Der Hornist - Paul-Rainer Zernikow - E-Book

Der Hornist E-Book

Paul Rainer Zernikow

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Beschreibung

August ist ein junger Bursche aus der Mark Brandenburg, geboren 1846 in der dörflichen Idylle von Klein-Schönebeck. Seine Situation in der Heimat wird bestimmt von Patriarchat und rücksichtsloser Herrschsucht der adligen Gutsherren. Hin- und hergerissen zwischen tragischen Liebesabenteuern und bedrückenden Lebenserfahrungen geht er seinen Weg. Als Soldat des königlichen brandenburgischen Füsilier-Regimentes Prinz Heinrich von Preussen Nr. 5 wird das alte, ehrwürdige, von den Eckzähnen eines mächtigen Wolfsrüden gezeichnete, Signalhorn zur Spur in einem vorgegebenen, rücksichtslosen Überlebenskampf.

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Kapitel 1

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Kapitel XIV

Kapitel XV

Kapitel XVI

Vorwort

Der Autor und seine Kinder, Tatjana und Nikolai, waren mit der Aufbereitung der Ahnentafel befasst, als ihnen ein altes vom Großvater streng gehütetes Dokument, in die Hände fiel. Es belegt schlüssig die Herkunft der Familie seit mindestens 1846.

Der am 30.01.1846 geborene Johann Ludwig August Zernikow war der Ur-Ur-Großvater des Autors. Der Autor entschloss sich, um diese Person herum einen Historischen Roman zu schreiben, dessen Geschichte der reinen Phantasie entstammt.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind nicht gewollt und nicht möglich. Mit diesem Roman nahm der Autor die Gelegenheit wahr, das eherne Gedenken an diesen Mann hochzuhalten, der in der Gedankenwelt des damaligen Preußen zum Helden wurde, weil der Zeitgeist diese Tat so interpretierte.

Eingebettet in die Entwicklungen eines aufstrebenden Preußen erlebte dieser Mensch hautnah sowohl die Abhängigkeiten des Bauerndaseins vom Gedankentum und den realen Handlungen der Gutsherren als auch die Vorzüge eines aufkommenden Liberalismus, geprägt von politischen Strömungen und Auswirkungen der Französischen Revolution. Trotz unentrinnbarer, gesellschaftlicher und politischer Zwänge war er erfüllt von Lebensmut und brennendem Nationalstolz.

Die Geschichte fügt sich ein in die Erinnerungen an den großen Staatsmann Bismarck, der diese Zeit politisch und sozial mitbestimmte und im Jahr 2015 zweihundert Jahre alt geworden wäre.

Der Autor bedankt sich für die aktive Unterstützung bei seiner Ehefrau Bernadette, insbesondere bei seinem Sohn Nikolai sowie bei Frau Ulrike Bender und den Herren Reiner Nürnberger und Dr. Justus Senska.

Ein besonderer Dank für die Illustrationen gebührt Herrn Stefan Bauer.

Die historische Begleitung erfolgte u.a. durch die Herren Jens Bergmann, Walter Sichelschmidt und Friedrich Eilinghoff.

Kapitel 1

Strahlende Kinderaugen sahen anders aus. „Vielleicht muss das Jungchen noch Pipi machen?“ flüsterte die Großmutter aufgeregt.

