Der Sohn des Scharfrichters - Paul-Rainer Zernikow - E-Book

Der Sohn des Scharfrichters E-Book

Paul Rainer Zernikow

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Beschreibung

Ferdinand ist der Sohn eines Scharfrichters zu Augsburg. Er ist jedoch zu sensibel, die Nachfolge seines Vaters anzutreten. Zur Vorbereitung seines Medizinstudiums führt er mit seinen Freunden Alexander und Gottlieb nach den Hinrichtungen Leichenschauungen durch. Zigeunerin Ceija ist ihm versprochen, weil sie beide zu Henkersdynastien gehören, deren Familienmitglieder nur unter einander heiraten dürfen. Als eines Tages die französische Adlige Marquise Louise de Colbert, die angeblich in eine Giftaffäre verwickelt ist, in den Henkerturm eingeliefert wird, verliebt sich Ferdinand unsterbliche in die Gefangene. Mit Hilfe seines Freundes Gottlieb flieht er mit ihr nach Paris. In Versailles kommt es zu einem mörderischen Zwischenfall. Als Ferdinand am Place de Greve zufällig Zeuge einer Hinrichtung wird, muss er eine grauenhafte, schicksalsträchtige Entdeckung machen.

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Inhaltsverzeichnis

I Leichenschau im Henkerturm.

II Das Haus des Scharfrichters.

III Drei Freunde auf ewig vereint.

IV Die traumhafte Ceija.

V Das Eheversprechen.

VI Gifte und Gegengifte.

VII Ceija will es wissen.

VIII Die unheimliche Gefangene.

IX Der Kirchenvogt.

X Wilde Flucht nach Paris.

XI Unterschlupf in der Vorstadt.

XII Auf dem Maskenball des Königs.

XIII Ferdinand und Louise.

XIV Eine intensive Spurensuche.

XV Alte Freunde.

XVI Der Marquis de Colbert.

XVII Richtung Niederlande.

XVIII Flucht nach England.

Vorwort

Das Genre des historischen Romans führt in die Tiefen einer Recherche, die den Leser in andere, längst vergangene Zeiten versetzt.

Dieses Buch soll unter anderem ein Gefühl erzeugen, wie die Menschen damals lebten oder vielmehr leben mussten.

Ganz selten schaffte man es aus den niederen Ständen in die höhere Gesellschaft aufzusteigen. Diese blieb den meisten für immer verschlossen.

Der Adel lebte gefühlt in Saus und Braus, die anderen arbeiteten ihr Leben lang für ein bisschen Auskommen.

Doch in wenig bekannten Nebengesellschaften, wie zum Beispiel den Henkerdynastien, schafften es manche durch die Übernahme einer Vielzahl von unattraktiven Geschäften, die kein anderer verrichten wollte, sich finanzielle Vorteile zu verschaffen.

Aber gerade diese Haltung, nämlich: „Einer muss es ja tun“, führte oft zu profitablen Nebeneinnahmen.

Die Nähe des Henkers zu Heilberufen ist erstaunlich und war auch mir neu, doch schaut man sich die Entwicklung dieses Berufsbildes etwas näher an, so wird einem schnell klar, dass der weitere Schritt zur Ausbildung eines Mediziners gar nicht so ganz weit weg ist.

Ein humanitärer werdender Strafvollzug ließ den Beruf des Scharfrichters immer seltener werden.

So kam es nicht von ungefähr, dass sich pfiffige, vorausschauende Familienmitglieder für den Beruf des Baders und Heilers bis hin zum Chirurgen oder praktizierenden Arzt interessierten.

Nun sollte man nicht gleich seinen Mediziner -Freunden entgegenhalten, sie wären die Nachkommen eines Henkers, aber abwegig ist diese Entwicklung ganz und gar nicht.

Umso wichtiger ist deshalb die Feststellung, dass alle Protagonisten frei erfunden sind und der reinen Fantasie entspringen und nichts mit toten oder lebenden Personen zu tun haben, wobei hier insbesondere die Mediziner unter meinen Freunden angesprochen sind.

Die Freude am Schreiben wurde unterstützt durch meine Frau Bernadette und insbesondere durch meinen beratenden Klassenkameraden Jens Bergmann, der mit den historischen Geschehnissen befasst war. Selbstverständlich möchte ich die Mitarbeit meiner Kinder Tatjana und Nikolai nicht unerwähnt lassen.

Ebenso unvergessen bleiben die guten Tipps von Reiner Nürnberger. Die Auswahl des Covers lag mal wieder in den künstlerischen Händen von Renee Rott (Dream Design – Cover and Art).

I

Ferdinand hasste es, wenn die großen, schwieligen Hände seines Vaters zu den rissigen Lederstiefeln griffen, die dem Vater weit über die Knie reichten.

Das alte Leinenhemd aus der Familientruhe mit den bauschigen Ärmeln gab ihm fast ein engelhaftes Aussehen, doch er war alles andere, nur kein Engel.

Vielleicht ja, ein Todesengel.

»Willst du heute mal wieder zuschauen, mein Junge?«, richtete sich die schneidende Stimme des Henkers an den Sohn. »Es ist diese Woche der Zweite, den ich zu Tode bringen muss. Verdammt, die Respektlosigkeit vor Recht und Ordnung nimmt täglich zu.«

Der trotzige Blick des jungen Mannes von siebzehn Jahren musterte den Vater von oben bis unten.

