Der Hund des Todes - Agatha Christie - E-Book

Der Hund des Todes E-Book

Agatha Christie

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
  • Herausgeber: Atlantik
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

 Zwölf unerklärliche Ereignisse, zwölf frappierende Erzählungen  Ob Schmauchspuren in der Form eines riesenhaften Hundes, ein Geisterhaus oder der seltsame Fall eines Mannes, der sich plötzlich wie eine Katze verhält: Zwölf rätselhafte Phänomene ergeben zwölf überraschende Erzählungen. Die berühmteste unter ihnen,  Zeugin der Anklage , wurde von Christie fürs Theater adaptiert und, von Billy Wilder mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle verfilmt, ein Kino-Welterfolg.   

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 375

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Agatha Christie

Der Hund des Todes

Erzählungen

Aus dem Englischen von Marfa Berger, Maria Meinert, Edith Walter und Renate Weigl

Atlantik

Der Hund des Todes

Es war William P. Ryan, ein amerikanischer Zeitungskorrespondent, durch den ich zuerst von der Geschichte erfuhr. Am Tag vor seiner Rückreise nach New York aß ich mit ihm in London zu Abend und erwähnte dabei gesprächsweise, dass ich am nächsten Morgen nach Folbridge fahren wolle.

Er blickte auf und fragte scharf: »Nach Folbridge in Cornwall?«

Nun weiß unter tausend vielleicht gerade einer, dass es überhaupt ein Folbridge in Cornwall gibt. Die allermeisten halten es für selbstverständlich, dass der Ort Folbridge in Hampshire gemeint ist. Daher erweckte Ryans Ortskunde meine Neugier.

»Ja«, erwiderte ich. »Kennen Sie es?«

Er bemerkte lediglich, da hole ihn doch dieser und jener. Dann fragte er, ob ich da unten zufällig ein Haus namens »Trearne« kenne.

Meine Neugier wuchs.

»Allerdings, sehr gut sogar. Genau da fahre ich nämlich hin. ›Trearne‹ gehört meiner Schwester.«

»Na so was«, sagte William P. Ryan. »Wenn das einen nicht glatt vom Stuhl haut!«

Ich ersuchte ihn, sich nicht länger in rätselhaften Andeutungen zu ergehen, sondern zu erklären, was er meine.

»Tja«, sagte er, »um das zu tun, muss ich bis zu einem Erlebnis von mir bei Ausbruch des Krieges zurückgehen.«

Ich seufzte. Die Ereignisse, von denen hier die Rede ist, fanden im Jahr 1921 statt. Kein Mensch wünschte damals, an den Krieg erinnert zu werden. Wir begannen ihn gottlob gerade zu vergessen … Außerdem pflegte William P. Ryan, wie ich wusste, unglaublich weitschweifig zu werden, sobald er auf seine Kriegserlebnisse zu sprechen kam.

Aber er war nicht mehr zu bremsen.

»Bei Ausbruch des Krieges war ich, wie Sie vermutlich wissen, für meine Zeitung in Belgien tätig und kam dort ziemlich viel herum. Nun, es gibt dort ein kleines Dorf – ich will es mal X nennen. Ein richtiges Kuhdorf, aber es gab ein ziemlich großes Kloster am Ort. Nonnen in Weiß – den Namen des Ordens kenne ich nicht. Er tut auch nichts zur Sache. Also, dieses Nest lag genau auf dem Weg des deutschen Vormarschs. Die Ulanen kamen …«

Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl hin und her. William P. Ryan hob beschwichtigend die Hand.

»Keine Angst, es ist keine Geschichte über deutsche Kriegsverbrecher. Es hätte vielleicht eine werden können, aber es ist keine. Eigentlich liegt der Fall hier genau umgekehrt. Die Deutschen marschierten zum Kloster … und als sie hinkamen, flog das ganze Ding in die Luft.«

»Oh!«, bemerkte ich etwas erschrocken.

»Sonderbare Geschichte, nicht? Auf Anhieb würde ich sagen, die Deutschen haben eben gefeiert und dabei ihren eigenen Sprengstoff hochgejagt. Aber anscheinend hatten sie gar keinen dabei. Es war kein Sprengkommando. Also frage ich Sie, was sollte ein Haufen Nonnen von Sprengstoff verstehen? Das wären mir schöne Nonnen, was?«

»Das ist allerdings sonderbar«, stimmte ich zu.

»Es war mir interessant, den Bericht der Bauern über das Ereignis zu hören. Für die lag der Fall sonnenklar. Nach ihrer Meinung war es schlicht ein erstklassiges, hundertprozentig funktionierendes modernes Wunder gewesen. Eine der Nonnen hatte nämlich anscheinend als eine angehende Heilige gegolten – Trancezustände, Visionen und so. Und die hatte nach Auffassung der Bauern die Explosion ausgelöst. Sie habe den Blitz herabgerufen, um die gottlosen Hunnen in die Luft zu sprengen – was er dann auch tat, und alles Übrige im weiteren Umkreis dazu. Ein recht gründliches Wunder, muss ich sagen!

Ich hatte keine Zeit, der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Aber Wunder standen zu der Zeit hoch im Kurs – die Engel von Mons und so weiter. Ich brachte also die Geschichte zu Papier; ich drückte gründlich auf die Tränendrüse, ging mit dem religiösen Kram richtig in die Vollen und schickte das Ganze an meine Zeitung. Es kam in den Staaten sehr gut an. Die lasen zu der Zeit so was gern.

Aber – ich weiß nicht, ob Sie das verstehen – beim Schreiben wurde ich neugierig. Es interessierte mich, was wirklich passiert war. An der Stelle selbst war nichts zu sehen. Da standen bloß noch zwei Mauern, und auf der einen war ein schwarzer Rußfleck, der genau die Form von einem riesigen Wolfshund hatte. Die Bauern in der Gegend fürchteten sich zu Tode vor diesem Fleck. Sie nannten ihn den Hund des Todes und weigerten sich, nach Einbruch der Dunkelheit dort vorbeizugehen.

Abergläubische Ideen sind immer interessant. Es reizte mich, die Dame kennenzulernen, die das Ganze inszeniert haben sollte. Anscheinend war sie nicht ums Leben gekommen, sondern mit einem Häufchen von anderen Flüchtlingen nach England gegangen. Ich nahm mir die Mühe, ihre Spur zu verfolgen, und fand heraus, dass man sie nach Folbridge in Cornwall geschickt und in Haus ›Trearne‹ einquartiert hatte.«

Ich nickte. »Meine Schwester hat bei Kriegsausbruch eine ganze Menge von belgischen Flüchtlingen in ihrem Haus aufgenommen. Ungefähr zwanzig.«

»Ich hatte mir immer vorgenommen, die Frau mal aufzusuchen und mir von ihr selbst erzählen zu lassen, wie das Unglück geschah. Aber vor lauter Arbeit und dem ganzen sonstigen Hin und Her hab ich schließlich nicht mehr dran gedacht. Cornwall liegt ja auch ein bisschen weitab. Inzwischen hatte ich die Geschichte sowieso total vergessen; erst als Sie eben von Folbridge sprachen, ist sie mir wieder eingefallen.«

»Ich muss meine Schwester fragen«, sagte ich. »Vielleicht hat sie etwas davon gehört. Die Belgier sind inzwischen natürlich längst wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.«

»Freilich. Trotzdem, sollte Ihre Schwester tatsächlich etwas von der Sache wissen, würde ich mich freuen, wenn Sie mir Bescheid gäben.«

»Selbstverständlich«, beteuerte ich.

