Der Irre von St. James - Philipp Galen - E-Book

Der Irre von St. James E-Book

Philipp Galen

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Beschreibung

Ein junger Arzt aus Deutschland trifft in der englischen Irrenanstalt St. James auf einen nur scheinbar Verrückten, den Adligen Edward von Dunsdale. Nach Erzählung des Einsitzenden wird offenbar, dass er das Opfer seines boshaften Bruders geworden ist, der ihm so sein Erbe streitig machen will. Der Arzt will ihm helfen, um nicht nur der Anstalt zu entfliegen, sondern auch um Dunsdale verschwundene Ehefrau zu finden, die ebenfalls in dieses Verwirrspiel verwickelt scheint. Null Papier Verlag

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Philipp Galen

Der Irre von St. James

Kriminalroman

Philipp Galen

Der Irre von St. James

Kriminalroman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-44-1

null-papier.de/440

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

1. Ka­pi­tel

2. Ka­pi­tel

3. Ka­pi­tel

4. Ka­pi­tel

5. Ka­pi­tel

6. Ka­pi­tel

7. Ka­pi­tel

8. Ka­pi­tel

9. Ka­pi­tel

10. Ka­pi­tel

11. Ka­pi­tel

12. Ka­pi­tel

13. Ka­pi­tel

14. Ka­pi­tel

15. Ka­pi­tel

16. Ka­pi­tel

17. Ka­pi­tel

18. Ka­pi­tel

19. Ka­pi­tel

20. Ka­pi­tel

21. Ka­pi­tel

22. Ka­pi­tel

23. Ka­pi­tel

24. Ka­pi­tel

25. Ka­pi­tel

26. Ka­pi­tel

27. Ka­pi­tel

28. Ka­pi­tel

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1. Kapitel

Es war in den ers­ten Ta­gen des Juni im Jah­re 1843, als ich, von ei­ner Rei­se nach Schott­land zu­rück­keh­rend, den­je­ni­gen Teil Eng­lands be­trat, in wel­chem das stei­le­re Ge­bir­ge all­mäh­lich in die wel­len­för­mi­gen grü­nen Hü­gel über­geht, die, je mehr man sich dem Sü­den zu­wen­det, nach und nach sich in das fla­che Land ver­lie­ren.

Es war ein sehr war­mer Tag ge­we­sen, und ich hat­te, nach mei­ner Ge­wohn­heit zu Fuß rei­send, viel von der Hit­ze ge­lit­ten, so daß ich mit Sehn­sucht den küh­le­ren Abend­stun­den ent­ge­gensah, die für den Rei­sen­den so er­qui­ckend sind.

Mein Herz, noch er­füllt von den Wun­dern des Hoch­lan­des, wur­de ge­tra­gen von den schö­nen Na­turs­ze­nen, die mich um­ga­ben.

Ich hat­te vie­le frem­de und ent­le­ge­ne Län­der be­sucht, nicht nur, um sa­gen zu kön­nen, ich sei da­ge­we­sen, son­dern ich fühl­te mich als Arzt be­ru­fen, den Men­schen in sei­nem freu­den- und lei­den­vol­len Trei­ben zu stu­die­ren, und ich hat­te es mir dies­mal zur be­son­de­ren Auf­ga­be ge­macht, alle Kran­ken­häu­ser von Ruf, vor­züg­lich aber die Ir­ren­an­stal­ten, zu be­su­chen, die in Eng­land so mus­ter­haft aus­ge­stat­tet sind, daß sie so­gar eine eu­ro­päi­sche Berühmt­heit er­langt ha­ben.

So woll­te ich denn eine der nam­haf­tes­ten die­ser Heil­stät­ten auf­su­chen, die auf mei­nem heu­ti­gen Wege lag, und län­ge­re Zeit dar­in ver­wei­len – ich mei­ne die Ir­ren­an­stalt zu St. Ja­mes. Mit man­cher­lei Emp­feh­lun­gen von Lon­don aus ver­se­hen und schon da­selbst an­ge­mel­det, hat­te ich von mei­nem letz­ten Nacht­la­ger aus mein gan­zes Ge­päck da­hin vor­aus­ge­sandt und hoff­te nun, das alte St. Ja­mes ge­gen Abend die­ses Ta­ges wohl­be­hal­ten zu er­rei­chen.

