Die rosarote Hutschachtel - Paul Rainer Zernikow - E-Book

Die rosarote Hutschachtel E-Book

Paul Rainer Zernikow

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Beschreibung

Jesse McCoy wächst als uneheliches Kind bei einer Amme auf. Mit siebzehn nimmt ihn sein Vater Clay mit auf einen der ersten Siedlertrecks nach Oregon, gen Westen. Staub, Schmutz, Rinderseuchen und eine erbarmungslose Hungerkatastrophe in den Schneemassen der Rocky Mountains werden für Jesse und Clay zu unerbittlichen Lebensprüfungen. Schicksalhafte Begegnungen mit Siedlern, Ureinwohnern und Revolvermännern bestimmen sein weiteres Dasein im unaufhaltsam wachsenden Amerika. Eines Tages verliebt sich Jesse in die Ureinwohnerin Adsila und muss um sein junges Glück kämpfen. Währenddessen gerät Clay in einen erbarmungslosen Krieg zwischen Rinderbaronen und konkurrierenden Eisenbahngesellschaften. Können Jesse und Clay trotz aller Widrigkeiten in der rauen Welt des Wilden Westens ihr Glück finden und sich behaupten? Eine Familiengeschichte der ganz anderen Art aus der Besiedlungsphase eines brodelnden Amerikas des 19. Jahrhunderts.

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Paul-Rainer Zernikow

Die rosaroteHutschachtel

Ein Historienroman

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-947706-47-1 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Silvia Hildebrandt (Reutlingen)Korrektorat: Jana Oltersdorff (Dietzenbach)Umschlaggestaltung: Renee Rott (Eitzweiler) Konvertierung: Sabine Abels (Hamburg)

Vorwort

Während meiner Kindheit gab es als ultimatives Erlebnis fast nur den Western in seiner Urform. Von diesen Hollywoodproduktionen inspiriert von den »Glorreichen Sieben« bis zu »Für eine Handvoll Dollar« mit Clint Eastwood, sowie den Italo-Western mit Terence Hill, Guiliano Gemma und Lee van Cleef wollte ich daher diesen Roman dem Western-Genre widmen. Es ist aber dann doch kein echter Western geworden, eher eine außergewöhnliche Familiengeschichte, die ihre Mitglieder teilhaben lässt an allen Großereignissen des 19. Jahrhunderts, die die USA zu dem gemacht haben, was sie heute sind.

Dabei kommt es mir wie immer darauf an, so nah wie möglich an historischen Ereignissen entlangzuschreiben. Obwohl, nach den aktuellen Western von Quentin Tarantino und dem vor kurzem erschienenen mit Tom Hanks und Helena Zengel, muss man zu der wohl unumstößlichen These gelangen, dass das Genre des Westerns einfach nicht totzukriegen ist. Western machen jedoch nur Spaß für den, der ihn überlebt. Es sind unter anderem eben auch die Waffen, die gerade für Männer dieses Thema so reizvoll machen. Hollywood hat im Laufe seiner Filmgeschichte im Hinblick auf »Western« viele historische Fehler eingebaut, immer nur darauf bedacht, viele Eckpunkte für spannende Unterhaltung zu schaffen. Näheres dazu im Nachwort.

Es gibt aber auch erwähnenswerte Versuche, es besser zu machen. Das gelingt Steven Spielberg 2005 beindruckend mit der Serie »Into the West«. Ein gelungener Versuch mit alten Fehlern der Filmindustrie abzurechnen und die Eroberung des Westens so historisch echt wie möglich zu veranschaulichen.

In diesem Roman sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen nicht gewollt und nicht möglich. Ich bedanke mich für die unendliche Geduld bei meiner Ehefrau Bernadette. Für die umfassenden Tipps bei Frau Ulrike Bender, meinen Kindern Tatjana und Nikolai Zernikow.

Ein ganz besonderer Dank gilt meiner Lektorin Frau Silvia Hildebrandt, die wieder mit viel Herzblut an die Sache herangegangen ist. Nicht zu vergessen Jana Oltersdorff und Renee Rott, die hervorragende Arbeit geleistet haben.

Unverzichtbar waren ebenfalls die Ratschläge von Frau Ulrike Woysch und Herrn Dr. Justus Senska, meinem Jagdfreund und Waffenliebhaber.

Hinweis

Waffentechnisch besonders interessierte Leserinnen und Leser können an den mit* gekennzeichneten Stellen im Text mit entsprechender Fußnote auf Technische Ausführungen zurückgreifen, die im Anhang (Für Waffenliebhaber und Gunmen) näher beschrieben werden.

Kapitel I

1829

Behutsam legten zwei Frauenhände drei abgebrochene Dollarteile am Lederband in Pergamentumschläge. Verarbeitet mit Vogelfedern unterschiedlichster Art erschienen sie wie feinste Schmuckstücke indianischer Handwerkskunst. Sie ließen sie in einer großen rosaroten Hutschachtel verschwinden. Jedes Stück verschlossen mit einem langen, zärtlichen Kuss.

Hier sollten die Kostbarkeiten, hoffentlich für eine sehr lange Zeit, verborgen bleiben, bis die auf den Umschlägen benannten Personen sie im richtigen Augenblick entgegennehmen würden.

Eine Frau betrachtete sich dabei nachdenklich im Spiegel und beobachtete, wie Tränen unaufhaltsam und drängend die stark aufgetragene Schminke auffraßen.

Ihre zahlreichen Liebhaber verehrten sie bis zur Selbstaufgabe und waren bereit, einen Teil ihres Vermögens für ihre Hingabe für sie auszugeben.

Ihre Liebesdienste waren berühmt berüchtigt und hatten sie bereits als blutjunge Frau zu einem erheblichen Vermögen kommen lassen.

Sie hatte sich mit Fleiß und Tatkraft einen kleinen Bordellbetrieb mit vielen Liebesdienerinnen aufgebaut, der über die Grenzen hinaus im ganzen Osten bekannt war.

Sie träumte von einem imposanten, luxuriösen Saloon, der mit einer Bar aus Edelholz mit barocken Ornamenten verziert war. Dahinter würde sich ein riesiger Kristallspiegel mit bunten abgefüllten Getränkeflaschen befinden. Genauso eine Bar, die allgemein ehrfürchtig als Altar bezeichnet wurde.

Hier würde Whiskey oder Bier getrunken, und zwar von der Brauerei Budweiser.

Doch in einsamen Stunden, wenn die bunten Ablenkungen nachließen, dachte sie daran, wie schön es wäre, eine Familie zu gründen, mit Kindern und sie aufwachsen zu sehen. Doch Jessica fühlte sich einer solchen Verantwortung noch nicht gewachsen, ja vielleicht würde sie dieses Stadium in ihrem Leben auch nie erreichen.

Was würde nur aus ihren Kindern werden, die sie mit ihren verschiedenen Liebhabern hatte. Nach langen Nächten der Verzweiflung war sie endgültig entschlossen gewesen, sie unter ihre Liebhaber zu verteilen. Würde ihr Plan aufgehen? War das verantwortungslos oder gar selbstsüchtig? Die Fragen, die ihr immer wieder den Schlaf raubten, vermochte sie nicht zu beantworten. Würden sie ihr Leben meistern oder waren sie samt den Vätern zum Scheitern verurteilt?

Sie wischte sich ihre Tränen aus dem Gesicht und gesellte sich, nachdem sie ihren Schminkkoffer schnell geschlossen hatte, zu den anderen Damen ihres kleinen Betriebes.