»Nein, Vater, heute habe ich keine Lust dazu.«

Ferdinand ertrug es einfach nicht, wenn die Gequälten endlos schrien und ihre hilfesuchenden Hände sich in das Hemd des Vaters vergruben. Auch wenn es Mordbuben waren, es waren schließlich immer noch Menschen für ihn.

»Ach, du Schaf, du wirst es nicht mehr lernen. Einer muss sie ja machen, diese verfluchte Drecksarbeit.«

Der Vater schüttelte sich, wie angeekelt. Doch sein Sohn wusste, irgendwie brauchte er diese Arbeit. War er wirklich so brutal oder hatte sie ihn einfach abstumpfen lassen?

Das Zweihandschwert lag vorbereitet mit glänzender Klinge auf dem schweren Eichentisch im feucht-dunklen Kerkerturm.

»Gleich kommen die Knechte mit dem Delinquenten. Dann verschwinde und störe mich nicht weiter bei meiner Arbeit.«

Der Sohn nickte stumm und verschwand fast geräuschlos durch den alten Steinbogen nach draußen.

Er lief fast den Henkersknechten in die Arme, die einen elendig Zappelnden an seinen Armen hinter sich herzogen. Die Ketten an seinen Füßen spielten das ewige Lied von Verzweiflung und Tod.

»Schafft ihn erst einmal hier rein«, grunzte der Scharfrichter und griff grimmig zu seinem Zweihandschwert.

Der Karren stand wie immer am Henkersturm bereit. Die Knechte wussten, dass der Henker sich routinemäßig Zeit nahm, den zum Tode Verdammten ein letztes Mal anzuhören.

Wie in Trance ließ sich der Delinquent auf den wackligen Holzschemel sacken, bereit, die letzten Worte aus sich herauszuholen. Doch der Einzige, der sprach, war der Scharfrichter: »Es war dein Wille, auf den Pfaffen zu verzichten, jetzt musst du mit mir vorliebnehmen«, stöhnte der Henker fast mitleidsvoll. »Hast du gut geschlafen, du unheilvolles Menschlein?«, fragte der Henker vorsichtig. »Das Jenseits erwartet dich, wartet auf eine weitere verirrte Seele, du Tropf. Warum musstest du in deiner Raserei dein Weib erschlagen? Eine andere Strafe für sie hätte auch gereicht. Sie war verliebt und nicht bei Sinnen. Schwer zu begreifen, aber nichts Ungewöhnliches. Der Ehebruch hätte sie sowieso zu Tode gebracht, du Idiot. Jetzt folgst du ihr auf der Stelle, ich fasse es nicht. Sei froh, dass du einer wohlsituierten Familie entstammst, sonst hättest du die Vorzüge des Köpfens nie kennengelernt. Das ist was für die Besseren, hörst du?«

Der Henker schüttelte den schweren Kopf und zeigte sich nachdenklich. Der Verbrecher atmete nur noch tief durch und war nicht mehr fähig, einen Gesprächsversuch zu unternehmen.

»Los, Burschen, schafft ihn hier raus in den Karren.«

Entschlossen machte der Henker einen Schritt nach vorne zum steinernen Ausgang. Die schweren Ketten des Delinquenten rasselten über den grobkörnigen Steinweg Richtung Henkerskarren.

»Das Volk jauchzt und jubelt schon, arme Sau, ich kann es bis hierhin vernehmen«, richtete der Scharfrichter seinen Blick zum Marktplatz.

Die schweren, ächzenden Räder des Holzkarren nahmen Fahrt auf und brachten den Henker, die zwei Knechte und den Delinquenten zur tobenden Meute an den Marktplatz.

»Hörst du sie, armer Tropf? Sie warten schon geifernd auf deinen Kopf«, rief der Henker aus.

Es dauerte nicht lange, bis der Dreckskarren, von einem Pferd gezogen, die johlende Menge erreichte.

Alte, verrottete Äpfel und Gemüsereste prasselten auf den Karren nieder, in dem sich die Mitfahrenden hastig wegduckten.

»Immer wieder der gleiche Mist«, regte sich der Henker auf, »es wird sich wohl nie ändern.«

Die Menge hatte sich auf dem Marktplatz versammelt, wie es meist der Fall war, wenn Kriminelle gerichtet wurden. Es sollte in erster Linie der Abschreckung dienen, doch es schien so, als würde sich das Volk eher daran ergötzen. Menschen, die ganz vorn am hölzernen Podest standen, hieben stakatisch mit ihren Fäusten auf die Planken. Raunen und Flüstern hingen schwer wie Blei über dem Platz, als der Henker mit dem mächtigen Schwert in seinen Händen in der Mitte des Schafotts erschien. Er hatte sich eine schwarze, seidene Kapuze über sein Haupt gezogen, was die Schreckensszene noch gruseliger machte.

Der Scharfrichter genoss es sichtlich, wenn ihm die Menge, aufbrausend wie in einer Woge der Zuneigung, zujubelte. Er flößte mit seinem mächtigen Körper Angst und Grauen ein.

Jetzt ging es schnell. Die Knechte schleppten den Todgeweihten zum hölzernen, alterszerrissenen Block und drückten seinen Kopf kräftig nach unten.

Der Henker nahm routiniert Maß, wie er es seit Jahren schon immer gelernt und getan hatte, und mit einem wuchtigen Schlag trennte er den Kopf vom Körper. Es gab ein seltsam knisterndes Geräusch, als er weich in den Stroh-korb fiel. Die Menge raste und jauchzte wie im Rausch. Es hatte, Gott sei Dank, wieder einen anderen getroffen und nicht sie selbst. Man spürte daher eher Erleichterung als Hohn. Auch die Spottgesänge sollten eher Ablenkung als Belustigung sein.

