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Das Geheimnis der Templer liegt im Heiligen Land
Frühjahr 1179 im Heiligen Land: Um ihr eigenes Leben zu retten, sieht sich Robin noch einmal gezwungen, das Schwert zu ergreifen und für die Sache der Templer zu kämpfen. Während das Heer der Kreuzfahrer in Auflösung begriffen ist, rettet sie Balduin, dem König von Jerusalem, das Leben und wird Zeugin eines heimtückischen Mordanschlags. Und plötzlich steht sie selbst im Mittelpunkt einer todbringenden Intrige.
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Seitenzahl: 737
Wolfgang Hohlbein
Die Rückkehr der Templerin
Das Buch
Zwei lange Jahre ist Robin das Glück vergönnt, mit ihrem geliebten Salim, dem Sohn des Alten vom Berge, in der Abgeschiedenheit der Assassinen-Festung Masyaf in Frieden zusammenzuleben. Doch als sie den Menschen eines Fischerdorfes gegen Plünderer zur Seite steht, spüren sie Templer unter dem Befehl des grausamen Dariusz auf. Zum Glück hat sie ihr Templergewand übergestreift, sodass sie Dariusz in der Gestalt des Tempelritters Robin von Tronthoff entgegentreten kann. Diese Rolle erfordert es jedoch von ihr, dass sie gemeinsam mit den Templern in den Kampf gegen Saladin zieht, der König Balduin und der gesamten Christenheit den Kampf angesagt hat.
Bei den Templern freundet sich Robin mit dem jungen Rother an, anfangs noch ohne zu ahnen, dass Dariusz ihn auf sie angesetzt hat. Rother, trotz Dariusz’ Anweisung Robin nicht ganz abgeneigt, stürzt in einen Gewissenskonflikt, als er zu begreifen glaubt, dass der Tempelritter Robin von Tronthoff ein Verhältnis mit dem Assassinen Salim hat. Bevor ihn Robin beruhigen kann, ziehen die Templer und ihre Verbündeten unter König Balduins Führung gegen Saladins mächtiges Heer in die Schlacht. Am Rande des Schlachtfelds entdeckt Robin eine dunkle, unter einem Pferd begrabene Gestalt: König Balduin! Sie rettet ihn – und begreift plötzlich, dass es Attentäter aus den eigenen Reihen auf ihn abgesehen haben. Ehe sie sich′s versieht, steht sie im Mittelpunkt einer todbringenden Intrige ... Dieser Roman knüpft an Wolfgang Hohlbeins Bücher Die Templerin und Der Ring des Sarazenen an.
Der Autor
Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, hat sich mit seinen Romanen aus den verschiedensten Genres – Thriller, Horror, Science-Fiction und historischer Roman – eine große Fangemeinde erobert und ist einer der erfolgreichsten deutschen Autoren überhaupt. Er lebt mit seiner Frau Heike und den gemeinsamen Kindern in der Nähe von Düsseldorf.
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1. Auflage Wilhelm Heyne Verlag in der Verlagsgruppe Random Housen GmbH Copyright © 2004 by Wolfgang Hohlbein Copyright ©2016 dieses E-books by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Robins Welt war wieder kleiner geworden. Auch wenn sie im Grunde ungleich größer war als das kleine friesische Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, ja, selbst größer als die Welt, die ihr Salim, Bruder Abbé und all die anderen gezeigt hatten, die während der zweiten Hälfte ihres Lebens zu ihren Wegbegleitern und Freunden geworden waren, so war sie im Augenblick doch zu einem Kreis von gerade einmal acht Schritten Durchmesser geschrumpft, den man in den Sand gezeichnet hatte. Die Linie, die diesen Kreis markierte, war längst nicht mehr zu sehen, denn der noch vor wenigen Minuten glatte Boden war nun aufgewühlt von ihren Schritten, fehlgegangenen Schwerthieben und Paraden, und wenn sie nicht Acht gab oder Jehova, Allah oder wer auch sonst immer im Moment über diesen gottverlassenen Winkel der Erde herrschte, des Spiels überdrüssig wurde, dann würde sich der Sand möglicherweise bald rot von ihrem Blut färben. Hätte sie sich doch niemals auf diesen Kampf eingelassen!
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, täuschte ihr Gegner in diesem Moment einen geraden Schwertstich an, wartete, bis Robin dazu ansetzte, ihn zu parieren, und verwandelte seine Bewegung in einen blitzartigen, halbkreisförmig nach oben geführten Hieb. Robin wich im allerletzten Moment aus, aber die Schneide des Sarazenenschwertes schrammte trotzdem, so präzise und sicher geführt wie die Klinge eines Feldschers und so kraftvoll geschlagen wie der Hammer eines Schmieds, über ihr Kettenhemd, sodass sie den Hieb nicht nur bis in die letzte Faser ihres Körpers spürte, sondern der Stahl tatsächlich Funken aus ihrer Rüstung schlug. Und hätte sie nicht buchstäblich im allerletzten Moment doch noch reagiert und sich nach hinten geworfen, dann hätte sie möglicherweise nicht einmal mehr das fein gewobene Kettenhemd geschützt, das sie unter ihrem einfachen dunkelblauen Gewand trug. Robin kannte Waffen wie die, die ihr Gegner führte, zur Genüge, und sie ahnte, dass sie selbst ein Kettenhemd durchschlagen konnten, wenn der Hieb nur entschlossen genug geführt wurde.
Robin zog sich zurück, wenn auch nicht so weit, wie es nötig gewesen wäre, und nicht einmal so weit, wie sie eigentlich wollte. Trotz allem waren ihr die Regeln in diesem Kampf klar. Wenn sie mit dem Fuß auch nur einen Zoll weit aus dem Kreis heraustrat, hatte sie verloren – und Robin hatte noch nie den Gedanken akzeptiert, einen Kampf zu verlieren. Ganz besonders nicht diesen.
Ohne ihren Gegner, der sie mit der Leichtigkeit einer Gazelle umkreiste, auch nur einen Herzschlag lang aus den Augen zu lassen, versuchte sie aus den Augenwinkeln heraus die Reaktionen der Zuschauer dieses unwürdigen Kampfes zu erkennen. Sie wirkten angespannt; braun gebrannte Gesichter, vom Wind und vom Salz des Meeres gegerbt, von der Härte eines Lebens gezeichnet, das Robin nur zu gut nachempfinden konnte, denn das Schicksal dieser Männer wäre um ein Haar auch das ihre geworden. Sie warteten darauf, dass sie fiel, begriff sie.
Der Gedanke machte sie nicht nur zornig, er verletzte sie auch. Unter dem guten Dutzend Männer war nicht einer, dem sie nicht schon einmal geholfen hätte, dem sie nicht schon einmal ein Stück Brot oder die eine oder andere kleine Münze zugesteckt hätte, mit dessen Kindern sie nicht schon gespielt oder dessen Frau sie nicht beigestanden hätte, wenn es um die Pflege eines kranken Kindes, das Einfangen einer fortgelaufenen Ziege oder den Verlust eines Familienmitglieds ging. Es war ungefähr ein Dutzend Männer, und sie hätte zu jedem einzelnen eine Geschichte erzählen können, die fast ausnahmslos darauf hinausgelaufen wäre, dass er auf die eine oder andere Art in ihrer Schuld stand. Und doch warteten sie jetzt auf ihre Niederlage.
Robin konnte es ihnen noch nicht einmal wirklich verdenken. Es hatte nichts mit ihr – Robin – zu tun. Es hatte mit der Frau zu tun, die nicht nur ein Schwert führte, sondern damit auch noch besser umzugehen vermochte als die allermeisten Männer, die sie je getroffen hatte, und das war etwas, was einfach nicht in die Ordnung ihrer Welt passte.
Was nichts daran änderte, dass Robin sich maßlos über das ärgerte, was sie in den Gesichtern der Zuschauer sah. Sowie dieser Kampf vorüber war, würde sie sich mit dem einen oder anderen von ihnen eingehend unterhalten, und sie war ziemlich sicher, dass ihm das Gespräch nicht gefallen würde.
Vorausgesetzt, sie überlebte den Irrsinn, auf den sie sich eingelassen hatte – was ihr im Moment gar nicht so sicher schien. Ihr Gegner stürmte erneut vor und täuschte zwei, drei blitzartige Hiebe in ihre Richtung an. Keiner davon kam auch nur in Robins Nähe, aber sie reagierte jedes Mal mit einer – viel zu hastigen – Bewegung mit ihrem eigenen Schwert, was sie wertvolle Kraft kostete. Es kam ihr so vor, als habe ihr Gegner ihr Schwert verzaubert, denn es schien jedes Mal schwerer geworden zu sein, wenn sie es für eine Parade oder einen Angriff hob.