„Nein, ich glaube nicht, Mutter.“ Die ernsten, fliehenden Blicke der jungen Bäuerin aus der Mark Brandenburg drückten Unruhe und Verzweiflung aus. Der Kerzenschimmer in der Wohnstube des kleinen Bauernhauses schien etwas Unstetes, Hilfloses zu verbreiten. Das knisternde Feuer im steinalten Kamin übertönte das leise Wimmern des Baby-Bündels im Schoß der schönen jungen Frau. Es war der grausame Schrei einer gequälten Kreatur nach Nahrung. Die Härte des Bauernalltags hatte den feinen Gesichtszügen der jungen Bäuerin bisher noch nichts anzuhaben vermocht. Auch das Gesicht der Großmutter ließ, trotz ihres fortgeschrittenen Alters, den Schluss zu, dass auch sie früher eine Schönheit gewesen sein musste. Doch der Schein trog. Die letzten Jahre waren unerträglich und zermürbend gewesen. Es fehlte an Allem, was ein Leben erst lebenswert machte. Der allgegenwärtige Hunger, vorwiegend in den dunklen Wintermonaten, setzte den Menschen schwer zu. Insbesondere Familien mit Babys oder Kleinkindern mussten an Grenzen und körperliche Reserven gehen. Eltern verzichteten zugunsten der Jüngsten auf manche Mahlzeit und das machte ihre Bäuche hart und reduzierte ihre Empfindungen auf das Notwendigste. Die dumpfe Stimmung ließ die Menschen dieser Zeit nachdenklich, verschlossen und in sich gekehrt erscheinen. Er hatte längst eingesetzt, der Kampf um das nackte Überleben. Was fehlte, war Hoffnung, Hoffnung auf Besserung, auf neue Nahrungsquellen, auf wirtschaftlichen Fortschritt. Hier gab es wenigstens noch etwas Wärme vom Feuer, auch das war nicht selbstverständlich in diesen schweren, spartanischen Zeiten.

Die überschaubare Familie aus Klein-Schönebeck bei Berlin hatte bis jetzt dem harten Landleben einigermaßen trotzen können und fristete ihr bescheidenes, bäuerliches Dasein auf heimatlicher Scholle im Brandenburger Land. Im harten Kontrast zu den fast unerträglichen Lebensbedingungen behütete sie dieses herrliche Land mit seinen drei Urstromtälern, dazwischen geworfenen sandigen Platten und vielen Seen, Durchgangsland für Wasser und Landstraßen. Die Erde schüttete hier normalerweise ihr Füllhorn mit Kartoffel-, Roggen-, Haferanbau und weiten Kiefernforsten aus. Auf den fruchtbaren Böden der Uckermark und des Oderbruches wuchsen Weizen, Zuckerrüben und sogar Tabak, einhergehend mit unendlichen Wiesen mit Gemüseanbau, Obstanbau und auch mit Viehzucht, um den Bedarf des nahen Berlins zu decken. Doch in den letzten Jahren vermochte dieses Land ihre Kinder nicht mehr zu ernähren. Ernteausfälle und Naturkatastrophen forderte den Menschen aktuell alles ab.

Klein-Schönebeck lag am Rande eines großen Wald- und Inseldreiecks, das die Flüsse Spree und Dahme zusammenführte, dort wo die Müggelsberge beinah unvermittelt aus dem Flachland aufstiegen. Alter historischer Grund und Boden und sie waren schon das hohe Schloss dieser Lande, lange bevor die Wendenfürsten in die Spreegegenden kamen.

In vorslawischer Zeit, in Zeiten, die noch keine Burgen kannten, waren sie die naturgebaute, wasserumgürtete Feste, die von germanischen Häuptlingen jener Epoche bewohnt wurde der Sumpf ihr Schutz, der Wald ihr Haus. Ein großes Völkergemisch, im Spreewald unter anderem die Wenden, ein slawisches Reitervolk, hatte dort eine Heimat gefunden.

Die Arbeit auf dem Feld war das Schicksal der meisten Bewohner des deutschsprachigen Europas um diese Zeit. Doch nicht alle Bauern waren Untertanen eines adligen Herrn. Bei einem beträchtlichen Anteil handelte es sich bereits mit Ende des 18. Jahrhunderts um freie Pachtbauern oder Beschäftigte. Lohnarbeiten unterschiedlicher Form spielten eine entscheidende Rolle für die Aufrechterhaltung der adligen Wirtschaft, sowohl in Bezug auf die Ländereien selbst, wie auch in den Reihen der bessergestellten Dorfbewohner, die ihrerseits häufig Lohnarbeiter beschäftigten, um die Erträge ihrer eigenen Pachtgüter zu maximieren. Dessen ungeachtet hatte es im Laufe der Jahre eine Reihe zu leistender Frondienste gegeben, die zu immerwährenden Unruhen zwischen Gutsherren und Bauern geführt hatten. Der Gutsherr war nicht nur Arbeitgeber seiner Bauern und Eigentümer des von ihnen bestellten Landes, er hatte durch das Gutsgericht auch die Gerichtsbarkeit inne. Das Gericht konnte Strafen verhängen, die von Geldbußen für kleinere Vergehen bis hin zu körperlichen Strafen wie Auspeitschen und Gefängnis reichten.

