Der Himmel kann warten - Katrin Zimmer - E-Book

Der Himmel kann warten E-Book

Katrin Zimmer

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Beschreibung

Aaron Keller, Mitte dreißig, beruflich erfolgreich und im Privatleben wenig hoffnungsvoll, wäre seiner Jugendliebe Lena wahrscheinlich noch bis zur Rente hinterhergelaufen, hätte diese ihn nicht zufällig in die Nähe von Nora geführt. Aaron ist fasziniert von der Salsa-Tänzerin im "Cielo", die so anmutig und selbstbewusst und dennoch eigenartig verletzlich durchs Leben wandelt. Innerhalb einer Woche entwickelt sich ein wunderbares, dünnes Band der Vertrautheit zwischen dem nüchternen IT-ler und der jungen Künstlerin, die jenseits aller Konventionen ihr Glück gefunden zu haben scheint. Alles beginnt so verheißungsvoll für Aaron, bis Noras schrecklicher Unfall ihr frisches Glück scheinbar jäh zerstört... Eine Sekunde Unachtsamkeit nur, und Aarons Leben steht erneut auf dem Kopf. Von nun an beginnt ein Kampf gegen die Zeit und den Verlust seiner Realität. Auf der Suche nach "seiner" Frau scheint es plötzlich, als richte sich die ganze Welt gegen ihn...

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Veröffentlichungsjahr: 2013

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Der Himmel kann warten…

Impressum

Der Himmel kann warten

Katrin Zimmer

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Katrin Zimmer

ISBN 978-3-8442-3880-8

Samstag, 25. September, 14.53 Uhr

„Halten Sie mal.“

Der Sanitäter drückte mir die Infusion in die Hand. Es war verrückt: an der Infusion hing der Schlauch und am Schlauch hing das Leben. Noras Leben. Ich starrte ins Leere.

„Halten Sie das jetzt, bitte“, wiederholte der Sanitäter mit sanftem Nachdruck und schob mich auf die Seite.

Ich war nicht dumm. Ich wusste sehr wohl, dass man Infusionen, an denen Schläuche hingen, nicht festhalten musste. Dafür gab es Ständer. Oder Rettungssanitäter. Aber ich gehorchte und hielt sie fest.

Der Sanitäter war schlauer. Er wusste, dass man Menschen, die eben ihren Halt zu verlieren drohten, etwas geben musste, an dem sie sich festhalten konnten. Zur Not eine Infusion.

Nora lag rücklings auf dem Boden. Ihre offenen, blonden Haare waren fächerförmig über den Asphalt gebreitet und nur an den Spitzen blutrot gefärbt. Es gehörte da nicht hin, das Blut, das sich in einem kleinen Rinnsal seinen Weg nach unten bahnte und nach und nach die Haare tränkte. Es sollte aufhören! Nora sah so friedlich aus. Ihre Augen und ihr Mund waren geschlossen und wie sie so dalag erinnerte sie mich an Dornröschen im hundertjährigen Schlaf. Meine wunderschöne Nora.

Der Fahrradfahrer saß an der Straßenecke und hielt sein verheultes Gesicht in beide Hände vergraben. Ich sah nicht, dass er heulte, ich hörte es nur. Dabei hätte ich heulen sollen. Oder Nora, wenn sie nur konnte. Aber doch nicht er. Dabei hätte er einem fast ein bisschen leidtun können. Wie ein Häufchen Elend saß er da und schüttelte unaufhörlich den Kopf, während um ihn herum zwei Polizisten ihn zu beruhigen versuchten. Oder zu befragen. Oder beides. Aber der Junge heulte nur. Er hatte ein paar Schürfwunden an Armen und Beinen, soweit ich das erkennen konnte. Sein Fahrrad, das gegenüber auf der Straße lag, war schwarz-gelb und wohl ziemlich hinüber. Ein Blechschaden! Ich hoffte innigst, dass er nicht um sein Fahrrad heulte.

Wenn Nora doch auch nur einen Blechschaden gehabt hätte.

Zwei weitere Sanitäter hatten Nora inzwischen in eine Vakuummatratze gebettet. Wie es einer Prinzessin gebührte. Nicht in eine Vakuummatratze, natürlich, sondern in ein Himmelbett, eigentlich. Aber zur Not tat es auch die Matratze. Mich hatte man meiner Aufgabe entledigt die Infusion zu halten. Die Flasche hing jetzt an einer Vorrichtung auf der Liege. Wie sie dort hingekommen war, wusste ich nicht. Ich stand neben mir. Bildlich gesprochen.

Nora stöhnte auf. Meine Alarmglocken läuteten. Die sollen doch aufpassen, was sie da machen!

„He, Sie tun ihr weh!“ Ich wollte hin. Dornröschen retten.

„Beruhigen Sie sich. Wir versuchen Ihre Frau nur stabil zu lagern.“

Der Sanitäter, der mich vor kurzem noch mit Nachdruck auf die Seite geschoben und mit der Infusion versorgt hatte, hielt meine Schultern fest. Ein zäher Mann mit ruhigen, braunen Augen und einem seltsamen Schnauzer mitten im hageren Gesicht.