»Willst du nicht endlich aufgeben?« Der verschleierte Krieger auf der anderen Seite des in den Sand getrampelten Kreises hatte seine Waffe sinken lassen und stand in fast lässiger Haltung da. Sein Gesicht war fast zur Gänze hinter einem Tuch verborgen, das je nachdem, wie die Sonne darauf fiel, dunkelblau oder in einem matten Schwarz schimmerte, sodass sie wenig mehr als seine Augen erkennen konnte. Aber das war auch nicht nötig. Sie hätte das spöttische Funkeln in seinem Blick selbst dann wahrgenommen, wenn sie ihn nicht direkt angesehen hätte.
Statt zu antworten, griff Robin an.
Sie konnte nicht sagen, ob ihr Gegner sein überhebliches Spiel nur auf die Spitze trieb oder ihn das Ungestüm ihres plötzlichen Angriffes tatsächlich überrascht hatte – so oder so, es gelang Robin, ihn mit drei, vier wuchtigen Schwertschlägen vor sich her und fast bis zur gegenüberliegenden Grenze des Kreises zu treiben, bis er in seinen gewohnten Rhythmus zurückfand. Robin deckte ihn mit einem Hagel von Hieben ein, die er nur mit Mühe parieren konnte, doch dann machte er eine plötzliche, blitzschnelle Bewegung, die Robin um ein Haar das Schwert aus der Hand geprellt hätte, und nun war sie es, die haltlos Schritt für Schritt vor ihrem in dunkelblaues Tuch gekleideten Gegner zurückwich und sich dem Rand des Kreises bedrohlich näherte.
Die Schwerthiebe ihres Gegners wurden nun härter. Er versuchte nicht mehr, ihre Deckung zu durchbrechen oder sie mit irgendeiner heimtückischen Bewegung zu treffen, sondern hatte sich offensichtlich entschlossen, seine überlegenen Körperkräfte zum Einsatz zu bringen und das zu tun, was Robin schon während ihrer Zeit in der Komturei bei mehr als einem Mann beobachtet und was sie stets aus tiefstem Herzen verachtet hatte: Ihr Gegenüber kämpfte plötzlich nicht mehr wie ein Ritter, der sein Schwert mit Kunstfertigkeit und Geschick führte, sondern drosch einfach auf sie ein, versuchte ganz gezielt nichts anderes als ihr Schwert zu treffen und mit jedem Hieb, den sie mühsam abwehrte, ihre Kräfte weiter zu erschöpfen.
Diese barbarische Art des Zweikampfes, der zweifellos die tiefste Verachtung jedes Ritters verdiente, war unglückseligerweise aber auch sehr effektiv, wenn sich das Kräfteverhältnis so ungleich darstellte wie jetzt. Robin war für eine Frau erstaunlich stark, aber der andere war einen guten Kopf größer als sie und wog mindestens dreißig oder vierzig Pfund mehr. Und dazu kam, dass Robin allmählich begriff, dass ihr Gegner ihre beste Waffe – den unbedingten Willen zu siegen – in diesem Kampf mindestens genauso gut einzusetzen verstand wie sie selbst.
Robin blieb keine Zeit, hinter sich zu sehen, um sich davon zu überzeugen, wie nahe sie dem Rand des Kampfplatzes bereits war. Aber es konnten höchstens noch ein paar Schritte sein; ein letzter, wuchtig geführter Schwerthieb ihres Gegners, dessen furchtbare Kraft sie einfach über die in den Sand gezeichnete Linie hinwegstolpern ließ und den Kampf beenden würde, und plötzlich spürte sie, wie die Anspannung der Zuschauer eine neue Qualität erlangte. Sie hatte nicht einmal mehr diesen einen Schritt.
Als das Schwert des Angreifers das nächste Mal herabsauste, fing sie es zwar mit ihrer eigenen Klinge ab, versuchte aber gar nicht erst, sich der Kraft des Schlages zu widersetzen, sondern ließ sich nach hinten und gleichzeitig zur Seite kippen und nutzte im allerletzten Moment den Schwung ihrer eigenen Bewegung, um sich herumzuwerfen und mit einer komplizierten seitlichen Rolle wieder in den Kreis zurückzukehren.
Die Zuschauer johlten begeistert, und noch während Robin herumrollte und dabei zugleich wieder auf die Füße zu kommen versuchte, registrierte sie eine schattenhafte Bewegung aus den Augenwinkeln und warf sich instinktiv abermals herum. Das Schwert des Angreifers ließ den Sand aufspritzen wie Wasser, in das jemand einen Stein geworfen hatte, genau dort, wo sie einen Herzschlag zuvor noch gewesen war, was die Zuschauer mit begeistertem Johlen und Händeklatschen kommentierten. Robin versuchte verzweifelt, sich abermals herumzuwerfen, doch diesmal geriet die Bewegung zu nichts anderem als einem hilflosen Stolpern, an dessen Ende sie ausgestreckt zu Boden fiel.
Hätte ihr Gegner in diesem Moment nachgesetzt, der Kampf wäre vorüber gewesen, denn Robin hatte nicht nur Mund und Nase voller Sand, der sie nahezu blind machte und darüber hinaus sein Möglichstes tat, sie zu ersticken, sie hatte auch plötzlich das Gefühl, jedes bisschen Kraft wäre aus ihren Gliedern gewichen. Das Kettenhemd, das sie trug, schien Zentner zu wiegen, und selbst das Schwert in ihrer Hand fühlte sich plötzlich so schwer an, als hätte es sich auf magische Weise in die Streitaxt eines Nordmannes verwandelt.
Aber natürlich verzichtete ihr Gegenüber darauf, den Kampf auf diese Weise zu gewinnen. Vermutlich wäre es ihm zu einfach erschienen; ein Sieg, an dem er keine Freude gehabt hätte.
Robin hatte, was das anging, weit weniger Skrupel. Sie nutzte ganz im Gegenteil diese offensichtliche Schwäche ihres Gegners aus, um noch zwei oder drei Herzschläge länger, als nötig gewesen wäre, reglos liegen zu bleiben und sich unnötig umständlich (und Zeit schindend) in die Höhe zu stemmen und zu ihm umzudrehen. Die Augen über dem schwarzblauen Tuch funkelten sie noch immer spöttisch an, und für einen Moment wusste Robin nicht, worüber sie sich mehr ärgern sollte: über die Überheblichkeit in den dunklen Augen oder über ihre eigene Schwäche, die noch dazu ganz allein ihre Schuld war. In den letzten Monaten hatte sie ihre Waffenübungen viel zu sehr vernachlässigt. Das Schwert lag vielleicht noch immer so leicht und vertraut in ihrer Hand, wie sie es gewohnt war, aber sie hatte schon auf dem Weg hierher gemerkt, wie unangenehm das Gewicht des Kettenhemdes war und dass ihr auch der Ritt deutlich mehr Mühe bereitet hatte, als er gedurft hätte. Völlerei und ein ausschweifendes Leben, dachte sie spöttisch. Manche Sünden schien Gott der Herr tatsächlich sehr schnell zu bestrafen.
Was nichts daran änderte, dass sie diesen Kampf schnell zu Ende bringen musste, wollte sie auch nur noch die Spur einer Chance haben, ihn zu gewinnen.
Oder wenigstens zu überleben.
Robin taumelte in einer Bewegung übertrieben gespielter Erschöpfung zurück, hob das Schwert ein wenig an und ließ den Arm dann wieder sinken, als wäre das Gewicht der Waffe plötzlich zu viel für sie. Sehr weit von dieser Täuschung war sie tatsächlich nicht entfernt, aber doch weit genug, dass ihr Gegner darauf hereinfiel. Möglicherweise war er des Spiels, das sie spielten, auch einfach nur überdrüssig. Er stürmte heran, deckte sie abermals mit einem wahren Hagel von Schlägen ein, die Robin nur mit immer größerer Mühe noch parieren konnte, und trieb sie zudem auch noch so vor sich her, dass er plötzlich mit dem Rücken zur Sonne stand und sie nicht nur durch den grellen Feuerball geblendet wurde, der plötzlich hinter seinem Kopf loderte und den schwarzblauen Turban in einen flirrenden Heiligenschein zu verwandeln schien, sondern sie auch für einen winzigen Moment hoffnungslos verblüffte.
Genau einen Moment zu lange.