Der Staat hatte immer mehr zum Schutz der Bauern gegen willkürliche Handlungen seitens der Grundherren interveniert. Ab den Jahren 1747/48 hatten Patrimonialgerichte nur noch staatlich zugelassene und an einer Universität ausgebildete Juristen als Richter zu beschäftigen.

„Ich leg nochmal Holz nach.“ murmelte, mehr zu sich selbst sprechend, der Bauer.

Der Vater des neugeborenen August war ein herzlicher, zupackender Mann. Beliebt und respektiert in der ganzen Bauernschaft. Er war Pachtbauer und Bauernführer und damit sowohl der Sprecher und Verwalter der gesamten Bauernschaft, als auch direkter Ansprechpartner des mächtigen Gutsherrn, der von Adel und altem Schlag war. Der Gutsherr war nicht nur einer dieser zu einem Gehorsam fordernden Grundherren, erblicher Leibherr, energischer Unternehmer, eifriger Kaufmann, sondern auch oberster Polizist, Ankläger und Richter. Eben einer dieser Lokaltyrannen, hervorragend darin geübt, respektlosen und ungehorsamen bäuerlichen Leibeigenen den Rücken auszupeitschen, ins Gesicht zu schlagen und Knochen zu brechen.

Der Bauernführer hatte eine brennende Leidenschaft: Die Jagd. Obwohl vom Adel als Frevel und Wilderei verdammt, ließ er sich dieses, seiner Meinung nach verbriefte und angeborene Recht jeder menschlichen Kreatur, nicht nehmen. Dass dieses heimlich geschehen musste, nahm er als Gott gegeben hin und schaffte sich dafür die Freiräume, so gut es ging. Er war ein ausgezeichneter Fährtenleser und kannte alle Wildwechsel, sogar die Fernwechsel, die sich schon über Jahrhunderte in den Instinkten der Tiere eingebrannt hatten.

Hier ganz in der Nähe befand sich auch Schloss Cöpenick, welches zu Zeiten des Landesherrn Joachims des Zweiten als Jagdschloss diente. Das alte Schloss stand bis 1550 und war in neuer Funktion an gleicher Stelle von ihm wieder aufgebaut worden. Auch er war ein leidenschaftlicher Jäger gewesen, dessen Waidmannslust ihn oft in die dichten Forste um Cöpenick herum geführt hatte.

Diese einmalige Umgebung mit Forst und Heide, mit viel Moos und Fichtennadeln, mit dem Geruch vom herben Duft des Eichenlaubes, gemischt mit dem Harzgeruch der Tannen. Das Rascheln von Eichkätzchen im Ohr, wenn sie von Baum zu Baum springend mit leisem Knick die Zweige brachen, war eine Einladung der Natur, sich einfach mit allen Sinnen darauf einzulassen.

Der Bauernführer vermochte ohne diese, seine Jagdleidenschaft, nicht zu überleben. Seine Waffe und sein Signalhorn hütete er wie seinen Augapfel, wobei ihm völlig gleichgültig war, dass dieses Horn auch für die Einsätze im dörflichen Spielmannszug für ihn recht geeignet schien. War doch ein echtes Jagdhorn viel auffälliger als sein geliebtes Spielmannshorn.