„Wir tun, was wir können. Vielleicht ist es gar nicht so schlimm, wie es auf den ersten Blick aussieht. Beruhigen Sie sich. Der Rettungshubschrauber muss in jedem Moment eintreffen, so lange kümmert sich Doktor Schlick um ihre Frau.“

Ich nickte. Am liebsten hätte ich mich in seine Arme geworfen, aber stattdessen nickte ich nur. Es sieht doch gar nicht so schlimm aus, wollte ich sagen. Kein Blechschaden, nur ein bisschen Blut. Was war das bisschen Blut schon, das konnte man doch wieder wegwischen. Aber ich sagte nichts.

„Möchten Sie die Beine hochlegen? Sie sehen blass aus.“

Ich schüttelte den Kopf.

„Dann setzen Sie sich wenigstens.“ Der nette Hagere schob mich zu seinem Auto und bot mir eine Sitzgelegenheit an.

„Wir fliegen Ihre Frau gleich in die Klinik nach Ludwigshafen.“

Ich nickte. Fliegen. Ich sah das Bild ganz deutlich vor mir. Nora hätte nicht einfach über die Straße gehen sollen ohne sich zuvor umzusehen. Sie hatte das Geräusch nicht gehört. Wer hört schon einen Fahrradfahrer, wenn er in Schallgeschwindigkeit an einem vorbeirauscht. Aber ihn traf wohl keine Schuld, Nora hätten gucken sollen. Stattdessen flog sie in hohem Bogen über das Rad des jungen Mannes fast bis auf die andere Straßenseite. Kopfüber. Und blieb dann auf dem Rücken liegen. Ich hatte noch ein gehauchtes Huch gehört als er sie frontal erfasste. Aber ich konnte nichts tun, ich konnte nur zusehen. Und rüber rennen. Und die Nummer wählen, die man im Kopf hat. Jeder kennt diese Nummer, die man wählt, wenn man in Not ist. Genauso wie jeder weiß, dass man sich erst umdreht, bevor man über die Straße geht. Nora heute nicht. Beschissene Katze!

Das Rotorgeräusch wurde immer lauter. Die Menschen gingen in Deckung als der Wind stärker wurde. Und es waren viele Menschen, die inzwischen um die abgesperrte Unfallstelle standen und gafften. Wie die Menschen immer gaffen mussten! Dabei war es gar nicht das Mitleid, das sie antrieb, es war die Sensationslust und die Erleichterung darüber, dass es glücklicherweise einen Anderen erwischt hatte.

Mitten auf dem Feld neben der kleinen Kreuzung kam der Hubschrauber herunter. Das Gras legte sich widerstandlos auf die Erde und die Leute klammerten sich an ihren Jacken fest als könnten sie damit verhindern, jeden Moment weggeweht zu werden. Bloß nicht bewegen. Bloß nichts verpassen. Immer schön stehen bleiben und die Kleidung festhalten.

Es dauerte nicht lange bis Nora eingeladen war und der Hubschrauber wieder losfliegen konnte. „Fahren Sie mit?“

Samstag, 18.September, Friedericus

Aaron wartete im Friedericus. Das Cafe in der Friedrichstraße war voll besetzt. Auf den Stühlen lagen schon die Decken bereit, die vor dem kühlen Wind schützen sollten, der sich um diese Jahreszeit gerne die Langeweile vertrieb.

An diesem Tag war er gnädig. Draußen saßen die Menschen auf den Korbstühlen, um die letzten wärmenden Strahlen der Spätsommersonne zu genießen, die sich in den vergangenen Tagen immer rarer machte. Und die Wenigen, die mangels Freiluftplätze drinnen saßen, versammelten sich um die Tische und schlürften ihren Kaffee mit sehnsuchtsvollem Blick nach draußen. Wer bei diesem Wetter an einem Samstagnachmittag drinnen Kaffee trank, der musste den Kaffee wirklich nötig haben.

Es war halb vier als er sich endlich einen Milchkaffee bestellte. Lena war nirgendwo zu sehen.

Die Leute schlenderten gruppenweise an ihm vorüber. Ehepaare, Wanderer, gestylte Ladies im Shoppingfieber, Familien mit hüpfenden, eisschleckenden Kindern, Touristen. Mit Rucksäcken, mit Taschen, Frauen mit Männern im Schlepptau, ihren Männern, die wahlweise die Tüten schleppten oder die mit Tüten behängten Kinderwägen schoben. Im Sommer war es immer erstaunlich, wie gutgelaunt selbst die Männer bei einem Einkaufsbummel waren. Vielleicht lag es an den schönen Ausblicken die sie auf die im Sommerschlussverkauf erworbenen Kleider und Röcke werfen konnten, die die jungen, unverheirateten Frauen zur Schau trugen. Wenn sie nur ein paar Schritte hinter ihrer Liebsten schlenderten, dann konnten sie ungestört ihre Blicke schweifen lassen.