Kapitel II

1830

Es war schon dunkel, als die Silhouette eines Reiters auf der matschigen, zerfurchten Straße eines dreckigen Handelspostens kurz sichtbar wurde. Er trug ein Bündel auf dem Rücken, sicher festgeschnallt. Bis dato war das hier der Treffpunkt von Händlern, Abenteurern, Jägern und Fallenstellern.

Das dumpfe Hufgetrappel entfernte sich schnell und wurde gleich wieder vom heftigen Präriewind verschluckt.

Gegen Morgen erreichte der unbekannte Reiter ein einsames Haus an einem anderen, noch kleineren Handelsstützpunkt.

Er stieg mit dem Bündel auf seinem Rücken vorsichtig vom Pferd und strebte eilig der Haustür entgegen.

Er war erfreut, als eine Frau mittleren Alters ihm aufsperrte und behutsam das Bündel entgegennahm, das er ihr etwas ungelenk entgegenhielt.

Ein leichtes Wimmern war vernehmbar.

Ganz vorsichtig legte die Frau das Bündel auf einen altersschwachen Holztisch und öffnete die Leinentücher, die nach und nach den Blick auf ein Baby freigaben.

Ein mildes Lächeln zeichnete sich auf dem Gesicht der Amme ab, als sie in die großen Augen blickte und dabei ein lustiges Glucksen bemerkte, was sie wohl als Willkommengruß wertete.

»Hier ist der Kleine, gnädiges Fräulein, wie abgesprochen«, sprach eine knorrige, rauchige Stimme mit einem angedeuteten Nicken.

»Das übrigens sind einige Dollarscheine, die für ein paar Monate für die Pflege und Unterbringung reichen dürften.«

Der Mann entnahm sie der Innentasche seines weiten Wetterumhangs und legte sie auf den blank gescheuerten Küchentisch.

»Ich werde einmal im Monat nach ihm sehen«, und Sie sagen mir bitte, wenn Sie etwas benötigen.«

Er schluckte.

»Ich bin immer für ihn da, solange er mich braucht«, flüsterte der hagere Mann fast sentimental, um gleich noch hinzuzufügen: »Ich hoffe, ich kann mich auf Sie verlassen. Ihm soll es an nichts fehlen, verstanden?«

Wie Sie sehen, habe ich auf diesen Notizzettel eine Adresse geschrieben, unter der Sie mich im Notfall erreichen, aber bitte nur im Notfall. Ich werde unaufgefordert hereinschauen. Sie können sich darauf verlassen. Es wird sich zwischen uns schon einspielen.«

Er übergab mit einer hastigen Bewegung ein verschmutztes Stück Papier und wandte sich ab.

Dann grunzte er so etwas wie einen Abschiedsgruß und hob sich nach ein paar Schritten in den Sattel seines Rappen.

Er streifte die Spitzen des Regenumhangs über seine Oberschenkel, und seine Hände glitten über das kalte Eisen seines Steinschlossgewehres.*

So etwas galt im Amerika dieser Tage als unverzichtbar, und jeder trug so eine Waffe wie ein gewöhnliches Werkzeug mit sich.

Er rückte sich den breitkrempigen Hut tief ins Gesicht und galoppierte in die Weiten der sich am Rande des Handelspostens öffnenden Prärie hinaus.

»Ich wünsche ihm alles Glück dieser Erde, meinem Kleinen, er soll es mal besser haben als sein Vater«, murmelte er gedankenverloren.

Er war sich schlagartig bewusst, dass er nunmehr als Vater die alleinige, schwere Verantwortung für sein uneheliches Menschenkind trug, abgesehen von der Hilfe, die er von der Amme erwarten durfte.

Bald war er eins geworden mit den Schatten und Winden der rauen Natur dieser trostlosen Gegend.

Kapitel III

1839

So vergingen die Tage einer unbeschwerten Kindheit. Der Kleine war bereits zehn, als er mit den zahlreichen Kindern gleichen Alters vor einer Bretterbude herumtollte.

Die Holzbretterbude, die sich Schule nannte, war stets Treffpunkt einer wilden Horde wissbegieriger Jungen.

»Wer von euch hat schon mal auf einen Hasen geschossen?«

Jesse, so hieß der Kleine, war sehr wach und aufmerksam.

»Von uns bisher noch keiner«, kam es vielstimmig aus der Kinderschar zurück.

»Das werde ich aber bald, hat mir mein Daddy versprochen«, rief der Kleine stolz aus und machte die Geste eines eifrigen Schützen nach.

»Glauben wir nicht, glauben wir nicht, du hast ja gar kein Gewehr«, versuchten die anderen ihn zu necken.

»Mein Daddy aber, das ist so groß.« Der Kleine reckte sich, bis er den Halt verlor und nach vornüberkippte. Jetzt war die Bande nicht mehr zu halten. Sie feixten und lachten, bis der kleine Jesse Tränen in seinen Augen hatte.

Das hatte die kinderfreundliche Amme sofort gesehen, die die Gruppe schon länger beobachtet hatte. Sie war stets pünktlich, um Jesse und ihre zahlreichen eigenen Kinder ähnlichen Alters zum Essen nach Hause zu holen. Jetzt trat sie auf Jesse zu und umarmte ihn fest mit tröstenden Worten.

»Lass dich von denen nicht ärgern, Jesse, die wissen doch gar nicht, wovon sie sprechen. Sie haben keinen Vater, der sie mit auf die Jagd nimmt. Du bist ihnen doch meilenweit voraus.«

Dann wandte sie sich den anderen Kindern zu.

»Und ihr da, zerreißt euch nicht weiter die Münder, ihr seid doch nur neidisch, weil Jesse so einen lieben Daddy hat, der ihn mitnimmt. Kommt jetzt mit nach Hause, ihr habt bestimmt Hunger.«

Damit sammelte sie vier weitere Kinder ein, und sie marschierten im Gänsemarsch in ihr bescheidenes Heim dort in dem kleinen wachsenden Nest im mittleren Westen, in dem Kinder wie Jesse das Beste aus ihrer Langeweile und Abenteuerlust machen durften.

»Dein Vater kommt morgen, Jesse, wie jeden Monat. Es ist schrecklich, wie rasend schnell die Zeit vergeht. Du bist inzwischen ein eifriger Schüler und ein sehr athletischer Junge geworden. Ich denke noch an die Zeiten, als ihr Lausebengel jeden Tag eine andere Scheibe eingeworfen habt, nur um euch in dieser öden Wildnis die Zeit zu vertreiben.«

Jesse nickte freundlich, er hatte sich inzwischen an die Besuche seines Vaters gewöhnt und freute sich mit zunehmendem Alter immer mehr darauf. Er hatte bemerkt, dass sich sein Vater immer mehr Zeit nahm und sich intensiv um ihn kümmerte, in der Hoffnung, wie er immer zu sagen pflegte, dass er sein Leben gut meistern würde.

Er fühlte sich glücklich, dass er bei seiner Mum leben durfte in der freundlichen Umgebung eines sicheren Heims, inmitten einer Schar von Kindern als ein besonderer und wichtiger Teil einer intakten Großfamilie.

»Ich hoffe«, meinte Jesse, »dass er mich morgen wieder auf einen Jagdausflug mitnimmt, um mir den Umgang mit der Waffe beizubringen. Er sagt immer, das sei ein unverzichtbares Hilfsmittel, um in der rauen Natur dieser Gegend zu überleben, Mum.«

Er wusste, sie liebte es, wenn er Mum zu ihr sagte wie ihre anderen, eigenen Kinder. Das schien sie wohl als ein Zeichen seiner Liebe und Verehrung für sie zu verstehen.