Darüber hinaus hatte er es auf der Jagd kaum in Gebrauch, da zu auffällig, aber für Notfälle vermochte man ohne weiteres darauf zurückzugreifen. Er liebte die Stille und war oft auf leisen Pfaden unterwegs, bergan steigend, immer tiefer hinein in die weiten und unmittelbar an den Fuß der Müggelsberge sich anlehnenden Waldreviere. Die Musik im dörflichen Spielmannszug an der Seite der Tamboure bereitete ihm ebenso unsäglichen Spaß. Er kannte und liebte unter anderem die Werke des 1838 zum Direktor sämtlicher Garde-Korps ernannten Wilhelm Wieprecht. Dieser hatte sich in hervorragender Art und Weise um die Pflege und Entwicklung der Militärmusik verdient gemacht. Wieprecht hatte wichtige Beiträge zur technischen Entwicklung der Instrumente geleistet, hatte selbst mehrere Märsche komponiert und die preußischen Armeemärsche in sieben Heften herausgegeben.

Was der Bauernführer tat, vollbrachte er mit unbändiger Kraft und Herzenswärme, was ihn bei seinen Dorfgenossen und Freunden sehr beliebt machte. Er war außerordentlich froh, dass die Frau ihm endlich einen strammen Sohn geschenkt hatte und freute sich rasend darauf, ihm seine Erfahrungen und sein handwerkliches Geschick weiter zu geben, was er sich über lange Zeit selbst hatte erwerben und erarbeiten müssen. Nach außen hin rau und manchmal sogar schroff, war er doch im Kreise seiner Lieben eine Frohnatur mit angenehmer Ausstrahlung und ein sehr liebevoller Vater. Er war ein Mensch, der den Körperkontakt brauchte und geradezu suchte, sei es zu seiner Frau oder zu seinem kleinen Sohn.

Die Katastrophenjahre erforderten übermenschliche Kräfte und man besann sich darauf, jede Chance wahrzunehmen, um einigermaßen zu überleben. Die Bewohner halfen sich so gut es ging, Nahrung zu beschaffen und neue Ressourcen zu sichern.

Der Winter war in dem Jahr 1846 besonders streng und die nie üppig gewesenen Erntevorräte gingen langsam zur Neige. Auch die anderen Familien hatten arge Schwierigkeiten, mit diesen Verhältnissen fertig zu werden. Besonders Familien mit Kleinkindern hatten es schwer in diesen trostlosen Zeiten und versuchten mit aller Kraft nur noch dem Hungertod zu entgehen. Doch ihr Gutsherr war streng, herrschüchtig und cholerisch. Ein Gemisch, mit dem jeder der Bauern schon lange seine Probleme hatte.

Der Bauernführer sprang unruhig auf und ging, wie gehetzt, durch die Wohnstube. Seine harten, trotzigen Schritte ließen den kleinen, spartanischen Wohnraum erbeben, sodass das Baby erneut zu weinen begann. Seine stieren, verzweifelten Blicke senkten sich betroffen als er die Brotkrumen auf dem kargen holzglänzenden Tisch bemerkte. Kümmerliche Reste einer hastigen, unerquicklichen Mahlzeit. Er knurrte in Richtung seiner Liebsten: „Ich sattle den Rappen, Frau, ich muss zum Gutsherrn reiten, so kann und darf es nicht weitergehen.“

Seine zustimmend nickende Frau wusste, dass man ihren Mann nicht aufhalten konnte, wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte.

„Charlotte, mach du bitte inzwischen die Päckchen mit den Wildportionen für die Nachbarn fertig, ich habe ihnen gesagt, dass sie heute Nachmittag zur Abholung bereit stehen. Sie sind dringend auf jede Fleischration angewiesen, sonst müssen sie elendig verhungern. Ich habe es ihnen in die Hand versprochen.“

Er nahm sein Signalhorn vom Wandhaken und legte es sich mit dem Riemen quer über die Schulter. Er trug es aus Gewohnheit immer bei sich, wenn er auf seinem Pferd unterwegs war.

Beim Heraustreten aus dem Bauernhaus erkannte man in den reflektierenden Fensterscheiben das hagere Gesicht eines Mannes Ende dreißig, mit hohen Wangenknochen und unternehmungslustigen Augen, in immerwährender Bereitschaft, sich für Dinge des Allgemeinwohles einzusetzen, soweit es um die Existenz seiner Bauern und Mitmenschen ging.