Für den Scharfrichter bedeutete es Zustimmung zu seiner nicht einfachen Arbeit. Sie wurde anerkannt, schien ihm, zumindest hier auf dem Marktplatz zu Augsburg. Das waren sein Auftritt, seine Bühne, seine Jubelgemeinde. Im Grunde wusste er, dass er gefürchtet und nicht beliebt war, aber das störte ihn nicht mehr. Das war bei seinen Vorvätern nicht anders gewesen.

Er vertrat die Meinung, dass man gute Arbeit von ihm verlangte, dass er sein Handwerk des Tötens so vollendet ausführen musste, wie das gemeine Gesetz es vorsah.

Er hatte das Handwerk von seinen Vorfahren, insbesondere vom Vater und Onkel gelernt. Die Ausbildung der Scharfrichter erfolgte in der Regel anfänglich durch den Vater oder

auch Stiefvater und konnte dann bei einem anderen Meister fortgesetzt werden. Scharfrichter pflegten, wie andere Handwerker auch, während ihrer Ausbildungszeit auf Wanderschaft zu gehen, wie er das damals ebenfalls getan hatte.

Zum Abschluss der Ausbildung hatte er, wie jeder Scharfrichter, eine Meisterprobe durchführen müssen. Dies geschah nicht ohne amtliche Genehmigung. Dabei musste dem Verurteilten unter Aufsicht des ausbildenden Meisters nach allen Regeln der Kunst der Kopf vom Rumpf getrennt werden. War dieses erfolgreich, so erhielt der auszubildende Scharfrichter einen Meisterbrief, mit dem er sich für freie Scharfrichterämter bewerben konnte. Ohne diesen Brief hätte er keine Chance auf eine Anstellung gehabt. Der Henker erinnerte sich noch gut an seinen eigenen Werdegang. Er hatte den Vater oft bei seinen Tätigkeiten begleiten müssen. Es war für ihn nicht einfach gewesen, sich an diese blutigen Einsätze zu gewöhnen. Doch mit der Zeit hatte er sich an die Notwendigkeiten dieses Berufs angepasst, hatte sie für sich einfach akzeptieren müssen. Die Ausbildung bei den fremden Meistern hatten dazu beigetragen, dass er die Henkertätigkeit mit all den blutigen Begleiterscheinungen für sich als gegeben annahm. War es doch schon der Beruf seines Vaters und seiner Vorväter seit ewigen Zeiten gewesen.

Wie in seinem Fall hatten sich regelrechte Scharfrichterdynastien herausgebildet, die durchaus auch finanziell mit rechtlich höher gestellten Menschen mithalten konnten.

Ihren Lohn erhielten die Scharfrichter nach getanem Werk immer von den Familien des Bestraften oder Hingerichteten. Das war rechtlich so festgelegt.

Eine anschließende Verbrennung auf dem Scheiterhaufen kostete noch einige Taler mehr. Ein Scharfrichter musste ebenso über medizinische Kenntnisse verfügen, um beurteilen zu können, welche genauen Folgen sein Handeln hatte.

Eine misslungene Hinrichtung konnte auch des Volkes Zorn auf sich ziehen und es kam nicht selten vor, dass der Scharfrichter von der aufgebrachten Zuschauermenge gelyncht wurde.

Er erinnerte sich noch mit Grauen an die ersten, frühen Lehrjahre, als einer seiner Meister den Kopf des Delinquenten erst mit fünf Axthieben durchzutrennen vermochte. Das Publikum raste. Unmut kochte hoch. Nach dem fünften und letzten Schlag hatten wütende Zuschauer das Podest erklommen, dem Henker die Axt entrissen und ihm den Kopf abgeschlagen. Er als Lehrbub hatte Glück, dass er am Rande der Hinrichtungsstätte, weitab vom grausamen Geschehen, gerade mit anderen Arbeiten beschäftigt gewesen war.

Das würde ihm bei Gott nicht passieren. Seine Hiebe saßen perfekt. Er wusste genau, welche Stellen am menschlichen Hals er treffen musste, um den Exitus herbeizuführen. Hatte er sich doch im Laufe der Zeit erhebliches medizinisches Wissen angeeignet, das so weit ging, dass er nebenbei als Heiler und Zahnreißer einigermaßen erfolgreich arbeiten konnte.

Für weitere, unangenehme Aufgaben nach Hinrichtung und Folter zur Geständniserzwingung, gab es noch die Kloakenreinigung, wie auch das Abschneiden und das Bestatten von Selbstmördern oder die Aufsicht über die Prostituierten.