Sie sah den Hieb kommen und schaffte es irgendwie noch, ihre eigene Klinge zwischen sich und den niedersausenden Krummsäbel des Angreifers zu bringen, nicht aber, die nötige Kraft in die Bewegung zu legen. Diesmal schlugen die beiden Schwerter nicht Funken sprühend aufeinander. Robins Waffe wurde ihr einfach aus der Hand geprellt und flog davon, um irgendwo weit außerhalb des Kreises in den Sand zu fallen, und sie selbst taumelte mit einem unterdrückten Schmerzenslaut zurück und fiel auf die Knie. Ihre rechte Hand fühlte sich an, als hätte sie ein Ochse getreten, und der Arm war für einen Moment vollkommen taub. Plötzlich fühlte sie sich so schwach, dass das Gewicht des Kettenhemdes allein schon auszureichen schien, sie endgültig zu Boden zu ziehen. Die Gestalt ihres Gegners ragte wie ein riesenhafter, verzerrter Schatten über ihr empor, und das Glitzern in seinen Augen schien ihr mit einem Male nicht mehr spöttisch, sondern von einem Ausdruck gnadenloser Härte und Entschlossenheit erfüllt.
»Gibst du endlich auf?«, fragte er. »Ich will gerne zugeben, dass du dich gut geschlagen hast, für eine Frau. Aber nun ist es genug. Wenn du mich um Gnade bittest, lasse ich dich vielleicht gehen.«
»Und wenn nicht?«, fragte Robin. Sie erschrak über den Klang ihrer eigenen Stimme. Sie zitterte vor Schwäche, und es war etwas darin, was nicht hineingehörte.
»Dann müsste ich dir vielleicht sehr wehtun«, antwortete der andere.
»Ja«, antwortete Robin. »Irgendwie habe ich nichts anderes erwartet.« Sie seufzte tief, sank dann, wie von einem plötzlichen Schwächeanfall gepackt, nach vorne und fing ihren Sturz im letzten Moment mit den Händen ab. Jedenfalls musste der andere es glauben. In Wahrheit grub sie die Finger in den Boden, ließ sich dann blitzschnell zur Seite fallen und schleuderte dem Angreifer eine Hand voll Sand ins Gesicht. Offensichtlich hatte er mit dieser Bewegung gerechnet, denn er schloss blitzartig die Augen und wich ebenso rasch einen halben Schritt zurück, aber das wiederum hatte Robin vorausgesehen. Sie fiel nicht wirklich, sondern rollte sich blitzschnell über die Schulter und die linke Hand ab, rammte den Fuß in die Kniekehle des Angreifers und stieß ihm gleichzeitig den anderen Fuß gegen den Knöchel, und das war selbst für ihn zu viel. Mit einem eher zornigen als überraschten Laut warf er die Arme in die Luft und kämpfte mit wild rudernden Bewegungen um sein Gleichgewicht, aber es war ein Kampf, den er verlor.
Hilflos stürzte er nach hinten, und Robin war über ihm, bevor er ganz in den Sand gefallen war. In ihrer Hand blitzte plötzlich ein winziger, spitzer Dolch, den sie noch in der Bewegung unter dem Gewand hervorgezogen hatte. Die messerscharfe Klinge zerteilte den schwarzblauen Stoff vor dem Gesicht des Angreifers so mühelos, als schnitte sie durch dünnes Reispapier, glitt an seiner Kehle entlang und fand mit tödlicher Sicherheit die pochende Ader an der rechten Seite seines Halses. Ein einzelner, sonderbar heller Blutstropfen quoll aus der winzigen Wunde und zog eine dünne Spur in den staubverklebten Schweiß auf seiner Haut, und die Gestalt erstarrte. Die Augen über dem dunklen Schleier weiteten sich, und ein Ausdruck zwischen Überraschung und Zorn erschien darin; aber auch eine ganz schwache Spur von Furcht, die ihr Besitzer mühsam niederzuringen versuchte, ohne dass es ihm wirklich gelang. Für die Dauer eines einzelnen, schweren Herzschlags schien die Zeit stehen zu bleiben.
Dann wechselte Robin, blitzschnell und ohne die Klinge aus tödlichem Damaszenerstahl auch nur einen Deut zurückzuziehen oder gar loszulassen, den Dolch von der rechten in die linke Hand, griff mit dem frei gewordenen Finger zu und riss den Schleier mit einem Ruck zur Seite. Darunter kam ein edel geschnittenes, noch erstaunlich jugendlich wirkendes Gesicht zum Vorschein, dessen Haut die Farbe von dunklem Kupfer hatte. Auf den ersten Blick hätte man es für das Gesicht eines Jungen halten können, gleichzeitig aber auch für das eines Königs oder eines Kriegers. Die scharf geschnittene Nase passte nicht zu den ansonsten eher orientalischen Zügen, wirkte aber nicht störend, sondern verlieh ihm im Gegenteil etwas Edles, und die Augen waren gerade eine Spur zu hell, um nicht in diesem sonderbaren, nicht ganz arabisch wirkenden Gesicht aufzufallen.
»So«, sagte Robin schwer atmend. »Du schlägst also gerne Frauen?«
»Warum auch nicht?«, antwortete der andere. »Wenn meine einzige Wahl darin besteht, ansonsten von ihnen geschlagen zu werden?«
Noch immer, ohne den Dolch zurückzuziehen, beugte sich Robin vor und war ihm so nah, dass sich ihre Lippen fast berührt hätten und es wohl nur dem warnenden Funkeln in seinen Augen zu verdanken war, dass sie sich nicht weiter vorbeugte, um ihn zu küssen. Trotz der unausgesprochenen Warnung in seinen Augen, den Bogen nicht endgültig zu überspannen, stieß er sie nicht zurück, und gerade als Robin spürte, wie sich seine Hände aus dem Sand lösten und nach ihr griffen, zog sie den Kopf zurück und setzte sich auf; wenn auch nicht sehr weit.
»Wenn das allerdings der Preis ist, dann sollte ich mich vielleicht öfter von dir besiegen lassen«, sagte Salim atemlos.
»Besiegen lassen?«, wiederholte Robin. Die Messerspitze berührte immer noch seine Halsschlagader, und die hellrote Spur, die sich über seine Haut zog, war sogar ein wenig breiter geworden.
»Also gut, du hast mich besiegt.« Salim verzog in einem Ausdruck übertrieben geschauspielerter Zerknirschung das Gesicht, hob vorsichtig die Hand und deutete mit Zeige- und Mittelfinger auf den Dolch. »Könntest du vielleicht jetzt freundlicherweise …?«
»Was?«, fragte Robin mit einem zuckersüßen Lächeln.
»Dein Dolch«, antwortete Salim. Sein Lächeln wirkte mittlerweile ein bisschen gequält. »Nur, falls es dir entgangen sein sollte – ich verblute allmählich.«
»So schnell geht das nicht«, behauptete Robin. »Außerdem hat man mir gesagt, dass es ein sehr angenehmer Tod sein soll. Ganz schmerzlos – und wenn ich es mir richtig überlege, dann gefällst du mir eigentlich genau so, wie du gerade bist.« Sie runzelte übertrieben die Stirn und tat so, als müsste sie angestrengt über etwas nachdenken. »Da fällt mir ein: Du hast mir immer noch nicht geantwortet, was die Kleider angeht, die der Tuchhändler letzte Woche aus Byzanz gebracht hat.«
»Das ist nicht mehr witzig, Robin«, sagte Salim. »Die Männer sehen uns zu.«
»Und das verletzt dich zutiefst in deiner Ehre, nehme ich an«, sagte Robin. »Von einer Frau besiegt zu werden.«
»Allah sei Dank, weiß es ja niemand«, antwortete Salim – was eine glatte Lüge war. Jedermann hier wusste, was sich unter dem schlichten schwarzen Gewand eines Assassinenkriegers verbarg, mit dem Salim vermeintlich gekämpft hatte.
Männer!, dachte sie verächtlich.
Sehr viel langsamer, als notwendig – oder Salim gar recht – gewesen wäre, zog sie den Dolch zurück, stand mit einer fließenden Bewegung auf und riss sich noch in der gleichen Bewegung Schleier und Turban vom Kopf. In Salims Augen erschien einen winzigen Moment lang ein Ausdruck, der an pures Entsetzen grenzte, als Robins Haar in ungebändigten, goldenen Wellen bis auf ihre Schultern hinabfiel. Sie hielt ihn weiter im Auge und amüsierte sich unverhohlen über die Mischung aus Entsetzen und Resignation, die sich allmählich auf seinem Gesicht auszubreiten begann und die noch zunahm, als ihre hastige Bewegung ihren Mantel auseinander fallen ließ, sodass für einen winzigen Moment das verräterische Weiß und Rot des vollkommen anderen Gewandes aufblitzte, das sie darunter trug, aber ihr entging auch die Reaktion der anderen Männer nicht, die dicht außerhalb des imaginären Kreises standen, in dem sie gekämpft hatten.