Der lange umgefärbte Militärmantel mit den großen Aufschlägen schützte seinen schmal gewordenen, vom Hunger gekennzeichneten Körper, nur dürftig vor den eisigen Windböen.

Kapitel II

Der Schnee lag hoch und bedrohlich auf dem Dorfweg. Verkrustete Schneewehen zerbarsten an dem sich heftig bewegenden Pferdekörper. Der Rappe bahnte sich wild schnaubend den beschwerlichen Weg zum Gutshof.

Tausend Gedanken schossen dem Bauernführer durch den Kopf. War der Alte bereit, die hungernde Bauernschaft mit zusätzlichen Nahrungsmitteln zu versorgen, zumindest bis der harte Winter sichtbar zu Ende ging?

Es waren schon einige Menschen im Dorf den elenden Hungertod gestorben und er hatte betäubt und tatenlos zusehen müssen. Das Wenige an Fleisch, was er durch seine verbotenen Jagdhandlungen beizutragen versuchte, reichte bei Weitem nicht aus. Es war schon schwer genug bei dem tiefen Schnee und den allgemeinen harten Witterungsbedingungen das Wild aufzuspüren und zu erlegen. Es musste schließlich gestellt, geschossen und geborgen werden und das alles heimlich. Dies hatte er aus Vorsichtsgründen immer allein bewältigen müssen, da er niemanden in seine Jagdgeheimnisse einweihen wollte, insbesondere wenn er daran dachte, dass es ja Wilderei war und er keinen Menschen der Gefahr einer Strafverfolgung aussetzen durfte. Es reichte, wenn er es tat, auch seiner innerlichen Vernunft gehorchend. Wild war reichlich vorhanden, gerade das schwache, was den Winter nicht überleben würde, war gute Beute und seiner Meinung dafür da, Menschenleben zu retten. Für die ungezähmten Jagdgelüste des Adels blieb bis zum Frühjahr genug übrig. Er hegte keinerlei Zweifel an der moralischen Berechtigung seines Handelns.

Nach einem langen und anstrengenden Ritt hatten Pferd und Reiter

ihr Ziel erreicht. Dort lag er nun vor ihm, der Gutshof, im Sonnenlicht der letzten Abendstunden, glitzernd in der starren Eiskruste des Frostes, wie eine riesige Eisskulptur hochherrschaftlich und protzig.

Die Nüstern des Rappen dampften in der eisigen, starren Winterluft und wie von unheimlichen Nebelschwaden umfangen, wuchtete sich der Bauer aus dem lederrissigen Sattelgeflecht. Er führte sein Pferd zum mächtigen Vorbau des Stallgebäudes und band es an den schweren Trägerpfosten in den Schatten. Mit gewohntem Griff nahm er das Signalhorn von den Schultern und schob es in die schützende Satteltasche. Die gebrauchsalten Lederstiefel ließen knirschend Schneereste von den Absätzen fallen als der Bauernführer mit schnellen Schritten dem Haupthaus entgegen strebte. Das harte Geräusch des eisverkrusteten Türklopfers zeigte an, dass hier jemand dringend um Einlass bat.

Mit hämischem Grinsen öffnete ein Lakai in zerknitterter Livree, um dann eilends dem Gutsherrn zu berichten, wer ihn um diese Zeit zu stören wagte. „Herr“, hörte ihn der Bauer, der höflich in der großen Diele wartete, sagen: „Es ist der Bauernführer, er wünscht Euch dringend zu sprechen.“

„Komm rein Bauer“, herrschte ihn nach kurzer Überlegungszeit eine tiefe, bedrohliche Stimme an.

Der Bauernführer verharrte. Seine schmal gewordenen Augen musterten den hohen, weitläufigen Wohnraum mit den schweren Ledersesseln und all dem Schnickschnack, den die Hände einer gut situierten Gutsherrin so in ihrem Leben zusammengestellt hatten.

Dort hinten in einem der tiefen Sessel saß zusammengekauert mit schwerem Körper der mächtige, respekteinflößende Gutsherr.