Jesse meinte es genauso, wie er es sagte, er liebte diese Frau, die so selbstverständlich freudig und klaglos die Mutterrolle für ihn übernommen hatte.

So vergingen die Monate mit Lernen aus Schulbüchern, mit gemeinsamen Ausflügen mit dem Vater und mit dem Blödsinn, den Jesse so mit seinen Altersgenossen anstellte.

Morgen sollte es mal wieder so weit sein. Der Vater hatte sein Kommen angekündigt, und Jesse stand schon ausgehfertig mit Hut und Jacke am Eingangstor des kleinen Hausanwesens am Rande der zwischenzeitlich entstandenen Dorfgemeinschaft.

Jesse freute sich auf die Geschichten und Ausführungen seines Vaters, der, so oft sich die Gelegenheit bot, Lebensgrundsätze, wissenswerte Informationen und Fertigkeiten weitergab, die für seine Lebenserfahrung und Bildung notwendig waren. Die Grundregeln eines guten Benehmens gehörten selbstverständlich dazu.

Auch das Reiten gehörte dazu. Jesse hatte vom Vater gelernt, dass es bei diesen großen Distanzen im Land das einzige Mittel war, um sich fortzubewegen.

Er war richtig stolz, dass sich sein Vater die Zeit dafür nahm, ihm eine fundierte Ausbildung in Reiten, Jagen und Schießen zukommen zulassen, die das Überleben in einer solchen Umgebung sichern konnte.

Dann war es so weit. Am Horizont erschien die Silhouette eines Reiters, der ein weiteres Pferd an der Longe führte.

»Hallo, Vater«, rief Jesse begeistert, als ihm sein Dad den Steigbügel hielt, um ihm ein schnelleres Aufsteigen zu ermöglichen.

»Mein Sohn, schön, dich zu sehen. Heute geht’s endlich zur Hasenjagd. Ich hoffe für dich, dass wir Jagdglück haben, Jesse.«

Nach einer Stunde intensiven Reitens deutete sein Vater ihm an, vom Pferd zu steigen.

Sie waren in diesem romantischen Tal gelandet, wo die Bäume sehr dicht standen und ein Bach sich entlangschlängelte. Jesse kannte diese Gegend inzwischen wie seine Westentasche.

»Wir schleichen uns durch die Baumreihen und beobachten das Unterholz sehr genau. Vielleicht haben wir ja etwas Jagdglück heute.«

Jesse wusste vom Vater, dass man Respekt vor jedem Tier haben sollte, sei es noch so klein. Es bot immerhin die wertvolle Gelegenheit für ein intensives, gesundes Mahl.

Vater hatte ihm eingebläut, nur zu schießen, wenn er ausreichend Schussfeld für einen sicheren Schuss hatte und das Tier nicht zu weit entfernt war. Vater hasste es, wenn sich die Kreatur nach dem Schuss noch bewegte. Zielsicherheit war das A und O.

»Du weißt, Jesse«, mahnte der Vater, »schieß nur, wenn du dich zu hundert Prozent sicher fühlst und das Tier nicht leiden muss.«

Jesse nickte gewissenhaft, obwohl er es schon tausendmal gehört hatte.

»Was ist das für eine Waffe, die du mir heute überlassen hast, Vater?«

»Die Waffen haben sich weiterentwickelt, Jesse, insbesondere die Gewehre sind einigermaßen zielsicher. Diese Waffe hat Geschichte geschrieben. Tausende von Pionieren haben sie geführt.« Er hielt inne und flüsterte: »Sie wurde von deutschstämmigen Büchsenmachern als Pennsylvania-Rifle aus einer deutschen Pirschbüchse, einem Jagdgewehr, weiterentwickelt. Sie erhielt einen längeren Lauf, und der Schlossmechanismus wurde nach und nach vereinfacht. Sie wird sehr häufig in den Jagdgebieten von Kentucky verwendet und daher auch als Kentucky-Rifle bezeichnet.«

Jesse nickte und tat zumindest so, als hätte er alles verstanden.

Nachdem sie schweigsam immer weiter in den Wald gelaufen waren, traten sie einen Hasen los.

Jesse zögerte nicht lange, gab ihm einen gewissen Vorsprung und schoss. Der Hase überschlug sich und blieb regungslos liegen.

»Gut, Jesse, das war ein Lehrbeispiel für einen gut angesetzten Schuss. Ich bin begeistert und gratuliere. Dein erstes Stück Wild.«

Noch vor Ort nahmen sie ihn aus und suchten ein freies Plätzchen, an dem sie gefahrlos ein Feuer abbrennen konnten. Es dauerte nicht lange, und sie aßen die Häppchen des erlegten Hasen an kleinen Holzspießen, die sie sich sorgfältig geschnitzt hatten. Sie lehnten sich entspannt zurück, und dann kam Jesses Lieblingswunsch.

»Vater, erzähl mir die Geschichten von den Mountainmen, den Trappern, die, wie du letztes Mal erwähnt hast, meistens in kleinen Gruppen reisten, oft den Flüssen folgend bis zum Felsengebirge und weiter, um Pelztiere zu jagen.«

»Ja«, begann der Vater: »Das habe ich oft von meinem Vater gehört.«

Er hielt kurz inne, dann begann er: »Die große Bedeutung des Biberfangs war angebrochen, da etwa um 1830 Hüte aus Biberfilz groß in Mode gekommen waren. Bis zu einhunderttausend Biber wurden pro Jahr von Mountainmen erlegt, aber auch von Indianern. Weißt du, Jesse, so nennt man die Ureinwohner dieses Landes, die schon weit vorher hier lebten, lange bevor überhaupt weiße Menschen wie wir hier siedelten.«

»Das kann doch nicht wahr sein«, bemerkte Jesse zornig, »dass eine Mode-Richtung über den Tod einer ganzen Tiergattung bestimmt. Tausende von Bibern einfach abgeschlachtet!«

»Da gebe ich dir recht, Jesse, ein Wahnsinn.«

Er fuhr jedoch fort: »Das große Rendezvous ist legendär, bei dem sich seit dem Jahre 1823 einmal im Jahr tausende Indianer und weiße Pelzjäger treffen, um die Beute der vergangenen Saison bei den angereisten Händlern in Gewehre, Blei, Pulver, Alkoholika und Ähnliches umzutauschen.«

Jesse hatte sich beruhigt, schaute zum Vater herüber.

»Komm, Vater, bitte erzähl weiter.«

»Die ersten Mountain-Men waren übrigens Franzosen, die Voyageurs. Sie waren die ersten Pelzjäger, Waldläufer und Pelzhändler im Norden Amerikas. Sie drangen bis zu den großen Seen vor, gründeten Niederlassungen und missionierten. Sie unterhielten enge Kontakte zu den Eingeborenen und heirateten oft indianische Frauen. Deshalb kamen sie mit den Indianern meistens gut zurecht, Jesse.«

»Warum gerade die, hatten sie einen besonderen Hang zu den Indianern, Vater?«

»Das vermag ich dir nicht zu beantworten, Jesse. Die neuen Handelsgüter, die sie mitbrachten, wie stählerne Messer, Beile, Kochkessel, Gewebe, Farben, Feuerwaffen, Munition und Alkohol, machten sie leider immer abhängiger.«

Der Vater stand auf und legte ein weiteres Holzscheit ins Feuer.