Mehr als einer von ihnen fuhr erschrocken zusammen, sie hörte ein gedämpftes Murren und Zischen, und mindestens einer der Männer drehte sich um und ging mit schnellen Schritten davon. Salim sagte nichts, sondern stemmte sich mit übertrieben umständlichen Bewegungen in die Höhe, maß sie aber mit einem ebenso besorgten wie strafenden Blick. Robin bedauerte ihre vorschnelle Reaktion schon fast selbst. All diese Männer hier waren zweifellos ihre Verbündeten, ja, vermutlich sogar das, was außerhalb von Salims Festung dem Begriff Freunde noch am nächsten kam – aber sie waren auch strenggläubige Muslime, und sie waren in einer Welt und mit Regeln aufgewachsen, die Robin trotz allem bis zum heutigen Tage nicht völlig verständlich waren.
Zu ihrer Überraschung sagte Salim jedoch nichts dazu, sondern stemmte sich nun endgültig in die Höhe, klopfte sich mit der linken Hand den Wüstensand vom Mantel und griff mit der rechten nach seinem Hals. Als er die Hand wieder zurückzog, waren seine Fingerspitzen rot.
»Das war nicht besonders ritterlich«, sagte er, während er stirnrunzelnd das Blut auf den Fingerspitzen betrachtete. Er klang ein bisschen verstimmt.
Robin machte ein zerknirschtes Gesicht. »Du hast Recht, Gebieter. Mein Kampfstil muss wohl ein wenig darunter gelitten haben, dass ich in letzter Zeit zu viel Umgang mit Assassinen hatte.«
»Offensichtlich nicht genug«, erwiderte Salim mit einem Blick und in einem Ton, von dem Robin gerade nicht sagen konnte, ob der mühsam zurückgehaltene Zorn darin nun gespielt war oder nicht. »Sonst hättest du dir vielleicht abgewöhnt, immer noch diese alberne Rüstung zu tragen.« Er schüttelte heftig den Kopf, als Robin widersprechen wollte. »Die Gazelle kann dem Löwen vielleicht davonlaufen, aber kaum, wenn sie einen Zentner Eisen unter ihrem Fell trägt.«
»Wer sagt, dass ich davonlaufen wollte?«, erkundigte sich Robin. »Außerdem dachte ich bisher, ihr Assassinen liebt es geradezu, euch zu verkleiden.«
»Verkleiden trifft es schon ganz gut«, antwortete Salim. »Mir ist immer noch nicht klar, wie ihr Christen jemals auch nur einen Kampf gewinnen konntet, mit einer solchen Masse an Eisen auf dem Leib.«
Um ein Haar hätte Robin geantwortet: Weil Gott auf unserer Seite steht, nicht, weil sie das etwa wirklich glaubte, sondern einfach nur, um ihn zu ärgern. Aber sie schluckte die Worte im letzten Moment hinunter. Es war eine Sache, Salim manchmal ganz bewusst zur Weißglut zu treiben, einfach nur, weil sie es konnte, und eine ganz andere, ihn unnötigerweise hier und in aller Öffentlichkeit zu brüskieren. Sie bedauerte bereits, ihren Turban abgesetzt zu haben. Salim war nicht nur seit zwei Jahren ihr Mann und der Mensch, den sie auf der ganzen Welt am allermeisten und vorbehaltlos liebte, er war auch – und außerhalb der Burg vor allem – der Sohn des Alten vom Berge, des Obersten der Assassinen. Obwohl sie sich tief in sich selbst niemals wirklich damit abgefunden hatte, so hatte sie doch irgendwann zumindest akzeptiert, dass er sein Gesicht wahren musste. Manchmal war es schwer, in zwei Kulturen gleichzeitig zu leben – auch wenn sie sich im Grunde gar nicht so sehr unterschieden, wie es auf den ersten Blick den Anschein haben mochte.
Sie verscheuchte den Gedanken und wollte sich nach Salims Schwert bücken, das sie ihm mit ihrer letzten, zugegeben tatsächlich nicht besonders ritterlichen Aktion aus der Hand geprellt hatte, aber der Kampf hatte sie doch mehr angestrengt, als sie selbst zugeben wollte. Ihr wurde leicht schwindlig, und sie musste einen raschen, halben Schritt nach vorne machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Salim blickte weiter abwechselnd sie und das Blut auf seinen Fingerspitzen an, und auf seinem Gesicht war keine Reaktion auf ihre scheinbare Ungeschicklichkeit zu erkennen.
Dennoch meinte sie eine Spur von Sorge in seinem Blick auszumachen, und das allein war für sie Grund genug, die Bewegung nun doch fortzusetzen und den Krummsäbel aufzuheben, um ihn Salim mit dem Griff voran zu reichen. Schweigend nahm er die Waffe entgegen und schob sie in die schmucklose Scheide, die unter den lose fallenden Falten seines blauschwarzen Gewandes verborgen war. Sein Blick formulierte eine lautlose besorgte Frage, die Robin jedoch ebenso ignorierte wie das meiste von dem, was er zuvor gesagt hatte. In den mittlerweile unübersehbaren Ausdruck von Sorge in seinen Augen mischte sich ein leiser Ärger, doch er schwieg auch jetzt, deutete nur ein Achselzucken an und beschattete die Augen mit der Hand, während er sich halb umdrehte und zu den sanft ansteigenden, mit kränklich wirkendem Grün gesprenkelten Dünen hinaufsah, die den Strand säumten.
Robin folgte seinem Blick und konnte Salims Reaktion auf die schmachvolle Niederlage, die sie ihm zugefügt hatte, nun noch ein bisschen besser verstehen. Auch dort oben hatte es Zuschauer gegeben. Drei, vier Reiter auf schwarzen Pferden und in den schlichten, ebenfalls schwarzen Burnussen, wie sie typisch für Salims Krieger waren. Sie standen vollkommen reglos da, und obwohl sie in ihrer dunklen Kleidung und auf den gewaltigen, schwarzen Schlachtrössern vor dem fast weißen Hintergrund der Wüste eigentlich so gut wie unübersehbar hätten sein müssen, fiel es Robin doch sonderbar schwer, sie mit Blicken zu fixieren.
Auch wenn sie den Anblick mittlerweile zur Genüge kannte, löste er doch noch immer ein kurzes, eisiges Frösteln in ihr aus. Diese Männer waren ihr vertraut. Sie hatte zwar nicht den Namen jedes einzelnen Kriegers parat, kannte sie aber doch zumindest alle vom Sehen, und sie wusste auch, dass jeder einzelne dieser Männer, ohne zu zögern, sein Leben geopfert hätte, um sie zu beschützen. Und dennoch hatte sie in all den Monaten, die sie nun hier war, ihre instinktive Furcht vor den berüchtigten Assassinen nicht vollends überwinden können. Das war absurd. Streng genommen war sie eine von ihnen.
Salim hob die Hand und winkte. Einer der Reiter löste sich von seinem Platz und kam die Düne herabgaloppiert, und die Bewegung ließ ihn endgültig zu einem Schemen werden, an dem ihr Blick abzugleiten schien wie die Hand an einem glitschigen Fisch unter Wasser. Erst als er die halbe Entfernung zurückgelegt hatte, sah Robin, dass er noch ein zweites, ebenfalls schwarzes Pferd am Zügel mit sich führte. Ärgerlich runzelte sie die Stirn.
»Was …?«, begann sie.
»Ich bleibe nicht lange weg«, fiel ihr Salim ins Wort. »Ich will nur schnell nach dem Rechten sehen.« Er lächelte beiläufig, aber es wirkte nicht wirklich echt. »Du weißt ja, wie sie sind – kaum fühlen sie sich unbeobachtet, lässt die Disziplin nach, und sie tun alles, nur nicht das, was man von ihnen erwartet.«
Robin sagte nichts dazu – schon, weil Salim am besten wissen musste, was für einen Unsinn er redete. Wenn sie jemals Männern begegnet war, auf die immer und unter allen Umständen Verlass gewesen wäre, dann die Krieger aus Salims Leibgarde. Diese dumme Ausrede war ihm zweifellos im gleichen Augenblick eingefallen, in dem er sie aussprach. Das konnte nur eines bedeuten: Salim wollte ganz gewiss nicht nur nach dem Rechten sehen, und was immer er vorhatte, er wollte sie nicht dabeihaben; vielleicht einfach deshalb, um den stolzen Assassinen zu zeigen, dass er seine temperamentvolle Frau weitaus besser im Griff hatte, als es der Ausgang des Schaukampfes hatte vermuten lassen. Hätte sie ihn nicht gerade schon mehr gedemütigt, als sie gewollt hatte, so hätte sie ihn mit dieser plumpen Lüge niemals davonkommen lassen, sondern ganz im Gegenteil darauf bestanden, ihn zu begleiten.