„Herr“, begann der Bauer, „Die Situation hat sich dramatisch verschärft. Der Winter ist einfach zu lang. Unsere Notvorräte reichen nur noch für zwei Wochen, höchstens drei Wochen, dann werden noch weitere Dorfbewohner sterben, insbesondere die ganz jungen, die sich nicht dem Hunger erwehren können. Wir brauchen dringend eure Hilfe, Herr!“

„Hilfe“? wetterte der Gutsherr, „Wer hilft denn mir? Teilt euch eure Vorräte gefälligst ein, ihr Idioten. Esst gemach und nicht so viel. Fett bekommt euch sowieso nicht und macht außerdem träge.“ Ächzend lachte der knurrige Gutsherr. „Hier gibt es keine Hilfe für euch, helft euch gefälligst selbst. Meine Familie leidet auch. Schert euch vom Hof. Der Winter ist bald zu Ende, rückt näher zusammen und teilt es euch, verdammt noch mal, besser ein.“

Der Bauernführer schüttelte sich in unbändiger Wut, schluckte wohlweislich seinen Ärger herunter und ballte seine knochig gewordenen Finger zur Faust bis die Knöchel weiß wurden.

„Wir tun doch bereits alles, um die Nahrung zu rationieren. Wir haben sogar Planaufzeichnungen, wer wann und wie viel zu bestimmten Zeiten zu sich nehmen darf. Mehr können wir einfach nicht machen. Es ist doch allein Ihre Arbeitskraft, die hier elend zugrunde geht.“

„Ach“, raunzte der Gutsherr, „ihr habt also den Eindruck, ihr zermürbt Euch wohl noch meinen Kopf? Hört auf zu schwafeln und trollt Euch, bevor ich Euch rauswerfen lasse.“

Mit hochrotem Kopf und erregtem Abschiedsgruß verließ der angeekelte Bauernführer den Gutshof. Hier konnte er keine Hilfe erwarten, hier wurden die Probleme einfach verdrängt oder sie interessierten niemanden. Das bedeutete unabwendbar Hunger für die Familien der Bauernschaft. Hungern und Frieren. Was wusste der Gutsherr überhaupt davon? Nichts, aber auch gar nichts. Der Bauernführer spürte immer wieder die kollektive Macht des Adels über die brandenburgisch preußische ländliche Gesellschaft, die nur zum Teil in dem Umstand wurzelte, dass der Großteil des Landes in ihrem Besitz war. Er erkannte auch ihre entscheidende rechtliche und politische Dimension. Ab Mitte des 15. Jahrhunderts verstanden es nämlich die Gutsherren, auch Junker genannt, nicht nur den Landbesitz so zu ordnen, dass die fruchtbarsten Böden an sie fielen, es gelang ihnen auch, ihre wirtschaftliche Vormacht um politische Rechte zu ergänzen, mit deren Hilfe sie unmittelbare Autorität über die Bauern auf ihren Ländereien auszuüben vermochten.

Mit einem lauten Schlag fiel die Haustür ins Schloss. Ein Klang, der hoffnungslos und endgültig erschien. Mit stumpfen Schritten ging der Bauer seinem frierenden Rappen entgegen. Anders als bei vielen anderen Bauern vermittelte er gerade nicht den Eindruck, dass bei ihm das Wohlbefinden von Pferd und Vieh wichtiger war als das eigene oder das seiner Familienangehörigen, nicht zu sprechen von dem Elend und Leid seiner dörflichen Mitbewohner.

Kapitel III

Der Bauernführer streichelte, wie abwesend, über die kalten Stellen des Pferderückens, die die Pferdedecke nicht gänzlich zu verhüllen vermochte, rückte das Zaumzeug zurecht und rutschte schweratmend in den verwetzten Sattel. Sanft führte er seine Stiefel an die Pferdelenden und ritt von dem Gutshof hinaus in Richtung Wald. Es lagen gerade mal 7,5 Kilometer, eine preußische Meile, beschwerlicher Heimweg vor ihm.