»Die Besiedlung des Westens hat zunehmend die Natur verändert. Ausgebrochene Pferde hatten bereits zu Zeiten des Unabhängigkeitskrieges dazu geführt, dass es wieder Herden von wilden Mustangs gab, die begonnen haben, ganz Nordamerika zu besiedeln.«

»Das finde ich ausgesprochen gut«, rief Jesse begeistert aus. Jesse ahnte, es war für den Vater kein Geheimnis geblieben, dass er sich für jedes Pferd interessierte, ganz egal welcher Rasse und Schattierung.

»Doch das bedeutendste Tier, Jesse, ist der Bison in den Grasländern der Great Plains, die durch diese intensive Beweidung und Düngung durch Kot und Urin erst ihre Fruchtbarkeit erlangten. Davon hängen Millionen von anderen Pflanzenfressern ab wie Hirsche, Elche, Gabelböcke und Bighornschafe, aber auch die Fleischfresser wie Wölfe, Kojoten und Füchse, um nur einige zu nennen. Auch für die Prärieindianer ist der Bison als Nahrungs- und Bezugsquelle unerlässlich.«

Jesse schaute in das Gesicht seines Vaters und bemerkte aufrichtig: »Es ist wahrhaftig schön, Vater, dass du mir so viel darüber erzählen kannst.«

Jesse sog diese Geschichten in sich auf. Er konnte nicht genug davon bekommen. Auch sein Sinn stand nach Abwechslung und Abenteuer. Als sein Vater wieder aufbrach, fragte er ungeduldig: »Erzählst du mir beim nächsten Treffen mehr davon?«

Der Vater lächelte zufrieden, nickte, und Jesse spürte, dass ihm viel daran lag, seine Versprechen zu halten. Jesse schien es, dass er dem Vater mit zunehmendem Kontakt immer wichtiger geworden war.

Sie sprangen beide auf, traten das Feuer aus und sammelten ihre Ausrüstungsgegenstände ein. Sie bewegten sich zu den Pferden in der kleinen Koppel, die sie für diese Zwecke eingerichtet hatten.

Vater hatte Jesse schon frühzeitig erklärt, dass er als Geschäftsmann und in der Anfangsphase als Cowboy umfangreiche Erfahrungen in der Vieh- und Weidewirtschaft gesammelt habe. Wo viele Menschen leben, hatte er gemeint, müsse das Vieh hingetrieben werden, teilweise über tausend Meilen und mehr.

Nach diesem ereignisreichen Jagdausflug bemerkte Jesse plötzlich bei sich, dass er drängende Lust auf Ortsveränderung spürte. Er wollte mehr von der Welt sehen, wollte selbst Abenteuer erleben, wie sein Vater, der schon so weit herumgekommen war.

Die neue Herausforderung dieser Tage hieß Oregon.

»Der Oregon Trail«, erzählte der Vater bei einem der nächsten Treffen, »ist eine rund zweitausenddreihundert Meilen lange Route, über die Siedler aus den bevölkerten Teilen im Osten und der Mitte der USA über die Rocky Mountains in den Westen der Vereinigten Staaten ziehen. Die Reise führt meist im Planwagen durch Steppen, Wüsten und Berge, um neue Regionen im Pazifischen Nordwesten zu besiedeln.«

Das gebräunte Gesicht von Jesses Vater, einem harten, hageren Mann von Ende dreißig, nahm sichtbar weiche Züge an, als er seinem Sohn von der Geschichte der Vereinigten Staaten und den neuen, zu erschließenden, Routen im Westen erzählte: »Schau mal, Jesse«, begann er.

»Anfang des Jahrhunderts hatten die Briten und die bis dahin politisch verbündeten Vereinigten Staaten vereinbart, die Gebiete westlich der Rocky Mountains gemeinsam zu besiedeln.

Als wenig später dann die ersten amerikanischen Pioniere eingetroffen waren, vereinbarten die beiden Staaten, beschlossen also im Oregon-Kompromiss, das Gebiet entlang des 49. Breitengrades unter sich aufzuteilen. Damit hat nun die Besiedlung der südlichen US-amerikanischen Hälfte erst richtig Fahrt aufgenommen.«

Jesse schaute zum Vater herüber.

»Dieser politische Kram ist schwer zu verstehen, doch ich versuche es, ich arbeite jeden Tag in der Schule daran.«

Jesse war fasziniert von den Schilderungen seines Vaters, weil mit jeder Bewegung, ja in seiner ganzen Mimik dessen Leidenschaft zu spüren war.

»Erzähl weiter, Vater«, sagte er oft, »ich möchte das alles wissen, jeden Winkel dieses Landes kennenlernen.«

Der Vater strahlte über das ganze Gesicht, da er umfängliche Geschäfte witterte und neue Abenteuer auf ihn warteten. Mit hochrotem Kopf begeisterte er sich weiter: »Die neue Route ins gelobte Land und Ausgangspunkt einer sehr beschwerlichen Reise ist Independence oder Kansas City in Missouri. Die Reise endet in Oregon City. Schon unterwegs lassen sich viele Siedler nieder und beginnen, das Land einzufrieden und zu kultivieren.«

»Woher kommen denn die vielen Siedler?«, fragte Jesse interessiert.

»Die meisten stammen aus dem alten Europa. Briten, Franzosen, Italiener und Deutsche sind dabei«, antwortete der Vater.

»Meistens sehr gottesfürchtige Menschen.«

Jesse liebte es, wenn sein Vater bei seinen Erzählungen ins Schwärmen geriet.

Er bemerkte sehr wohl an den Reaktionen seines Vaters, wenn der den Eindruck hatte, ihn zu überfordern. Doch an seinen ständigen Fragen erkannte der Vater scheinbar auch, welche Interessengebiete ihm nahe lagen und ob er gewillt war, seinen umfassenden Ausführungen zu folgen.

Jesse hatte in der Schule aufgepasst, sodass auch er schon in der Lage war, einige geschichtliche Eckpunkte dieses wachsenden Amerikas zu beschreiben.

»Die Pioniere sollen sich an Flüssen orientiert haben, Vater, und an sogenannten Landmarken, auffällige, meist sichtbare topografische Objekte in der Natur. In Nebraska folgten sie dem Platte River nach Wyoming. Nach Überquerung der Great Plains zieht man weiter über den South Pass in die Rocky Mountains und folgt danach dem Snake River und dem Columbia River. Das muss wahnsinnig aufregend gewesen sein.«

Sein Vater nickte und fuhr fort: »Dort geht es entweder mit einem Floß nach Fort Vancouver oder über eine steile Strecke, die Barlow Road, zum Willamette Valley.«

Jesse schaute stolz seinen Vater an, ob der Dinge, die er gelernt und sich besonders eingeprägt hatte.

»Etwa fünf Monate muss man für so eine entbehrungsreiche Unternehmung einplanen, meint der Mountainman Miller, ein berühmter Treckführer und sehr guter Freund von mir«, sagte der Vater lachend, dem seine Begeisterung bei jedem Wort anzumerken war.

»Werden wir diesen Miller denn irgendwann treffen?«, unterbrach ihn Jesse wissbegierig.

»Ja, Jesse, habe noch etwas Geduld, ich werde ihn dir bald vorstellen«, antwortete der Vater mit beruhigender Stimme.