Damit war der Fall erledigt.

 

Es war am zweiten Tag nach meiner Ankunft in »Trearne«, als mir die Geschichte wieder einfiel. Meine Schwester und ich saßen gerade beim Tee auf der Terrasse.

»Kitty«, sagte ich, »hattest du nicht eine Nonne unter deinen Belgiern?«

»Du meinst doch nicht etwa Schwester Marie-Angélique?«

»Möglicherweise«, erwiderte ich vorsichtig. »Erzähl mir was von ihr.«

»Oh, mein Lieber, sie war eine höchst unheimliche Person. Sie lebt übrigens noch hier.«

»Was? Hier im Haus?«

»Nein, nein. Im Dorf. Dr. Rose – du erinnerst dich an Dr. Rose?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Ich erinnere mich an einen alten Herrn von ungefähr dreiundachtzig.«

»Ach, das war Dr. Laird. Der ist tot. Dr. Rose ist erst seit ein paar Jahren hier. Er ist noch ganz jung und sehr aufgeschlossen für neue Ideen. Er hat sich ganz ungeheuer für Schwester Marie-Angélique interessiert. Sie hat Halluzinationen und dergleichen, weißt du, und ist deshalb anscheinend vom medizinischen Standpunkt aus hochinteressant. Die Arme, sie wusste nicht wohin – meiner Meinung nach ist sie einfach nicht richtig im Kopf, aber irgendwie beeindruckend eben, wenn du verstehst, was ich meine … na, wie gesagt, sie wusste nicht wohin, und da hat Dr. Rose sie freundlicherweise im Dorf untergebracht. Ich glaube, er schreibt eine Monographie über sie, oder wie man das bei Ärzten nennt.«

Kitty machte eine Pause und fragte dann plötzlich: »Aber wieso weißt du denn von ihr?«

»Mir ist da eine recht merkwürdige Geschichte zu Ohren gekommen.«

Ich gab die Geschichte so weiter, wie ich sie von Ryan gehört hatte. Kitty hörte interessiert zu.

»Sie sieht aus wie jemand, der einen in die Luft sprengen könnte«, bekräftigte sie am Schluss.

»Mir scheint«, entgegnete ich mit wachsender Neugier, »ich muss diese Frau kennenlernen.«

»Tu’s. Ich möchte gern wissen, was du von ihr hältst. Aber erst musst du Dr. Rose aufsuchen. Warum gehst du nicht gleich nach dem Tee hinunter ins Dorf?«

Ich stimmte ihrem Vorschlag zu.

Dr. Rose war zu Hause, und ich stellte mich vor. Er schien ein angenehmer junger Mann zu sein, doch es lag etwas in seinem Wesen, das mich abstieß, eine Forschheit, die mich nicht sehr sympathisch berührte.

Sobald ich Schwester Marie-Angéliques Namen erwähnte, richtete er sich gespannt auf. Offenbar war er brennend an ihr interessiert. Ich wiederholte ihm Ryans Erzählung.

»Aha!«, sagte er nachdenklich. »Das erklärt allerdings vieles!« Nach einem schnellen Blick auf mich fuhr er fort: »Der Fall ist wirklich hochinteressant. Als die Frau hierherkam, hatte sie offenbar kurz zuvor einen schweren seelischen Schock erlitten. Außerdem befand sie sich in einem hochgradigen geistigen Erregungszustand. Sie neigte zu Halluzinationen von äußerst erschreckender Natur. Ja, sie ist eine höchst ungewöhnliche Persönlichkeit. Vielleicht würden Sie gern mit mir kommen und sie kennenlernen. Sie ist wirklich einen Besuch wert.«

Ich erklärte mich nur zu gern einverstanden.

Wir machten uns zusammen auf den Weg. Unser Ziel war ein winziges Haus am Rande der Ortschaft. Folbridge ist ein höchst malerisches Dorf. Es liegt an der Mündung des Flusses Fol, mit dem Hauptteil am Ostufer, da das Westufer zu steil zum Bauen ist. Dennoch kleben dort ein paar Häuser am Hang, und das Haus des Doktors selbst erhob sich am äußersten westlichen Punkt der Steilklippe. Von dort blickte man direkt hinunter auf die hohen Wellen, die gegen schwarze Felsen brandeten.

Das Häuschen, zu dem uns der Weg nun führte, lag dagegen weiter im Land, außer Sichtweite des Meeres.

»Die Gemeindeschwester wohnt dort«, erklärte Dr. Rose. »Ich habe für Schwester Marie-Angélique bei ihr ein Zimmer besorgt. Es kann nicht schaden, wenn sie eine ausgebildete Pflegerin in der Nähe hat.«

»Wirkt sie in ihrer Art ganz normal?«, fragte ich neugierig.

»Das werden Sie gleich selbst beurteilen können«, antwortete er lächelnd.

Die Gemeindeschwester, eine füllige, freundliche kleine Frau, schwang sich gerade auf ihr Fahrrad, als wir ankamen.

»Guten Abend, Schwester, was macht Ihre Patientin?«, rief der Arzt.

»Ungefähr das Gleiche wie immer, Doktor. Sitzt mit gefalteten Händen da und ist in Gedanken irgendwo weit weg. Oft antwortet sie nicht einmal, wenn ich sie anspreche, obwohl man natürlich bedenken muss, dass sie selbst heute noch sehr wenig Englisch versteht.«

Rose nickte, und während die Gemeindeschwester davonradelte, ging er auf die Haustür zu, klopfte energisch und trat ein.

Schwester Marie-Angélique ruhte auf einer Chaiselongue neben dem Fenster. Sie wandte uns das Gesicht zu, als wir das Zimmer betraten.

Sie hatte ein seltsames Gesicht – bleich, fast durchsichtig, mit riesigen Augen, in denen eine unendliche Tragik zu liegen schien.

»Guten Abend, Schwester«, sagte der Arzt auf Französisch.

»Guten Abend, Monsieur le docteur.«

»Gestatten Sie, dass ich Ihnen einen Freund vorstelle – Mr Anstruther.«

Ich verbeugte mich, und sie neigte leise lächelnd den Kopf.

»Und wie geht es Ihnen heute?«, erkundigte sich der Arzt, während er neben ihr Platz nahm.

»So ziemlich wie immer.« Sie verstummte kurz. »Alles erscheint mir so unwirklich. Sind es Tage, die vergehen, oder Monate – oder Jahre? Ich merke es kaum. Nur meine Träume sind Wirklichkeit für mich.«

»Dann träumen Sie also immer noch so viel?«

»Immerzu – immerzu – und, verstehen Sie, die Träume erscheinen mir wirklicher als das Leben.«

»Sie träumen von Ihrem Heimatland – von Belgien?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich träume von einem Land, das es nie gegeben hat – niemals. Aber das wissen Sie doch, Monsieur, das habe ich Ihnen schon oft erzählt.« Sie hielt inne und fragte dann unvermittelt: »Doch vielleicht ist dieser Herr auch Arzt – vielleicht ein Arzt für Geisteskrankheiten?«

»Aber nein«, antwortete Rose beruhigend. Als er lächelte, fiel mir auf, wie ungewöhnlich spitz seine Eckzähne waren. Ich fand plötzlich, dass der Mann etwas Wolfsähnliches an sich hatte.

»Ich dachte bloß, es würde Sie vielleicht interessieren, Mr Anstruther kennenzulernen«, fuhr Rose fort. »Er kann Ihnen von Belgien erzählen. Er hat unlängst Nachricht von Ihrem Kloster bekommen.«

Ihre Augen hefteten sich auf mich. Eine schwache Röte stieg in ihre Wangen.