Aus recht naheliegenden, praktischen Gründen hatte er noch die Aufgaben des Abdeckers wahrgenommen. So entstand aus der Tierkörperentsorgung weiteres Einkommen, und die Abdeckergehilfen konnte er gleichzeitig als seine Henkersknechte gebrauchen. Er achtete sehr darauf, dass die besonders schmutzigen und unangenehmen Aufgaben wie Foltern und Abknüpfen unter seiner Aufsicht geschahen. Nur das Meisterhandwerk mit Schwert oder

Henkersbeil war den Scharfrichtern selbst vorbehalten, da dafür äußerstes Geschick von Nöten war. Der Kopf sollte möglichst mit nur einem Schlag vom Rumpf getrennt werden. Neben diesem Handwerk hatte er sich solides Wissen auf dem Gebiet der Anatomie angeeignet. Er kannte sich mit dem menschlichen Knochenbau und der Anordnung der Organe beim Menschen bestens aus. Selbst ein Bader hätte es nicht besser gewusst. Diese Menschen waren oft auch Betreiber einer Badestube, die sich umfassend dem Badewesen, der Körperpflege und Kosmetik widmeten. Man nannte sie nicht zu Unrecht die Ärzte der kleinen Leute, die sich studierte Ärzte nicht leisten konnten. Zahnmedizin und Augenheilkunde gehörten selbstverständlich dazu. Auch das Schröpfen und Aderlassen sowie die Versorgung kleinerer Wunden.

Der Henker war genauso eine Art Chirurg wie Rossarzt. Die Abdeckerei, die Entsorgung von Tierkadavern, führte zu Nebenprodukten, wie Hundefett zur Salbung entzündeter Gelenke, sowohl bei Menschen als auch bei Pferden. Auch die Herstellung und der Verkauf von heilmagischen Substanzen, die aus Körpern von Hingerichteten gewonnen wurden, sicherten ihm ein zusätzliches Einkommen. Dazu gehörte auch die Herstellung von Armsünderfett, Menschenfett oder von Totenhänden. Drohungen von angeblich studierten Ärzten, die meinten, sie hätten das Monopol für die medizinische Behandlung, störten ihn nicht im Geringsten. Teilweise hatte das Volk mit der Heilung seiner Beschwerden mit dem Henker bessere Erfahrungen gemacht als mit örtlich angeblichen Medizinkennern oder sogenannten Heilern.

Die schweren Schritte des Henkers knirschten auf dem Weg zum alten Henkersturm, der im Volksmund auch Hexenturm oder Kerkerturm genannt wurde.

Er bestand aus zwei Geschossen. Das untere, ein großes Rund, war in der Mitte durch zwei Steinstufen nach unten halbiert in einen separierten mit Steinmauern umgrenzten Teil. Dort befanden sich diverse schwere Ketten an den Wänden für die Gefangenen und ein alter, hölzerner Tisch mit jeder Art von Foltermaterialien.

Auch auf dem oberen Teil des Runds stand ein Holztisch für Waschungen mit einem hölzernen Waschtrog daneben. Das Geschoß darüber bestand aus Holzgebälk mit einer gewendelten Treppe. Durch die verschieden geschnittenen Holzdielen war an einigen Stellen ein unbehinderter Blick nach unten möglich.

Mit trotzigem Schwung schlug er die bohlenbeplankte Tür auf und stapfte zum Wasserkrug. Er zog sich die durchgeschwitzten Kleider aus und wusch sich am ganzen Körper.

Er hatte gerade begonnen, sich mit dem Tuch die feuchten Stellen am Körper abzuwischen, als draußen die knirschenden Räder der Todeskarre zu hören waren. Hastige Schritte kamen näher, und von außen wurde die schwere Tür kraftvoll aufgestoßen. Die Knechte erschienen mit dem Leichnam des Geköpften und warfen ihn fast achtlos in eine dunkle Ecke des Turmeinganges.

»Hier habt ihr ihn, Meister Hans, macht mit ihm, was immer ihr wollt«, schnauften die Henkersknechte atemlos.

Der Scharfrichter grinste und erwiderte:

»Ich werde mir für die Wissenschaft etwas einfallen lassen, zum Wohle der Menschheit und für die Kasse des Heilers. Wascht ihn mir gefälligst vorher gut, damit ich meine Arbeit verrichten kann«, nicht so wie das letzte Mal, als ihr ihn einfach dreckig und unrasiert auf dem Tisch habt liegen lassen«, brummte der Meister. »Auch dem Toten sei Respekt geschuldet, ganz egal ob Straftäter oder nicht.«

Die Knechte hoben den Körper auf einen blanken Holztisch und begannen, den Leib sorgfältig abzuwaschen. Währenddessen bereitete der Henker sein Sezierbesteck vor, legte seine selbst erdachten und gefertigten Instrumente sorgsam zurecht, um den Körper zu bearbeiten. Was genau dort passierte, war nicht für die Augen und Ohren der Knechte bestimmt, die nicht zu viel wissen durften.

Der Scharfrichter hatte sich im Laufe seines Lebens viel mit der Heilkunde befasst und war erpicht darauf, immer mehr dazu zu lernen. Er war zwar des Schreibens und Lesens nicht ganz mächtig, aber Versuche am Objekt waren ihm nicht fremd.

Er wusste von seinem Sohn Ferdinand, dass bei vielen Honoratioren in der Medizin der Grundsatz Geltung hatte:

»Zum Wohle der Bevölkerung darf man Tod und Qualen einiger weniger Übeltäter in Kauf nehmen.«

Er hatte von Ferdinand schon oft von tödlichen Menschenversuchen gehört. Sein Sohn war klug und belesen, er beherrschte Lesen und Schreiben bis zur Vollendung und hatte sich mit bis dahin bekannten medizinischen Lehren ausgiebig befasst. Er hatte seinem Vater geschildert, dass bei den meisten älteren Krankheitskonzepten auch die Menschen im Orient von einer Krankheitsverursachung durch böse Dämonen und strafende Götter ausgegangen waren. Bei ihren Therapieformen lag besonderes Gewicht auf der Wiederherstellung der kultischen Reinheit. Im antiken Griechenland hatte das Heilen zunächst in den Händen von religiösen Denkkonzepten und Institutionen gelegen. Aber gegen Ende des fünften Jahrhunderts war mit Einfluss der vorsokratischen Naturphilosophie von Empedokles die sogenannte rationale Medizin entstanden, die ganz eng mit den Namen des Hippokrates und Kos verknüpft war. Dabei wurde der Körper intensiv beobachtet und mit Einflussnahme auf seine Zusammensetzung versucht, seine Selbstheilung zu unterstützen.