»Entlang der Trail-Route haben sich Handelsposten teilweise zu befestigten Anlagen, den Forts, ausgebildet. Ich habe einige davon bereits kennengelernt, beispielsweise Fort Laramie. Fort Bridger, Fort Hall oder Fort Boise sind die bekanntesten an der Oregon-Strecke. Manche davon wurden sogar als Militärposten eingerichtet.«

»Es ist erstaunlich, was sich jeden Tag an dieser Strecke Neues tut, Vater.«

»Miller erzählte, sie böten nicht nur Schutz, sondern auch die Chance, sich mit Proviant und Ersatzteilen zu versorgen. Er hat es schon selbst erlebt, dass verzweifelte Siedler oft in den Armeeposten kostenlos das Nötigste erhalten hätten. Die US-Regierung hat jeder Siedlerfamilie, die nach Oregon zieht, mindestens zweihundertsechsundfünfzig Hektar kostenloses Farmland angeboten. Auch das hat eine wahre Auswanderungsflut ausgelöst.«

»Das klingt nach sehr viel«, warf Jesse ein.

Er schaute seinen Vater ungläubig an, konnte aber nicht verhehlen, dass auch er steigendes Interesse an diesem Abenteuer verspürte.

»Jesse, mein Sohn«, sprudelte es weiter aus dem Vater heraus, »du bist jetzt siebzehn Jahre alt und hast die Reife, mich auf der geplanten Geschäftsreise zu begleiten. Du bist körperlich robust und verstehst, mit deinen Kräften schon gut umzugehen. Ich glaube, du kannst mir eine große Hilfe sein.«

»Das hoffe ich doch sehr, Vater, ich freue mich jetzt darauf.«

Jesse spürte, wie sein Vater seine heiß gewordenen Wangen tätschelte, sicherlich aufgrund seines erkennbaren wachsenden Interesses.

»Im Westen«, sprach sein Vater aufgeregt weiter, »suchen viele das gelobte Land. Reichtümer und Glück werden jedem verheißen, der bereit ist, sich dem großen Abenteuer der Eroberung des Westens zu stellen.«

»Es scheint eine sehr große Herausforderung für die Menschen zu sein«, stellte Jesse nachdenklich fest. Der Vater erklärte: »Schon zwei Jahrzehnte nach der berühmten Expedition von Lewis und Clark, der ersten Überlandexpedition der Vereinigten Staaten zur Pazifikküste, fahren Dampfschiffe auf den Flüssen Mississippi und Missouri. Die Regierung im Osten, weit entfernt von den sich ständig verschiebenden Grenzen, hat völlig den Überblick verloren und lässt Händler, Bauern, Pelzjäger, Prospektoren, Abenteurer und Finanzhaie einfach gewähren, die dort machen, was sie wollen. Amerika ist ein freies Land und der Westen im Moment fast ohne staatliche Verwaltung und damit einfach gefährlich.«

»Ohne jegliche Ordnung?« fragte Jesse verunsichert.

»Ja, mein Sohn, und wir beiden werden bald ein Teil dieser neuen, unbeschreiblichen Besiedlungsgeschichte sein.«

Jesse blickte dem Vater in die Augen und erwiderte voller Enthusiasmus: »Vater, ich denke auch, dass das eine ganz spannende Geschichte wird.«

Kapitel IV

1846

Jesse bemerkte eines Tages, dass der Vater überraschend vor dem Gartentor am Haus der Amme stand.

Auch die Amme, seine Mum, die unruhig geworden zur Eingangspforte gelaufen war, hatte es gesehen.

Der Vater schaute sie lange an, beobachtete Jesse unruhig hinter dem Fenster. Er hielt es nicht mehr aus und lief nach draußen, hörte, wie der Vater sprach: »Hallo, meine Liebste, ich möchte meinen Sohn abholen. Er ist nun fast erwachsen. Ich bin richtig stolz auf den jungen Burschen und beglückwünsche mich selbst dafür, dass ich mir viel Zeit für seine Bildung genommen habe und dass sich die Auswahl der Amme als echter Glücksgriff erwies. Danke für Ihre unendlichen Mühen, ich glaube, es hat sich gelohnt.«

Gerührt blickte die Amme mit tränenverschmierten Augen auf den Vater und schluchzte herzzerreißend.

»Ich habe es geahnt. Irgendwann musste es ja so kommen. Er ist ein echtes, wichtiges Familienmitglied geworden, auf das ich schwerlich verzichten kann. Es tut mir in der Seele weh, wenn ich daran denke, dass er bald nicht mehr bei uns lebt. Aber Sie haben recht, das Leben muss weitergehen.«

Spontan drehte sich die Amme zu Jesse um, drückte und herzte ihn.

»Ich wünsche dir alles Glück der Erde, mein Junge, bleib gesund und melde dich bitte, sobald du Gelegenheit hast. Jetzt mach dich auf den Weg, hol deine Sachen und komm zurück zu deinem Vater.«

Als Jesse mit seinen Sachen zurück war, hörte er, wie sein Vater, ebenfalls sichtlich gerührt, sich verabschiedete: »Danke für alles, meine Liebe, Sie haben das Beste für meinen Sohn getan. Er ist behütet und glücklich groß geworden. Es ist unverkennbar. Er ist ein brauchbarer junger Mann geworden, und ich freue mich darauf, ihm die neue Welt zu zeigen. Leben Sie wohl, wir werden uns bestimmt irgendwann bei Ihnen melden und von unserem neuen Leben berichten.«

Er nahm ergriffen seinen breitkrempigen Hut ab und umarmte die Amme ein letztes Mal voller Dankbarkeit.

Jesse trat mit seinen gepackten Sachen, einem kleinen Ledertäschchen, heraus vor das Gartentor und wollte zu dem unbekannten, neuen Pferd gehen, um unwiderruflich aufzusteigen, das letzte Mal an diesem Gartentörchen, das als Kind für ihn die Welt bedeutet hatte.

Jesse versuchte, tapfer zu sein, und unterdrückte seine Abschiedstränen, soweit das eben ging.

Fast verschämt drehte er sich noch einmal zu seiner Mum, trat einige Schritte auf sie zu, drückte sie herzlich und sagte kurz: »Danke für alles, Mum. Ich habe dich gern.«

Doch er bemerkte bei sich selbst plötzlich die Lust auf das Unbekannte, auf Abenteuer, ein unbeschreiblicher Drang, der bereits deutlich von ihm Besitz ergriffen hatte.

Sein Vater machte ihm ein Geschenk, einen getupften Schimmel, ein kräftiges Indianerpferd, ein Appaloosa, eine Rasse, die ursprünglich vom spanischen Pferd abstammte und nach Nordamerika importiert worden war.

Jesse nahm es dankbar entgegen, setzte sich mit Schwung in den Sattel und winkte noch einmal stolz seiner Mum zu, bevor er seinem Vater schweigsam folgte, der auf seinem Pferd voranritt.

Jesse wusste, sein Vater war ein absoluter Waffennarr, falls finanziell erschwinglich, musste er die beste Ausführung haben, die auf dem Markt angeboten wurde. Er pflegte immer zu sagen, das sei seine Lebensversicherung.*

»Jesse, mein Junge, ich freu mich, dich endlich dabei zu haben«, zeigte der Vater seine fast ausgelassene Stimmung, »die anderen Cowboys warten am Treffpunkt mit der Herde Rinder, die zu den Siedlern gebracht werden müssen. Es ist ein verdammt langer Weg nach Oregon, ich habe es dir ja erzählt.«

»Ja«, meinte Jesse, »das scheint ein wirkliches Abenteuer zu werden.«

Jesse spürte die wachsende Spannung in sich und ahnte, dass sein Vater es an der Röte in seinem Gesicht bemerkt haben musste.

Der Staub wirbelte in feinen gelblichen Fähnchen hoch, als die beiden aus dem Ort ritten, der so lange Jesses Heimat gewesen war.

Kapitel V

Die anderen Cowboys jubelten, als Jesse mit seinem Vater, ihrem Boss, sich zu ihnen gesellte.