Lena hatte sicherlich auch schöne Beine (wahrscheinlich, weil sie nicht verheiratet war), aber Aaron konnte sie nirgendwo erblicken. Lena kannte er schon von der Schule. Sie besuchte die Parallelklasse, teilte später nichts als einige Kurse mit ihm und war immer vergeben. Die einzige Gelegenheit, ihr näherzukommen, bot sich in der zwölften Klasse in der Theater-AG. Keiner wusste, wie er es geschafft hatte, aber Aaron war damals Romeo und Lena war Julia. Eigentlich war er ein lausiger Schauspieler, aber die Jungs in der AG waren dünn gesät und keiner war so groß wie er. Das waren wohl die einzigen Gründe, warum die Wahl auf ihn fiel. Leider führte die Deutschlehrerin Frau Kubitsch nicht auch im echten Leben Regie, und so gehörte nach dem Fall des Vorhangs sein heldenhafter Romeo schon wieder der Vergangenheit an.

Sie hatten dann zusammen studiert. Kunstgeschichte. Aarons Interessen entsprach es nicht, und eigentlich war es auch nur ein weiterer, missglückter Versuch, seiner Herzensdame näher zu sein. Glücklicherweise schaffte er es, sich nach kurzer Zeit einzugestehen, dass er sein Interesse an dem Studium nur ihretwegen heuchelte, und bog zur Informatik ab. Aus den Augen…

„Hallo Aaron, schön, dass du da bist!“

Aaron zuckte zusammen. Auf ihr plötzliches Erscheinen war er nicht mehr vorbereitet gewesen.

„Tut mir leid, dass ich zu spät bin. Wartest du schon lange?“ Lena drückte ihm ein Küsschen auf die Wange, legte ihre Umhängetasche ab und setzte sich auf den einzigen freien Stuhl, den Aaron in der letzten halben Stunde mehr nur als einmal gegen genusssüchtige Passanten verteidigt hatte. Entschuldigend schenkte sie ihm ein Lächeln. Es war dasselbe Lächeln, an das er sich noch gut erinnern konnte. Es hatte sich kein bisschen verändert.

„Ich schaue mir gerne die Leute an.“

„Ganz der Alte. Wirklich. Also du wartest schon lange. Ich hatte noch eine Besprechung. Ging nicht früher, ehrlich.“ Wieder ein Lächeln. Lena war ein bisschen außer Atem.

„Ist schon in Ordnung. Auf DICH warte ich gerne. Das weißt du doch!“

„Wie meinst du das jetzt?“ Lena zweifelte einen Augenblick, ob sie die Zweideutigkeit richtig verstanden hatte. Sie war unsicher. Aber nur kurze Zeit. „Danke für die Blumen.“ Lena rückte den Stuhl ein wenig näher an den Tisch heran. „Wie geht es dir? Wie lange haben wir uns jetzt schon nicht gesehen?“

„Fünfzehn Jahre, denke ich.“ Aaron musste nicht lange darüber nachdenken. Dafür war Lena die letzten Jahre immer noch viel zu präsent gewesen in seinen Gedanken.

„So lange ist das schon her? Nein!“ Lena rechnete nach.

„Ich hab mein Abitur fünfundneunzig gemacht. Ich denke, bei dir war es ähnlich.“

„Oh ja, ich erinnere mich. Du warst doch der aus der Parallelklasse. Aus der b. Der Christian.“

„Nein, tut mir leid. Michael.“ „Ach Michael. Entschuldige, hätte ich mir gleich denken können.“

„Macht nichts, Claudia.“ Aaron grinste. Er war selbst überrascht über seine Schlagfertigkeit.

„Was möchtest du trinken?“

Lena studierte die Karte. Aaron wettete auf einen Latte Macchiato.

„Was trinkst du denn?“ Ein neugieriger Blick in Aarons fast leere Tasse.

„Einen Milchkaffee.“

„Hm.“ Lena blätterte vor und wieder zurück.

„Haben die auch Wein?“

„Bestimmt.“

Sie studierte das Ende der Karte. Die alkoholischen Getränke standen immer hinten.

„Die haben einen leckeren Weißwein hier.“

„Ach ja?“ Lenas Augen wanderten die Seite entlang. „Den Riesling, meinst du?“

„Nein, den Silvaner. Nicht zu trocken und sehr fruchtig.“

„Hm. Ich mag ja lieber den Roten.“

Aaron ließ seinen Blick auf Lenas Gesicht ruhen. Die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorüber gegangen, immerhin war auch sie schon Mitte dreißig. Sie hatte ein paar Fältchen um die Augen und ihr Teint ließ nicht unbedingt auf eine gesunde Lebensweise schließen. Aber er fand sie immernoch attraktiv. Die dunklen Haare, die ihr damals fast bis an den Po reichten, hatte sie zu einem klassischen Bob geschnitten und ein kurzer Pony unterstrich ihre wachen Augen. Die Frisur passte zu ihr, er hatte Lena schon damals für ihre klaren Vorstellungen bewundert, zumindest, was ihren Lebensentwurf betraf. Was die Getränkeauswahl anging, so war sie wohl weniger entschlossen.