»Es ist eigentlich nichts Besonderes«, sagte ich hastig. »Ich aß bloß neulich mit einem Freund zu Abend, und dieser hat mir bei der Gelegenheit von der Ruine des Klosters erzählt.«

»Es liegt also in Trümmern!«

Ein leiser Ausruf, der eigentlich mehr ihr selber galt als uns. Dann fragte sie zögernd: »Sagen Sie, Monsieur, hat Ihr Freund Ihnen erzählt, wie – auf welche Weise das Kloster zerstört wurde?«

»Es flog in die Luft«, erwiderte ich und setzte hinzu: »Die Bauern fürchten sich, nachts dort vorbeizugehen.«

»Warum fürchten sie sich?«

»Wegen eines schwarzen Flecks an einer Wand der Ruine. Sie haben eine abergläubische Angst davor.«

Sie beugte sich vor. »Sagen Sie mir, Monsieur – rasch, rasch –, sagen Sie mir: Wie sieht der Fleck aus?«

»Er hat die Form eines riesigen Wolfshunds«, antwortete ich. »Die Bauern nennen ihn den Hund des Todes.«

»Ah!« Ein schriller Schrei entrang sich ihrem Mund.

»Dann ist es also wahr – es ist wahr. All das, an was ich mich erinnere, ist wahr. Es ist kein Albtraum. Es ist geschehen! Es ist wirklich geschehen!«

»Was ist geschehen, Schwester?«, fragte der Arzt sanft. Sie wandte sich voll Eifer ihm zu.

»Ich erinnerte mich. Dort auf den Stufen erinnerte ich mich. Ich wusste wieder, auf welche Weise es zu geschehen hatte. Ich gebrauchte die Kraft, wie wir sie damals gebrauchten. Ich stand auf den Stufen des Altars und gebot ihnen, keinen Schritt weiter zu tun. Ich bat sie, in Frieden fortzugehen. Sie wollten nicht hören, sie kamen näher, obwohl ich sie warnte. Und da …« Sie beugte sich vor und machte eine merkwürdige Handbewegung. »Und da ließ ich den Hund des Todes auf sie los …«

Am ganzen Leib zitternd sank sie auf ihre Chaiselongue zurück und schloss die Augen.

Der Arzt sprang auf, holte ein Glas aus dem Schrank, füllte es halb mit Wasser, fügte ein paar Tropfen aus einem Fläschchen hinzu, das er seiner Rocktasche entnahm, und brachte ihr das Glas.

»Trinken Sie«, befahl er.

Sie gehorchte – völlig mechanisch, wie es den Anschein hatte. Ihre Augen starrten in die Ferne, als erblickten sie eine nur ihr sichtbare Vision.

»Dann ist alles wahr«, murmelte sie. »Alles. Die Stadt der Kreise, das Volk des Kristalls – alles. Es ist alles wahr.«

»Es scheint so«, sagte Rose.

Seine Stimme klang leise und beruhigend, offenbar mit dem Zweck, Schwester Marie-Angélique zu ermutigen und ihren Gedankenflug nicht zu stören.

»Erzählen Sie mir von der Stadt«, sagte er. »Die Stadt der Kreise, so nannten Sie sie wohl?«

Sie antwortete mechanisch.

»Ja – es gab drei Kreise. Der erste Kreis war für die Erwählten, der zweite für die Priesterinnen und der äußere Kreis für die Priester.«

»Und im Mittelpunkt?«

Sie sog scharf den Atem ein, und in ihre Stimme trat ein Ton ehrfürchtiger Anbetung.

»Das Haus des Kristalls …«

Während sie die Wort flüsterte, hob sie die rechte Hand zur Stirn und beschrieb mit dem Finger dort ein Zeichen.

Ihr Körper schien zu erstarren, ihre Augen schlossen sich. Sie schwankte ein wenig – und dann fuhr sie plötzlich in die Höhe, als schrecke sie aus tiefem Schlaf auf.

»Was ist?«, stammelte sie verwirrt. »Was habe ich gesagt?«

»Es ist nichts«, antwortete Rose. »Sie sind müde. Sie brauchen Ruhe. Wir werden jetzt gehen.«

Sie schien mir ein wenig benommen, als wir uns verabschiedeten.

»Nun«, sagte Rose, sobald wir draußen waren, »was halten Sie davon?«

Er warf mir von der Seite her einen scharfen Blick zu.

»Ich nehme an, ihr Geist ist total verwirrt«, erwiderte ich langsam.

»Das war Ihr Eindruck?«

»Nein – eigentlich wirkte sie … nun ja, merkwürdig überzeugend. Als ich ihr zuhörte, hatte ich das Gefühl, dass sie tatsächlich getan hatte, was sie behauptete, nämlich eine Art gigantisches Wunder bewirkt. Sie selbst scheint jedenfalls fest daran zu glauben. Das ist der Grund, warum …«

»Das ist der Grund, warum Sie meinen, sie müsse den Verstand verloren haben. Ganz recht. Aber betrachten wir die Sache einmal von einer anderen Warte aus. Angenommen, sie hat tatsächlich dieses Wunder bewirkt – angenommen, sie – sie hat tatsächlich ganz allein ein Gebäude und mehrere Hundert Menschen vernichtet.«

»Durch bloße Willenskraft?«, wandte ich lächelnd ein. »Ich würde es nicht ganz so ausdrücken. Sie werden zugeben, dass eine einzige Person eine große Menschenmenge vernichten kann, indem sie beispielsweise auf einen Knopf drückt, der ein Minenfeld zur Explosion bringt.«

»Ja, aber das ist ein technischer Vorgang.«

»Stimmt, das ist ein technischer Vorgang, aber dem liegt die Dienstbarmachung und Beherrschung natürlicher Kräfte zugrunde. Ein Gewitter und ein Kraftwerk sind im Grund ein und dasselbe.«

»Ja, aber um das Gewitter zu beherrschen, brauchen wir technische Mittel.«

Rose lächelte. »Ich möchte kurz vom Thema abschweifen. Es gibt eine Substanz namens Wintergrün. In der Natur kommt sie in pflanzlicher Form vor. Sie kann aber auch vom Menschen auf synthetischem und chemischem Weg im Laboratorium hergestellt werden.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich möchte damit sagen, dass es oft zwei Möglichkeiten gibt, zum gleichen Ergebnis zu gelangen. Zugegeben, unsere ist synthetisch. Vielleicht gibt es aber noch eine andere. Die außergewöhnlichen Resultate zum Beispiel, die von indischen Fakiren erzielt werden, lassen sich nicht einfach wegdiskutieren. Dinge, die wir übernatürlich zu nennen pflegen, sind keineswegs unbedingt übernatürlich. Einem Wilden würde eine elektrische Taschenlampe als etwas Übernatürliches erscheinen. Das Übernatürliche ist bloß das Natürliche, dessen Gesetze man nicht versteht.«

»Sie meinen also …«, sagte ich fasziniert.

»Dass ich die Möglichkeit, ein Mensch könnte unter Umständen in der Lage sein, irgendeine ungeheure zerstörerische Kraft anzuzapfen und sie seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen, nicht völlig ausschließen kann. Die Mittel, durch die das bewerkstelligt wird, mögen uns übernatürlich erscheinen – aber sie sind es in Wirklichkeit nicht.«

Ich starrte ihn an.