Jesses Vater, den seine Freunde auch Clay riefen, mit vollem Namen Clay McCoy, wurde von ihnen geachtet und respektiert.

Jesse wurde jedem vorgestellt und erhielt aufmunternde Worte und Klapse auf den Rücken.

Eine raue Männergesellschaft, die wenig Emotionen zeigte und meistens mit sich und der harten Arbeit beschäftigt war.

Jesse bemerkte dankbar, dass der Vater sich genötigt sah, einige Worte zur Arbeit zu sagen, die seinen Sohn erwarten würde.

Da den Jungs wohl lange Reden nicht geläufig waren, sagte der Boss: »Entschuldigt bitte, wenn ich diesmal zum Empfang meines Sohnes einige Worte mehr zu unserem Auftrag ausführe: »Unsere Arbeit besteht darin, riesige Rinderherden über eine große Distanz durch oft karges Land zu führen. Wir müssen nicht nur rund um die Uhr auf die Herde achten, sowohl Diebstahl als auch die Flucht der Tiere verhindern. Wir müssen in erster Linie dafür sorgen, dass die Rinder in gutem Ernährungszustand zum Zielpunkt gelangen. Das bedeutet, ein ausgewogenes Verhältnis zu schaffen zwischen dem Auftrag, möglichst schnell das Ziel zu erreichen, und den Tieren gleichzeitig nicht zu viel abzuverlangen, also ein gemächlicheres Tempo vorzulegen als möglich gewesen wäre, damit den Rindern auf dem Weg genug Zeit zum Grasen bleibt. Das heißt, für unseren speziellen Fall, dass die Herde, die aus sicherlich an die dreitausend Tieren bestehen wird, sich täglich nur um etwa 35 Meilen vorwärtsbewegen darf. Das schließt gleichzeitig ein, dass bei einer Entfernung von über zweitausend Meilen mehrere Monate eingeplant werden müssen.«

Jesse war beeindruckt von den Ausführungen seines Vaters und hörte weiter gebannt zu.

»In den ersten Tagen werden wir wie immer bestrebt sein, 25 bis 30 Meilen zurückzulegen, weil die Rinder noch nervös sind und sich aneinander gewöhnen müssen. Die wechselnde Umgebung bringt zusätzlich Unruhe hinein. Wir sollten sie bis abends ermüden. Ich bitte euch, in dieser Anfangsphase noch Schreien, Schießen oder Galoppieren zu vermeiden. Dann reduzieren wir alsbald auf fünfzehn bis sechszehn Meilen, wenn sich die Herde beruhigt hat, spätestens wenn wir im Treck laufen, um den Gewichtsverlust der einzelnen Rinder möglichst gering zu halten.«

Er hielt kurz inne und wischte sich über die feucht gewordene Stirn.

»So langes Reden bin ich verdammt nicht gewohnt, Jungs«, brummte er.

»Die Herde soll wie üblich von den Jungs in einem gewissen Abstand ständig umkreist werden, damit es gegen Abend immer enger wird, um die Tiere zu zwingen, sich niederzulegen. Vergesst dabei nicht, eure Lieder zu singen, um sie zu beruhigen. Denkt auch stets daran, dass ich der Trailboss bin. Fragt mich, wenn es Probleme gibt. Oberstes Gebot ist wie immer, eine Panik zu vermeiden. Hoss, Larry, Ben, Willy, John, Garry und Roger reiten mit mir und meinem Sohn an den Flanken, um die Tiere zusammenzuhalten. An der Spitze der Herde reiten als Point Riders Harry, Jim, Felix, Wim und Alex. Das sind die Erfahrensten, die dafür sorgen, dass der Weg eingehalten wird. Am Ende der Herde unsere Drag-Riders James, Freddy, Moritz, Winni, Lütfi und Paul. Das ist der dreckigste und undankbarste Job, Jesse, weil sie da den meisten von der Herde aufgewirbelten Staub schlucken müssen.«

Jesse nickte betroffen.

»Und denkt immer an die Tiere, die nicht mehr weiterwollen, Leute. Unser Chuckwaggon«, er grinste Jesse an, »Küchenwagen, wird wie immer von unserem Charly begleitet. Ein Koch der Extraklasse und ein Kerl wie ein Baum, legt euch nicht mit ihm an. Noch etwas, Chuck, Joshua und Simon machen uns die Wrangler, die sich um die Pferde kümmern müssen. Jedem werden zwei bis sieben Pferde zur Verfügung stehen und eines davon speziell für die Nacht. Achtet wie immer schön auf die Brandzeichen, wenn sich die Siedlertiere dazwischen mischen, und denkt an eventuelle Ohrmarkierungen. Näheres über die Route erkläre ich euch, wenn wir am Treffpunkt angelangt sind und wissen, wie groß die Herde dann mit den Tieren der Siedler zusammen tatsächlich ist. Wir müssen dann die Anzahl der Cowboys und auch die Anzahl der Arbeitstiere mit ständigem Wechsel noch einmal genauer einteilen. Ich danke euch, Jungs, und wünsche uns gemeinsames Glück für die große Herausforderung Oregon.«

Nach kurzem Gemurmel zog sich die Männerclique zurück und ließ Jesse und ihren Boss allein auf der Weide zurück.

Der Vater suchte mit Jesse zielgerichtet den Weg zu einem der Planwagen, in dem die Ausrüstung gestapelt war.

Jesse schien, dass sein Vater seine gespannten Blicke mit einer Mischung aus Stolz und Freude beobachtete.

Der Planwagen rappelte und wackelte, als der Vater sich an den vielen Gegenständen im Inneren zu schaffen machte.

Endlich zog er ein Lederbündel heraus und warf es Jesse zu Füßen.

Mit erkennbarer Begeisterung rief er: »Hier, Jesse, deine Arbeitskleidung.«

Er schlug die Enden des Lederbündels zurück und zog zuerst die Chaps heraus, spezielle Beinkleider aus Leder ohne Gesäß, die die Beine beim Reiten vor den Dornenbüschen schützen sollten. Sein Vater erläuterte: »Die gibt es auch aus Ziegenhaar für den Wintereinsatz, mit dem Nachteil, dass sie sich mit Wasser vollsaugen, schwer werden und anfangen zu stinken. Und hier das Wichtigste, Jesse, deine Waffen.«

Sein Vater freute sich wie ein Kind, als er auf einen Revolver und ein Messer deutete.

»Und nun das Prunkstück, mein Sohn, ein Colt-Paterson, eine Pocket-Paterson, mit fünfschüssiger Trommel, ein Gürtelrevolver.«

Clay grinste über das gesamte Gesicht.

Die Waffenliebe hatte sich längst vom Vater auf den Sohn übertragen, sodass Jesse sichtbar und zur Erbauung des Vaters außer sich vor Freude war.

»Vater«, rief er aus, »das ist ja mal ein hervorragender Auftakt. Mit diesen Waffen scheint mein Abenteuer einen guten Anfang zu nehmen.«

»Über das Messer brauche ich kaum Worte zu verlieren«, erläuterte Clay, »ein schweres Arbeits- und Kampfmesser, absolut unverzichtbar im täglichen Einsatz.

Das Jagdgewehr, Jesse, die alte Kentucky-Rifle, kennst du ja von unseren gemeinsamen Ausflügen.«

»Danke Vater«, rief Jesse ausgelassen und begann, voller Stolz die Gegenstände einzusammeln.

»Ich hoffe, Vater, wir brauchen die so schnell noch nicht, um unser Leben zu verteidigen«, murmelte er vor sich hin.