So aber deutete sie nur ein Nicken an und sagte mit finsterem Gesicht: »Dann warte ich im Haus auf dich. Bleib nicht zu lange.«
Schon diese kleine Bemerkung schien Salims Unmut zu erregen, denn zwischen seinen Augenbrauen entstand eine steile Falte, und einen halben Atemzug sah es so aus, als würde er ihr einen strengen Verweis erteilen, dann aber drehte er sich mit einer raschen Bewegung um und ging dem Reiter die letzten Schritte entgegen.
Robin sah Salim wortlos und mit gemischten Gefühlen nach. Sie war leicht verärgert, aber da sie den Grund für sein plötzlich so harsches Benehmen kannte, galt dieser Ärger zumindest im gleichen Maße auch ihr selbst.
Außerdem konnte sie nicht anders, als die geschmeidige Leichtigkeit seiner Bewegungen zu bewundern. Auch wenn der spielerische Kampf zwischen ihnen nicht ernst und schon gar nicht wirklich gefährlich gewesen war, so musste er doch auch für ihn ungemein anstrengend gewesen sein, doch Salim bewegte sich mit der selbstverständlichen Geschmeidigkeit einer Raubkatze, fließend, lässig und mit fast spielerischer Eleganz. Und doch tödlich.
Robin machte sich nichts vor. Wäre der Kampf gerade wirklich auf Leben und Tod gegangen, so hätte ihr auch der heimtückisch verborgene Dolch nichts mehr genutzt. Sie wusste nicht genau, wie alt Salim war. Sie hatte ihn nie gefragt, und sie war sogar ziemlich sicher, dass er es selbst nicht ganz genau wusste. Er konnte die zwanzig noch nicht allzu lange hinter sich haben, doch sie wusste, dass er mindestens fünfzehn dieser zwanzig Jahre mit dem Studium verschiedenster Kampfkünste verbracht hatte. Unter dem lose fallenden Mantel, der ihn weit massiger erscheinen ließ, als er war, und dem mächtigen Turban mit dem schwarzen Gesichtstuch verbarg sich ein schlanker, auf den ersten Blick fast knabenhaft wirkender Körper, der jedoch von einem Herzschlag auf den anderen regelrecht explodieren konnte. Robin hatte mehr als einmal erlebt, wie er es mit Gegnern aufgenommen hatte, die doppelt so schwer und mindestens ebenso gut im Umgang mit ihren Waffen waren wie er. Plötzlich überkamen sie doch Zweifel an ihrem Sieg. Hatte Salim sie etwa tatsächlich gewinnen lassen?
Die Antwort – auch wenn sie ihr nicht gefiel – war ein ganz eindeutiges Ja. Was er nicht hatte voraussehen können, war ihre kleine List mit dem Messer gewesen, doch mit einem Mal war sie nicht mehr stolz darauf, sondern schämte sich fast, so heimtückisch gewesen zu sein. Er hatte Recht: Es war nicht ritterlich gewesen. Aber auf eine ganz andere Art, als sie bisher geglaubt hatte.
Salim schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel, und kaum hatte er es getan, da schien auch er zum Schatten zu werden und verwandelte sich endgültig in einen Assassinen. Irgendwann, das nahm sie sich vor, würde sie diesem Geheimnis auf den Grund gehen. Aber nicht heute.
Die beiden Reiter wendeten ihre Tiere und preschten die Düne hinauf. Auch die Männer, die oben auf Salim warteten, ließen ihre Pferde nun antraben, sodass sie fast gleich schnell ritten, als Salim und seine Begleiter bei ihnen ankamen, und im nächsten Augenblick schien es, als wären sie einfach verschwunden. Robin blickte noch einen Moment in die Richtung, in der die hitzeflimmernde Luft über der Wüste das halbe Dutzend schwarzer Gespenster aufgesogen hatte, dann drehte sie sich mit einem Ruck um und hob noch in der Bewegung ganz automatisch die Hand, um den Turban wieder aufzusetzen.
Sie hätte es auch getan, wäre ihr Blick nicht dem der Männer begegnet, die noch immer in einem lockeren Dreiviertelkreis dastanden und sie anstarrten, als hätten sie noch nicht ganz begriffen, dass das Schauspiel vorüber war. Sie drehten ausnahmslos den Kopf, wenn sich ihre Blicke begegneten, und einige von ihnen hatten es plötzlich sehr eilig, sich umzudrehen und zu gehen. Aber Robin hätte schon blind sein müssen, um nicht trotzdem zu begreifen, was in ihnen vorging. Sie hatte keine Bewunderung erwartet, nicht einmal Anerkennung für ihre Leistung – so gut sie auch gewesen sein mochte –, aber nun erblickte sie Bestürzung, ja, sogar Entsetzen in einigen Gesichtern, und hier und da mühsam unterdrückten Zorn. Ja, bei mindestens einem Mann war sie sich sogar sicher, dass er sich nur noch mit aller Mühe beherrschen konnte, nicht einfach auf sie zuzutreten und sie zu schlagen.
Die Erkenntnis machte sie wütend und traurig zugleich. Die meisten dieser Männer hier waren ihre Freunde. Viele – wenn nicht alle – hatten sie vorhin während des Kampfes mit johlendem Händeklatschen angefeuert, aber plötzlich wurde ihr klar, dass sie es in dem sicheren Wissen getan hatten, einem Spiel zuzusehen, allerdings einem gänzlich anderen Spiel, als Robin geglaubt hatte. Für diese Männer hatte festgestanden, dass Salim sie eine Weile gewähren lassen und mit ihr spielen würde wie die Katze mit einer Maus, um sie dann niederzuwerfen. Schließlich war er ein Mann – ein Krieger! – und sie nur eine Frau. Möglicherweise hätte man ihr sogar noch verziehen, ihn besiegt zu haben, denn ihre letzte Attacke war tatsächlich alles andere als fair gewesen und konnte durchaus als weibliche Heimtücke gewertet werden. Was diese Männer jedoch nicht verzeihen konnten, das war die Tatsache, dass sie aus etwas, was jedermann wusste, etwas gemacht hatte, was jedermann sah.
Statt also zu tun, was ihr ihre Vernunft riet – nämlich ihr Haupt wieder zu bedecken und das schwarze Tuch erneut vor ihrem Gesicht zu befestigen –, wickelte sie den Turban ganz auf, indem sie das Tuch wie eine Peitsche knallen ließ, warf es sich mit einer trotzigen Bewegung über die Schulter und fuhr sich gleichzeitig mit den gespreizten Fingern der anderen Hand durchs Haar. Ihr war klar, dass sie sich ziemlich dumm benahm. Ob ihr nun gefiel oder nicht, was sie sah, die Welt war nun einmal so, und sie würde sie nicht ändern; schon gar nicht durch solche dummen, trotzigen Aktionen. Salim würde ihr Vorhaltungen machen und ziemlich ärgerlich sein, wenn er davon erfuhr (und es bestand kein Zweifel daran, dass er davon erfuhr), und Robin belegte sich selbst in Gedanken mit einigen wenig schmeichelhaften Bezeichnungen, denn sie wusste auch, wie schwer sie es Salim und auch seinem Vater mit einem solchen Benehmen machte.
Niemand hatte es bisher laut ausgesprochen. Niemand wagte es, sich auch nur irgendwas anmerken zu lassen, aber Robin war klar, dass Salim weder sich selbst noch seinem Vater einen Dienst erwiesen hatte mit der Wahl seiner Gemahlin. Salim war nicht irgendein Krieger, so wenig wie Sheik Raschid Sinan irgendein Fürst war. Möglicherweise hätte man es ihm verziehen, sich ein hübsches Christenmädchen, über das er auf eine seiner zahlreichen Reisen gestolpert war, mitzubringen und in seinen Harem aufzunehmen. Robin war ganz gewiss nicht die einzige Christin gewesen, der ein solches Schicksal widerfuhr. Aber Salim hatte sie nicht als Beute mitgebracht, und sein Harem bestand ganz genau aus einer Person: aus ihr selbst. Er hatte sie geheiratet.