Ja, sein Ferdinand wusste das alles. Er war auf dem Weg eines Studiosus, das machte den Vater stolz und glücklich.

Sein gut verdientes Geld über die Nebeneinkünfte in die Privatausbildung des Ältesten seiner Söhne zu stecken, hatte sich langsam ausgezahlt. Ihm war bewusst, dass aufgrund seiner menschenfreundlichen Grundhaltung und seiner Lebenseinstellung der Sohn niemals so weit kommen würde, seine legitime Nachfolge anzutreten. Das machte ihn einerseits betroffen, andererseits beruhigte es ihn, dass gerade der brutale, nicht geachtete, ja sogar geächtete Teil seines Berufes, dem Sohn wohl für immer erspart bleiben würde. Dem Henker war klar, dass sein Sohn zu viel Mitleid mit den Verurteilten hatte, als dass er jemals das Schwert des Scharfrichters in seinen Händen halten würde. Ja, dieser Beruf taugte nichts für den sensiblen, lebensbejahenden Ferdinand.

Die Knechte räumten laut polternd den Kerkerraum und ließen den Henker in seinen Gedankengängen hochschrecken.

»Los, verschwindet endlich und lasst mich allein, ich muss meine Arbeit tun.«

Er rückte sich den Holzschemel zurecht, setzte sich ächzend darauf und ließ seinen fachmännischen Blick über den Leichnam gleiten.

Was für ein ausgesprochen schönes Männerexemplar habe ich da erwischt, dachte er bei sich. Ein Mann in den hohen Dreißigern von schlankem Wuchs und muskulärem Körperbau. Eine Schande, dass er so früh gehen musste, schüttelte er nachdenklich den Kopf.

Plötzlich schlich eine schmale Gestalt in den Kerkerraum.

»Ferdinand, da bist du ja endlich, hab dich schon erwartet«, rief der Henker erfreut aus.

Er blickte in die scharfen, interessierten Augen, seines Sohnes, eines gutaussehenden jungen Mannes. Er war wie sein Vater im Vergleich zu der Größe seiner Zeitgenossen etwas länger geraten und hatte einen muskulösen Oberkörper. Die blonden Haare hatte er hinten zu einem Zopf geflochten, wie dieses zurzeit eben modisch war. Er war als Ältester seiner Söhne, der ganze Stolz seines Vaters. Seine Brust zierte ein feines Lederwams, das ein weißes, aber fein geschnittenes Leinenhemd umhüllte. Er war sehr sportlich, hielt sich mit Reiten und Fechten fit. Darüber hinaus liebte er lange Wanderungen in die landschaftlich so reizvolle Umgebung von Augsburg. Auch an den romantischen Ufern der Donau konnte man ihm oft beim Schwimmen zuschauen. Das war am besten möglich in Dillingen, dort wo er beabsichtigte, sein Studium der Medizin zu vollenden.

Dort hatten sich die späteren Grafen von Dillingen, aus Wittislingen stammend, bereits im 10. Jahrhundert im Donautal niedergelassen. Die Universität hatte einen theologischen Schwerpunkt und war die erste voll ausgeprägte Jesuiten-Universität auf dem Boden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geworden. Sie hatte sehr schnell eine überregionale Bedeutung errungen.

Seit 1574 gab es immer wieder die von Ferdinand so verhassten Hexenverfolgungen in dieser Region. Die Menschen, so glaubte Ferdinand, waren einfach stark verunsichert und deshalb schnell Opfer von Aberglauben.

»Ja, Vater, ich musste noch einiges mit Alexander und Gottlieb besprechen. Sie werden später noch zu uns stoßen«, erklärte er.

Der Vater wusste ja, dass sein Sohn diese Hinrichtungen auf den Tod hasste. Ferdinand verabscheute diese Gier des Volkes nach Belustigung und Grausamkeiten. Er würde so etwas nie, können, sich dort hinstellen und sich auf dem Gerüst des Todes umjubeln lassen. Er liebte eher das Stille, das gezielte Arbeiten am Objekt im Sinne eines fortschreitenden Entwicklungsprozesses bei der Heilkunde. Emotionen schaltete er aus, so gut es ihm gerade gelang.

»Ich nehme es dir nicht übel, wenn du nicht dabei sein willst, Ferdinand. Ich weiß zu schätzen, dass dir das medizinische Wissen wichtiger ist«, bemerkte der Vater nachdenklich.