Er lachte. »Das ist eine theoretische Überlegung, sonst nichts«, meinte er leichthin. »Sagen Sie, ist Ihnen eine Bewegung aufgefallen, die Schwester Marie-Angélique machte, als sie von dem Haus des Kristalls sprach?«

»Sie legte die Hand auf die Stirn.«

»Genau. Und beschrieb dort einen Kreis. Sehr ähnlich wie die Katholiken, wenn sie das Kreuzzeichen machen. Nun werde ich Ihnen etwas sehr Interessantes erzählen, Mr Anstruther. Da das Wort Kristall so oft in den Reden meiner Patientin vorkam, versuchte ich ein Experiment. Ich lieh mir von jemandem eine Kristallkugel und zeigte sie eines Tages unvorbereitet meiner Patientin, um deren Reaktion zu testen.«

»Und?«

»Nun, das Resultat war sehr merkwürdig und aufschlussreich. Ihr ganzer Körper wurde steif, und sie starrte auf den Kristall, als vermöge sie ihren Augen nicht zu trauen. Dann sank sie davor auf die Knie, murmelte ein paar Worte und verlor das Bewusstsein.«

»Wie lauteten die Worte?«

»Sehr eigenartig. Sie sagte: ›Der Kristall! Dann ist der Glaube also noch lebendig!‹«

»Erstaunlich!«

»Aufschlussreich, nicht wahr? Und nun die nächste Merkwürdigkeit. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte, hatte sie alles vergessen. Ich zeigte ihr den Kristall und fragte sie, ob sie wisse, was das sei. Sie antwortete, sie nehme an, es sei eine Kristallkugel, wie Wahrsager sie benutzten. Ich fragte sie, ob sie schon einmal eine solche gesehen habe. Sie antwortete: ›Noch nie, Monsieur le docteur.‹ Dann bemerkte ich einen verwunderten Ausdruck in ihren Augen. ›Was beunruhigt Sie, Schwester?‹, fragte ich. Sie antwortete: ›Es ist seltsam. Ich habe noch nie einen solchen Kristall gesehen, und doch scheint es mir, als sei er mir wohlbekannt. Da ist irgendetwas … Wenn ich mich bloß erinnern könnte!‹ Die Gedächtnisanstrengung war offensichtlich so belastend für sie, dass ich ihr verbot, weiter darüber nachzudenken. Das Ganze ist nun zwei Wochen her. Ich habe absichtlich eine Zeit lang gewartet. Morgen will ich ein weiteres Experiment vornehmen.«

»Mit dem Kristall?«

»Mit dem Kristall. Ich werde sie dazu bringen, hineinzuschauen. Ich denke, das Resultat dürfte recht interessant sein.«

»Was erhoffen Sie sich davon?«, fragte ich neugierig.

Die Frage war ohne Hintersinn, aber sie hatte eine unerwartete Wirkung. Rose erstarrte, das Blut stieg ihm ins Gesicht, und als er mir antwortete, hatte sich sein Tonfall fast unmerklich verändert. Er sprach förmlicher und sachlicher als zuvor.

»Aufschlüsse über gewisse, bisher nur unvollkommen erforschte geistige Störungen. Schwester Marie-Angélique ist ein hochinteressanter Fall.«

War Roses Interesse also doch nur rein professionell, fragte ich mich.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich auch mitkäme?«

Vielleicht bildete ich es mir bloß ein, aber mir schien, als zögere er, bevor er antwortete. Ich hatte das plötzliche Empfinden, dass er mich nicht dabeihaben wollte.

»Gewiss. Ich sehe nichts, was dagegen spräche.« Nach kurzer Pause fügte er hinzu: »Sie werden wohl nicht mehr sehr lange in Trearne bleiben, nehme ich an?«

»Nur noch bis übermorgen.«

Ich hatte den Eindruck, dass meine Antwort ihn befriedigte. Seine Miene erhellte sich, und er begann, mir von einigen seiner jüngsten Experimente mit Meerschweinchen zu erzählen.

 

Ich traf den Doktor am folgenden Nachmittag zur verabredeten Stunde, und wir gingen zusammen zu Schwester Marie-Angélique.

Heute war der Arzt von äußerster Liebenswürdigkeit. Ich nahm an, er war bemüht, den Eindruck, den er am Vortag auf mich gemacht hatte, zu verwischen.

»Sie müssen das, was ich gesagt habe, nicht zu ernst nehmen«, bemerkte er lachend. »Ich möchte nicht, dass Sie mich für einen Dilettanten der okkulten Wissenschaften halten. Das Schlimme bei mir ist, ich habe eine fatale Schwäche für das Aufstellen von Theorien.«

»Wirklich?«

»Ja, und zwar je phantastischer, desto lieber.«

Er lachte, wie man über eine amüsante Schwäche lacht.

Als wir zu dem Haus kamen, hatte die Gemeindeschwester etwas mit Rose zu besprechen, und so blieb ich mit Schwester Marie-Angélique allein.

Ich sah, wie sie mich aufmerksam musterte. Schließlich begann sie zu sprechen.

»Meine gute Pflegerin hier erzählt mir, dass Sie der Bruder der freundlichen Dame von dem großen Haus sind, in dem ich einquartiert wurde, als ich aus Belgien kam.«

»Ja«, entgegnete ich.

»Sie war sehr freundlich zu mir. Sie ist ein guter Mensch.«

Sie schwieg und schien irgendwelchen Gedanken nachzuhängen.

Dann fragte sie plötzlich: »Und Monsieur le docteur, ist er auch ein guter Mensch?«

Ich geriet in leichte Verlegenheit.

»O ja. Ich meine – ich denke schon.«

»Aha!« Sie stockte und sagte dann: »Zu mir ist er ohne Zweifel sehr freundlich gewesen.«

»Davon bin ich überzeugt.«

Sie warf mir einen durchdringenden Blick zu.

»Monsieur – wenn Sie jetzt so mit mir sprechen – halten Sie mich für verrückt?«

»Aber, Schwester, so eine Idee wäre mir niemals …«

Sie fiel mir kopfschüttelnd ins Wort.

»Bin ich verrückt? Ich weiß es nicht. Ich erinnere mich an Dinge … Ich vergesse Dinge …«

Sie seufzte, gerade als Rose ins Zimmer trat.

Er begrüßte sie munter und erklärte ihr, was sie tun sollte.

»Gewisse Menschen besitzen die Gabe, Dinge in einer Kristallkugel zu sehen, wissen Sie. Und ich habe das Gefühl, dass auch Sie diese Gabe besitzen könnten, Schwester.«

Sie schien bestürzt.

«O nein, das kann ich nicht. In die Zukunft blicken zu wollen – das ist Sünde.«

Rose war betroffen. Das war der Standpunkt der Ordensschwester – den hatte er nicht bedacht. Er wich geschickt aus.

»Man soll nicht in die Zukunft schauen, da haben Sie vollkommen recht. Aber in die Vergangenheit zurückzuschauen, das ist etwas anderes.«

»Die Vergangenheit?«

»Ja – es gibt viele seltsame Dinge in der Vergangenheit. Bilder, die bruchstückhaft aus der Erinnerung auftauchen – und wieder verlöschen. Versuchen Sie, nichts in der Kristallkugel zu erblicken, da Ihnen das nicht gestattet ist. Nehmen Sie sie nur in die Hände – so. Blicken Sie hinein – tief hinein. Ja – tiefer – noch tiefer. Sie erinnern sich, nicht wahr? Sie erinnern sich. Sie hören meine Stimme. Sie können meine Fragen beantworten. Können Sie mich nicht hören?«

Schwester Marie-Angélique hatte wie geheißen die Kristallkugel ergriffen und hielt sie nun mit eigentümlicher Ehrfurcht zwischen den Händen. Als sie hineinblickte, wurde ihr Blick starr, ihr Kopf sank herab. Sie schien zu schlafen.