Ihre feinen Hände flogen fast selbsständig über die Seiten der Karte. An der linken Hand trug sie einen Ring. Aaron glaubte nicht, dass es Zufall war, dass sich der Ring dort befand, wo normalerweise der Ehering seinen Platz hatte. Dass sie verheiratet war hatte sie ihm gar nicht erzählt. Aber sie hatten sich auch nicht lange unterhalten. Natürlich hätte er es sich denken können, wie naiv von ihm. Lena, die in der Schule schon Jeden haben konnte. Verabredet hatten sie sich, nachdem sie sich auf der Straße getroffen hatten. Sie war zu Besuch gewesen bei ihren Eltern in Neustadt. Ohne Mann, ohne Kinder. Vielleicht waren die nur unterwegs. Oder nicht dabei. Man musste ja auch nicht alles gleich erzählen. Dann war das hier wohl so etwas wie ein kleines Wiedersehen zwischendurch. Ein Treffen von alten Schulfreunden. Von Romeo und Julia vor den Kulissen. Nur davor. Ein bisschen quatschen, lachen, alte Geschichten auskramen und dann wieder gehen. Küsschen links, Küsschen rechts. Mach’s gut und bis in fünfzehn Jahren wieder. Hier im Friedericus.

„Ich glaube, ich nehme einen Latte Macchiato.“

Aaron grinste in sich hinein. Bingo. Mit flavour.

„Mit Vanille, bitte.“

Nochmal Bingo.

„Du bist verheiratet?“ Aaron schielte auf ihren Ring. Jetzt, da sie die Karte auswendig gelernt hatte, konnte sie sich ja vielleicht wieder ihm zuwenden. Wenigstens für die nächste halbe Stunde oder so.

„Ähm, ne.“

„Nein?“

„Nein.“

„Warum trägst du dann einen Ring da?“ Aaron war ein bisschen erleichtert über diese Antwort.

„Ich war mal verheiratet.“

„Ach so?“

„Also eigentlich bin ich es noch.“

„Scheidung läuft?“

„Ja. Ziemlich blöde Sache.“ Auf Lenas Stirn bildeten sich kleine Sorgenfalten. „Rüdiger versucht gerade alles an sich zu reißen. Das Haus, die Kinder…“

„DER Rüdiger?“ Aarons Augenbrauen hoben sich um mindestens zehn Zentimeter. Knapp Unterkante Haaransatz. Wenn sie jetzt bejahte, würde Aaron ein bisschen enttäuscht sein von Lena. So viel schlechten Geschmack hätte er ihr gar nicht zugetraut. Rüdiger war der Streber der Stufe, ein geleckter Schönling noch dazu, mit wohlhabendem Elternhaus und ekelhaft guten Manieren. Rüdiger wollte man vielleicht kennen, der guten Beziehungen wegen, aber mit Rüdiger wollte man sicher nicht zusammen sein.

„Ja. Rüdiger Hollermann.“

Aaron schluckte. Er schluckte die bissige Bemerkung hinunter bevor sie ihm über die Lippen kam. „Und die Kinder?“

„Die leiden natürlich am meisten. Sophie ist noch nicht einmal zwei, die wird es wohl am besten verkraften. Aber Leon und Sarah, die sind schon sechs. Gerade sind sie in die Schule gekommen. Was glaubst du, was die jetzt durchmachen müssen?!“

„Ich kann mir vorstellen, dass das kein Zuckerschlecken ist. Und wo sind die jetzt?“

„Bei meinen Eltern. Ich hab ihnen gesagt, dass ich mich mit einer alten Schulfreundin treffe.“ Sie zuckte entschuldigend mit den Schultern.

„Na vielen Dank auch!“

Samstag, 25. September, 15.02 Uhr

Der Sanitäter hieß Schrott. So zumindest stand es auf seinem Namensschildchen. Noch nicht einmal Hr. Schrott. Einfach nur Schrott. Er tat mir leid, ich an seiner Stelle hätte meine Mutter verklagt. Oder besser: meinen Vater. Oder den Namen meiner Frau angenommen. Heutzutage ist das ja keine große Sache mehr. Aber Schrott trug seinen Namen mit Fassung, genauso wie er das Schildchen mit Fassung trug. Vielleicht war er auch gar nicht verheiratet oder solidarisierte sich lediglich mit seinem Einsatzfahrzeug.

Der Wagen war eine Katastrophe. Die Federung war so erbärmlich, dass man bei jeder Bodenwelle seiner Sitzhöcker gewahr wurde. Wenn ich eine Nierenkolik gehabt hätte oder sonst was Schmerzhaftes, ich wäre dem Herrn Schrott schon längst an die Kehle gegangen. Ich war noch niemals in einem Ambulanzwagen gefahren, aber ein bisschen komfortabler hatte ich es mir schon vorgestellt. Gut, dass Nora das erspart blieb.

Wahrscheinlich war der Hubschrauber vor uns da. Ganz bestimmt war er das. Ich wollte raus. Ich hörte Noras Stöhnen in meinen Ohren. Bei jeder Unebenheit der Straße erschütterte ihre hilflose Stimme mein Trommelfell. Ich musste ihr helfen.