Robin verscheuchte auch diesen Gedanken, warf noch einen trotzigen Blick in die Runde, der unerwidert blieb, denn es war niemand mehr da, der sie hätte ansehen können, und ging die paar Schritte zum Strand hinunter. Ihr Haus lag in der anderen Richtung. Wenn sie der Wasserlinie folgte, um es zu erreichen, bedeutete das einen großen Umweg. Aber das Schwindelgefühl war immer noch da, wenn auch nicht mehr so schlimm wie zuvor, und ihr war mit einem Mal unter der doppelten Schicht von Kleidung, die sie trug, entsetzlich heiß. Zwar langsamer werdend, aber ohne anzuhalten, schüttelte sie die Stiefel von den Füßen, hob sie im Vorübergehen hoch und atmete hörbar auf, als die erste Welle über ihre nackten Füße leckte. Das Wasser war warm, kam ihr in der Gluthitze des Tages aber eiskalt und unglaublich erfrischend vor, und Robin musste sich wirklich beherrschen, um sich nicht den Mantel und auch noch die Kleider, die sie darunter trug, vom Leib zu reißen und sich in die eisigen Fluten zu stürzen.
Einen Moment später lächelte sie über ihre eigenen Gedanken. Das war vollkommen verrückt. Selbst Salim und sein Vater konnten sie nicht mehr beschützen, wenn sie etwas so Dummes tat, und ganz davon abgesehen würde sie es nicht einmal dann tun, wäre sie ganz allein an diesem Strand. Was war nur mit ihr los? Irgendein Teil von ihr schien regelrecht versessen darauf zu sein, etwas Verrücktes zu tun.
Vielleicht wollte sie einfach herausfinden, wie weit sie gehen konnte.
Obwohl in dem kleinen, aus nur einer Hand voll Häuser bestehenden Fischerdorf jetzt keine Menschenseele mehr zu sehen war, spürte Robin doch genau, dass sie beobachtet wurde, während sie der vor- und zurückweichenden Flutlinie folgte und sich dem ehemaligen Haus des Dorfvorstehers näherte, das nun leer stand und für die gelegentlichen Besuche von ihr und Salim reserviert war. Ein seltsames Gefühl überkam sie. Dieser kleine Ort hatte in ihrem Leben eine wichtige Rolle gespielt, und sie hatte all ihren Einfluss in die Waagschale geworfen, all ihre Überredungskunst aufgewandt, um ihn wieder zu dem zu machen, was er vor jenem schicksalhaften Tag gewesen war.
Und dennoch war sie plötzlich nicht mehr sicher, ob es nicht ein Fehler gewesen war, hierher zurückzukehren. Auf ihr Drängen hatte Sheik Sinan den überlebenden Dorfbewohnern die Rückkehr in ihre Heimat ermöglicht und einige sogar aus der Sklaverei zurückgekauft – und dennoch waren die meisten Menschen, die heute hier lebten, Fremde für sie. Was sie gerade in den Gesichtern der Männer gelesen hatte, hätte sie nicht überraschen dürfen. Der ehemalige Bewohner des Hauses, das sie ansteuerte, war ebenso tot wie die Hälfte aller anderen hier, und auch wenn ihr die Überlebenden noch so oft und glaubhaft versicherten, ihr dankbar zu sein und niemals zu vergessen, dass sie ihr, der Fremden, ihr Leben und ihre Freiheit verdankten (was die Wahrheit war), so begann sich Robin doch allmählich einzugestehen, dass sie sie niemals wirklich akzeptieren würden. Das konnten sie nicht.
Robin trat ein paar Schritte tiefer ins Meer hinein, bis ihr das Wasser fast zu den Knien reichte, aber die Erleichterung, auf die sie wartete, kam nicht. Ganz im Gegenteil. Die Hitze schien noch unerträglicher geworden zu sein, und auch das Schwindelgefühl hatte sich zwar ein wenig gelegt, war aber nicht wirklich verschwunden.
Da sie plötzlich das Gefühl hatte, unter dem schweren schwarzen Mantel nicht mehr atmen zu können, zog sie ihn kurz entschlossen aus und warf ihn sich wie eine Decke über den linken Arm. Das strahlend weiße Gewand mit dem roten Tatzenkreuz, das sie darunter trug, musste nicht nur meilenweit zu sehen sein, sondern auf die Männer, die sie gerade beobachtet hatten, auch ungefähr die Wirkung einer schallenden Ohrfeige haben, aber das war ihr mittlerweile gleich. Sie hatte an diesem Tag schon so viel falsch gemacht, dass es darauf vermutlich auch nicht mehr ankam.
Unglücklicherweise half es auch nichts. Ihr war noch immer heiß. Um sich wirklich Linderung zu verschaffen, hätte sie schon den Wappenrock und vor allem das zentnerschwere Kettenhemd, das sie darunter trug, abstreifen müssen, was ohne weiteres möglich gewesen wäre, denn sie trug auch darunter noch ein dickes, baumwollenes Kleid, um sich die Haut nicht an den groben eisernen Maschen des Kettenhemdes wund zu scheuern (und sie wunderte sich, dass ihr heiß war?), aber nach dem, was Salim gerade über ihre Rüstung gesagt hatte, ließ es ihr Stolz nicht zu.
Sie ging in die Knie, schüttete sich zwei Hand voll des erfrischenden Salzwassers ins Gesicht und machte dann kehrt, um mit plötzlich schnellen Schritten auf das einzeln dastehende Gebäude am Dorfrand zuzugehen. Das große, eingeschossige Haus – das einzige Gebäude hier mit festen Mauern – war grob mit abbröckelndem Lehm verputzt und hatte das typische, von einer brusthohen Mauer umgebene Flachdach, über dem sich die ausladenden Äste eines etwas windschiefen Aprikosenbaums erhoben. Sie waren schwer von Früchten. Die ersten davon waren bereits goldgelb, und der Anblick ließ Robin das Wasser im Mund zusammenlaufen, obwohl es noch keine zwei Stunden her war, dass sie ausgiebig und fast schon zu gut gefrühstückt hatte. Salim hatte zwar nichts dazu gesagt, aber ihr waren weder seine Blicke noch sein bezeichnendes Stirnrunzeln entgangen. In letzter Zeit entwickelte sie einen gesunden Appetit, und auch, wenn sie es empört von sich gewiesen hätte, so wusste sie doch, dass sie etliche Pfunde zugenommen hatte.
Robin fragte sich, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war. Hunger war ihr nicht fremd. Er gehörte zu den ersten Erinnerungen ihres noch jungen Lebens, und er war vielleicht in all den Jahren, die seither vergangen waren, ihr treuester Begleiter gewesen. Selbst in der Komturei Bruder Abbés und später, als sie mit den Tempelrittern von Friesland aus in Richtung Italien gezogen war – und erst recht auf dem Schiff –, hatte es längst nicht jeden Tag satt zu essen gegeben. Den unbeschreiblichen Luxus, sich keine Gedanken über die nächste Mahlzeit machen zu müssen und es als ganz selbstverständlich hinzunehmen, dass sie es am nächsten Tage ebenso wenig musste wie an dem danach und dem darauf folgenden, hatte sie erst kennen gelernt, seit sie Salims Frau war und in der Burg seines Vaters lebte. Wahrscheinlich, dachte sie, war es ein schlechtes Zeichen.
Das bequeme Leben in reinem Luxus, das sie an Salims Seite führte, begann unaufhaltsam seinen Preis zu fordern. Das spielerische Kräftemessen, zu dem Salim sie vorhin herausgefordert hatte, war das erste seit Wochen gewesen, und ganz offensichtlich hatte sie sich damit schon selbst überfordert, denn das Schwindelgefühl verschwand nun tatsächlich, machte dafür aber einer leisen Übelkeit Platz, die in ihren Eingeweiden rumorte und sich langsam auf den Weg nach oben begab.
Mit purer Willensanstrengung kämpfte Robin das Gefühl nieder. Ihr Verstand sagte ihr ganz genau, was mit ihr los war: Sie hatte sich über die Maßen verausgabt, und das ihr eiskalt erscheinende Wasser hatte ein Übriges dazu getan, ihren Kreislauf bis an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu fordern. Vernünftig wäre es, sich jetzt zu schonen, zumindest aber langsamer zu gehen. Aber wann hatte es sie je interessiert, was vernünftig war? Schon aus purem Trotz beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr, warf den Kopf in den Nacken, sodass ihr Haar abermals flog (die Bewegung musste auf jeden heimlichen Beobachter wie eine herausfordernd geschwenkte Fahne wirken, wie sie sich schmerzhaft klar machte), und erreichte, zwar beinahe mit letzter Kraft, dennoch aber stolz aufgerichtet und mit festen Schritten das Haus. Vielleicht hatte sie gestern etwas Falsches gegessen, was ihr jetzt zusätzlich aufstieß.