Sanft nahm der Doktor die Kristallkugel aus ihren Händen und legte sie auf den Tisch. Er hob das Augenlid der Frau hoch.

Dann kam er und setzte sich neben mich.

»Wir müssen warten, bis sie aufwacht. Es wird nicht lange dauern, denke ich.«

Er hatte recht. Nach Ablauf von fünf Minuten regte sich Schwester Marie-Angélique.

Sie schlug die Augen auf.

»Wo bin ich?«

»Sie sind hier – zu Hause. Sie haben ein wenig geschlafen. Sie haben geträumt, nicht wahr?«

Sie nickte. »Ja, ich habe geträumt.«

»Sie haben von dem Kristall geträumt?«

»Ja.«

»Erzählen Sie uns davon.«

»Sie werden mich für verrückt halten, Monsieur le docteur. Denn sehen Sie, in meinem Traum war der Kristall ein heiliges Zeichen. Ich sah in meinem Traum sogar einen zweiten Christus, einen Lehrer des Kristalls, der für seinen Glauben starb, dessen Anhänger gejagt und verfolgt wurden. Aber der Glaube blieb bestehen.«

»Der Glaube blieb bestehen?«

»Ja – fünfzehntausend volle Monde lang – ich meine, fünfzehntausend Jahre.«

»Wie lang war ein voller Mond?«

»Dreizehn gewöhnliche Monde. Ja, es war im fünfzehntausendsten vollen Mond – ich war Priesterin vom Fünften Zeichen im Haus des Kristalls. Es war in den ersten Tagen des Sechsten Zeichens …«

Sie runzelte die Brauen, ein Ausdruck von Furcht überschattete ihr Gesicht.

»Zu bald …«, murmelte sie. »Zu bald. Ein Fehler … Ah ja, jetzt erinnere ich mich! Das Sechste Zeichen!«

Sie sprang halb auf die Füße, fiel dann wieder zurück, strich sich mit der Hand über das Gesicht und flüsterte: »Aber was sage ich denn da? Ich rede irre. Dies alles ist ja nie geschehen.«

»Nun regen Sie sich bitte nicht auf.«

Doch sie blickte den Arzt aus ängstlichen, verständnislosen Augen an.

»Monsieur le docteur, ich begreife das nicht. Warum sollte ich solche Träume haben – solche Wahnvorstellungen? Ich war erst sechzehn, als ich in den Orden eintrat. Ich bin nie gereist. Und doch träume ich von Städten, von fremden Völkern, von seltsamen Gebräuchen. Warum?« Sie presste beide Hände gegen den Kopf.«

»Sind Sie jemals hypnotisiert worden, Schwester? Oder in Trance gefallen?«

»Ich bin niemals hypnotisiert worden, Monsieur le docteur. Was das andere anbetrifft, so hat sich während des Gebets in der Kapelle mein Geist oftmals von meinem Körper gelöst, und ich bin viele Stunden lang dagelegen wie tot. Ich sei von Gott gesegnet, sagte die Mutter Oberin, im Stand der Gnade. O ja!«, rief sie plötzlich aus, »ich erinnere mich, auch wir nannten es Stand der Gnade!«

»Ich würde gerne ein Experiment versuchen, Schwester«, sagte Rose ruhig. »Es könnte vielleicht diese quälenden, bruchstückhaften Erinnerungen vertreiben. Ich möchte Sie bitten, noch einmal in den Kristall zu blicken. Ich werde dann ein bestimmtes Wort zu Ihnen sagen, und Sie werden mir mit einem anderen Wort antworten. Wir werden damit fortfahren, bis Sie müde werden. Konzentrieren Sie Ihre Gedanken auf den Kristall, nicht auf die Worte.«

Als ich die Kristallkugel wieder aus ihrer Umhüllung nahm und sie in Schwester Marie-Angéliques schmale Hände legte, fiel mir abermals die ehrfürchtige Art auf, mit der sie sie berührte. Ihre schönen, leuchtenden Augen blickten hinein. Eine kurze Weile herrschte Stille, dann sagte der Doktor: »Hund.«

Sofort antwortete Schwester Marie-Angélique: »Tod.«

 

Ich will das Experiment hier nicht in vollem Umfang wiedergeben. Der Doktor brachte absichtlich viele unwichtige und bedeutungslose Worte ins Spiel. Andere Worte wiederholte er mehrmals, wobei er dieselbe, manchmal aber auch eine unterschiedliche Antwort erhielt.

An jenem Abend sprachen wir in Doktor Roses kleinem Haus auf der Klippe über das Resultat des Experiments.

Rose räusperte sich und zog sein Notizbuch näher zu sich heran.

»Die Ergebnisse, die wir hier vorliegen haben, sind sehr interessant – sehr sonderbar. Auf die Worte ›Sechstes Zeichen‹ zum Beispiel bekommen wir als Antwort abwechselnd ›Zerstörung‹, ›Purpur‹, ›Hund‹, ›Macht‹, dann wieder ›Zerstörung‹ und am Ende noch einmal ›Macht‹. Wie Sie vielleicht bemerkt haben, verfuhr ich später umgekehrt und erhielt dabei folgendes Resultat: Auf ›Zerstörung‹ erfolgte die Antwort ›Hund‹, wiederum ›Tod‹, und auf ›Macht‹ – ›Hund‹. Das alles passt zusammen, aber bei einer zweiten Wiederholung des Wortes ›Zerstörung‹ erhalte ich die Antwort ›Meer‹, was völlig irrelevant erscheint. Auf die Worte ›Fünftes Zeichen‹ bekomme ich ›Blau‹, ›Gedanken‹, ›Vogel‹, noch einmal ›Blau‹ und schließlich den recht aufschlussreichen Ausdruck ›Sich im Geiste einander eröffnen‹. Aus dem Umstand, dass auf ›Viertes Zeichen‹ das Wort ›Gelb‹ erfolgt und später ›Licht‹, und dass ich auf ›Erstes Zeichen‹ als Antwort ›Blut‹ erhalte, schließe ich, dass jedes Zeichen eine bestimmte Farbe hatte und möglicherweise auch ein bestimmtes Symbol, beim Fünften Zeichen etwa ein ›Vogel‹, beim Sechsten Zeichen ein ›Hund‹. Ich nehme an, dass das Fünfte Zeichen etwas repräsentierte, was wir unter dem Begriff Telepathie kennen – Gedankenübertragung, ein ›sich im Geiste einander eröffnen‹. Das Sechste Zeichen wiederum bezeichnet ohne allen Zweifel die Macht der Zerstörung.«

»Was ist die Bedeutung von ›Meer‹?«

»Ich gestehe, dafür habe auch ich keine Erklärung. Ich habe das Wort später noch einmal verwandt und als Antwort ein banales ›Boot‹ erhalten. Auf ›Siebentes Zeichen‹ bekam ich zuerst ›Leben‹, und das zweite Mal ›Liebe‹. Auf ›Achtes Zeichen‹ kam die Antwort ›Keines‹. Ich entnehme daraus, dass die Summe und Anzahl der Zeichen sieben betrug.«

»Aber das Siebente wurde nicht erreicht«, sagte ich aus einer plötzlichen Eingebung heraus. »Denn durch das Sechste kam ›Zerstörung‹!«

»Ach, meinen Sie? Ich finde übrigens, wir nehmen diese – diese wirren Reden sehr ernst. Dabei sind sie eigentlich nur aus medizinischer Sicht von Interesse.«

»Bestimmt werden sie in der Psychiatrie Aufsehen erregen.«

Der Doktor kniff die Augen zusammen. »Mein lieber Mr Anstruther, ich habe nicht die Absicht, sie zu veröffentlichen.«

»Und Ihr Interesse daran?«

»Ist rein persönlicher Natur. Ich werde selbstverständlich ein Protokoll über den Fall anfertigen.«

»Ich verstehe.« Doch zum ersten Mal hatte ich das Empfinden, dass ich gar nichts verstand. Ich erhob mich.

