Die Chronik der Unsterblichen - Glut und Asche - Wolfgang Hohlbein - E-Book
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Die Chronik der Unsterblichen - Glut und Asche E-Book

Wolfgang Hohlbein

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Beschreibung

Im London des Jahres 1666 wird ein unheimliches Schattenwesen für eine fürchterliche Mordserie verantwortlich gemacht. Als die beiden Unsterblichen Andrej Delãny und Abu Dun dem Feind auf die Spur kommen, verstricken sie sich selbst immer tiefer in den Netzen des Bösen. Da bricht ein Feuer aus, das ganz London zu verschlingen droht ...

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Inhalt

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Impressum

Der elfte Roman der Chronik der Unsterblichen

Kapitel 1

Die Ratte war so groß wie eine noch nicht ganz ausgewachseneKatze und sah selbst jetzt noch wild und gefährlich genug aus, um jedem klarzumachen, dass sie zu Lebzeiten kein solches Tier hatte fürchten müssen und wahrscheinlich auch keinen Hund, der deutlich kleiner als ein Bullenbeißer oder eine Deutsche Dogge gewesen wäre. Sogar jetzt, wo sie sich an einem Stock über einem Feuer drehte, schienen ihre winzigen Knopfaugen noch vor Wut zu funkeln und ihre in der Hitze verkrümmten Krallen nach etwas zu greifen, das sie packen und zerfetzen konnte. Sie bot einen nahezu Ehrfurcht gebietenden Anblick.

Vielleicht war ihr Anblick aber auch einfach nur widerlich.

Der saure Speichel, der sich immer schneller unter Andrejs Zunge sammelte, war jedenfalls nicht das sprichwörtliche Wasser, das ihm beim Anblick dieses Festmahls im Munde zusammengelaufen wäre – obwohl er hungrig war.

Aber nicht nach dieser Art von Nahrung.

Andrej schluckte die bittere Galle herunter – obwohl ihm sein Verstand sagte, dass es dumm war, denn er verspürte bereits jetzt ein leises Gefühl von Übelkeit und schlang die ebenso ungewohnte wie für das Wetter unpassende dünne Pelerine enger um die Schultern. Er fragte sich, was seinem Magen eigentlich mehr zusetzte: der Anblick der toten Ratte, deren Körperfett in zähen, geschmolzenen Fäden zwischen ihrem verkohlten Fell hervorquoll und in den Flammen des erbärmlichen Feuers verzischte, der Gestank ebenjenes Feuers, von dem er gar nicht wissen wollte, womit man es entzündet hatte und fütterte, oder die Vorstellung, dass dieser jämmerliche tote Nager gleich gegessen werden würde und für das knappe Dutzend ausgemergelter Kinder, das sich um das winzige Feuer versammelt hatte und ihn mit leuchtenden Augen anstarrte, tatsächlich so etwas wie ein Festmahl darstellte. Andrej musste seine besonderen Sinne nicht zu Hilfe nehmen, um zu erkennen, wie hungrig diese vor Schmutz starrenden Kinder waren. Vermutlich war die Ratte das Erste, was sie seit Tagen zu essen bekamen. Die Wahrscheinlichkeit, dass dieses Mahl sie umbringen würde, war nicht so gering, wie irgendeine dieser bedauernswerten Gestalten glauben mochte, doch Andrej war sicher, dass es ihnen herzlich egal war. Letzten Endes spielte es wahrscheinlich auch keine Rolle, dachte er bitter, ob das Fleisch dieser toten Ratte sie vergiftete, die Pest sie dahinraffte oder sie verhungerten.

Eine vage Trauer überkam ihn, während sein Blick über die Gesichter der ausgemergelten Kinder tastete (sie waren allesamt so schmutzig, abgerissen und zerlumpt, dass er nicht sagen konnte, wer von ihnen ein Junge und wer ein Mädchen war), und ihm klar wurde, dass kaum eines dieser Kinder das nächste Frühjahr erleben würde. Wenn verdorbenes Essen, Hunger oder irgendeine Krankheit sie nicht umbrachten, dann würden sie erfrieren, denn der bevorstehende Winter versprach bitterkalt zu werden. Die Stadt wurde zwar nicht gerade von einer Hungersnot heimgesucht, doch die schlechte Ernte des letzten Sommers und die zurückliegenden Kriegsjahre hatten die Herzen ihrer Bewohner im gleichen Maße härter werden lassen, wie das Knurren ihrer Mägen zunahm und sich ihre Vorratskammern leerten. Niemand verschenkte noch etwas in dieser Stadt – in diesem ganzen Land, wenn er es richtig bedachte –, und es gab erst recht niemanden, der einem bettelnden Kind etwas geschenkt hätte, von dem er genau wusste, dass es ihn nur deshalb anbettelte, weil es noch keine Gelegenheit gefunden hatte, ihm etwas zu stehlen oder ihn abzulenken, damit einer seiner Freunde ihn bestehlen konnte.

Andrej maßte sich nicht an, darüber zu urteilen. Auch er hatte schon gestohlen, weil er hungrig gewesen war. Auch in diese Stadt war er gekommen, um genau das zu tun.

Er allerdings würde kein Brot und Fleisch stehlen, und die, die er zu bestehlen gedachte, hatten es verdient – sowohl nach den Gesetzen der Menschen als auch nach denen des Schicksals. Vielleicht auch nur nach seinen eigenen. Welchen Unterschied machte das schon?

Die Ratte schien gar zu sein. Oder den Teilnehmern dieses Galadinners knurrten nur so sehr die Mägen, dass sie einfach nicht mehr länger warten konnten, denn einer der Jungen nahm den verkohlten Stock vom Feuer und zog ein Messer unter seinem zerlumpten Hemd hervor, das einmal eine gut dreißig Zentimeter lange Klinge gehabt haben musste, jetzt aber zur Hälfte abgebrochen war. Damit schob er die Ratte vom Spieß, und ein erwartungsvolles Murmeln und Erschauern ging durch die dicht gedrängte Menge seiner Zuschauer. Andrej zählte die Köpfe beiläufig – es waren elf – und versuchte die Portion abzuschätzen, die jeder von ihnen bekäme, wenn sie gerecht teilten. Kaum mehr als einen Bissen, dachte er, gerade genug, um sie ihren Hunger erst richtig spüren zu lassen. Nein, auch wenn er wusste, dass es dumm war, er konnte den Anblick nicht länger ertragen.

Er seufzte, versuchte ärgerlich, die Stimme seiner Vernunft zum Schweigen zu bringen, die ihm erklären wollte, dass er etwas – womöglich sehr – Dummes tat, und trat, sich übertrieben räuspernd, aus seinem Versteck in den Schatten des Torbogens heraus. Die rechte Hand senkte er in die Manteltasche.

Sein Räuspern wäre jedoch nicht nötig gewesen. Im gleichen Augenblick nämlich, in dem er auf den gepflasterten Innenhof hinaustrat, blickte der Junge mit dem Messer alarmiert auf und fuhr mit einer erstaunlich schnellen Bewegung zu ihm herum. Auch die anderen prallten entweder zurück und erstarrten dann, ergriffen die Flucht oder zogen auch – je nach Temperament – ihrerseits das, was sie für eine Waffe hielten: winzige Messer mit schartigen Klingen oder kurze Knüppel.

»Ihr müsst keine Angst haben«, sagte Andrej rasch, womit er das genaue Gegenteil erreichte. Jemanden, der auf der Flucht und verängstigt und halb verhungert ist, zu überraschen und ihm dann zu sagen, dass es keinen Grund gab, sich zu fürchten, war dazu angetan, ihn erst recht nervös zu machen. Die Furcht, die sich auf den vor Schmutz starrenden Gesichtern der Kinder abzeichnete, nahm noch zu, und bis auf den Jungen mit dem Messer ergriffen nun auch die übrigen die Flucht, auch wenn es nicht allzu viel gab, wohin sie flüchten konnten. Der Hof war an allen Seiten von drei Meter hohen, fensterlosen Backsteinmauern umgeben, und der einzige Weg hinaus führte durch den Torbogen, unter dem Andrej stand.

»Bitte!«, sagte er, wobei er sich Mühe gab, beruhigend und sanftmütig zu klingen. »Ich will nichts von euch.«

Das war nicht nur lahm, es zeigte auch keinerlei Wirkung. Sein Gegenüber – Andrej schätzte den Burschen auf höchstens neun Jahre, auch wenn sein Alter, ausgezehrt und schmutzig wie er war, schwer zu erkennen war – sah nur erschrockener aus. Doch er wich keinen Fußbreit zurück, sondern hob trotzig das abgebrochene Messer mit der einen und den verkohlten Spieß mit der noch qualmenden Ratte mit der anderen Hand, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck von erstaunlichem Mut, auch wenn dieser nur aus Verzweiflung geboren sein konnte. Außerdem sagte Andrej die Haltung, in der er dastand, dass dieser Junge trotz seiner jungen Jahre das Kämpfen gelernt hatte.