Nach der schier unerträglichen Gluthitze draußen kam es Robin hier drinnen nur im allerersten Moment angenehm kühl vor. Dann schlug das Gefühl wohltuender Erleichterung urplötzlich in Kälte um. Ein eisiger Schauer rann ihr über den Rücken. Sie ließ den Mantel fallen, der ihr plötzlich so schwer vorkam, als wäre auch er aus Eisen geflochten, und registrierte beiläufig, dass das Kleidungsstück im Grunde nur noch aus Fetzen bestand – Salims Klinge hatte den Stoff an mindestens einem Dutzend Stellen zerschnitten. Als hätte es des Anblickes bedurft, spürte sie plötzlich auch jeden einzelnen Hieb, den das Kettenhemd aufgefangen hatte; spätestens morgen früh würde sie eine hübsche Sammlung blauer Flecken und Striemen auf Brust, Rücken und Oberarmen aufweisen. Sie konnte sich jetzt schon vorstellen, dass Salim nicht nur jede dieser Erinnerungen an den heftigen Kampf ausgiebig erkunden, sondern auch zu jeder einzelnen einen spöttischen Kommentar abgeben würde – aber selbst diese amüsante Vorstellung nutzte nichts. Das Gefühl von Schwäche wurde im Gegenteil immer schlimmer.
Jetzt, wo sie allein im Haus und sicher vor neugierigen Augen war, streifte sie auch die übrige Kleidung ab, bis sie nur noch das schwere baumwollene Unterhemd trug. Sie hatte jetzt nicht mehr das Gefühl, ein totes Pferd mit sich herumzuschleppen, das ihr jemand heimlich auf den Rücken gebunden hatte, dafür war in ihrem Mund plötzlich ein Geschmack, als hätte sie ihre Zähne in ein solches geschlagen.
Allmählich wurde Robin wütend auf sich selbst; auf die Unzulänglichkeit ihres Körpers, der sie so schmählich im Stich ließ, aber auch auf sich, die Schwäche, die sie in den letzten Monaten zugelassen hatte. Zum wiederholten Male nahm sie sich fest vor, gleich am nächsten Tag wieder damit zu beginnen, regelmäßiger zu trainieren. Auch wenn ihr vollkommen klar war, was Salim dazu sagen musste – von seinem Vater gar nicht zu reden –, so würde sie sich einige der zuverlässigsten Männer aus seiner Leibgarde heraussuchen, um mit ihnen regelmäßige Waffenübungen zu absolvieren.
Was leider nichts daran änderte, dass sie sich noch immer hundsmiserabel fühlte. Und plötzlich, obwohl sie noch vor ein paar Augenblicken das Gefühl gehabt hatte, vor Hitze sterben zu müssen, hielt sie es in der Kälte des schattigen Zimmers nicht mehr aus. Mit schnellen Schritten (deren leichtes, aber dennoch unübersehbares Wanken sie geflissentlich ignorierte) durchquerte sie den Raum und trat wieder in die kochende Nachmittagshitze hinaus, die den kleinen, an allen Seiten ummauerten Innenhof in einen flirrenden Glutofen verwandelte. Als Robin das erste Mal hier gewesen war, hatte sie zusammen mit Saila mühsam Erde herbeigeschafft und einen kleinen Blumengarten angelegt, der dem tristen Ocker des gemauerten Gevierts ein wenig Farbe und Freundlichkeit verleihen sollte. Mittlerweile waren die Beete in der Sommerhitze verbrannt und die Erde zu braunem Staub verdorrt, den der Wind nur deshalb noch nicht davongetragen hatte, weil ihn die drei Meter hohen Mauern zuverlässig abwehrten.
Wie immer, wenn Robin hierher kam (was in letzter Zeit viel zu selten geschah), erfüllte sie der Anblick mit einer sonderbaren Mischung aus Trauer und Melancholie. Sie hatte auch oben in Raschids Burg einen kleinen Blumengarten angelegt, der prächtig gedieh und dem gemauerten Gebirge aus gewaltigen Felsquadern einen Hauch von Wohnlichkeit verlieh, aber sie hatte bisher stets die Augen davor verschlossen, wie viel Anstrengung und Mühe es ihren Dienern abverlangte, dieses winzige Stückchen Erde am Leben zu halten. Hier, in diesem zumeist leer stehenden Gebäude, hatte sich die Natur unbarmherzig zurückerobert, was Saila und sie ihr so mühsam abgerungen hatten. Das einzige Zeichen von Leben, das es hier gab, war der uralte Aprikosenbaum, dessen knorriges Wurzelwerk sich wie die versteinerten Finger einer bizarren, vor Urzeiten gestorbenen Kreatur aus dem Boden erhob.
Sie hatte noch keine drei Schritte auf den Hof hinaus gemacht, als die Wärme bereits ihre Wirkung zeigte. Zwar wurde ihr nicht wieder übel, doch das Schwindelgefühl kehrte zurück, und ihre Schritte wurden noch unsicherer. Mehr wankend als gehend erreichte sie den Baum, lehnte sich mit der Schulter dagegen und schloss mit einem erschöpften Seufzer die Augen. Hitze und Kälte liefen abwechselnd und in immer schnellerer Folge über ihren Rücken, und sie spürte, wie ihre Hände und Knie zu zittern begannen. Wie von weit her, als höre sie das Geräusch durch einen Vorhang aus fließendem Wasser, registrierte sie leichte Schritte, die sich ihr näherten, für einen Moment stockten und dann direkt auf sie zukamen. Mit mehr Mühe, als sie sich eingestehen wollte, öffnete sie die Augen und erblickte Saila, ihre Dienerin, die in den zurückliegenden Monaten viel mehr zu ihrer Freundin geworden war, als sie beide zuzugeben bereit waren. Saila kam mit schnellen Schritten und eindeutig besorgtem Gesichtsausdruck auf sie zu. Sie trug ein langes, schlichtes schwarzes Kleid und ein schwarzes Kopftuch, hatte aber hier drinnen im Haus den Schleier abgelegt, sodass Robin den Ausdruck von Schrecken auf ihren so zerbrechlich wirkenden Zügen genau erkennen konnte.
»Herrin?«, murmelte Saila, als sie einen Schritt vor ihr stehen blieb. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja«, log Robin – offensichtlich alles andere als überzeugend, denn Saila schüttelte nur den Kopf, zauberte ein feuchtes Tuch unter ihrem Gewand hervor und begann ihr damit fast zärtlich die Stirn abzutupfen.
»Es ist heute unerträglich heiß«, murmelte Robin. »Oder ich habe mir irgendwo ein Fieber geholt.«
»Sicher«, sagte Saila. Irrte sie sich, oder klang ihre Stimme spöttisch? »Was soll es sonst sein?«
Saila tupfte ihr ungerührt weiter mit dem nassen Tuch über die Stirn. Die Berührung tat ungemein wohl, aber der rasche Wechsel von Hitze und Kälte wurde eher noch schlimmer, statt nachzulassen. »Du bist in der Tat so bleich wie das Gewand, das du so gerne trägst.« Saila tastete mit den Fingerspitzen über Robins Stirn und Schläfen, dann über ihren Hals und lächelte. »Du treibst deine Scherze mit mir, nicht wahr?«
Robin fühlte sich viel zu elend, um zu scherzen. Sie verstand nicht, was Saila an der Situation so komisch fand.
Als hätte sie ihre Gedanken gelesen – und Robin war nicht sicher, ob sie das in diesem Moment auf eine geheimnisvolle Art nicht tatsächlich getan hatte –, lächelte Saila geheimnisvoll. »Du hast tatsächlich keine Ahnung, was dir fehlt?«
Robin schüttelte matt den Kopf. »Vielleicht der Kampf in der Hitze. Die schwere Rüstung. Die letzten Wochen haben mich schwach gemacht. Ich muss … häufiger üben.«
Saila runzelte die Stirn und schnalzte mit der Zunge. »Du bist ein Weib.«
»Und was genau soll mir das sagen?«
Diesmal wirkte Sailas Kopfschütteln fast verärgert. »Wenn du dir unbedingt in den Kopf gesetzt hast, dich wie ein Mann mit Schwertern zu schlagen, dann ist es vielleicht auch besser, wenn du so unwissend wie ein Mann bleibst.«
Fast empört drehte sich Saila um und wollte den Innenhof verlassen, stockte aber dann wieder im Schritt, als Nemeth hereinkam. Viel stärker noch als sie hatte sich das Mädchen verändert. Sie trug jetzt eine weite, rote Hose und darüber ein dunkelblaues Kleid, das sie wie eine kleine Erwachsene hätte aussehen lassen, wären ihre Haare nicht zu einem Dutzend lustiger Zöpfe geflochten. Robin hatte fast einen halben Tag damit zugebracht, und die andere Hälfte des Tages hatte Saila gebraucht, um sich auf- und wieder abzuregen und es ihrer Herrin zu verzeihen, ihre Tochter derart verunstaltet zu haben.