»Nun, dann wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, Doktor. Ich muss morgen wieder in die Stadt zurück.«

»Ach!« Mir schien, als spräche Genugtuung, vielleicht sogar Erleichterung aus diesem Ausruf.

»Ich wünsche Ihnen viel Glück bei Ihrer Untersuchung«, fuhr ich in ungezwungenem Ton fort. »Lassen Sie nur ja nicht den Hund des Todes auf mich los, wenn wir uns das nächste Mal begegnen!«

Seine Hand ruhte in der meinen, als ich das sagte, und ich spürte, wie er zusammenzuckte. Doch er hatte sich rasch wieder in der Gewalt und entblößte die langen, spitzen Zähne zu einem Lächeln.

»Welche Macht wäre das für einen Mann, der die Macht liebt!«, sagte er. »Das Leben eines jeden Menschen in der eigenen Hand zu halten!«

Und sein Lächeln wurde breiter.

Meine direkte Verbindung mit dem Fall war damit zu Ende. Später gelangte das Tagebuch des Arztes in meine Hände. Ich will die spärlichen Eintragungen daraus an dieser Stelle wiedergeben, obwohl man bedenken möge, dass sie erst eine ganze Zeit später in meinen Besitz kamen.

»5. Aug. Habe entdeckt, dass Schwester M.A. unter ›den Erwählten‹ jene versteht, denen die Fortpflanzung der Rasse oblag. Sie standen offenbar in höchstem Ansehen, höher als die Priesterschaft. Vergleiche die ersten Christen!

7. Aug. Habe Schwester M.A. überredet, sich hypnotisieren zu lassen. Es gelang mir, sie in Hypnoseschlaf und Trance zu versetzen, fand aber keinen Rapport.

9. Aug. Hat es in der Vergangenheit Zivilisationen gegeben, mit denen verglichen die unsere ein Nichts ist? Seltsam, wenn es so wäre, und ich der Einzige, der den Schlüssel dazu in Händen hielte …

12. Aug. Schwester M.A. sagte heute, dass ›im Stand der Gnade das Tor geschlossen sein muss, auf dass kein anderer Gewalt über den Leib gewinne!‹ Interessant! Aber verwirrend.

18. Aug. Das Erste Zeichen ist also nichts anderes als … (die folgenden Worte wurden ausradiert) … wie viele Jahrhunderte wird es dann noch dauern, bis das Sechste erreicht ist? Aber wenn es einen abkürzenden Weg gäbe zur Macht …

20. Aug. Habe veranlasst, dass M.A. mit Krankenschwester zu mir zieht. Sagte, Patientin müsse unter Morphium gehalten werden. Bin ich wahnsinnig? Oder werde ich der Übermensch sein, der die Macht über den Tod in seinen Händen hält?«

(Hier brechen die Aufzeichnungen ab.)

Es war, glaube ich, am neunundzwanzigsten August, als ich den Brief erhielt. Er war unter der Anschrift meiner Schwester an mich adressiert, in schrägen, fremdländisch wirkenden Schriftzügen. Ich machte ihn mit einiger Neugier auf. Sein Inhalt lautete wie folgt:

»Cher Monsieur,

ich habe Sie nur zweimal gesehen, aber ich habe gefühlt, dass ich Ihnen vertrauen kann. Ob meine Träume wahr sein mögen oder nicht, sie sind in der letzten Zeit deutlicher geworden … Und, Monsieur, einer zumindest, der Hund des Todes, ist kein Traum … In jener Zeit, von der ich Ihnen erzählte (ob sie wirklich existierte oder nicht, weiß ich nicht), tat Er, der Hüter des Kristalls, das Sechste Zeichen zu früh den Menschen kund … Das Böse hielt in ihren Herzen Einzug. Sie hatten die Macht, nach Belieben zu töten – und sie töteten ohne Gerechtigkeit – im Zorn. Sie waren vor Machtlust trunken. Als wir das sahen, wir, die wir noch rein waren, erkannten wir, dass wir den Kreis auch dieses Mal nicht vollenden und zum Zeichen des Ewigen Lebens gelangen sollten. Er, der der nächste Hüter des Kristalls gewesen wäre, war aufgerufen zu handeln. Damit das Alte sterbe und das Neue, nach endlosen Zeitaltern, wiederkehre, ließ er den Hund des Todes über das Meer (wobei er Acht gab, den Kreis nicht zu schließen), und das Meer erhob sich in Gestalt eines Hundes und verschlang das ganze Land …

Die Erinnerung daran ist mir schon einmal gekommen – auf den Stufen des Altars in Belgien …

Dieser Dr. Rose, er gehört zur Bruderschaft. Er kennt das Erste Zeichen und die Form des Zweiten, wenn auch dessen Bedeutung allen außer wenigen Auserwählten verborgen ist. Nun sucht er das Geheimnis des Sechsten Zeichens von mir zu erfahren. Ich habe ihm bislang widerstanden – aber meine Kräfte lassen nach. Monsieur, es ist nicht gut, dass ein Mensch vor seiner Zeit zur Macht gelange. Viele Jahrhunderte müssen vergehen, ehe die Welt so weit sein wird, dass die Gewalt über den Tod in ihre Hände gelegt werden kann … Ich beschwöre Sie, Monsieur, der Sie das Gute und Wahre heben, helfen Sie mir … ehe es zu spät ist.

 

Ihre Schwester in Christo

Marie-Angélique.«

Ich ließ das Blatt sinken. Der Grund unter meinen Füßen schien mir etwas weniger fest als gewöhnlich. Dann riss ich mich zusammen. Beinahe hätte der Glaube der armen Frau, subjektiv und aufrichtig wie er war, selbst mich überzeugt! Eines stand fest: In seinem ehrgeizigen Forscherdrang missbrauchte dieser Dr. Rose auf das gröblichste seinen ärztlichen Stand. Ich würde sofort hinfahren und …

Plötzlich bemerkte ich unter meiner übrigen Post einen Brief von Kitty. Ich riss ihn auf.

»Es ist etwas Furchtbares passiert«, las ich. »Du erinnerst Dich an das Häuschen von Dr. Rose oben auf den Klippen? Es wurde in der vergangenen Nacht von einem Erdrutsch in die Tiefe gerissen, und der Doktor sowie diese arme Nonne, Schwester Marie-Angélique, kamen dabei ums Leben. Der Strand unten ist übersät mit Trümmern – sie haben sich zu einem höchst seltsam geformten Haufen getürmt –, aus der Ferne sieht es fast aus wie ein riesiger Wolfshund …«

Der Brief entfiel meiner Hand.