»Wer bist du?«, fragte der Bursche. Er hatte eine helle, zittrige Kinderstimme, doch es war etwas darin, das Andrej einen tiefen Stich versetzte. Ein Klang, der sie zwanzig Jahre zu früh bitter und misstrauisch machte. »Was willst du von uns?«

»Jedenfalls nichts …«, Andrej deutete mit der freien Hand auf die Ratte, »von dem da, keine Sorge.«

»Und was willst du dann?«

Statt zu antworten, zwang Andrej ein betont trauriges Lächeln auf sein Gesicht, nahm mit derselben Hand, mit der er auf die Ratte gedeutet hatte, den albernen Hut ab, der zu seiner nicht minder lächerlichen Verkleidung gehörte, die er angelegt hatte, um in dieser Stadt nicht allzu sehr aufzufallen, und zog endlich auch die andere Hand aus der Tasche. Die Blicke des Jungen folgten jeder seiner Bewegungen, als rechnete er jeden Augenblick damit, ihn eine Waffe ziehen zu sehen.

Stattdessen sah er auf seiner Handfläche eine Anzahl kleiner Münzen schimmern. Die Augen des Jungen wurden rund vor Staunen, aber weder rührte er sich, noch ließ er seine beiden improvisierten Waffen sinken, als Andrej sie ihm hinhielt.

»Nimm«, sagte Andrej auffordernd. »Nur keine Angst. Das ist für euch.«

Er wäre wohl eher erstaunt gewesen, hätte der Junge sich tatsächlich gerührt. Doch einige der anderen setzten sich in Bewegung. Der Großteil von ihnen blieb sicher in den Schatten, in die sie sich geflüchtet hatten, aber die beiden Jungen, die auch als Letzte geflohen waren, kamen nun, ebenso wie ihr Anführer (nach dem ersten Blick in seine Augen hatte Andrej gewusst, dass er es war), wieder näher, misstrauisch und aufmerksam und ihre jämmerlichen Waffen fest umklammernd.

»Ich verstehe«, seufzte Andrej. Behutsam ging er in die Hocke, legte die Münzen auf den Boden und richtete sich dann rasch wieder auf, um zwei Schritte zurückzuweichen. Einer der neu hinzugekommenen Jungen wollte sich nach den Geldstücken bücken, doch der Bursche mit dem Messer scheuchte ihn mit einer raschen Geste zurück. »Was soll das?«, fragte er. »Wer bist du, und was willst du von uns?«

»Wirklich nichts, wovor ihr Angst haben müsstet«, sagte Andrej wieder, schüttelte den Kopf und kam noch einen Schritt näher, gerade nahe genug, um jetzt vollends in den Lichtschein des Feuers zu treten, aber nicht so nahe, um die natürliche Fluchtdistanz des Jungen zu unterschreiten – die in seinem Fall wohl eher eine Angriffsdistanz war. Übertrieben langsam hob er die Hände und öffnete dann vorsichtig seine Pelerine, damit der Bursche sehen konnte, dass er keine Waffe darunter trug. »Ich habe eure Stimmen gehört und euch eine Weile beobachtet. Ist das da alles, was ihr zu essen habt?«

»Und was geht das dich an?«, fauchte der Junge. Langsam schienen das Misstrauen und die wilde Entschlossenheit, sich bis zum letzten Atemzug zu verteidigen, aus seinem Blick zu weichen. Doch Andrej spürte auch, wie dünn das Eis noch war.

»Eigentlich nichts«, gestand er. Dann deutete er auf die Münzen, die noch immer unberührt zwischen ihm und den drei Jungen lagen. »Ich dachte mir nur, ihr könntet das da brauchen. Nehmt es ruhig. Es ist nicht vergiftet.«

Das war der falsche Ton. Das Misstrauen flammte neu in den plötzlich schmaler werdenden Augen des Burschen auf, und für einen kurzen Moment löste sich sein Blick von Andrejs Gesicht und versuchte, die Dunkelheit hinter ihm zu durchdringen. Wahrscheinlich vermutete er, dass Andrej nicht allein gekommen war. »Und was sollen wir dafür tun?«, fragte er schließlich.

»Nichts«, antwortete Andrej. »Oder doch, ja.« Er machte eine Kopfbewegung auf das prasselnde Feuer. »Die Nacht ist ziemlich kalt. Ich würde mich gerne an eurem Feuer aufwärmen. Ist das möglich?«

Wieder vergingen Sekunden, in denen der Junge sichtlich mit sich rang, und auch dann nickte er nicht, sondern blickte nur einige Male abwechselnd die Geldstücke und Andrej an und fragte noch einmal: »Und das ist auch wirklich alles?«

»Ich sehe hier nichts, was für mich sonst noch von Interesse wäre«, antwortete Andrej lächelnd. »Also? Kommen wir ins Geschäft?«

Der Bursche antwortete nicht direkt, machte aber eine winzige Handbewegung, und die Münzen verschwanden wie von Zauberhand in der Tasche eines seiner Freunde. Der andere machte rasch zwei, drei Schritte zur Seite, die ihn näher an den Torbogen heran, aber auch halb in Andrejs Rücken brachten. So würde er entweder fliehen oder ihn zusammen mit den anderen von zwei Seiten zugleich angreifen können. Andrej zollte dem Jungen in Gedanken einen traurigen Respekt. So mancher Mann, den er getroffen hatte und der sich Krieger nannte, hätte nicht so bedacht gehandelt.

»Und vielleicht können wir uns ein bisschen unterhalten«, fügte er hinzu. »Ich bin fremd in dieser Stadt und könnte ein paar Informationen brauchen.«

Es vergingen tatsächlich noch einmal endlos scheinende Sekunden, in denen das Misstrauen des Jungen sichtlich noch einmal stärker aufflammte, dann aber ließ er zuerst sein Messer und danach den Stock mit der Ratte sinken, schürzte trotzig die Lippen und zuckte betont gleichmütig die Achseln. »Meinetwegen«, sagte er. »Aber versuch keinen Unsinn. Wir können uns wehren. Und wir sind viele.«

»Ich weiß«, sagte Andrej. Sehr vorsichtig legte er die beiden letzten Schritte zum Feuer zurück, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den nackten Boden und legte den Hut neben sich ab. Dann streckte er die Hände aus und rieb sie so dicht über den Flammen aneinander, wie es gerade noch ging, ohne sich zu verbrennen. Obwohl er dem Feuer jetzt nahe war, war es noch immer so kalt, dass sein Atem als grauer Dampf vor seinem Gesicht aufstieg.

Nach und nach kamen nun auch die anderen zurück. Andrej tat so, als konzentriere er sich ganz auf das Feuer und genösse die Wärme an seinen Fingern, hielt das knappe Dutzend Gestalten zugleich aber auch aufmerksam im Auge. Wohin er auch sah, blickte er in ebenso angsterfüllte wie argwöhnische Gesichter, aber ihm wurde auch erneut und mit noch größerer Deutlichkeit klar, wie erbärmlich ihr Anblick war. Und so etwas nennt sich also Zivilisation, dachte er bitter, und die Bewohner dieser Stadt behaupteten von ihr, sie wäre der Nabel der Welt.

Andrej tat beharrlich weiter so, als interessiere ihn nichts anderes als das Feuer. Einer nach dem anderen ließen sich die Jungen und Mädchen rings um ihn nieder. Der Bursche mit der Ratte nahm genau auf der anderen Seite Platz, beobachtete ihn noch eine kurze Weile misstrauisch über die Flammen hinweg und führte dann die Bewegung, mit der er das Tier von seinem Stock hatte schieben wollen, zu Ende, als wäre in der Zwischenzeit gar nichts geschehen. Schnell und geschickt zog er der Ratte das Fell ab, zerteilte das wenige graue, faserige Fleisch, das darunter zum Vorschein kam, mit seinem Messerstumpf in elf gleich große Stücke und reichte sie herum. Als er Andrej eines davon anbot, schüttelte dieser fast entsetzt den Kopf.

»Nein, danke«, sagte er rasch und mit einem angedeuteten, entschuldigenden Lächeln. »Ich bin nicht hungrig.«

»Bist was Besseres gewohnt«, vermutete der Junge, schob sich das letzte Stückchen Fleisch zwischen die gelben Zähne und kaute genüsslich darauf herum. Der Anblick erweckte die Übelkeit in Andrejs Magen, die er schon beinahe vergessen hatte, wieder zu neuem Leben, und er musste abermals schlucken. Dann aber nickte er.

»Das stimmt«, sagte er. »Da, wo ich herkomme, werden Ratten höchst selten zum Essen serviert.«

»Hier auch nicht«, antwortete der Bursche. »Die Biester sind schnell. Wir kriegen sie nur selten.«

Andrej überlegte, ob er über diese Bemerkung lachen oder sie besser ignorieren sollte, und entschied sich dann für Letzteres. »Wie ist dein Name, Junge?«, erkundigte er sich.

»Frederic«, antwortete der Bursche.

Andrej starrte ihn an. Er konnte spüren, wie sein Herz schneller zu schlagen begann und zwang die verrückten Gedanken, die ihm plötzlich durch den Kopf schießen wollten, mit einiger Mühe nieder. Es war ein Name, mehr nicht. Und noch nicht einmal ungewöhnlich, zumindest nicht in diesem Teil der Welt. Trotzdem starrte ihn der Junge stirnrunzelnd und erneut misstrauisch an, und Andrej wurde klar, wie deutlich man ihm seinen Schrecken wohl angesehen hatte.

»Hab ich was Falsches gesagt?«, fragte er.