»Die armen Schweine hier sind immer Opfer ihrer individuellen Lebensschicksale. Ich, für meine Person, träume von einem großen Zentrum für medizinische Ausbildung und Forschung neben der Universität, wo man sich in verschiedenen Gruppen mit Theorien aller Heilarten und Künsten auseinandersetzen könnte. Ich bewundere die großen antiken Entdeckungen im alten Griechenland, wo bereits dank des dortigen offenen Klimas selbst Sektionen an Menschen und Tieren möglich waren. Diese griechische Medizin kam erst spät aber immerhin noch nach Rom, wo trotz der Vorbehalte der ehrwürdigen römischen Oberschicht das medizinische Personal von Sklaven bis zu hochgebildeten Privatärzten meist griechischer Herkunft war. Und wir hier müssen stümperhaft unsere Lektionen an gestrauchelten Menschen lernen.«

»Sei froh«, meinte der Vater, »dass du hier durch mein verbotenes Zutun überhaupt die Möglichkeit bekommst, etwas über den Körper und seine Säfte zu lernen, mein Sohn.«

»Du hast ja recht, Vater«, erwiderte er einsichtig.

Der Vater wusste, dass Ferdinand immer schon sehr ungeduldig gewesen war. Seine aufmerksamen Blicke wanderten mit einem Ausdruck von Dankbarkeit zum Vater herüber.

Mit einem gewaltigen Krachen stolperten die nächsten Gestalten in den stickigen Raum.

Es waren Alexander und Gottlieb, die, wie Ferdinand selbst, ehrgeizig waren, anhand der Leichen ihre medizinischen Kenntnisse zu vertiefen.

Es waren Ferdinands Freunde seit Kindesbeinen an, jetzt darauf erpicht, gemeinsam mit ihm ihr Studium voranzutreiben.

Alexander war der Forschere von beiden, zeigte, was er wollte, war selbstbewusst und wusste schon in seinem jungen Alter, was er vom Leben erwartete. Gottlieb war eher ein ruhiger, besonnener Typ, der erst seine Umgebung zurückhaltend musterte, bevor er entschied, was er tat. Beide waren groß gewachsene stattliche Mannsbilder wie Ferdinand, Alexander mit großen, klaren, blauen Augen, Gottlieb mit tiefsinnigen, braunen, verschmitzten Augen. Alle im Rahmen ihrer Zeit modisch gekleidet, ihre blonden Haare mit einem Zopf zusammengebunden.

Sie hatten sich unmittelbar zum Tisch mit dem Leichnam begeben und nahmen ihre gewohnten Plätze ein.

Alexander hatte sich den Körper, der vor ihnen lag, genaustens angeschaut, ohne auf das Gesicht des Delinquenten zu achten. Es sollte ein reines Studienobjekt für ihn sein. Gottlieb war etwas zurückhaltender. Jeder sah, dass er sich in dieser Umgebung nicht sehr wohl fühlte. Dem Henker, den sie ebenfalls als Kinder schon kennengelernt hatten, begegneten sie mit gebotenem Respekt. Ängste hatten sie schon sehr früh abgelegt. Ferdinand hatte die Brücken geschlagen. Er hatte seinen Vater frühzeitig, seit Beginn ihres Studiums in Dillingen, überzeugen können, dass er mit der Möglichkeit einer Leichenbeschau im Henkerturm für ihr Studium der Medizin einen hilfreichen Beitrag leisten konnte.

Das, obwohl allen bewusst war, dass hier etwas Gesetzwidriges geschah, denn Hand an Leichen zu legen, wenn sie auch getötete Verbrecher waren, bedeutete vor dem Gesetz und in den Augen der Bevölkerung Leichenschändung.

Deshalb war Geheimhaltung oberstes Gebot. Gerade der Scharfrichter, der das in erster Linie zuliebe seines wissbegierigen Sohnes machte, wusste, dass er sich auf ein höchstgefährliches Spiel einließ. Nur die Tatsache, dass es sich bei Alexander und Gottlieb schon um

Kinderfreundschaften handelte, die ihren Weg schon lange gemeinsam gingen, hatte den Henker davon überzeugt, sich darauf einzulassen. Sie alle hatten gemeinsam feierlich einen Schwur abgelegt, niemals darüber zu sprechen und Dritten gegenüber keinesfalls Einzelheiten dieser Sitzungen zu offenbaren.

»Ferdinand«, begann Alexander, der sich über den Leichnam gebeugt hatte, »erinnerst du dich vielleicht an die Temperamentenlehre des römischen Arztes Galenos von Pergamon? Er vertrat immer eine eigene Lehre und baute die Humoralpathologie, die Säftelehre des Hippokrates aus, inzwischen ein grundlegendes Krankheitskonzept.«

»In der Spätantike, besonders in der byzantinischen Zeit«, führte Gottlieb weiter aus, »wurde das bis dahin erworbene Wissen gesammelt und übersetzt. Die Schriftsteller des oströmischen Reiches bis 1453, als Konstantinopel von den Türken erobert wurde, fassten, insbesondere die alten Schriftsteller, ihr Wissen in Enzyklopädien zusammen und ordneten deren Wissen thematisch in Sammelwerken.«

»So, jetzt genug der medizinischen Philosophien«, unterbrach Ferdinand ungeduldig, »wir sollten endlich beginnen. Gottlieb, schneide vorsichtig mit dem Skalpell dort den Bauchraum bis zum Rippenbogen auf und klapp die Enden seitlich weg. Dann können wir die inneren Organe sehen und ihre genaue Lage. Damit gelingt uns ein kleiner Überblick über ihre Funktionsweise.«

Wie gewöhnlich, malte Alexander hochkonzentriert eine Skizze für ihr Berichtsbuch mit Zeitpunkt, Ort und dem Alter des Verstorbenen. Es umfasste zwischenzeitlich schon einige Seiten, da sie sich des Öfteren im Henkerturm zu diesem Zweck bereits eingefunden hatten.