Die übrigen Geschehnisse mögen reiner Zufall sein. In derselben Nacht starb plötzlich ein gewisser Mr Rose, ein reicher Verwandter des Arztes, wie ich erfuhr – es hieß, der Blitz habe ihn getroffen. Soweit bekannt, hatte es zu der Zeit in der fraglichen Gegend kein Gewitter gegeben, aber ein oder zwei Leute erklärten, sie hätten einen einzigen gewaltigen Donnerschlag vernommen. An dem Toten wurde ein Brandmal von »merkwürdiger Form« festgestellt. In seinem Testament hatte er sein ganzes Vermögen seinem Neffen, Dr. Rose, vermacht.

Nehmen wir einmal an, es sei Dr. Rose gelungen, Schwester Marie-Angélique das Geheimnis des Sechsten Zeichens zu entreißen. Ich hatte ihn gefühlsmäßig immer für einen skrupellosen Mann gehalten – er wäre gewiss nicht davor zurückgeschreckt, seinen Onkel umzubringen, wenn er hätte sicher sein dürfen, dass ihm die Tat nicht angelastet werden konnte. Aber ein Satz aus Schwester Marie-Angéliques Brief geht mir nicht aus dem Sinn. »… wobei er Acht gab, den Kreis nicht zu schließen …« Dr. Rose übte keine solche Vorsicht, wusste vielleicht nicht, welche Vorkehrungen zu treffen waren oder dass überhaupt eine Notwendigkeit dafür bestand. Also vollendete die Kraft, die er benutzte, ihren Kreis und wendete sich gegen ihn …

Aber das ist natürlich alles Unsinn! Es gibt für jedes der geschilderten Ereignisse eine natürliche Erklärung. Dass der Arzt an Schwester Marie-Angéliques Wahnvorstellungen glaubte, beweist bloß seine eigene geistige Labilität.

Und dennoch träume ich manchmal von einem Kontinent unter dem Meer, wo einst Menschen lebten und einen Grad der Zivilisation erlangten, der der unseren weit voraus ist …

Oder kehrte sich in Schwester Marie-Angéliques Erinnerung die Zeit um – was manche für möglich halten –, und liegt diese Stadt der Kreise in der Zukunft und nicht in der Vergangenheit?

Unsinn – das Ganze war natürlich eine bloße Halluzination!

Das rote Signal

Nein, wie entsetzlich aufregend«, stöhnte die hübsche Mrs Eversleigh, indem sie ihre großen blauen Augen weit aufriss. »Man sagt doch immer, Frauen hätten einen sechsten Sinn. Glauben Sie, dass das wahr ist, Sir Alington?«

Der berühmte Psychiater lächelte höhnisch. Er empfand grenzenlose Verachtung für diesen dümmlichen hübschen Frauentyp, zu dem seine jetzige Tischdame gehörte. Alington West war die Autorität schlechthin, was Geisteskrankheiten betraf, und er war sich seiner Stellung und Wichtigkeit voll und ganz bewusst – ein leicht schwammiger Mann von fülliger Figur.

»Da wird eine Menge Blödsinn erzählt, ich weiß das, Mrs Eversleigh. Was bedeutet überhaupt der Begriff ›sechster Sinn‹?«

»Ach, ihr Wissenschaftler seid immer so gründlich. Aber es ist doch ungewöhnlich, wie man manchmal Dinge weiß, einfach weiß, fühlt, ich meine … ganz unheimlich, wirklich. Claire weiß, was ich meine, nicht wahr, Claire?«

Mrs Eversleigh machte einen Schmollmund und wandte sich mit leicht vorgebeugten Schultern ihrer Gastgeberin zu.

Claire Trent antwortete nicht gleich. Sie und ihr Mann hatten zum Abendessen eine kleine Gesellschaft eingeladen: Violet Eversleigh, Sir Alington West und dessen Neffen Dermot West, einen alten Freund von Jack Trent.

Jack Trent selbst war ein schwerer Mann mit gerötetem Gesicht. Er lächelte gutmütig, sein Lachen war angenehm träge. Er nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf.

»Unsinn, Violet. Dein bester Freund kam bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Sofort fällt dir wieder ein, dass du Dienstagnacht von einer schwarzen Katze geträumt hast – wunderbar, du wusstest also während der ganzen Zeit, es würde etwas passieren.«

»O nein, Jack, jetzt wirfst du Vorahnung und Intuition durcheinander … Sir Alington, sagen Sie es bitte. Sie müssen doch zugeben, dass es Vorahnungen tatsächlich gibt.«

»Bis zu einem gewissen Grad, vielleicht«, stimmte der Arzt vorsichtig zu. »Aber der Zufall spielt meist eine große Rolle, und dann tendiert man allzu leicht dazu, hinterher zu behaupten, man habe alles schon vorher gewusst. Das müssen wir dabei immer in Betracht ziehen.«

»Ich glaube nicht, dass es so etwas wie Vorahnungen gibt«, behauptete Claire Trent ziemlich unvermittelt, »oder Intuition oder einen sechsten Sinn oder irgendetwas, von dem wir so zungenfertig reden. Wir gehen durch das Leben wie ein Zug, der durch die Dunkelheit zu einem unbekannten Ziel rast.«

»Das ist kein besonders treffender Vergleich, Mrs Trent«, sagte Dermot West, indem er den Kopf hob und zum ersten Mal an der Diskussion teilnahm. Es lag ein sonderbarer Schimmer in seinen klaren grauen Augen, die seltsam hell aus dem dunkelgebräunten Gesicht blickten. »Sie haben die Signale vergessen, nicht wahr?«

»Rot für Gefahr – wie aufregend!«, japste Violet Eversleigh.

Dermot wandte sich ihr ungeduldig zu.

»Genauso ist es doch: Gefahr voraus – rotes Signal. Pass auf!«

Trent warf ihm einen abschätzenden Blick zu.

»Du sprichst wie aus eigener Erfahrung, alter Junge.«

»So ist es – war es, meine ich.«

»Wieso? Ist dir etwas Derartiges passiert?«

»Ich kann euch ein Beispiel geben … Damals in Mesopotamien … gleich nach dem Waffenstillstand … Eines Abends betrat ich mit einem beunruhigenden Gefühl mein Zelt. Ich spürte Gefahr. Pass auf, dachte ich. Dabei hatte ich keine Ahnung, wovor ich mich hüten sollte. Ich machte im Lager eine Runde, unnötig aufgeregt, traf alle möglichen Vorsichtsmaßnahmen, um mich vor dem eventuellen Angriff eines Feindes zu schützen. Dann ging ich in mein Zelt zurück. Sobald ich es betreten hatte, überkam mich dasselbe beunruhigende Gefühl wieder, noch stärker als vorher. Gefahr! Schließlich nahm ich eine Decke mit ins Freie, rollte mich darin ein und schlief draußen.«

»Und?«

»Als ich am nächsten Morgen wieder in mein Zelt kam, war das Erste, was ich sah, der Knauf eines großen Dolches, ungefähr einen halben Meter lang, der durch meine Matratze gestoßen worden war – genau an der Stelle, an der ich gelegen hätte. Ich fand bald heraus, dass es einer meiner arabischen Diener gewesen war. Sein Sohn war als Spion erschossen worden … was sagst du dazu, Onkel Alington? Für mich war das ein Beispiel für meine Bezeichnung ›rotes Signal‹.«

Der Spezialist lächelte besserwisserisch.