»Sie hat Salim besiegt!«, jubelte das Mädchen. Ihr Gesicht glühte vor Aufregung. »Du hättest Robin sehen sollen! Sie kämpft wie ein Dschinn!«
»Ja, das ist offensichtlich die Aufgabe, die Allah uns Frauen zugedacht hat«, antwortete Saila spöttisch. Der Blick, den sie Robin dabei zuwarf, wirkte allerdings fast wütend.
»Aber Robin hat doch nur …«
»Genug!«, unterbrach sie Saila in plötzlich gar nicht mehr spöttischem, sondern ganz im Gegenteil so scharfem Ton, als könnte sie sich gerade noch zusammenreißen, um ihre Tochter nicht anzuschreien. Sie griff nach Nemeths Zöpfen und tat so, als wolle sie sie daran ins Haus zurückschleifen. »Ich glaube, es ist an der Zeit, dir zu zeigen, was das Tagwerk einer Frau sein sollte, damit unsere Herrin dich nicht auf noch mehr dumme Gedanken bringt. Ich möchte nicht, dass du so endest wie sie.«
Nemeth wirkte erschrocken und zugleich durch und durch verstört, und Sailas letzte Worte hatten Robin verletzt. Dennoch warf sie dem Mädchen ein verschwörerisches Augenzwinkern zu, bevor es zusammen mit seiner Mutter im Haus verschwand. Für eine Frau, die in dieser Welt mit ihren komplizierten und gerade für Frauen manchmal entwürdigend erscheinenden Regeln und Verhaltensweisen aufgewachsen war, benahm sich Saila manchmal überraschend aufgeschlossen und fortschrittlich, aber sie konnte auch nicht aus ihrer Haut.
Und Robin war nicht sicher, ob sie ihr einen Gefallen damit täte, sie dazu zu zwingen. Auch wenn sie sich im Moment kein anderes Leben vorstellen konnte, so war ihr doch klar, dass sie möglicherweise nicht in dieser Gegend bleiben würde; Saila und ihre Tochter aber sehr wohl. Die vermeintliche Freiheit des Denkens, die sie dem Mädchen in den letzten Monaten beizubringen versucht hatte, mochte sich durchaus als Fluch erweisen, statt als Geschenk, wenn sie irgendwann einmal nicht mehr hier war, um sie zu beschützen.
Robin fühlte sich mittlerweile besser. Das verhältnismäßig kühle Wasser – vor allem aber das Gespräch mit Saila und der Anblick ihrer Tochter – hatten ihr gut getan. Dafür breitete sich eine sonderbare Melancholie in ihr aus. Entspannt an den Baum gelehnt blieb sie stehen und beobachtete nachdenklich das Spiel von Licht und Schatten in der tausendfingrigen Baumkrone. Der Anblick erschien ihr wie die Versinnbildlichung des Wort Gottes, die Welt sei ein Spiel von Licht und Schatten, die beständig ineinander fließen und oft genug in einem Lidschlag ihre Plätze tauschen.
Sie fragte sich, welchen Platz sie in dieser Welt wohl hatte. War sie Licht oder Schatten, oder hatte Saila vielleicht Recht, und sie hatte sich gegen Gottes Willen vergangen, indem sie nicht nur kämpfte, sondern die meiste Zeit auch lebte wie ein Mann? Vielleicht war es ihr auf Sheik Sinans Burg einfach zu gut gegangen. Sie war so glücklich wie niemals zuvor in ihrem Leben gewesen, und verliebt. So verliebt, dass sie selbst das für die Christenheit so wichtige Osterfest vergessen hatte, wie sie sich mit einem leisen Gefühl von schlechtem Gewissen eingestehen musste. Es war Salim, der Heide, gewesen, der sie an die Bedeutung dieses Tages hatte erinnern müssen.
Nein, sie war niemals eine fanatische Christin gewesen, und jetzt war sie vielleicht auch keine gute Christin mehr. Vielleicht gar keine, tief in sich drinnen. Möglicherweise war das sogar der Grund, aus dem sie darauf bestanden hatte, hierher ins Dorf zurückzukehren, wo das Leben um so vieles einfacher war. Fast so einfach wie in ihrem Dorf in Friesland, das eine halbe Welt und ein ganzes Leben entfernt lag.
Müde drehte sie den Kopf und sah in die Richtung, in der Nemeth und ihre Mutter verschwunden waren. Die kühlen Schatten im Inneren des Hauses hatten die beiden längst aufgesogen, sodass sie sie nicht mehr sehen konnte, aber sie erblickte etwas Weißes, das drinnen auf dem Boden lag und ihr spöttisch zuzuwinken schien. Den weißen Ordensrock der Tempelritter mit dem roten Tatzenkreuz.
Vielleicht, dachte sie, und ein neuerlicher, eisiger Schauer, der nichts mit ihrer Schwäche oder der Hitze des Tages zu tun hatte, lief ihr über den Rücken, trug sie ihn ja nur noch, weil sie darin wenigstens noch wie eine Christin aussah.
Robin erwachte vom Duft frisch gebackenen Fladenbrotes. Noch bevor sich ihre Gedanken vollends klärten und sie die letzten Fesseln des Schlafes abstreifte, der ihre Erinnerungen festzuhalten versuchte wie klebriger Altweibersommer, der sich auf das Gesicht eines Spaziergängers niedergelassen hat und sich beharrlich weigert, sich wegwischen zu lassen, lief ihr das Wasser im Munde zusammen, und sie hörte, wie ihr Magen leise knurrte. Das Gefühl war mit einem leichten Erschrecken verbunden, das ihr im ersten Moment grundlos erschien, doch dann lauschte sie in sich hinein und stellte mit einem deutlich stärkeren Gefühl von Erleichterung fest, dass sowohl die Schwäche als auch die latente Übelkeit, mit der sie eingeschlafen war, nicht mehr da waren.
Behutsam setzte sie sich auf, blinzelte aus noch immer leicht schlaftrunkenen Augen in das Halbdunkel des kleinen Zimmers, das sie umgab, und nahm erneut und dieses Mal mit spürbarem Hunger den Duft frisch gebackener Brote wahr. Gleich drei davon lagen auf einem hölzernen Teller, den Saila hereingebracht haben musste, während sie schlief. Daneben stand ein einfacher Tonkrug und ein ebenso schmuckloser Becher.
Robins Lippen verzogen sich zu einem flüchtigen, aber sehr warmen Lächeln, während sie aufstand und zu dem kleinen Tisch neben der Tür ging, um sich Wasser einzugießen und einen großen Schluck davon zu trinken. Ihrem Ansehen und Stand wären Krüge und Trinkgefäße aus Gold oder anderen, edlen Metallen angemessen gewesen, und wenn sie sich mit Salim oder seinem Vater zu einem offiziellen Anlass zusammenfand, pflegte sie solcherlei auch zu benutzen, aber Saila kannte sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, wie zuwider Robin derartige Standessymbole waren.
Sosehr sie das Leben in Luxus und Sicherheit auch genoss, das sie an Salims Seite auf der Burg seines Vaters führte, hatten sie die Jahre bei den Tempelrittern und noch viel mehr ihre Jugend in der Armut eines einfachen Fischerdorfes Demut und die Vorzüge eines einfachen Lebens gelehrt. Es war nichts dagegen zu sagen, Wasser aus einem goldenen, mit Edelsteinen verzierten Becher zu trinken; aber es schmeckte nicht besser als aus einem einfachen irdenen Krug, und sie war zu vielen begegnet, die irgendwann darauf bestanden hatten, von goldenen Tellern zu essen und aus silbernen Bechern zu trinken, und die zu spät begriffen hatten, welche Gefahr in einem solchen Leben lauerte. Manche hatten es erst gespürt, als einfacher, geschmiedeter Stahl in ihr Fleisch schnitt.