»Ich nehme es dann, wie abgesprochen, sofort an mich«, mahnte Gottlieb eifrig. »Es darf nie, in Gottes Namen niemals in fremde Hände fallen, dann sind wir alle geliefert.«

»Noch bin ich davor«, stellte die entschlossene Stimme des Scharfrichters fest, »an diesem Ort fuscht mir keiner dazwischen.«

Als sie in seine Augen blickten, bemerkten alle, dass es ihm bitterernst damit war.

Der Henker war ein höchst religiöser Mensch, doch anders als bei vielen seiner Mitmenschen, war er frei von Wunder-oder Aberglauben. Er hatte sich von seinem lernbegierigen Sohn überzeugen lassen, dass das, was sie hier und jetzt taten, dem Fortschritt der Heilungskünste diente und nicht frevelhaft war.

Er hatte durch Ferdinand von dem Arzt und Botaniker Pierandrea Mattioli gehört, der einem jungen Mann in seiner Kerkerzelle in Prag höchstpersönlich ein Mittel verabreicht hatte, eine Drachme von Blüten, Blättern und Samen des hochgiftigen Eisenhuts. Ferdinand sah, wie der Vater streng nachdachte und bemerkte lächelnd:

»Bist du wieder in Gedanken bei den Giftmischern?«

»Was war das noch einmal für ein Mittel, was du zuletzt beschrieben hast?«, fragte der Vater drängend. Ferdinand wusste sofort, was er meinte.

Er legte das Skalpell, welches er gerade angesetzt hatte, um die Bauchdecke noch weiter fachgerecht aufzuschneiden, zur Seite und antwortete:

»Ein Mittel aus der Wurzel des blauen Eisenhuts, das er ihm vorher, in Anwesenheit der habsburgisch-kaiserlichen Leibärzte, gereicht hatte und zunächst ohne merkliche Folgen blieb.«

»Und dann?«, fragte der Vater.

»Plötzlich klagte der Mann über Druckgefühle in der Brust und wurde zeitweise sogar ohnmächtig«, beschrieb Ferdinand. »Mattioli gab ihm daraufhin ein vielgepriesenes Gegengift, nach dessen Einnahme ein anderer zum Tode verurteilter Mann bereits zwei Drachmen Arsen überlebt hatte. Es wurde aus verschiedenen Heilpflanzen, wie Engelswurz und Eibisch, hergestellt und nach dem Habsburger Erzherzog Ferdinand Erzherzogpulver genannt. Trotzdem ging es dem jungen Mann schlechter, der Puls war nicht mehr tastbar, auf der Stirn stand ihm der kalte Schweiß, die Haut fühlte sich kalt an, er erbrach sich heftig und starb dann mit bläulich verfärbtem Gesicht.«

Der Vater stellte bewundernd fest:

»Woher du nur all diesen wissenschaftlichen Kram weißt, mein Junge.«

Inzwischen hatte Gottlieb das Skalpell wieder angesetzt, und schnitt mit geschickten Fingern sehr vorsichtig die Bauchdecke weiter auf, genau an der Stelle, wo Ferdinand innegehalten hatte.

Auch Alexander war währenddessen nicht untätig geblieben. Mit feinen Strichen hatte er den Körper des Delinquenten aufgezeichnet und führte nun auf einem Extrablatt genau die Sezier-Schnitte weiter, die Ferdinand und Gottlieb begonnen hatten.

»Später im Januar 1562 soll der gleiche Arzt, Mattioli, einem anderen zum Tode verurteilten Mann ebenfalls blauen Eisenhut gegeben haben«, führte Ferdinand weiter aus. »Als das Gift erste Wirkungen zeigte, wurden ihm sieben Körner von einem Bezoarstein, den der Kaiser ihm eigens überlassen hatte, verabreicht. Bezoarverkrustete Konkremente aus Haaren und anderen Fremdkörpern, die sich meistens im Verdauungstrakt von Tieren befinden, galten verbreitet als ausgezeichnetes Mittel gegen jede Art von Giften. Der Mann klagte über Kälte, Luftnot und erbrach sich mehrfach. Der Puls wurde unregelmäßig und der Mann zeigte plötzlich Lähmungserscheinungen. Schon nach wenigen Stunden ging es ihm wieder besser. Kaiser Ferdinand I. schenkte ihm Geld und die Freiheit.«

Ferdinand schaute sich nach seinen Zuhörern um, sah den Vater, wie er immer wieder nickte, als wäre er dabei gewesen.

»Es gab sie also mannigfach, diese tödlichen Menschenversuche«, sinnierte der Meister, »und man fand sie speziell immer in der Gegenwart von Henkern. Nachdem du mir erklärt hast, Ferdinand, dass es ethisch nicht in Ordnung ist, habe ich von derartigen Experimenten Abstand genommen. Andererseits zeigen mir diese Vorkommnisse, dass Ärzte nicht nur auf empirische Beobachtung setzten, sondern wohl auch regelmäßig Experimente an Menschen durchführen.«

»Erstaunlich empfinde ich«, erklärte Ferdinand, »dass es im eklatanten Widerspruch zu den christlichen zehn Geboten und zum Tötungsverbot des hippokratischen Eides steht.«

»Ganz meiner Meinung«, bestätigte der Henker.