Die Umstände sprachen dagegen. Inzwischen standen wir an der fünfundzwanzigsten Ampel zwischen Neustadt und Ludwigshafen. Wo doch die längste Strecke aus Autobahn bestand. Ich starrte aus dem Fenster. Herr Schrott auch. Er hatte es aufgegeben, mich zu ermuntern, und das war mir auch lieber so.

Draußen zogen die anderen Autos an uns vorbei, während wir nicht vorwärts kamen. Ich hatte den Fahrer im Verdacht, dass er stundenlang im Kreis fuhr, weil er keinen Bock mehr auf den nächsten Einsatz hatte. Aber der Pfeil auf dem Schild neben uns an der Ampel, das erste, das ich entdeckte, deutete nach rechts. Klinikum war darauf zu lesen. Na Gott sei Dank! Dann konnte es nicht mehr weit sein.

Der Fahrer legte einen regelrechten Kavaliersstart hin. Ein ungeahnter Temperamentsausbruch, der den beleibten Körper des Fahrers plötzlich durchzuckte. Selbst Herr Schrott, der die ganze Fahrt über recht regungslos auf seinem Sitz gesessen hatte, ließ sich zu einer Frotzelei hinreißen „He Manni, ist deine Flamme wieder da oder hast du nen Vertrag mit meiner Krankenkasse?“

Manni lachte wie ein Reibeisen. Eine Schachtel verrauchte der bestimmt am Tag. Eher drei. „Nä, awwer mei Kläni. Die kummt nur alle Schaltjohr mol.“

„Welche? Die von der Hilde oder die von der Gisela?“

„Die vun meim Sohn, du Schossel.“

„Du hast schon Enkel?“

„Awwer sicher. Vier sogar.“ Manni war hörbar stolz auf seinen Nachwuchs. Und um seinem Stolz Ausdruck zu verleihen bogen wir mit geschwellter Brust in doppeltem Tempo um gefühlte zwanzig weitere Ecken bis wir unser Ziel endlich erreicht hatten.

Die Gastfreundschaft endete hier.

„Kommen Sie zurecht?“, fragte mich der Herr Schrott.

Ich lugte vorsichtig aus dem Fenster. Das Gebäude war nicht gerade klein, aber ich würde mich schon zurechtfinden. Hauptsache raus aus diesem Krankenwagen.

Samstag, 18. September, Friedericus

Lena fuhr sich durch die Haare und zupfte ihren Pony zu Recht. Die Bewegungen wirkten kantig und aufgesetzt.

„Hast du eine Zigarette?“

Aaron verneinte. Geraucht hatte er noch nie. Er wusste, dass es Lenas Laster war. Eigentlich mochte er Frauen nicht, die rauchten. Die nach Qualm rochen und ihre Kippen durch die Gegend schnipsten. Und dabei lässig lachten. Aber Lena roch nicht nach Qualm. Und sie lachte nicht lässig, sie lächelte. Sie roch nach Rosenduft und nach früher. Lena war Julia und Lena war eine Ausnahme. Bei ihr würde er eine Ausnahme machen. Heute hatte er vielleicht die Gelegenheit dazu.

„Was willst du jetzt machen?“

„Wegen der Scheidung, meinst du?“

„Ja.“

„Ich rudere ziemlich. Aber ich will die Kinder behalten.“

„Du liebst deine Kinder sehr, oder?“

Lena legte ihren Kopf schief und zog ihre Augenbrauen nach oben. Aaron kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Beide Augenbrauen nach oben hieß: na-hör-mal, nur eine Augenbraue hieß: meinst-du-das-jetzt-ernst? Gerade waren eindeutig beide Augenbrauen oben. Da hieß es na-hör-mal.

„Na hör mal! Als Mutter liebt man seine Kinder. Deine Kinder liebst du wie nichts anderes. Da kann kommen was will.“

„Das verstehe ich.“

„Nein, das verstehst du nicht.“ Lena kramte wie wild in ihrer Tasche. Frauen konnten unglaublich viel aus ihrer Tasche zutage fördern. Und diese Tasche hatte viel mehr Fassungsvermögen als die Sporttasche eines Mannes. Aber offensichtlich gab es darin keine einzige, verlorengegangene Zigarette mehr. Lena gab die Kramerei auf und zerdrückte stattdessen nervös die Zuckerkrümel, die auf ihre Untertasse gefallen waren. „Wenn man keine Kinder hat, dann kann man das nicht verstehen. Ich hab das vorher auch nicht verstanden.“