Sein Weg führte ihn unmittelbar am Teufelssee vorbei, mit dem unheimlichen Charakter aller jener stillen Wasser, die sich an Berghängen ablagerten und ein Stück Moorland als Untergrund hatten. Jetzt aber lag der See erstarrt vor ihm. Die winterliche Kälte hatte ihm alles sommerlich Mystische genommen. In der Zwischenzeit war die Sonne am eisblauen Himmel untergegangen. Der klirrende Wind schnitt wie scharfe Klingen in sein Gesicht. Die Anspannung war noch nicht gewichen. Der Bauernführer spürte deutlich wie es dem Rappen unter seinen Schenkeln schwer fiel, sich seinen Weg durch die spitz aufgeworfenen Schneewehen zu bahnen. Die Dunkelheit fiel wie ein schwerer Mantel über die kämpfenden, schwitzenden Körper. Es war ein Ächzen und ein Stöhnen. Doch irgendwo da vor ihnen war plötzlich ein markerschütterndes Heulen zu hören. Beide Individuen traf es wie ein Dolchstoß.

Wölfe! Ein hungriges Rudel Wölfe.

In diesem langen, besonders harten Winter waren sie, wie vor Jahren, wieder einmal in die Nähe menschlicher Ansiedlungen gezogen. Der Hunger trieb die Tiere, den Menschen ähnlich, verzweifelt auf die unerbittliche, zwingende Spur der Nahrungssuche. Im tiefen Schnee vermochte der Bauer ungefähr fünf bis sechs schwarze Punkte auszumachen. Ihm wurde schlagartig klar, dass es jetzt um Leben und Tod ging. Die Punkte kamen immer näher und wurden gefährlich größer. Sie liefen, ihren Instinkten gehorchend, auseinander, um in Angriffshaltung geifernd und knurrend auf den Bauernführer und seinen Rappen zuzurennen. Die völlig klammen Hände des Bauern fuhren zielstrebig über das rissige Leder des Pferdesattels. Hin zu der Satteltasche, dort wo jetzt seine einzige Hoffnung einer Abwehrchance ruhte. Die kurze Reitpeitsche und sein altes Signalhorn. Zur Entlastung des Pferdes ließ sich der Bauernführer seitlich vom Pferderücken rutschen. Er spürte deutlich das Zittern des Rappen, welches die äußerste Anspannung beider in Todesangst vereinte. Der Versuch, das Pferd mit leichtem Klopfen und unterdrücktem Zischen zu beruhigen, scheiterte kläglich. Jetzt hörte er sie deutlich, roch ihren intensiven, bestialischen Gestank.

Die Punkte verwandelten sich in große, bedrohliche Wildkörper. Ein Rudel wild jagender rastloser Wölfe. Der starke Leitwolf sprang ohne jedwede Vorwarnung an den Hals des Pferdes. Ein Knurren und ein todbringendes Reißen begann, als auch der Rest der rasenden Meute sich auf Pferd und Reiter stürzte. Der Schnee färbte sich in Kürze blutrot. Der gewaltige, körperlich kräftigste Wolfsrüde biss sich immer wieder an dem sich aufbäumenden Pferdehals fest. Wie von Sinnen schlug der Bauernführer mit seiner Peitsche auf die zuckenden und zerrenden Wolfskörper ein. Durch seine kräftige, entschlossene Angriffsbewegung verharrten die anderen Wölfe kurz in ihren Beißattacken. Der große mächtige Leitwolf ließ vom Rappen ab und stürzte sich laut knurrend und zähnefletschend auf den heftig um sich schlagenden Bauern.