»Bevor ich es vergesse, Jesse, im Wagen hängen noch Lassos für dich. Such dir einfach eines aus. Mein Cowboy James zum Beispiel ist ein hervorragender Lasso-Werfer.«

»Ich werde mich bemühen, Vater, es so schnell wie möglich zu erlernen«, bemerkte Jesse, »kann ja nicht so schwer sein.«

»Wenn du dich da nicht gewaltig täuschst, mein Sohn. Wenn du mit deinen Sachen fertig bist, Jesse, komm rüber zu den anderen, wir müssen die Tour besprechen.«

Sein Vater drehte sich heftig um, sodass seine Sporen an den Stiefeln ein klingendes Geräusch abgaben. Jesse blickte aufmerksam hoch und schaute seinen Vater fragend an.

»Das sind sowohl Reithilfen als auch Schmuckstücke. Aber pass auf! Damit kannst du ein Pferd bestrafen, misshandeln oder auch quälen, mein Sohn«, richtete sich der Vater noch einmal an Jesse.

»Es ist ein Hilfsmittel beim Reiten, wenn es vorsichtig und zur richtigen Zeit eingesetzt wird, Jesse. Ein Cowboy reitet eher ohne Hosen als ohne Sporen. Aber merke dir bitte eines, es bedeutet einen erheblichen Gesichtsverlust, wenn dein Pferd an den Flanken sichtbare Spuren des Sporns aufweist.«

Der Vater griff an seinen handgemachten Lederstiefel, der ihn drei Monatslöhne gekostet hatte, und zog zur Erklärung für Jesse einen der Sporen ab.

»Die Räder gibt es bis zu einem Durchmesser von sechzehn Zentimetern, aber man sollte es nicht übertreiben.«

»Das meine ich aber auch, Vater. Es ist fürchterlich, so riesige Dinger an den Füßen zu tragen.«

»Und hier, Jesse, die Jingle Bells, die beim Reiten oder Gehen hell klingeln, eine wunderbare Spinnerei, mein Junge. Das sind kleine Perlen, glockenartige Metallornamente an der Spornradachse. Es gibt sie versilbert, vergoldet, handgraviert oder mit erhabenen Metalleinlagen, mit Glocken, Perlen und geschnitztem Spornleder, gerade so gefertigt, wie es die Eitelkeit ihrer Träger verlangt. Ein Vergnügen für Frauen, ein Verderben für Pferde.«

Jesse schien beeindruckt.

»Die musst du dir erst noch verdienen, Jesse!«

Damit drehte er sich lachend endgültig um und begab sich schnellstens auf den Weg zu seinen wartenden Cowboys.

Im Moment war er sehr zufrieden mit sich und seiner Welt. Jesse hatte den Eindruck, dass er dem Vater Freude machte, da er sich so zu entwickeln schien, wie er sich als Vater das immer gewünscht hatte. Ein besonnener junger Mann, direkt auf dem Wege zum Erwachsenwerden.

Einer, der sich begeistern konnte und sich trotzdem seine eigene Meinung von den Dingen bildete, die so neu und umfangreich auf ihn einstürmten. Jesse lächelte still, als er sich aus dem Sattel schwang.

Die Männer lehnten schon an einem weiteren Planwagen, der als Küchenwagen diente und für die Verpflegung der Mannschaft unerlässlich war. Er war mit einem Segeltuch überspannt und randvoll mit Proviant bepackt. Alles, was man für einen solch langen Trail benötigte, war dort verstaut worden, von Geräten bis zu Lebensmitteln.

»Auf der Rückseite«, erklärte Charly gewichtig, als Jesse näher herangetreten war, »ist die Chuckbox, eine Kiste, etwa vierzig Zoll breit und sechzig Zoll hoch. Darin befinden sich in mehreren Fächern unterteilt, Lebensmittel und Kochgeschirr. Im Lager«, erklärte er weiter, »kann eine Klappe am Heck des Wagens geöffnet werden, die von zwei Holzbeinen gestützt wird und meine Zubereitungsfläche für die Mahlzeiten bildet. Nur das Beste vom Besten, mein Junge. Und denk dran, ich bin nach dem Trailboss der wichtigste Mann. Neben Schlachten und Kochen muss ich Holz sammeln, nähen und reparieren. Manchmal aber auch Haare schneiden, und du glaubst es nicht, Jesse, Zähne ausreißen.«

Er lachte über sein ganzes runzliges Gesicht und zeigte dabei seine, von Kautabak gezeichneten, dunklen Stummelzähne.

Jesse staunte nicht schlecht, was er alles noch lernen musste.

Als der Vater vom Küchenwagencheck zurück war, trat er noch mal zu Jesse.

»Die Reise ist üblicherweise von April bis Oktober geplant«, erklärte er, »doch die ersten Siedler mit ihren Großfamilien können es meist nicht abwarten, bis die große Reise beginnt. Sie haben sich meist schon frühzeitig auf den Ebenen der Prärie verteilt und treffen ihre individuellen Vorbereitungen.«

Dort, wo die Wartezonen waren, hatte Clay McCoy mit seinen Cowboys die Aufgabe übernommen, etwa dreitausend Rinder hinzutreiben, die unter anderem für die Nahrung der Siedler benötigt wurden. Ein Teil sollte den Siedlern auch als Anfangskapital in der neuen Heimat dienen.

Jetzt ging der Vater noch einmal zu den Jungs am Küchenwagen und besprach die Route, auf der das Viehtreiben erfolgen musste. Er breitete eine große, zerknitterte, handbemalte Landkarte aus und erklärte den Herumstehenden bestimmte außergewöhnliche Schwierigkeiten der Strecke.

»Insbesondere müssen wir das Gelände in die Planungen mit einbeziehen, da jeder Fluss ein Hindernis darstellen kann.«

In den weiten Ebenen waren die Cowboys gewohnt, sich durch Zeichen abzusprechen, damit die Herde zusammenblieb und keine einzelnen Rinder verloren gingen. Auch sollte äußerste Ruhe beim Treiben bewahrt werden, damit das Vieh nicht nervös wurde, dachte Jesse angestrengt nach. Es war unzweifelhaft ein langer und äußerst gefährlicher Weg, der aus den besiedelten Teilen im Osten und der Mitte der USA über die Rocky Mountains in den Westen führte, durch Steppen, Wüsten und Berge, um neue Gebiete im pazifischen Nordwesten zu besiedeln.

Der Oregon Trail wurde meistens von Ost nach West bereist. Der Weg in umgekehrter Richtung war Jesses Vater berichtet worden, war weitaus riskanter, da nur in kleinen Gruppen gereist werden konnte, bei denen manch übler Geselle Vermögenswerte vermutete. Der Entdeckungsdrang des Menschen war nicht zu zügeln, taugliches Land zum Siedeln wurde überall vermutet.

Seit der Expedition von Lewis und Clark gab es die ersten Landkarten dieser Route.

Jetzt war es an Clay McCoy, dem Trailboss, überlegte Jesse, mit seinen Cowboys sowie seiner bescheidenen Hilfe alles noch einmal zu kontrollieren, um den Viehtrieb zu den Siedlern zu einem guten Ende zu bringen. Das war erst Teil eins des Plans. Dann sollte es weitergehen mit Teil zwei, auf den großen Trail nach Oregon, wo sie den Auftrag hatten, sich um die Herde zu kümmern, und zwar durchgehend bis zum Zielort.

Als Jesse grübelnd zu seinem Mustang schritt, traf er noch einmal auf seinen Vater. Er schien mittendrin in seinem Element.