»Nein«, sagte Andrej hastig. »Es ist nur …« Er entschied sich, so dicht wie möglich bei der Wahrheit zu bleiben, an der ohnehin nichts Verfängliches war. »Entschuldige, Frederic«, sagte er. »Es ist nur so, dass ich einmal einen Frederic gekannt habe. Aber das ist lange her.« Er legte den Kopf schräg und versuchte das Gesicht unter all dem Schmutz und Ruß (und auch eingetrocknetem Blut, wie er voller Schrecken bemerkte) genauer zu erkennen. »Wenn ich genau hinsehe, dann siehst du ihm sogar ein bisschen ähnlich.«

»Ach?«, erwiderte Frederic und schluckte das jämmerliche Stück Rattenfleisch lautstark herunter. »Und wie ist dein Name? Oder geht uns das nichts an?«

Andrej ignorierte den zweiten Teil seiner Frage. »Andrej«, antwortete er. »Andrej Delãny.«

»Das klingt nicht englisch«, sagte Frederic.

»Ich komme auch nicht von hier«, antwortete Andrej. »Ich bin fremd in London. Genau genommen bin ich erst vor ein paar Tagen hier angekommen, und deshalb bin ich ja auch hier. Ihr könnt mir doch bestimmt das eine oder andere über diese Stadt erzählen, oder?«

»Wahrscheinlich mehr, als du hören willst«, antwortete Frederic in leicht verächtlichem Ton, sah ihn aber weiterhin abschätzend an. Seine Hand spielte mit dem abgebrochenen Messer. »Aber warum fragst du uns danach? So, wie du aussiehst, wohnst du doch bestimmt in einer Pension oder in einem vornehmen Hotel. Da kann man dir alles sagen, was du wissen willst.«

»Oh ja«, bestätigte Andrej. »Man erfährt dort alles über den Tower, den Palast und den Hyde Park und hundert andere Dinge, die mich nicht interessieren.«

»Was interessiert dich denn?«, wollte Frederic wissen. Andrej fiel es immer noch schwer, den Namen zu benutzen, wenn auch nur in Gedanken und für sich.

»Die Menschen«, antwortete er.

»Die Menschen«, wiederholte der Junge. »Aber doch bestimmt nicht solche wie wir.«

»Und wie kommst du darauf?«, fragte Andrej.

Statt zu antworten, fragte Frederik seinerseits: »Bist du reich?«

»Ja«, antwortete Andrej, und noch bevor er das Wort ganz ausgesprochen hatte, stieß Frederic ein erstauntes Keuchen aus und blickte auf seine plötzlich leeren Hände. Das Messer, mit dem er herumgespielt hatte, hatte Andrej ihm mit einer so schnellen Bewegung abgenommen, dass er sie vermutlich nicht einmal gesehen hatte. »Das bin ich. Und ich habe auch vor, es zu bleiben.«

Frederic starrte ihn aus großen Augen an. Andrej reichte ihm das Messer mit dem Griff voran zurück und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Und ich habe auch vor, noch eine Weile am Leben zu bleiben.«

»Dann bist du hier in der falschen Gegend«, sagte Frederic, während er das Messer mit so spitzen Fingern entgegennahm, als hätte er Angst, es könnte ihn beißen. »Hat dir in deiner vornehmen Unterkunft niemand gesagt, wie schnell man hier zu Schaden kommen kann?«

»Da sind sie viel zu vornehm, um über diesen Teil der Stadt auch nur zu sprechen«,antwortete Andrej lächelnd. »Ich glaube, sie würden gerne verschweigen, dass es ihn überhaupt gibt.«

Eines der Mädchen schnaubte. »Ja, aber sie sind nicht zu vornehm, um hierherzukommen und –«

»Halt die Klappe, Bess«, unterbrach sie Frederic. Das Mädchen funkelte ihn wütend an, senkte aber dann den Blick und schwieg gehorsam. Frederic hatte seine Bande offenbar im Griff. »Ich glaube nicht, dass unser vornehmer Gast so etwas hören will.«

»Woher willst du denn wissen, was ich hören will?«, erwiderte Andrej.

»War nur so eine Idee«, erwiderte Frederic. Seine Stimme wurde eine Spur verächtlicher. »Aber wenn du dich dafür interessierst, können wir dir auch weiterhelfen. Ist aber nicht billig.« Er grinste schmutzig. »Aber Bess ist auch jeden Penny wert, das verspreche ich dir. Einen Schilling.«

Andrej starrte erst ihn, dann das Mädchen an. Natürlich verstand er genau, was Frederic mit diesen Worten hatte sagen wollen. Aber ein Teil von ihm wollte es nicht verstehen.

»Wie alt bist du, Bess?«, fragte er schließlich.

Frederic antwortete an ihrer Stelle. »Zwölf«, log er.

»Eher sieben«, vermutete Andrej.

»Neun«, behauptete Frederic. »Aber sie ist sehr reif für ihr Alter, und wenn du willst, waschen wir sie auch. Ihr vornehmen Leute wollt es ja immer sauber, oder?«

»Keinen Tag älter als acht«, beharrte Andrej. »Und bevor du jetzt weiterfeilschst: Ich bin nicht interessiert. Deshalb bin ich nicht hier.«

»Und warum dann?«, fragte Frederic.

Andrej wollte antworten, doch dann fing sein feines Gehör ein Geräusch auf, das irgendwo in der Nacht erklang, viel zu leise, als dass Frederic oder einer der anderen es hören konnte, für ihn aber unüberhörbar. Etwas daran war beunruhigend, doch er wusste nicht was. Als er sich jedoch darauf zu konzentrieren versuchte, war da nichts. Er war nervös, das war alles.

»Was ist los?«, fragte Frederic. Andrej hatte schon zuvor bemerkt, was für ein ausgezeichneter Beobachter er war. Er antwortete jedoch nicht gleich, sondern lauschte noch einmal in die Nacht hinaus. Nichts. Wahrscheinlich nur eine weitere Ratte, die es vorzog, nicht ebenfalls zum Abendessen eingeladen zu werden, versuchte er sich selbst zu beruhigen.

»Nichts«, antwortete er verspätet.

»Natürlich nicht«, sagte Frederic abfällig. »Deshalb zuckst du auch bei jedem Geräusch zusammen.« Er überlegte. Aber nicht lange. »Jetzt versteh ich. Du bist auf der Flucht. Du läufst vor irgendwem davon.«

Wenn überhaupt, dann vor mir selbst, mein Junge. Oh ja, und natürlich vor …

»Wenn du ein Versteck suchst, dann können wir dir helfen«, sagte Frederic. Gier blitzte in seinen Augen auf. »Kostet aber eine Kleinigkeit. Ist vielleicht nicht ganz so vornehm, wie du es gewohnt bist, aber dafür sicher.«

»Du bist ein guter Beobachter, mein Junge«, sagte Andrej. »Aber in diesem Punkt irrst du dich. Ich bin nicht auf der Flucht und will mich auch nirgendwo verstecken. Ganz im Gegenteil. Ich suche jemanden. Aber vielleicht könnt ihr mir dabei auch helfen.«

»Und wie?«

Als er das Geräusch erneut vernahm, nun sogar lauter, aber kein bisschen deutlicher, lauschte Andrej jetzt mit allen seinen Sinnen. Nichts.

»Du bist entweder ein ziemlich schlechter Lügner, Andrej Delãny«, sagte Frederic, »oder ein ziemlicher Hasenfuß. Hier ist niemand. Jedenfalls keiner, der hier nichts zu suchen hat.«

»Und woher willst du das so genau wissen?«, fragte Andrej. Allmählich begann ihm dieser Junge fast unheimlich zu werden.

»Weil das hier unser Revier ist«, antwortete Frederic gewichtig. »Hier treibt sich keiner rum, ohne dass wir es merken.«

»Außer mir.«

Frederic zog es vor, diesen Einwand zu überhören. »Du suchst also jemanden«, sagte er. »Und wen?«

»Das weiß ich selbst noch nicht«, antwortete Andrej. Er war verwirrt und auch ein bisschen erschrocken. Er war vollkommen sicher, etwas gehört zu haben. Und doch wusste er, dass es niemandem gelingen würde, sich unbemerkt an ihn anzuschleichen.

»Du weißt nicht, nach wem du suchst?«, vergewisserte sich Frederic ungläubig. »Was ist denn das für ein Unsinn?«

»Ich habe … eine Geschichte gehört über diese Gegend hier«, sagte Andrej zögernd.

»In deiner vornehmen Pension?«, vermutete Frederic.

»Schon vorher«, antwortete Andrej kopfschüttelnd. »Schon bevor ich nach London gekommen bin. Um ehrlich zu sein«, fügte er mit einem Schulterzucken hinzu, »ist das der Grund, warum ich überhaupt hier bin.«

»Was für eine Geschichte?«, fragte Frederic.

»Es soll hier in den letzten Monaten mehrere Morde gegeben haben«, antwortete Andrej.

»Das hat es«, bestätigte Frederic und machte ein bedeutungsvolles Gesicht. Bess kicherte. Und eines der anderen Mädchen auch.