»Eine höchst interessante Geschichte, mein lieber Dermot.«

»Würdest du sie vorbehaltlos glauben?«

»Doch, doch. Ich zweifle nicht daran, dass du die Vorahnung einer Gefahr hattest. Es ist mehr der Ursprung der Vorahnung, den ich in Zweifel ziehe. Nach dem, was du erzähltest, drang dieses Gefühl von außerhalb auf dich ein. Wir neigen heute zu der Ansicht, dass fast alles von innen, aus unserem Unterbewusstsein entsteht.«

»Ja, ja, das gute alte Unterbewusstsein«, rief Jack Trent dazwischen. »Damit wird heutzutage alles erklärt.«

Sir Alington fuhr fort, ohne auf die Unterbrechung einzugehen.

»Ich nehme an, dass dieser Araber sich durch einen Blick oder seine Miene verraten hat. Dein bewusstes Ich hatte das nicht registriert oder erinnerte sich nicht daran, mit deinem Unterbewusstsein war das anders. Das Unterbewusstsein vergisst nichts. Wir glauben auch, dass dieses Unterbewusste folgern und ableiten kann, und zwar völlig unabhängig von unserem bewussten Willen. Dein Unterbewusstsein schloss also, dass man einen Versuch unternehmen würde, dich umzubringen; in diesem Falle setzte es sich erfolgreich durch, indem es das Angstgefühl in deine bewusste Erkenntnis zwang.«

»Das klingt sehr einleuchtend, wie ich zugeben muss«, sagte Dermot lächelnd.

»Aber längst nicht so aufregend«, zwitscherte Mrs Eversleigh.

»Es ist auch möglich, dass du unbewusst den Hass des Mannes spürtest. Das, was man früher Telepathie nannte, existiert sicher, obwohl die Umstände, unter denen sie zustande kommt, oft falsch ausgelegt und missverstanden werden.«

»Gibt es dafür noch andere Beispiele?«, fragte Claire.

»O ja, leider nicht ganz so malerisch. Ich nehme an, auch das könnte unter die Überschrift ›Zufall‹ gesetzt werden.« Dermot machte eine kleine Pause. »Ich lehnte einmal eine Einladung in ein Landhaus ab, aus keinem anderen Grund als dem Aufleuchten meines roten Signals. Das Haus brannte in der Woche darauf ab. Übrigens, Onkel Alington, wo setzt in diesem Fall das Unterbewusstsein ein?«

»Ich fürchte, überhaupt nicht«, antwortete Sir Alington und lächelte.

»Aber bestimmt hast du dafür eine gute Erklärung. Komm, sag sie uns. Du brauchst wegen deines Verwandten nicht taktvoll zu sein.«

»Also gut, mein Neffe, ich habe dich bei dieser Geschichte stark im Verdacht, dass du die Einladung nur aus dem sehr gewöhnlichen Grund ablehntest, weil du sie nicht übermäßig gern annehmen wolltest, und dass du dir nach dem Feuer selbst eingeredet hast, du hättest vorher ein warnendes Gefühl vor einer Gefahr verspürt … Dieser eingeredeten Überzeugung hast du dann blinden Glauben geschenkt.«

»Es ist hoffnungslos«, lachte Dermot. »Ich gebe mich geschlagen. Du gewinnst immer, Onkel.«

»Machen Sie sich nichts daraus, Mr West«, rief Violet Eversleigh. »Ich glaube blind an Ihr rotes Signal. Sahen Sie es in Mesopotamien das letzte Mal?«

»Ja – bis …«

»Verzeihung?«

»Ach, nichts.«

Dermot saß schweigend da. Die Worte, die ihm fast noch aus dem Mund gerutscht wären, hießen: »… bis heute Abend.« Sie waren ganz ungebeten bis zu seinen Lippen gekommen und wollten eine Empfindung ausdrücken, die er bis soeben noch nicht bewusst erkannt hatte. Doch plötzlich hatte er gewusst, dass diese Ahnung richtig war. Das rote Signal leuchtete in der Dunkelheit auf … Gefahr! Akute Gefahr!

Aber warum? Welche begreifbare Gefahr konnte ihm drohen? Hier, im Hause seines Freundes? Niemals! Und doch, es gab eine Art von Gefahr. Er sah Claire Trent an – ihre Blässe, ihre Schlankheit, das vielsagende Hängenlassen ihres goldblonden Kopfes. Aber diese Gefahr bestand schon geraume Zeit. Jack Trent war sein bester Freund, noch mehr als das: Er war derjenige gewesen, der ihm in Flandern das Leben gerettet hatte und den man dafür zum Vizekonsul ernannt hatte. Jack war einer der Besten! Eine dumme Sache, dass er, Dermot, sich ausgerechnet in Jacks Frau verlieben musste … Dermot hatte bisher gedacht, er könnte es überwinden. Einmal musste der Schmerz doch vorübergehen. Man musste ihn aushungern können … Sie durfte ja niemals etwas ahnen, und wenn sie es vermutete, durfte nicht die Gefahr entstehen, dass er sie berührte. Für ihn durfte sie nur eine Wunschgestalt, eine wunderschöne Statue, eine Göttin aus Gold und Elfenbein und blassrosa Korallen sein – ein Spielzeug für einen König, aber keine wirkliche Frau …

Claire! Allein ihr Name, nur in Gedanken erwähnt, tat ihm schon weh … Er musste das überwinden. Er hatte doch auch vorher Frauen gern gemocht …

»Aber nicht so«, schrie es in ihm. »Nicht so!«

Nun ja, es hatte ihn gepackt. Es bestand aber keine Gefahr dabei – Leid, Herzenskummer, ja, jedoch keine Gefahr. Nicht die Gefahr für das rote Signal! Das musste vor etwas anderem warnen …

Er sah sich am Tisch um. Zum ersten Mal kam ihm zum Bewusstsein, dass es eine recht ungewöhnliche Versammlung war. Sein Onkel zum Beispiel ging selten zum Essen aus und erst recht nicht zu inoffiziellen Anlässen wie einem solchen. Die Trents waren zwar alte Freunde von ihm, dennoch hätte er die Einladung nicht angenommen, wenn nicht ein besonderer Grund vorlag. Bis heute Abend war Dermot noch nicht bewusst gewesen, dass er seinen Onkel eigentlich gar nicht wirklich kannte.

Es gab allerdings eine Erklärung für das Verhalten Sir Alingtons. Nach dem Abendessen wurde ein Medium erwartet, mit dem eine Sitzung abgehalten werden sollte. Sir Alington hatte erkennen lassen, an spiritistischen Sitzungen, wenn auch nicht übermäßig, interessiert zu sein. Ja, das war bestimmt die Entschuldigung dafür, dass sein Onkel seine Gewohnheit durchbrochen hatte.

Dieses Wort »Entschuldigung« drängte sich weiter in Dermots Gedanken. Eine Entschuldigung? Für die »Sitzung« etwa, um die Anwesenheit als Spezialist bei diesem Abendessen zu erklären? Eine Menge von Einzelheiten schossen Dermot durch den Kopf; Nebensächlichkeiten, die er bis jetzt gar nicht beachtet oder, wie sein Onkel gesagt hatte, die sein Bewusstsein bisher nicht registriert hatte.

Der große Arzt hatte Claire mehr als einmal recht merkwürdig angesehen. Er schien sie zu beobachten. Sie fühlte sich unbehaglich unter seiner Beobachtung. Sie machte leise schnippende Bewegungen mit den Fingern. Sie war nervös, hochgradig nervös. Konnte es sein – war es möglich, dass sie Angst hatte? Warum sollte sie Angst haben?

Mit einem Ruck zwang Dermot seine Aufmerksamkeit wieder der Unterhaltung zu. Mrs Eversleigh hatte den großen Mann dazu gebracht, über sein eigenes Problem zu sprechen.