»Die unterschiedlichen Preise im Osten und Westen werden immer mehr die Geschäftstätigkeit von Händlern anregen, mein Sohn. Du wirst sehen, dass man als Viehhändler demnächst neben Rindern auch Schafe, Ochsen und Pferde nach Westen treiben wird. Merke dir, mein Junge, eine Herde gilt als groß, wenn sie aus tausend Rindern besteht. Eine Herde von mehr als dreitausend Stück ist aber unwirtschaftlich, da sie nicht mehr kontrolliert werden kann. Sie ist dann in mehrere kleinere Gruppen aufzuteilen.«

Jesse erkannte das Strahlen in den Augen seines Vaters. Was Rinder angeht, dachte Jesse, ein echter Fachmann.

Das wusste er inzwischen. Immer, wenn er eine neue Geschäftsidee vermutete, wurde die Vorfreude in seinem Gesicht erkennbar.

»Übrigens, Jesse«, richtete sich Clay noch einmal an seinen Sohn, »verschiedene Orte im Osten konkurrieren inzwischen mit Kampagnen, um die führende Stadt für Ausrüstungen und den Reisestart ins gelobte Land. Im Moment liegt die Stadt Independence an der Spitze.«

In der Anfangsphase wurden die Trecks von erfahrenen Mountainmen oder aber auch von guten Missionaren geleitet«, erläuterte der Vater näher.

»Wir haben auch einen guten Mann verdingen können. Es ist George Kenai Miller, ein Halbblut, der lange als Scout bei der Kavallerie tätig war. Ich kenne ihn noch aus meinen frühen Zeiten als Cowboy. Jesse, es wird höchste Zeit aufzubrechen. Den richtigen Zeitpunkt zu treffen, ist nämlich ganz entscheidend. Wir müssen unbedingt vor Wintereinbruch unser Ziel erreicht haben.«

»Der Winter, Vater«, bemerkte Jesse, »ist doch noch so weit weg.«

»Da hast du recht, mein Sohn, doch der Weg ist so unendlich mühsam, dass der Start zwingend jetzt im Frühling stattfinden muss. Die Auswanderer sind schon vor Wochen in den Warteregionen eingetroffen. Sie werden langsam ungeduldig. Wir brauchen mit unserem Vieh bis dorthin überschlägig geschätzt nur zwei Tage. Dann haben wir sie mit der Herde erreicht.«

»Das wird sie sehr beruhigen, dann lass uns bald aufbrechen, Vater«, meinte Jesse unternehmungslustig.

»Ja dann, mein Sohn, wünschen wir uns das nötige Glück, was man bei solch einer immensen Unternehmung nun mal braucht.«

Clay McCoy nickte seinem Sohn aufmunternd zu und drehte sich wieder zu seinen Leuten hin.

Hochkonzentriert rief er ihnen zu: »Aufsitzen, jeder nimmt seine Position ein. Es geht los.«

Die Cowboys umringten wie abgesprochen die grasende Herde und begannen vorsichtig mit Zurufen und Bewegungen ihrer erfahrenen Pferde, Aufmerksamkeit in die friedliche Rindermeute zu bekommen.

Die vier Planwagengespanne fuhren mit ihren Besatzungen behutsam an und hielten gebotenen Abstand zur Herde. Sie wussten, es war eine ganz sensible Angelegenheit.

Jesse hielt sich in der Anfangsphase noch in der Nähe seines Vaters auf, da er erst einmal lernen musste, mit dieser neuen Aufgabe in dieser fremden Umgebung fertig zu werden.

Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und die Herde nahm die gewollte Richtung, nämlich zu dem Ausgangspunkt der großen Planwagenansammlung.

Die sechsmonatige Reise, erst durch die Weiten der großen Ebenen, über die Rocky Mountains und die küstennahen Gebirgszüge, die Kaskadenkette der Sierra Nevada, blieb ein gewagtes, strapaziöses Abenteuer.

Die Zeit drängte, denn der Weg war weit. Doch wer zu früh aufbrach, fand nicht genug Futter für die Tiere, wer zu spät loskam, drohte im Gebirge im Schnee stecken zu bleiben.

Jesse dachte mit Schaudern an die notwendige Überquerung von Flüssen und Pässen, was mit Fuhrwerken lebensgefährlich war und nur durch gute Teamarbeit bewältigt werden konnte. Dazu kam das Wetter. In diesen Weiten unberechenbar, und mancher Blizzard, ein Schneesturm, hatte Miller berichtet, wäre den Auswanderern zum Verhängnis geworden.

Der Weg einer unaufhaltsamen Neubesiedlung hatte begonnen. Ein frisch erwachter Staat setzte sich in Bewegung. Wer sollte diese Menschen noch bremsen?

Das Ziel nicht vorhersehbar, Sprache, Religion, Staatszugehörigkeiten, all das war völlig egal geworden.

Hier waren alle gleichwertig, hier sollte der freie Mensch entstehen.

Wenn die Herde so ruhig dahin trottete wie jetzt, konnte Jesse sich ganz und gar seinen Gedankengängen widmen.

Doch wehe, es kam an einer Stelle Bewegung auf, dann mussten die Cowboys sofort reagieren und für Ruhe in der Herde sorgen.

Jesse lernte schnell, auch wenn ihm nach den ersten Stunden des Einsatzes sein Hinterteil wie Feuer brannte. Solche körperlichen Strapazen war er noch nicht gewohnt.

Aber er sog den Präriewind auf wie frische Nahrung. Das war Freiheit pur. Das Gefühl von Lust und Abenteuer durchströmte seinen Körper. Er konnte nicht genug davon bekommen.

Sein Blick schweifte über die endlosen Weiten der Prärie, mit ihren langen Gräsern und der bunten Fülle an Sträuchern.

Der Sattel, hatte sein Vater noch angemerkt, sei sein wichtigstes Arbeitsgerät.

Auch wenn ein Cowboy kein Pferd mehr hatte, den Sattel bewahrte er immer, denn er kostete mehrere Monatslöhne.

Das Pferd unter Jesses Arbeitssattel mit dem Lederknauf für den Halt des Lassos, robust und pferdegerecht, zeigte Spaß bei der Arbeit und hatte schnell gelernt, auf Bewegungen seines neuen Reiters und der Rinder zu reagieren.

Bei Einbruch der Dämmerung hatten sie ihr Zwischenziel erreicht. Einige Cowboys begannen, einen Choral mit Leinen zu bilden, ein durch tragbare Zäune abgegrenztes Weidestück, und brachten ruhig und gefühlvoll die Herde langsam zum Stehen.

In den mächtigen gelbbraunen Staubwolken konnte man nur schemenhaft Gestalten erkennen, sodass es umso wichtiger war, sich mit lauten Zurufen zu verständigen.

Als sich die Wolken gelegt hatten, nahmen die Cowboys ihre bunten Halstücher vom Gesicht und richteten mit der Erfahrung langer Arbeitsjahre eine Pferdekoppel ein.

Sie versorgten die Pferde mit Nahrung und Wasser aus ihren verstaubten Hüten und sahen mit freudiger Erregung, wie der schwer beladene Küchenwagen am Horizont erschien.

Jesse grinste breit. Für den ersten Tag hatten sie ihr Arbeitspensum ohne Zwischenfälle geschafft.

Sein Vater gesellte sich an seine Seite und sprach mit Stolz erfülltem Unterton: »Sehr gut, mein Junge, der erste Tag ist gelungen. Du hast dich tapfer geschlagen, du und dein Mustang.«

Jesse blickte auf und freute sich sichtlich, dass sein Vater so lobende Worte für ihn fand.