»Was ist an dieser Frage so komisch?«

»Hier gibt es andauernd Morde«, antwortete Frederic, und nun blitzte es auch in seinen Augen amüsiert auf. »Und nur ganz wenige davon werden auch aufgeklärt. Leute verschwinden, und das interessiert niemanden. Schon gar nicht den Sheriff und seine Männer. Die sind doch froh, wenn es ein paar weniger von uns gibt.«

»Diese Art von Morden meine ich nicht«, antwortete Andrej. »Ich habe gehört, es hätte eine Anzahl … seltsamer Toter gegeben.«

»Seltsame Tote«, wiederholte Frederic. »Was soll das sein?« Er log. Er log gut, weil er darin offensichtlich eine gewisse Erfahrung hatte, aber er wusste ganz genau, wovon Andrej sprach.

Andrej zögerte jedoch, ihm gleich zu antworten, und er war plötzlich nicht einmal mehr sicher, ob er es überhaupt tun sollte. Diese Kinder hatten weder vor, ihm wirklich zu helfen, noch hatte er das Recht, es von ihnen zu verlangen. Wenn überhaupt, dann würden sie ihm eine Geschichte auftischen, von der sie hofften, dass sie seine Sensationslust befriedigte und ihnen vielleicht noch ein weiteres Trinkgeld einbrachte. Und falls sie tatsächlich etwas wussten … nun, dann tat er ihnen ganz bestimmt keinen Gefallen, wenn er sie in diese Geschichte hineinzog.

Trotzdem hob er die Schultern und antwortete: »Seltsame Tote eben. Man sagt, sie hätten keinerlei Verletzungen gehabt und auch an keiner Krankheit gelitten, und doch haben sie einfach tot auf der Straße gelegen. Und das immer in einer Neumondnacht.«

»Das Phantom«, sagte Bess und sah ihn aus großen Augen an. »Du meinst das Phantom.«

»Halt die Klappe, Bess«, sagte Frederic. Er warf Andrej einen spöttischen Blick zu. »Hör nicht auf sie. Sie redet Unsinn.«

»Dieses Wort habe ich auch gehört«, beharrte Andrej. »Was soll das sein, das Phantom?«

»Unsinn, wie ich schon gesagt habe«, antwortete Frederic in verändertem, jetzt fast ärgerlichem Ton. Er sah das Mädchen drohend an.

»Wenn es nur Unsinn ist, warum reagiert ihr dann so erschrocken?«, fragte Andrej. Etwas klapperte. Irgendwo, weit entfernt, erscholl das schrille Jaulen einer Katze, und für einen Moment war es ihm, als würde es noch kälter.

»Tue ich nicht«, behauptete Frederic. »Ich kann dir gern jede verrückte Geschichte erzählen, die du hören willst, wenn du was dafür springen lässt, aber die Wahrheit ist ganz einfach: Es ist Unsinn. Es gibt kein Phantom. Hier liegen andauernd tote Leute auf der Straße rum. An manchen Tagen kommen sie kaum damit nach, sie wegzuschaffen. Kein Hahn kräht danach. So ist das eben.«

Wenn auch vermutlich hoffnungslos übertrieben, enthielt seine Behauptung aber einen wahren Kern. London war eine der größten Städte der Welt, wenn nicht überhaupt die größte – zumindest, was die Einwohnerzahl anging –, und längst nicht alle ihre Einwohner lebten so glücklich, zufrieden und in bescheidenem Wohlstand und gottesfürchtig, wie es so gerne erzählt wurde. Vermutlich starben in dieser Stadt jedes Jahr mehr Menschen eines gewaltsamen Todes als in so mancher Schlacht, an der er teilgenommen hatte, und vermutlich scherte es die Obrigkeit tatsächlich nicht, wenn es arme Menschen waren, Arbeiter, Tagelöhner oder gar Diebe und Bettler. Aber er spürte auch Frederics Nervosität. Es gefiel dem Jungen nicht, über dieses Thema zu sprechen, und es gefiel ihm noch viel weniger, dasser es war, der über dieses Thema sprach. Und der Junge wusste etwas. Andrej dachte darüber nach, ihn nicht nur weiter, sondern auch eindringlicher zu befragen. Frederic würde nicht einmal etwas davon spüren und ihm trotzdem bereitwillig die Wahrheit sagen, ob er es nun wollte oder nicht. Aber dann entschied er sich doch dagegen. Es war besser, diese Kinder hielten ihn für einen Dummkopf und herausgeputzten Gecken, der aus seinem vornehmen Haus auf dem Land hierher in die Stadt gekommen war, um einmal ein richtiges Abenteuer zu erleben, und vergaßen ihn darüber hinaus möglichst schnell.

»Aber sie sagen doch, dass das Phantom nur die tötet, die …«, sagte Bess protestierend, und diesmal schrie Frederic sie beinahe an.

»Sei still! Wenn du jetzt nicht ruhig bist, dann setzt es was!«

»He, schon gut!«, mischte sich Andrej ein, indem er rasch die Hand hob und genauso unecht und nervös lächelte, wie Frederic es vermutlich in diesem Moment von ihm erwartete. »Ich wollte nur eine Frage stellen. Wenn ihr nichts darüber wisst, dann ist es gut. Bitte streitet euch nicht.«

»Aber was ist denn so schlimm daran?«, fragte Bess mit weinerlicher Stimme. Frederic funkelte sie an, und es schien, als würde er die Beherrschung verlieren. Dann aber erlosch der Zorn in seinen Augen und machte einem sonderbar warmen Ausdruck Platz. »Nichts, Bess«, sagte er. »Aber ich will nicht, dass ihr euch solche Geschichten erzählt. Gerade weil allesie erzählen. Das Leben ist auch schlimm genug, ohne dass wir uns vor Gespenstern fürchten müssen.«

Bess sah ihn weiter aus großen Augen an, in denen eine Menge Furcht – auch vor ihm – war, aber Andrej staunte nicht schlecht über ihn. Dieser Junge von – er korrigierte seine Schätzung in Gedanken ein kleines Stück nach oben – vielleicht elf oder zwölf Jahren war offenbar nicht nur der Anführer diese Kinderbande, weil er die stärksten Fäuste hatte. Er fragte sich, was wohl aus ihm werden würde, wenn er gegen alle Wahrscheinlichkeit lange genug lebte, um erwachsen zu werden, beantwortete seine eigene Frage aber gleich selbst. Mit ziemlicher Sicherheit würde er am Galgen enden oder, wenn er großes Glück hatte, im Gefängnis.

»Was tut ihr so?«, fragte er, um das unbehagliche Schweigen zu durchbrechen, das sich nach Frederics Worten auf dem Hof ausgebreitet hatte. »Ich meine: Wieso seid ihr um diese Zeit noch hier draußen? Gibt es keinen Platz, an den ihr gehört?« Die Frage, wieso sie nicht zu Hause bei ihren Eltern waren, sparte er sich. Er wusste, dass sie weder das eine noch das andere hatten.

»Doch«, antwortete Frederic. »Hierher.«

»Das ist euer Zuhause?« Andrej sah sich überrascht um. Der Hof war klein und mit Unrat und Abfällen übersät, und trotz der meterhohen Mauern ringsum konnte man die Feuchtigkeit und Kälte spüren, die vom nahen Fluss heraufwehte. Der Boden war so kalt, dass es fast wehtat, darauf zu sitzen, und alles klebte vor Schmutz – sogar die Luft. Selbst in einer normalen Nacht musste es hier bitterkalt und nahezu unerträglich sein, dazu trug sicher auch der grausame Gestank, der hier überall vorherrschte, und die Ratten und das andere Ungeziefer bei.

Frederic starrte ihn an, die Augen erneut misstrauisch zusammengekniffen.

»Wenn du ein mieses Spiel mit uns spielen willst, Andrej Delãny«, sagte er betont, »dann könntest du es bereuen. Wir verstehen es, uns unserer Haut zu wehren.«

»Ja, ich glaube, das hast du schon gesagt«, antwortete Andrej ruhig. »Und ich glaube dir. Ihr seid zwar nur Kinder, aber ihr seid viele … und ich habe nicht einmal eine Waffe.«

»Aber dafür Geld«, sagte Frederic. Das hatte Andrej ihm vor einigen Minuten schließlich selbst gezeigt, und er fragte sich allmählich, ob es nicht ein Fehler gewesen war. In Frederics Stimme war plötzlich eine Gier, die ihn beunruhigte. Natürlich hatte er keine Angst vor diesen Kindern – die hätte er nicht einmal dann gehabt, wenn er nicht das gewesen wäre, was er war –, aber er unterschätzte sie auch nicht. Er wollte nicht zu etwas gezwungen werden, was er nicht tun wollte.

»Wollt ihr es haben?«, fragte er, indem er unter den Mantel griff und den Jungen die Geldbörse hinhielt. In Frederics Augen blitzte Verlangen auf, und er hob – natürlich – die Hand, um nach dem Beutel zu greifen. Aber er führte die Bewegung nicht zu Ende. Andrej hätte nicht versucht, ihn daran zu hindern, hätte er es getan.

»Nur zu.« Andrej machte eine aufmunternde Geste, die die Münzen in dem kleinen Lederbeutel hörbar klimpern ließ. Frederic hob zum zweiten Mal die Hand und ließ sie auch jetzt wieder sinken, ohne nach dem Beutel gegriffen zu haben, auch wenn Andrej ihm ansah, wie schwer es ihm fiel.