„Soll das jetzt ein Vorwurf sein?“

„Nein. Soll es nicht. Aber es ist echt bescheuert. Da meckern die einem den ganzen Tag die Ohren voll, mäkeln an diesem und jenem, das Essen schmeckt nicht, die Sonne ist zu heiß, der Kindergarten blöd und die Mutter sowieso, weil sie einem nie was erlaubt. Überhaupt ist in ihren Augen alles blöd wenn‘s nicht nach ihrer Nase geht. Die Butter auf ihrem Brot ist zu dick geschmiert oder zu dünn, die Salami fällt ständig runter, weil du sie nicht richtig draufgelegt hast und der Rand ist zu hart. Jeder normale Mensch würde so jemandem die Freundschaft kündigen. Aber es sind deine Kinder. Und wenn sie dann ihre Arme zärtlich um dich schlingen, dich abknutschen und mit einem bezaubernden Augenaufschlag erklären, dass du die beste Mami auf der ganzen Welt bist, dann glaubst du denen das auch noch. Und der ganze Scheiß von vorher ist wieder vergessen. Weil‘s deine Kinder sind. Und niemand darf denen was antun.“

Der unsichere Ausdruck war einem weicheren gewichen. Lena die Mutter. So hatte Aaron sie sich nie vorgestellt. Damals in der Schule machte man sich keine Gedanken, ob man mit jemandem alt werden wollte. Nicht als Mann jedenfalls. Diese sentimentalen Gefühle und verklärten Zukunftsvorstellungen überließ man den Frauen.

„Und was ist mit Rüdiger?“

„Das ist ein selbstverliebter Arsch!“

„Das hätte ich dir schon vorher sagen können.“

„Danke.“

„Bitte. Du wolltest ja nicht auf mich hören.“

„Er hat eine andere. Mit der wohnt er zusammen, holt die Kinder jedes zweite Wochenende ab und bringt sie schön am Sonntagabend wieder. Er versucht, sie mit Geschenken und schönen Ausflügen zu bestechen und macht einen auf tollen Papi.“

„Und, ist er’s?“

„Natürlich nicht. Aber jetzt kann er ja gut der tolle Papi sein: macht keine Vorschriften, muss die Kinder nicht pünktlich ins Bett bringen, liest vor und baut Sandburgen.“

„Hat er vorher nicht gemacht?“

Lena lachte. Nicht nett, sondern hässlich. Das galt dem Vater der Kinder, nicht Aaron natürlich.

„Was würdest du denn sagen, wenn jemand um halb acht heim kommt und sich auch Wochenends hinter der Arbeit vergräbt? Natürlich hatte er keine Zeit. Einer musste ja das Geld verdienen. Das war sein Argument. Dagegen konnte ich nichts sagen. Aber dass er sich auf der Arbeit von seiner liebreizenden Sekretärin hat den Kaffee bringen lassen und auch sonst nach Feierabend nicht immer gleich nach Hause kam, weil er noch anderen Interessen nachging, die ich besser nicht erfahren sollte, dagegen konnte ich auch nichts sagen. Das hat er mir ja nicht erzählt.“

„Natürlich nicht.“

„Und jetzt stehe ich da, mit den Kinder, in dem großen Haus und muss sehen wie ich klar komme.“

„Bekommst du Unterhalt?“

„Ja. Den Unterhalt zahlt er. Aber das war ein ganz schöner Kampf. Du kannst dir vorstellen, dass das Nerven gekostet hat.“

Aaron konnte sich das vorstellen. Aber wahrscheinlich konnte man sich auch das nur wirklich vorstellen, wenn man es selbst erlebt hatte. Lena tat ihm leid.

„Und jetzt arbeite ich im Reismuseum in Mannheim. Aushilfsweise, wenn sie mich brauchen, und samstags. Da kommt kein wirklich geregeltes Gehalt heraus, aber was will ich machen. Ich schaue mich weiter um. Mit drei kleinen Kindern kann man keine großen Sprünge machen. Und als Kunsthistorikerin sind die Stellen nicht gerade üppig. Im Moment geht es noch ganz gut, weil Rüdiger einigermaßen zahlt. Aber was weiß ich, was später ist. Als Frau muss man heutzutage sehen, wie man über die Runden kommt.“

„Früher hast du ganz anders geklungen.“

„Ja? Wie denn?“ Lena lehnte sich zurück und nippte an ihrem Latte Macchiato.

„Du warst ziemlich selbstbewusst. Du hast dir genommen, was du gewollt hast. Und die Jungs sind dir hinterher gelaufen. Ich inklusive.“

„Ach so?“ Lena tat kokett, so, als höre sie das zum ersten Mal. „In der Schule war das Leben auch noch leichter. Da erzählt einem jeder, dass die Welt nur auf dich wartet. Und wenn du im Studium gute Noten hast, dann sind die Praktika auch kein Problem. Ich war ein Semester in Frankreich und eins in der Schweiz. Zwischendurch hab ich Urlaub gemacht und nebenbei gejobbt. Alles easy.“ Lena entspannte sich bei jedem Schluck, den sie aus ihrem Röhrchen zog. „Und bei dir?“

„Wenn du’s so willst: auch alles easy. Ich arbeite als Informatiker, hab ein gutes Einkommen, komme jeden Abend um sieben nach Hause und kann mir dann überlegen, mit welcher der vielen Frauen ich heute mal ausgehen möchte.“

Eine Augenbraue. Die linke. „Meinst du das jetzt ernst?“

Lena war naiv geworden. Früher hätte sie keine Sekunde lang die Unwahrheit dieser Aussage angezweifelt.