Gottlieb und Alexander waren während der Ausführungen nicht untätig geblieben. Sie hatten zwischenzeitlich die Bauchdecke ganz geöffnet, und Gottlieb hatte begonnen, unter tätiger Mithilfe von Alexander, die Organe, wie Magen und Leber, freizulegen. Das hatte sie nicht gehindert, den Ausführungen der beiden anderen Beteiligten hochkonzentriert zuzuhören.

»Ein Arzt, wie Mattioli«, ergänzte Ferdinand, »erwähnte diese Experimente in seinem vielgelesenen Dioskurides-Kommentar ausdrücklich, ohne sich in irgendeiner Form dafür zu entschuldigen. Er war immerhin Leibarzt der katholischen Habsburger in Prag.«

Ferdinand schüttelte den Kopf und zog die Stirne kraus.

»Tatsächlich war dieser Arzt weder der Erste noch der Einzige, der damals gezielt tödliche Gifte verabreichte, um deren Wirkungen und Gegenmittel zu erforschen. Mattioli hatte, bereits in jungen Jahren, einen solchen Versuch in Rom höchstpersönlich miterlebt. Nach seiner Niederschrift war es sogar Papst Clemens VII. in Person, der 1524 die giftneutralisierenden Wirkungen eines hochgepriesenen Öls prüfen ließ, welches Mattiolis damaliger Lehrer, der Bologneser Chirurg Gregorio Caravita, bereitet hatte.«

Ferdinand unterbrach seinen Vortrag kurz, um sich seinerseits nunmehr über die von seinen Kollegen freigelegten Organe zu beugen. Er griff nun selbst wieder zum Skalpell und öffnete fachmännisch den Magen, um ihn in zwei Hälften geöffnet zur Inspektion zu stellen.

Als Alexander und Gottlieb begannen, den Magen näher zu untersuchen, fuhr Ferdinand, durch die Anregung seines Vaters, mit dem alten, berührenden Thema fort:

»Zwei zum Tode verurteilte Verbrecher erhielten jeweils blauen Eisenhut, der mit Marzipan oder ähnlichen Zutaten vermischt worden war. Der eine wurde in den folgenden drei Tagen mit dem besagten Öl eingerieben und überlebte. Der andere dagegen, der kein Öl erhalten hatte, um, wie es hieß, die Kraft des Eisenhutsgifts zu prüfen, starb qualvoll.«

»So medizinisch interessant diese Versuche auch gewesen sein mögen«, räusperte sich nun Gottlieb, »ich verabscheue dergleichen heftig.«

Ferdinand hatte in ihrem verschworenen Kreis auch mit Alexander und Gottlieb schon oft über diese tödlichen Menschenversuche diskutiert, aber sie waren allseits übereingekommen, solches in ihrem Medizinerleben niemals zu versuchen. Allgemein hatten sie zu viel Achtung vor der menschlichen Kreatur, und ihre religiöse Auffassung verbot ihnen dieses darüber hinaus grundsätzlich. Aber selbstverständlich gab es für sie keinerlei Hindernisse, sich mit den damaligen, bekannt gewordenen Versuchen zu beschäftigen und bestimmte, heilungstechnische Schlüsse daraus zu ziehen.

Der Henker kratzte sich nachdenklich am Ohrläppchen und erklärte:

»Ich habe bereits in früheren Jahren meines Berufslebens auch derartige Experimente begleitet, die zuvor jedoch immer von oberster Stelle abgesegnet worden waren. Ich erinnere mich auch daran, dass die Folter zur Geständniserzwingung als Teil des Gerichtsverfahrens gar nicht so weit davon entfernt war, auch wenn diese elende Arbeit in meinem Fall vorwiegend den Henkersknechten überlassen blieb. Ich führte lediglich die notwendige Aufsicht. Mir war schon lange klar, dass die meisten nur gestanden, um der Folter zu entgehen, doch ich habe die Gesetze dazu nicht gemacht. Es gibt die seltsamsten Methoden, herauszufinden, ob jemand schuldig war oder nicht.«

»Bitte, zählt sie auf«, bemerkte Alexander interessiert. Sie hatten zwischenzeitlich ihre Sezierversuche eingestellt und widmeten sich nunmehr ganz den Ausführungen des Scharfrichters.

»Man legte beispielweise dem Angeklagten ein geweihtes Stück Brot in den Mund. Wenn er dieses zu schlucken vermochte, war er unschuldig.

Manchmal musste der Angeklagte seine Hände in kochend heißes Wasser legen, wenn er sich dabei nicht verbrannte, war er ebenfalls unschuldig.

Auch das Aufhängen war eine bekannte Methode, wobei oft noch Gewichte an die Füße gehängt wurden, wodurch noch größere Schmerzen entstanden. Diese Art der Folter wurde eingesetzt, um die Öffentlichkeit abzuschrecken.«

»Was war denn mit der Eisernen Jungfrau, Scharfrichter?«, fragte Alexander ungeduldig.

»Die eiserne Jungfrau war oft in Gebrauch. Es war eine hölzerne Figur, in die ein Mensch hineinpasste. Im Inneren waren Stacheln angebracht«, berichtete der Henker nachdenklich.

»Gab es denn auch mal harmlosere, nicht so blutige Sachen?«, fragte nun Gottlieb, neugierig geworden.

»Das Kitzeln war eher eine harmlose Methode« erklärte der Henker weiter.

»Die Verurteilten wurden auf ein Brett gelegt und festgebunden. Dann wurde mit einer Feder so lange gekitzelt, bis sie gestanden. Oft wurden die Fußsohlen mit Salz bestrichen und man ließ eine Ziege daran lecken.«