»Warum solltest du das tun?«, fragte er misstrauisch.

»Weil ich es euch sowieso geben wollte«, antwortete Andrej. Die Worte fielen ihm praktisch erst in dem Moment ein, in dem er sie aussprach, und er registrierte mit einem Gefühl sachter Überraschung, dass er sie tatsächlich ernst meinte.

»Warum?«

»Vielleicht, weil ihr mir leidtut«, antwortete Andrej, und auch das war nichts als die Wahrheit.

»Ich verstehe«, sagte Frederic böse. »Macht dir Spaß, was Gutes zu tun, wie? Beruhigt dein Gewissen, und …« Er brach mitten im Wort ab, legte den Kopf schräg und lauschte konzentriert. »Verdammt, da ist doch einer!«, zischte er. »Wenn du uns reinlegen willst, dann wirst du es bereuen, Andrej Delãny! Tom, Pete – seht nach, wer sich da herumtreibt!«

Andrej war erstaunt, wie schnell und präzise die beiden Jungen reagierten, die Frederic angesprochen hatte. Nahezu lautlos sprangen sie auf und verschmolzen mit den Schatten, und auch die anderen Jungen und Mädchen erhoben sich rasch und sehr diszipliniert. Andrej war tatsächlich der Letzte, der auf den Beinen war, und ihm fiel auf, dass er auf keinem Gesicht so etwas wie Furcht erkannte, nicht einmal bei den Mädchen. Was er sah, war nichts als eine Bande abgerissener und halb verhungerter Kinder, aber sie bewegten sich so sicher und entschlossen wie Soldaten, die einen Auftrag bekommen hatten und ihn ausführten. Er war erstaunt.

»Du bleibst schön, wo du bist!«, befahl Frederic, als Andrej sich herumdrehen wollte. »Wenn das ein Trick war, dann wirst du es bereuen!«

»Ich habe nichts damit zu tun«, verteidigte sich Andrej – was ihm selbst einigermaßen albern vorkam.

»Vielleicht ist dir ja jemand gefolgt«, sagte Frederic. Das Klappern wiederholte sich, und nur einen halben Atemzug später hörte Andrej leichte Schritte. Und er vernahm sie eindeutig nach Frederic. Das sollte unmöglich sein.

Nein, es war sicher unmöglich, verbesserte er sich in Gedanken. Seine Sinne waren zehnmal so scharf wie die eines normalen Menschen. Doch obwohl sich niemand unbemerkt an ihn heranschleichen konnte, war es jemandem gelungen. Diese Kinder hatten es gemerkt und er nicht, und dafür gab es im Grunde nur eine Erklärung.

Andrej lauschte in sich hinein, und dann mit all seinen menschlichen und übermenschlichen Sinnen in den Jungen und die anderen Kinder. Aber da war nichts. Die Kinder waren ganz normale Kinder, keine Vampyre.

»Wenn du den Sheriff oder seine Leute hierher gelockt hast, dann überlebst du es nicht, du Geck«, versprach Frederic grimmig. »Du …«

Ein Schatten erschien unter dem Torbogen, durch den Andrej gerade gekommen war, ließ seinen Schutz fahren und trat nicht nur in die Welt des Sichtbaren hinaus, sondern wurde auch vor Andrejs innerem Auge zu dem, was er wirklich war.

Andrej reagierte so schnell und präzise, wie er es gewohnt war, aber trotzdem hätte er es um ein Haar nicht geschafft. Er war drei- oder viermal so stark wie ein normaler Mensch und mindestens dreimal so schnell, aber der andere war ihm ebenbürtig, vielleicht sogar überlegen, und anders als Andrej hatte er eine Waffe, mit der er hervorragend umzugehen verstand. Als die beiden Schemen aufeinanderprallten, in die sich Andrej und sein unheimlicher Gegner verwandelt hatten, blitzte rasiermesserscharf geschliffener Stahl auf. Ein reißender Schmerz schien Andrejs gesamte linke Seite zu verheeren. Er ignorierte ihn, packte den anderen Arm des Angreifers und schleuderte ihn in hohem Bogen über sich hinweg, indem er seinen eigenen Schwung gegen ihn einsetzte. Andrej verlor durch die Wucht des Zusammenpralls selbst das Gleichgewicht. Ungeschickt fiel er auf ein Knie hinab, fing sich mehr durch Zufall als Können im letzten Moment wieder, kam taumelnd in die Höhe und wirbelte sofort herum.

Diesmal zielte die Klinge nach seinem Gesicht. Andrej wehrte den Stich mit hochgerissenem Unterarm ab, spürte einen neuerlichen brennenden Schmerz, der eine Linie aus purem Feuer schräg über die linke Hälfte seines Gesichts zog, und schlug mit aller Gewalt, die er aufbringen konnte, zurück.

Allzu viel war es nicht. Er war überrascht, verletzt und stand in einer unglücklichen Position. Sein Handballen traf das Kinn des Angreifers schräg von unten, in einem geraden, blitzartigen Stoß, der jedem menschlichen Gegner das Genick gebrochen hätte. Der Schlag reichte immerhin, um den anderen zurückstolpern zu lassen. Er machte rasch zwei, drei weitere Schritte, schüttelte den Kopf, wie um die Benommenheit abzustreifen, und wechselte seine Waffe von der rechten in die linke Hand und beinahe noch schneller wieder zurück.

Andrej ließ die Gelegenheit, ihm nachzusetzen und den Kampf auf diese Weise vielleicht vorzeitig zu beenden, ungenutzt verstreichen. Er wusste, es wäre ihm nicht gelungen. Er stand keinem menschlichen Feind gegenüber, sondern einem Wesen seiner Art, einem Vampyr, der mindestens so stark wie er war, wenn nicht stärker. Und um einiges schneller.

»Wieso greifst du mich an?«, fragte er, während er sich mit dem Handrücken durchs Gesicht fuhr, um das Blut abzuwischen. »Du weißt, wer ich bin. Ich bin nicht dein Feind!«

Er bekam keine Antwort, und er hatte auch nicht damit gerechnet. Der andere warf seine Waffe nur noch ein paarmal von einer Hand in die andere, und das so schnell, dass die Klinge zu einem silbernen Halbkreis zu werden schien, tänzelte einen weiteren Schritt zurück und schlug mit einer raschen Bewegung die Kapuze seines Mantels nach hinten. Andrej zog überrascht die Augenbrauen hoch. Das Gesicht, in das er blickte, war schmal und schwärzer als die Nacht, hatte auf ihn dieselbe verwirrende Wirkung, die auch Abu Duns Anblick auf fast alle hatte, die den riesenhaften Nubier zum ersten Mal sahen, denn trotz der dunklen Haut waren seine Züge europäisch. Andrejs Gegenüber war außerdem kahlköpfig und hatte nicht einmal Augenbrauen oder Wimpern, aber Andrej sah trotzdem, dass er einer Frau gegenüberstand.

Was sie nicht ungefährlicher machte. Aber der Anblick war ungewöhnlich.

In all den Jahrhunderten, die Abu Dun und er jetzt gemeinsam durch die Welt gezogen waren und nach anderen ihrer Art gesucht hatten, war er nur sehr wenigen Frauen begegnet. Andrej hatte nie herausgefunden (und auch nicht wirklich nach einer Antwort auf diese Frage gesucht), ob es eine Laune des Zufalls war oder es womöglich einen Grund dafür gab, dass der Fluch der Unsterblichkeit um so vieles häufiger Männer traf als Frauen. Doch wenn er es recht bedachte, dann waren die wenigen Frauen, auf die sie jemals getroffen waren, stets die gefährlicheren Gegner gewesen.

Und das schien auf die Nubierin vor ihm auch zuzutreffen.

Noch während Andrej dastand und mit seiner Verblüffung kämpfte, griff sie erneut an, wobei sie das Messer noch in der Bewegung blitzschnell zwei- oder dreimal von der Rechten in die Linke wechselte, um ihn zu verwirren – und um ein Haar hätte sie sogar Erfolg gehabt. Andrej wich der Klinge, die er in ihrer anderen Hand gemutmaßt hatte, mit einer beinahe verzweifelten Drehung des Oberkörpers aus. Der rasiermesserscharfe Stahl hinterließ nur einen armlangen Schnitt in seiner Pelerine, statt in seinen Oberkörper zu schneiden, wie es die Absicht der Nubierin gewesen war. Aber ihre andere Hand stieß mit solcher Wucht in sein Gesicht, dass er halb benommen zurücktaumelte und nur deshalb nicht fiel, weil er mit dem Rücken gegen die schmutzige Wand prallte. Dem nachgesetzten, blitzartigen Stich entging er nur durch pures Glück.

Wenn schon nicht sein Verstand, so reagierten seine Instinkte blitzschnell. Die Nubierin war vermutlich nur wenig überraschter als er selbst, als seine Handkante wie ein Beil auf ihren Arm hinunterfuhr und ihn brach.

Falls sie überhaupt einen Schmerzenslaut ausstieß, so ging er in dem flatternden Geräusch unter, das ihr Mantel machte, als sie in einer fließenden Bewegung herum- und aus seiner Reichweite wirbelte. Mit der anderen Hand fing sie ihre Waffe auf, die ihren plötzlich kraftlosen Fingern entglitten war. Ebenso instinktiv, wie er gerade zugeschlagen hatte, setzte Andrej ihr nach und erwischte sie immerhin mit einem Tritt gegen den Oberschenkel, der sie aus dem Gleichgewicht brachte und haltlos zur Seite taumeln ließ.