„Doch, doch, ich kann mich kaum retten vor Angeboten. Die Frauen hängen geradezu an meinen Lippen. Kannst du sie nicht sehen?“

Lena schaute sich um.

„Nö, gerade nicht. Wo sind sie?“

„Ach, dann sind sie wohl schon gegangen. Haben gemerkt, dass sie gegen dich nicht ankommen. Aber warte nur, wenn du weg bist kommen sie alle wieder. In Scharen.“

„Du bist lustig, Aaron. Ich hab dich ganz anders in Erinnerung.“

„Ich bin schon immer lustig, Lena. Du wolltest es nur nicht wissen. Aber das hatten wir schon, ich will mich nicht wiederholen.“

„Wiederhol dich ruhig. Es gibt Dinge, die muss man mehrmals hören, um sie zu begreifen.“ Lena schaute auf die Uhr. Es war zehn nach vier.

„Musst du schon wieder los?“

„Nein. Ich hab gesagt, dass ich um sechs Uhr wieder da bin. Wir haben noch Zeit.“ Lena schlürfte lautstark ihren letzten Milchschaum mit Vanillegeschmack aus und blätterte auf die letzte Seite der Karte. „Welcher war der gute Wein?“

„Der Silvaner. Aber den magst du doch nicht.“

Samstag, 25. September, 15.42 Uhr

Die Krankenhausluft war widerlich. Ich hasste Krankenhäuser. Man sollte am Eingang Atemmasken verteilen, aber vielleicht war das genau der Trick der Krankenhäuser: noch mehr Patienten durch schlechtere Luft. Wahrscheinlich hatten sie einen Deal mit den Ärzten. Ihr gebt uns die Patienten und wir ihnen die schlechte Luft. Das Geld geben dann die Krankenkassen. Und woher nehmen die’s? Ich wollte nicht weiter darüber nachdenken. Ich würde mich nur unnötig aufregen.

Der Eingangsbereich war groß und unübersichtlich. Ich ging den Gang entlang, wie der Hagere mir empfohlen hatte, und hielt Ausschau nach der Information. Einige Krankenschwestern eilten an mir vorbei, die einen mit Zetteln, die anderen mit Patienten. Die mit den Patienten waren um einiges langsamer unterwegs, weil die Patienten entweder schon so alt waren oder so krank. Wahrscheinlich beides in den meisten Fällen, sonst wären sie nicht hier. Aber besonders freundlich guckte keine von den Schwestern, die meinen Weg kreuzten, also suchte ich alleine weiter. Ich hielt mich an die Schilder und als ich die für den Aufzug entdeckte, merkte ich, dass ich an der Information wohl schon längst vorbei gekommen sein musste. Ich wanderte zurück.

„Frau Schiller, sagten Sie?“

„Ja. Nora Schiller.“

„Einen Moment bitte.“ Die Frau an der Information verschwand hinter ihrem Computer.

„Schiller wie der Schiller?“

„Ja. Wie der Dichter.“

„Tut mir leid, aber die habe ich hier nicht auf meiner Liste.“ Die Frau schüttelte bedauernd den Kopf. „Ein Neuzugang?“

„Ja.“

„Dann mal noch einen Moment.“

Natürlich. Ich wartete.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Auch bei den Neuzugängen nicht. Tut mir leid. Haben Sie sich vielleicht im Krankenhaus geirrt?“

Vielleicht schaute ich dämlich. Vielleicht hielt man mich für geistig verwirrt und würde mich gleich in die Psychiatrische bringen. „Wir sind doch hier in der Klinik in Ludwigshafen. Oder etwa nicht?“

Ich wollte nur zu Nora.

„Ja. Da sind sie richtig.“ Die Frau betrachtete mich mitleidig. „Wann ist sie denn eingeliefert worden?“

„Eben, denke ich. Ich bin auch gerade erst mit dem Rettungswagen hierhergekommen.“

„Ohne Frau Schiller?!“

„Ja. Man hat sie hierhergeflogen. Das hat mir zumindest der Herr Schrott gesagt. Kennen Sie den?“

„Nein, den kenne ich nicht. Aber wenn das gerade eben erst war, dann kann es gut sein, dass wir sie noch gar nicht in der Datei der Neuzugänge erfasst haben. Dann fragen Sie doch bitte direkt in der Notaufnahme nach.“

„Wo muss ich da hin?“

„Sie gehen da vorne den Flur entlang, dann rechts. Dann sehen Sie schon das Schild „Notaufnahme“.

„Danke.“

Vor der Notaufnahme standen eine Menge Stühle, die fast alle besetzt waren. Man sah den meisten Patienten nicht an, warum sie hier saßen. Die konnten nicht so wichtig sein. Nicht so wichtig wie meine Nora, die gar nicht sitzen konnte. Die wie auf Rosen gebettet war, damit sie sich nicht noch mehr verletzte. Hier war keiner auf Rosen gebettet. Weit und breit nicht.