Ein höllischer Schmerz durchzuckte seinen Körper als sich die scharfen Eckzähne in den rechten Oberschenkel bohrten. Sein schmerverzerrter Blick fiel auf den wild zurrenden und knurrenden Pulk von Wolfsleibern, der sich gnadenlos über das hilflose Pferd hermachte, um den drängenden Hunger zu stillen. Schreiend mit der Peitsche in Richtung Schmerz schlagend ergriff der Bauernführer das vor ihm liegende glänzende Horn und schlug es immer wieder mit letzter todesmutiger Kraftanstrengung auf den um sich beißenden Wolfsrüden. Als ein Schlag ihn auf die bestialisch funkelnden Augenlichter traf, ließ der Wolf kurz von ihm ab. In diesem Augenblick konnte der Bauer das Horn kurz an die Lippen setzen und zwei schmetternde Töne erzeugen. Der gewaltige Leitwolf riss ihm das Metallhorn aus den Händen und schleuderte es in den aufspritzenden Schnee. Mit letzten Peitschenhieben schlug der Bauer auf den übermächtigen Wolfsrüden ein. Immer wieder tauchte der riesige geifernde Wolfsrachen vor ihm auf und er spürte, wie sich erbarmungslos die gierigen Zähne in sein Fleisch bohrten. Es war ein Kampf um das nackte Überleben. Im Nebel seiner schwindenden Sinne hörte er herannahende, menschliche Stimmen, bevor die Ohnmacht ihm die rasenden Schmerzen nahm.

Der beruhigende Kerzenschein und die Wärme der Flammen ließ den Bauernführer aus tiefem Schlaf blinzelnd erwachen. Um ihn herum erkannte er schemenhaft die Gesichter seiner wachsbleichen Frau und seiner sorgenalten Mutter.

„Du wirst es schaffen hat der Doktor gesagt.“

Unvermittelt traten jetzt aus dem Hintergrund des Raumes zwei Gestalten an das Bett. Zwei ihm gut bekannte, freundliche Gesichter aus seiner Bauernschaft blickten auf ihn herunter. Einer bemerkte, noch sichtlich erschüttert: „Da hast du nochmal riesiges Glück gehabt, dass wir dein Hornsignal gehört haben. Es wäre fast zu spät gewesen. Die Wölfe haben dich bis auf die Knochen angenagt. Den Rappen haben sie sich geholt. Du warst ihnen zu sperrig. Der Winter schlägt grausam zu.“ Mit diesen Worten ließen sie den schwer verletzten Bauern allein, verbunden mit den besten Wünschen einer schnellen Genesung.

Nach einer langen und zähen Zeit der Gesundung, war der Bauer endlich, gestützt auf seine beiden Lebensretter, in der Lage, den Tatort aufzusuchen. Vor Ort, am Rande des Waldes erwartete sie ein Bild des Grauens. Gefrorene Überreste eines Pferdekadavers vermischten sich mit den Reststücken einer ehemaligen Reitpeitsche. Doch dort, ganz in der Nähe der blutigen Spuren, fand ein Retter das leicht zerbeulte Horn, das dem Bauernführer wohl das Leben gerettet hatte. Ohne dieses Signal wäre man niemals auf ihn aufmerksam geworden. Laute jeder anderen Art wären vom Schnee weitestgehend verschluckt worden.

Bei näherer Betrachtung des Signalhornes wurde erkennbar, dass sich am Rande des Trichters die Spuren von den starken Reißzähnen des Leitwolfes abgezeichnet und für immer eingegraben hatten.

Der Bauernführer wurde innerlich ganz ruhig und besinnlich. Die Begleiter jedoch begannen sich zu fürchten, als er dann mit leidenschaftlicher Stimme schwor: „Dich werde ich unbarmherzig jagen. Du Bestie, hast mir für ewig meinen geliebten, treuen Rappen genommen. Ich werde dich jagen, wie du mich und mein Pferd gejagt hast.“

Kapitel IV

Sommer um Sommer und Winter um Winter vergingen. Aus dem ehemaligen Babybündel war ein stattlicher junger Knabe von dreizehn Jahren erwachsen. Die Familie hatte zwischenzeitlich Nachwuchs bekommen. Augusts Bruder hieß Georg und war gerade sieben Jahre alt geworden. Die gutmütige Großmutter war in Frieden gestorben. Auch die unverwechselbare Schönheit der Mutter wies altersgemäße leichte Lebensspuren auf. Die kleine Familie hatte harte Zeiten erleben müssen. Die Nahrungsmittelversorgung war ungeachtet des beeindruckenden Wachstums der Landwirtschaft nach wie vor ungesichert. Die Gefahr von Naturkatastrophen, Missernten, Viehseuchen und Pflanzenkrankheiten war permanent vorhanden.