Obwohl er es dieses Mal gekonnt hätte, verzichtete Andrej darauf, ihr nachzusetzen. Irgendetwas sagte ihm, dass er diese Frau nicht würde entwaffnen oder gar überwältigen können, sondern sie töten musste. Und das wollte er nicht.

»Verdammt noch mal, hör auf!«, sagte er wütend. »Ich bin nicht dein Feind!«

Aber sie war ganz offensichtlich der seine. Verletzt oder nicht, ihr Körper verwandelte sich in einen wirbelnden Schatten, der sich so schnell bewegte, dass nicht einmal sein Blick ihm zu folgen vermochte. Ihre Waffe verfehlte abermals ihr Ziel, als es ihm gelang, sie abzulenken, getrieben von seinen Instinkten, die längst die Kontrolle über sein Tun übernommen hatten. Aber ihre Ellbogen und Knie trafen ihn mit solcher Wucht, dass ihm die Luft wegblieb. Beide angeschlagen, taumelten sie auseinander, und die Nubierin wechselte zu seiner maßlosen Verblüffung ihre Waffe wieder in die gebrochene Hand, unterlief seine Deckung und versetzte ihm einen tiefen Stich in den Leib, dem er nicht mehr ausweichen konnte. Im letzten Augenblick gelang es ihm noch, sich so zu drehen, dass die Klinge keine lebenswichtigen Organe verletzte, aber der Schmerz war so grässlich, dass ihm übel wurde und sein Blick sich verschleierte. Mehr brauchte die unheimliche Angreiferin nicht. Zwei, drei harte Hiebe trieben ihn zurück und gegen die Wand, Metall blitzte auf und zielte auf sein Herz oder seine Kehle.

Eine Gestalt, kaum so groß wie ein Kind, sprang die Nubierin an. Ihre Wucht reichte nicht einmal, um sie zu erschüttern, aber sie stieß sie von sich und war für einen winzigen Moment abgelenkt. Das Messer verfehlte Andrejs Kehle und schrammte Funken sprühend an der Wand neben seinem Gesicht entlang, und als sie das Knie hochreißen wollte, um es ihm zwischen die Beine zu rammen, blockte er den Schlag mit der flachen Hand ab, fegte ihr mit dem Fuß das andere Bein unter dem Leib weg und ließ sich einfach auf sie fallen, als sie mit einem eher zornigen als überraschten Laut hintenüber kippte. Diesmal war sie es, der der Aufprall die Luft aus den Lungen trieb.

Andrej packte ihre verletzte Hand, spürte, wie sich der gebrochene Knochen darin wieder zusammenfügen wollte, und brach ihn mit grimmiger Entschlossenheit erneut. Ein wimmernder Schmerzenslaut kam über die so sonderbar schmalen Lippen, aber alles, was er in ihren Augen las, war brennende Wut und der absolute Wille, ihn zu töten.

Dann griff eine unsichtbare Hand nach seinen Gedanken, fuhr wie ein stählerner Rechen mit rot glühenden Zinken durch seinen Kopf und löschte für eine halbe Sekunde alles aus, was nicht Schmerz war.

Es dauerte nicht lange – vielleicht einen Atemzug oder noch kürzer –, aber als sich sein Blick wieder klärte, lag er auf dem Rücken, die dunkelhäutige Frau saß auf ihm und nagelte seine Arme mit den Knien gegen den Boden. Ihre linke, unversehrte Hand drückte die Spitze des Dolches unter sein Kinn, um die Waffe durch das weiche Fleisch bis nach oben in sein Gehirn zu stoßen, was selbst für ihn den sicheren Tod bedeutet hätte.

Aber aus irgendeinem Grund zögerte sie, den Stoß zu Ende zu führen. Es gab nichts mehr, was er dagegen hätte tun können. Andrej war unvorstellbar stärker und schneller als ein Mensch, aber seine Gegnerin stand ihm in Stärke und Schnelligkeit kaum nach, und im Gegensatz zu ihm schien sie keine Gnade zu kennen. Es war vorbei, ganz gleich was er versuchte. Sie würde ihn töten, binnen eines einzigen Lidschlages. Aber sie tat es nicht.

»Worauf … wartest … du?«, brachte er mühsam hervor, weil er den Kopf so weit in den Nacken beugen musste, um sich nicht selbst aufzuspießen. Trotzdem schnitt die Messerspitze tief in seinen Hals. Es tat weh, und warmes Blut lief an seiner Kehle hinab und besudelte den weißen Rüschenkragen seines Hemdes. Der Geruch trieb ihn fast in den Wahnsinn. Es war zwar sein eigenes, aber doch Blut, und das Ungeheuer in ihm zerrte knurrend und geifernd an seinen Ketten wie ein ausgehungerter Wolf. Alles in ihm schrie danach, es zu entfesseln, aber er wusste, dass ihn nicht einmal mehr der Vampyr würde retten können.

»Wenn du mich … quälen willst, dann … spar dir die Mühe. Es wird dir nicht gelingen.«

»Ich weiß, Andrej Delãny.«

Es war nicht die Nubierin, die antwortete. Er hörte ein leises, kehliges Lachen, und eine zweite Gestalt in einem schwarzen Kapuzenmantel trat aus den Schatten des Torbogens heraus und in den Hof. »Ich habe mich nicht in dir getäuscht, Andrej. Du hättest sie zweimal töten können, aber du hast es nicht getan. Wie nobel von dir. Und wie dumm.«

Die Gestalt kam näher. Unter ihrer Kapuze war dort, wo ein Gesicht sein sollte, nichts als Dunkelheit, aber die Stimme kam ihm vage bekannt vor, und auch an den Bewegungen war etwas Vertrautes, das …

Der glühende Rechen fegte zum zweiten Mal und noch grausamer durch sein Bewusstsein, und diesmal verlor er wirklich das Bewusstsein. Als die Orgie aus gleißendem Schmerz und alles hinwegfegender Angst hinter seiner Stirn verebbte, hockte die Nubierin nicht mehr auf seiner Brust, und auch das Messer war fort. Er fühlte sich schwach, als hätte ihm etwas all seine Kraft entzogen, und alles, was er sah, waren Schatten und verschwommene Umrisse und Schemen. Er wusste nicht, welche davon entsetzlicher waren: die, die ihm seine außer Kontrolle geratene Fantasie vorgaukelte, oder die, die er wirklich sah.

»Ich habe gehört, dass dein großer Freund und du in der Stadt sein sollt«, fuhr die Stimme fort. Andrej wagte nicht, darüber nachzudenken, warum ihm die Stimme auf unheimliche Weise bekannt vorkam, aus Angst, dass die glühende Hand wiederkommen und sich erneut in sein Bewusstsein krallen würde.

»Ich könnte dich töten«, fuhr die Stimme fort. Der Schatten kam näher und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Eigentlich war die Gestalt nun nahe genug, dass er das Gesicht unter der Kapuze erkennen müsste, aber nach wie vor sah er nichts als Dunkelheit, als wäre da etwas, das verhinderte, dass er sein Gegenüber sah.

»Ich könnte dich töten«, sagte die Stimme noch einmal. Eine schattenhafte Hand deutete auf die Kriegerin, die jetzt zwei Schritte hinter der Gestalt Aufstellung genommen hatte. »Sie könnte dich töten. Und vielleicht sollte ich es ihr gestatten. Aber ich werde dich verschonen, Andrej Delãny, um unserer alten Freundschaft willen und nur dieses eine Mal. Aber höre auf mich. Nimm deinen großen Freund und geh zusammen mit ihm fort aus dieser Stadt, oder besser noch aus diesem Land. Große Dinge werden geschehen. Schlimme Dinge. Ich möchte nicht, dass du zu Schaden kommst.«

Andrej wollte etwas sagen. Er wollte sich hochstemmen, um einen Blick auf das Dunkel unter der Kapuze zu erhaschen, doch eine schlanke dunkelhäutige Hand tauchte unter dem Umhang auf, berührte ihn beinahe sanft an der Stirn, und plötzlich war der glühende Rechen wieder da – diesmal löschte er seine Gedanken endgültig aus.

Kapitel 2

Es war sehr lange her, dass er das letzte Mal das Bewusstsein verloren hatte. So lange, dass er sich kaum noch daran erinnern konnte, wann.

Auch wann er das letzte Mal in einer solch trostlosen Umgebung aufgewacht war – ganz gleich, ob nach einer Bewusstlosigkeit, einem Vollrausch oder einem normalen Schlaf –, wusste er nicht mehr.

Behutsam setzte Andrej sich auf, aber offenbar nicht behutsam genug. Hinter seiner Stirn erwachte ein stechender Schmerz, der sich wie eine dünne, rot glühende Nadel zwischen seine Augen bohrte. Ihm war schwindelig und übel, im Mund hatte er einen schlechten Geschmack. Es dauerte eine Weile, bis er sich erinnerte. Einen ausgewachsenen Kater hatte er schon seit Jahrhunderten nicht mehr gehabt.