„Entschuldigung, bin ich hier richtig in der Notaufnahme?“

„Drängeln Sie sich nicht vor!“

Ich hatte den älteren kleinen Mann übersehen, der so halb schräg an der Anmeldung lehnte.

„Entschuldigung, ich wollte mich nicht vordrängeln. Ich wollte mich nur erkundigen, ob meine Freundin hier liegt.“

„Hier liegt keiner, das sehen Sie doch!“

Ich wusste, warum ich Krankenhäuser nicht mochte. Die Menschen waren alle so humorvoll.

„Das sehe ich. Aber man wird ja wohl mal fragen dürfen!“

Der Mann grummelte in Motzdeutsch und deutete an, dass ich mich vordrängeln durfte, wenn ich denn so unverschämt sein wollte.

„Danke, das ist nett von Ihnen!“ Ich stellte mich an den Tresen und wartete auf den nächsten freien Mitarbeiter. Herr Miesepeter stand dicht hinter mir. Dabei war sein Atem genauso schlecht wie seine Laune.

„Guten Tag! Ihr Name?“ Ein freundlicher junger Mann in grüner Krankenhauskluft pflanzte sich schwungvoll auf den Drehstuhl, der hinter dem Tresen stand.  

„Keller. Aaron Keller.“

„Ihr Versichertenkärtchen?“

„Ich glaube das brauche ich nicht.“

„Doch, doch, das brauchen Sie schon.“

„Nein. Ich wollte nur fragen, ob hier eine Nora Schiller eingeliefert wurde.“

„Da müssen Sie an der Information nachfragen.“

Himmel hilf mir! „Da komme ich gerade her. Die Frau hat mich aber zu Ihnen geschickt. Nora ist ein Notfall, sie muss erst vor kurzem hier eingeliefert worden sein.“

„Ach so, warten sie einen Moment!“ Der junge Mann drehte sich zu der Drehtür um, aus der er zuvor gekommen war. „Norbert? Haben wir gerade eine Nora Schiller rein bekommen?“

Rein bekommen. Wie das klang! Als wären wir hier im C&A: „Frau Werner, haben wir schon die neue Kollektion Damenblusen rein bekommen? – Nein, die Blusen sind noch nicht da. Kommen Sie doch bitte in zwei Wochen noch einmal vorbei.“ Wie unpassend.

Der junge Mann hieß übrigens Geist. Nicht Herr Geist, einfach nur Geist. Genauso wie Schrott. In der Medizin hatte man es offensichtlich nicht so mit der korrekten Ansprache. Jeder wusste, was gemeint war. Das Herr oder Frau davor konnte man sich sparen. Nur keine Zeit verlieren, hier ging es schließlich um Menschenleben!

„Ja.“

Herr Geist wendete sich zu mir. „Mein Kollege sagt ja.“

„Kann ich zu ihr?“

„Sind Sie Ihr Mann?“

„Nein, ihr Bruder.“

„Ich weiß nicht, ob das jetzt geht. Frau Schiller ist gerade im CT. Außerdem ist sie sediert. Setzen Sie sich doch bitte noch einen Moment vor die Computertomographie. Dort kann man Ihnen vielleicht Auskunft geben. Wenn Sie wieder zurückgehen Richtung Ausgang und dann rechts abbiegen, dann kommen Sie hin.“

„Danke!“

Es war zum Verrücktwerden. Man schickte mich von Station zu Station. Und immer musste ich rechts abbiegen. Wobei das rechts genaugenommen ein links war, wenn man es von der anderen Seite, also vom Ausgang her, betrachtete. Je länger ich lief, desto wacher wurde ich. Desto tiefer drang ich ein in die harte Realität. Ich sah das Bild von Nora vor meinen Augen. Immer und immer wieder. Ich sah, wie sie auf die Straße lief und wie einen Bruchteil einer Sekunde später schon der laute Klatsch des Aufpralls zu hören war. Noras Aufprall. Wenn ich doch bloß die Zeit zurückdrehen könnte. Ich hätte sie festhalten können! Ich hätte sie daran erinnern können, dass man nicht einfach wie ein dreijähriges Kind über die Straße lief. Ich hätte ihr erklären können, dass es sich nicht rentierte ein Menschenleben für das einer Katze aufs Spiel zu setzen, die ohnehin schon halb tot war. Katzen hatten immerhin sieben Leben, Nora hatte nur das eine.

Samstag, 18. September, Friedericus

„Jetzt mal ehrlich, Aaron, was macht dein Liebesleben?“ Lena lehnte sich genüsslich zurück, hob das Glas und betrachtet nachdenklich den Wein, der in der Sonne glitzerte.

„Mein Liebesleben. Haben wir denn schon über deins gesprochen?“

Lena nahm einen Schluck und setzte das Glas wieder ab. „Haben wir. Zumindest über die Randerscheinungen. Mehr gibt es nicht zu erzählen. Jetzt bist du dran. Der Wein ist übrigens wirklich gut.“

„Ich muss dich enttäuschen. Jedes Chemiebuch ist spannender.“

Eine Augenbraue.

„Aus deiner oder meiner Perspektive gesehen?“

„Aus deiner. Magst du Chemie?“