen, Captain. Was … meinen Sie damit?«, fragte ich mühsam.
Cohen schnaubte, stand auf und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Das wissen Sie ganz genau, Craven«, sagte er hart. »Ich weiß nicht, wie Sie es geschafft haben, dass die Sache damals nicht weiterverfolgt wurde. Aber als heute Morgen Ihr Rechtsverdreher bei mir war und versucht hat, mir zu drohen, habe ich mir die Akte noch einmal kommen lassen und genauer angesehen. Gloria Martin war auf dem Weg zu Ihnen, als sie verschwand.«