Andrej fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die geschlossenen Augen und führte einige einfache mentale Übungen durch, um seine Gedanken zu klären, bevor er sich zum zweiten Mal in seiner veränderten Umgebung umsah. An seiner ersten Einschätzung änderte sich nicht viel. Abu Dun und er waren weder anspruchsvoll noch besonders wählerisch, was ihre Unterkunft anging, aber er war selten zuvor in einem solchen Loch aufgewacht. Der Raum hatte zwar ein Dach, glich aber sonst in vielem dem verdreckten Hof, in dem er auf Frederic und seine Kinderbande gestoßen war. Alles war schmutzig und nass. Es war so kalt, dass sein Atem als grauer Dampf vor seinem Gesicht erschien, und es stank nach Unrat und menschlichen Ausdünstungen. Er war nicht sicher, ob das, was er sah, die Reste eines einfachen Mobiliars oder einfach Müll war, den wegzuräumen sich niemand die Mühe gemacht hatte. Durch die Ritzen in den morschen Bretterwänden drang nicht nur eisige Luft herein, sondern auch das graue Licht der Morgendämmerung, was bedeutete, dass er mindestens sieben oder acht Stunden bewusstlos gewesen sein musste. Es roch nach Fisch und schmutzigem Wasser, und jetzt hörte er auch schwach Geräusche – Stimmen und geschäftigen Lärm –, die er jedoch nicht zuordnen konnte.

Der Druck hinter seinen Augen hatte so weit nachgelassen, dass er ihn zu ignorieren vermochte, und auch Übelkeit und Schwindel waren fort. Der schlechte Geschmack im Mund war geblieben. Er konnte es drehen und wenden, wie er wollte: Er fühlte sich, als hätte er einen Kater. Doch das war nicht möglich. Abu Dun und er konnten sich durchaus betrinken, wenn sie sich nur genug Mühe gaben, aber das war ein kurzes Vergnügen, das nicht viel länger hielt, als sie brauchten, um den letzten Becher abzusetzen. Ihr veränderter Metabolismus erkannte Alkohol als genau das, was er auch war – nämlich Gift –, und baute ihn beinahe ebenso schnell wieder ab, wie sie ihn in sich hineinschütten konnten.

Aber wenn er nicht verkatert war, was war es dann, das er spürte?

Andrej kam zu dem Schluss, dass er dieses Rätsel nicht lösen würde, wenn er länger hier herumsaß und Löcher in die Luft starrte. Er stand ganz vorsichtig auf und erlebte gleich zwei weitere unangenehme Überraschungen: Die Kammer war so niedrig, dass er mit dem Kopf schmerzhaft gegen die Decke stieß, und er war völlig nackt.

Eine Weile stand er einfach da, starrte an sich herab und versuchte so angestrengt, sich zu erinnern, was passiert war, dass seine Kopfschmerzen zurückkamen. Dann gab er es auf, bückte sich nach der zerschlissenen Decke, unter der er aufgewacht war, und schlang sie sich wie einen Kilt um die Hüften, bevor er sich behutsam zu der einzigen Tür vortastete. Sie war verschlossen. Andrej drückte prüfend mit der flachen Hand dagegen und wurde mit einem leisen Knirschen belohnt, unmittelbar gefolgt von dem Klappern, mit dem der zerbrochene Riegel auf der anderen Seite zu Boden fiel.

»Das tut mir leid«, murmelte er, während er gebückt durch die kaum sechs Fuß hohe Tür trat und sich in einem genauso winzigen, aber heller erleuchteten Zimmer wiederfand. Die Bemerkung hatte eigentlich nur dem zerbrochenen Riegel gegolten, aber er bekam eine Antwort.

»Muss es nicht. Die ganze Bude hier ist morsch, weißt du? Dumm von mir, den Riegel überhaupt vorzulegen.«

Andrej blinzelte in die ungewohnte Helligkeit und sah in den ersten Sekunden nur Schatten und verschwommene Bewegung. Seine Augen brauchten einen Moment, um sich umzustellen, was ungewöhnlich war, und er erkannte die Stimme eine geraume Weile vor dem Gesicht.

»Frederic?«

»Stimmt schon«, antwortete einer der Schatten. Andere standen auf, huschten davon oder begannen ihn einzukreisen. »Aber meine Freunde nennen mich Fred.«

Andrej blinzelte, und aus dem verschwommenen Fleck vor seinen Augen wurde das Gesicht des Jungen, dem er gestern Abend auf dem heruntergekommenen Hof begegnet war. Er sah noch immer genauso bleich und ausgemergelt aus, nur um einiges erschöpfter. Doch seine Augen waren wach, und das Misstrauen in seinem Blick hatte noch zugenommen.

Andrej warf einen raschen Blick in das knappe Dutzend anderer Gesichter. Keines der Kinder war älter als zwölf oder dreizehn Jahre, und alle waren in erbarmungswürdigem Zustand. Ein paar von ihnen kamen ihm aus der vergangenen Nacht bekannt vor – auch Bess, die ihn als Einzige anlächelte –, die meisten aber waren ihm fremd.

»Fred also«, sagte er, während er sich noch einmal suchend umsah und dann auf einer umgedrehten Kiste Platz nahm.

»Fred«, bestätigte Frederic. »Du glaubst also, du wärst unser Freund? Na, dann holt unserem neuen Freund Andrej Delãny mal was zu essen. Und ich glaube, seine Kleider möchte er auch zurückhaben.«

Einige der abgerissenen Gestalten verschwanden, um seiner Aufforderung (die nichts anderes als ein Befehl gewesen war) nachzukommen, während der Rest in einem lockeren Halbkreis um ihn herum Platz nahm. Diese Anordnung hatte etwas Bedrohliches, und das war wohl auch beabsichtigt, zumal die meisten Mitglieder von Freds Bande mehr oder weniger offen bewaffnet waren.

»Du glaubst also, du bist unser Freund«, sagte Fred noch einmal.

»Das muss ich wohl sein«, antwortete Andrej ruhig. »Sonst wäre ich wahrscheinlich nicht mehr am Leben.«

Niemand antwortete. Freds Augen wurden schmal.

»Ich meine: Ihr habt mich doch hierher gebracht, oder? Das kann man durchaus als Lebensrettung bezeichnen.«

»Kannst gut mit Worten umgehen, wie?«, sagte Fred. »Ist mir vergangene Nacht schon aufgefallen. Kannst du noch mehr gut, außer mit Worten zu jonglieren und dich von Frauen verprügeln zu lassen?«

Ein paar der Umsitzenden lachten, und auch Andrej lächelte, wenn auch nur knapp. Doch als Fred die Hand hob, wurde es sehr schnell wieder still. Er hatte die Mitglieder seiner Bande gut unter Kontrolle, das musste man ihm lassen.

»Entschuldige«, sagte er schließlich, an Andrej gewandt. »Das war nicht nett von mir.«

»Aber du hattest recht«, sagte Andrej betrübt.

Fred machte eine wegwerfende Geste. »Stimmt schon«, antwortete er. »Aber wir haben auch gesehen, wie diese Frau gekämpft hat. Ich glaube, niemand hätte sie besiegen können.«

Doch, dachte Andrej: Ich. Ich hätte es gemusst. Laut sagte er: »Ja, sie war … außergewöhnlich.«

»Aber du warst auch nicht schlecht«, antwortete Fred. »Ich erkenne es, wenn einer kämpfen kann. Und du kannst es verdammt gut.«

»Offensichtlich nicht gut genug«, seufzte Andrej. »Sonst hätte ich mich besser gehalten. Vielen Dank übrigens auch für eure Hilfe. Warst du das?«

»Was?«

»Der sie angesprungen hat.«

Fred nickte und zog eine schmerzerfüllte Grimasse. »Hat mir nur nicht viel gebracht«, sagte er. »Außer ein paar hübschen blauen Flecken.«

»Ich wäre jetzt tot, wenn du es nicht versucht hättest«, sagte Andrej ernst.

»Vielleicht«, erwiderte Fred achselzuckend. »Bist du aber nicht.«

Die Tür ging auf, und zwei Jungen kamen herein. Einer trug Andrejs zusammengelegte Kleider über dem Arm, der andere brachte einen zerbeulten Metallteller, auf dem irgendetwas lag, von dem Andrej lieber nicht genau wissen wollte, was es war. Das Stück Brot daneben nährte in ihm jedoch den unangenehmen Verdacht, dass es sich wohl um das Frühstück handelte, von dem Fred gesprochen hatte.

Er wollte nicht unhöflich sein. Immerhin hatten diese Kinder ihm das Leben gerettet (oder glaubten es wenigstens), und so nahm er den Teller nicht nur mit einem dankbaren Lächeln entgegen, sondern zwang sich auch, seinen undefinierbaren Inhalt mit stoischem Gesicht hinunterzuwürgen. Immerhin musste er keine Angst haben, sich zu vergiften.

»Danke«, sagte er sogar, nachdem er die kümmerliche Mahlzeit bis auf den letzten Krümel vertilgt und den leeren Teller vor sich auf den Boden gestellt hatte. Um ein Haar hätte er eine spöttische Bemerkung gemacht, aber sein schlechtes Gewissen hielt ihn davon ab. Die Gesichter, die ihm entgegenstarrten, waren nicht nur verdreckt, sondern vor allem hungrig, und das, was auch immer er gerade gegessen hatte, stellte wahrscheinlich einen Gutteil der Nahrung dar, die sie an einem ganzen Tag zur Verfügung hatten. »Danke«, sagte er nur.

»Wird dir wahrscheinlich nicht geschmeckt haben«, sagte Fred. »Aber es ist das Einzige, was wir haben.«

»Ich habe schon Schlimmeres gegessen«, antwortete Andrej, was der Wahrheit entsprach … wenn auch nicht oft.

»Dann kannst du dich ja jetzt anziehen«, sagte Fred. »Du musst frieren.«

Das stimmte. Dennoch sah er sich nur demonstrativ in der Runde um, und dann seufzte Fred übertrieben theatralisch.

»Vielleicht solltet ihr rausgehen, Leute«, sagte er. »Vor allem die Damen unter uns. Unser Gast scheint ein bisschen genant zu sein.«

Tatsächlich standen die meisten auf und gingen. Nur drei oder vier Jungen blieben, aber auch das nur so lange, bis Fred den wenigen Standhaften einen eisigen Blick zuwarf, woraufhin auch sie sich trollten.

»Danke«, sagte Andrej. Er rührte sich nicht. »Du willst also allein mit mir reden … worüber?«

Fred antwortete nicht, sondern sah ihn weiter durchdringend und auf eine Art an, die Andrej Unbehagen bereitete. In Freds Augen war etwas, das nicht in den Augen eines Kindes sein sollte.

Als ihm klar wurde, dass er keine direkte Antwort bekommen würde, stand er auf, schlang seinen improvisierten Kilt enger um die Hüften und trat an eines der großen – und glaslosen – Fenster heran. Die Stimmen und Arbeitsgeräusche, die er vorher schon dumpf vernommen hatte, wurden lauter, aber trotzdem vermochte er sie nicht einzuordnen. Auch ein Blick aus dem Fenster brachte ihm keine Klarheit. Licht brach sich auf träge schwappendem Wasser, und er spürte hektische Aktivität und angespannte Nervosität. Seine übermenschlich scharfen Sinne schienen sich plötzlich gegen ihn zu wenden, als sähe, höre und röche er auf einmal tausend Dinge, die seine Aufnahmefähigkeit schlicht überstiegen.

Dann begriff er. Die scharfen Sinne eines Vampyrs, die ihm seit unzähligen Jahren zur Verfügung standen, ließen ihn plötzlich im Stich. Es war kein Übermaß an Information, das seine Sinne überrannte. Er sah die Welt zum ersten Mal seit unzähligen Jahren wieder so, wie ein ganz normaler sterblicher Mensch sie gesehen hätte. Er sah nicht zu viel, sondern zu wenig. Da waren Schatten und Umrisse, die keine Bedeutung zu haben schienen, weil ihnen ganze Aspekte ihres Seins fehlten, Geräusche, die in seinen Ohren zu dünn und unwirklich klangen, um real zu sein.

Andrej schloss die Augen, kämpfte mit unerwarteter Mühe die Panik nieder, die von ihm Besitz ergreifen wollte, und als er zum zweiten Mal aus dem Fenster sah, war alles wieder so, wie es sein sollte. Das zerbrochene Fenster, durch das er hinausblickte, lag im zweiten Stockwerk eines baufälligen Gebäudes am Themseufer.Schmutziges, faulig riechendes Wasser, das ölig und träge mit unrhythmischem Klatschen gegen eine Kaimauer schlug. Männer in ebenso einfacher wie grober Kleidung schleppten Säcke unbekannten Inhalts und einfache Kisten voller Fisch, dessen Gestank er selbst hier oben noch wahrnahm. Außerdem argwöhnte er plötzlich, gerade eben etwas davon gegessen zu haben.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte Fred.

Andrej fragte sich ganz ernsthaft, ob der Junge vielleicht seine Gedanken las, aber dann begriff er, dass er seit mindestens einer Minute reglos hier am Fenster stand und hinausstarrte, und das vermutlich in angespannter, wenn nicht gar erschrockener Haltung. Was um alles in der Welt geschah mit ihm?

Betont langsam drehte er sich um und schüttelte den Kopf. »Ich war nur neugierig«, sagte er. »Ist das hier euer … Zuhause?«

Fred schien mit schräg gehaltenem Kopf über die Frage nachzudenken, vielleicht auch nur über die Betonung, die Andrej auf das letzte Wort gelegt hatte. Dann aber nickte er. »Bis uns irgendjemand wegjagt, wenigstens«, antwortete er. »Ich weiß, es ist nicht schön und bestimmt nicht so vornehm wie das, was du gewohnt bist, aber es gehört uns.«

»So war das nicht gemeint«, sagte Andrej rasch. »Ich war nur … erschrocken.«

»Erschrocken?«

»Du bist noch … sehr jung«, sagte Andrej vorsichtig. »Und die meisten deiner Freunde sind noch sehr viel jünger. Kinder sollten so nicht aufwachsen.«

»Stimmt«, antwortete Fred. »Aber es gibt sonst nichts. Die Hälfte meiner Leute wäre verhungert, wenn wir uns nicht um sie gekümmert hätten. Und du?«

»Ich habe ein Zuhause«, antwortete Andrej – was glatt gelogen war.

Das war ganz offensichtlich nicht die Antwort gewesen, die Fred hatte hören wollen. Er wurde zornig. In seinen Augen blitzte es auf, und Andrej hatte den befremdlichen Eindruck, dass er sich beherrschen musste, um sich nicht auf ihn zu stürzen. Ein absurder Impuls, denn Andrej war doppelt so groß und dreimal so schwer wie er. Selbst wenn er nur ein normaler sterblicher Mensch gewesen wäre, hätte er vielleicht eine Sekunde gebraucht, um ihn zu überwältigen – zwei, um ihn zu töten. Aber der Junge zeigte keine Spur von Angst vor ihm.

»Was hast du gestern Nacht bei uns gewollt?«, schnappte er.

»Nichts«, antwortete Andrej. »Ich war nur …«

»Blödsinn!«, fiel ihm Fred ins Wort. »Du warst ganz zufällig da, und dann ist genauso zufällig diese seltsame Frau aufgetaucht, die kämpft wie ein Kerl und dich um ein Haar umgebracht hätte?«

»Ja«, antwortete Andrej. Beunruhigt stellte er fest, dass es tatsächlich erst die Worte des Jungen waren, die ihm klarmachten, dass nichts an alledem Zufall gewesen war. Anscheinend ließen ihn nicht nur seine unerwünschten übermenschlichen Sinne im Stich, sondern auch sein gesunder Menschenverstand.

»Sicher«, antwortete Fred böse. »Und wir alle glauben auch noch an den Weihnachtsmann.«

Andrej wollte antworten (auch wenn er keine Ahnung hatte, was), aber in diesem Moment … spürte er etwas. Jemand kam. Oder etwas.

»Stimmt was nicht?«, fragte Fred.

»Nein«, antwortete Andrej. »Ich meine: Ja. Es ist alles in Ordnung, keine Sorge.« Nichts war in Ordnung. Er lauschte in sich hinein und dann mit all seinen fantastischen Sinnen in die Welt hinaus. Plötzlich wusste er, wer sich ihnen näherte. Diesmal hatte er sich immerhin gut genug in der Gewalt, um sich seine Erleichterung nicht anmerken zu lassen.

»Dann zieh dich an«, sagte Fred, offensichtlich unzufrieden mit dieser Antwort. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

»Dringende Geschäfte, nehme ich an.«

»Ganz genau«, erwiderte Fred. Er winkte ungeduldig, und Andrej bückte sich nach seinen Kleidern, hob sie auf und sah den Jungen auffordernd an, aber Fred hielt seinem Blick schweigend stand. Schließlich zuckte er mit den Achseln, löste den improvisierten Kilt von seinen Hüften und bückte sich nach seinen Kleidern.

»Nicht schlecht«, sagte Fred anerkennend, während er seinen Körper ganz unverhohlen musterte.

Hastig schlüpfte Andrej in seine Hosen und starrte den Jungen einigermaßen empört an.

»He, Moment!«, sagte Fred hastig. »Nicht das, was du denkst! Also dafür ist dann wohl eher Bess zuständig.« Er grinste breit, aber nur so lange, bis er sich Andrejs eisigen Blicks bewusst wurde, dann schürzte er trotzig die Lippen.

»Du siehst wirklich gut aus«, sagte er. In seiner Stimme war jetzt allerdings keine Spur mehr von Bewunderung, ganz gleich, welchen Grund sie auch gehabt haben mochte. »Ich meine: Du bist wirklich gut gebaut. Kräftig. Du musst sehr stark sein.«

»Ich bin zufrieden«, antwortete Andrej, während er sein mit Blut besudeltes Hemd überstreifte. »Auch wenn ich es mit der einen oder anderen Frau noch nicht aufnehmen kann.«

Fred ignorierte die Bemerkung. »Du hast nie Hunger gehabt, wie?«, fragte er. »Und keine einzige Narbe. Für jemanden, der so gut kämpft wie du, ist das schon erstaunlich, finde ich.«

Andrejs feines Gehör ließ ihn einen überraschten Ausruf hören und hastig trappelnde Schritte, die Freds stumpfen menschlichen Sinnen verborgen blieben.