Gera­de nicht sehr er­mü­det, denn ich hat­te nur eine klei­ne Ta­ge­rei­se ge­macht, sehn­te ich mich doch, als der Abend nä­her und nä­her kam, nach ei­nem Ruheor­te.

Ich war von der ge­wöhn­li­chen brei­ten Land­stra­ße ab­ge­wi­chen, denn ich lieb­te es, auf ei­nem schma­len Fuß­we­ge zu wan­dern, der mich bald durch Wald und Feld, bald über Wie­sen und Moo­re lock­te; noch war ich in den Jah­ren je­ner ju­gend­li­chen Le­ben­dig­keit und Will­kür, der es ein grö­ße­res Ver­gnü­gen ge­währt, bis­wei­len auf ein klei­nes aben­teu­er­li­ches Hin­der­nis zu sto­ßen, als die brei­te Fahr­stra­ße ent­lang zu ge­hen, die nichts als das un­ver­än­der­li­che Ei­ner­lei dar­bie­tet.

So war ich also auch dies­mal mei­ner al­ten Nei­gung ge­folgt und hat­te so­eben einen schma­len Fuß­pfad ein­ge­schla­gen, der, in schne­cken­ar­ti­ger Win­dung bergab füh­rend, mich in ein klei­nes, stil­les, grü­nes Tal brach­te. Ich stand still und blick­te rück­wärts die Höhe hin­auf, von der ich so­eben her­ab­ge­stie­gen war. Die sin­ken­de Son­ne, am un­be­wölk­ten Him­mel lang­sam da­hinglei­tend, war ih­rem Wen­de­punk­te nahe und warf nur noch ei­ni­ge schrä­ge, pur­pur­rot glü­hen­de Strah­len auf die höchs­ten Wip­fel der rie­si­gen Bäu­me je­ner An­hö­he, wäh­rend der brei­te und lan­ge Schat­ten der­sel­ben das tiefe­re Tal schon dunk­ler färb­te.

So mei­ner stil­len Be­trach­tung hin­ge­ge­ben, ließ ich mich am Fuße ei­ner schlank ge­wach­se­nen Tan­ne im fri­schen, duf­ti­gen Moo­se nie­der und zog mei­ne Kar­te her­vor, um zu be­rech­nen, wie weit St. Ja­mes wohl noch von mei­nem jet­zi­gen Ruheor­te ent­fernt sein kön­ne. Doch, wie es mir oft­mals ging, konn­te ich auch dies­mal den Punkt, an dem ich mich ge­ra­de be­fand, nicht ge­nau auf dem Pa­pier fin­den, und ich war in ei­ni­ger Ver­le­gen­heit, ob ich nicht ganz vom rech­ten Wege ab­ge­kom­men sei, als ich zu mei­ner Be­ru­hi­gung ei­ni­ge Men­schen­stim­men ver­nahm, die von je­ner schon er­wähn­ten Höhe zu mir ins Tal her­nie­der­tön­ten.

Bei ge­nau­e­rem Hin­hor­chen ver­nahm ich bald, daß es zwei Kna­ben­stim­men wa­ren, die, einen Dop­pel­ge­sang aus­füh­rend, mit ih­ren kla­ren Brust­tö­nen an­mu­tig zu wett­ei­fern schie­nen. Bald auch trenn­te sich un­fern des Gip­fels der Höhe das brei­te Ge­büsch, und ich sah, wie ich ver­mu­tet, zwei Kna­ben, die vor­sich­tig her­ab­stie­gen und eine Last auf­zu­hal­ten be­müht wa­ren, die den Berg hin­ab auf sie nie­der­zu­stür­zen droh­te. Es war ein Wa­gen, der ei­gen­tüm­lich ge­baut, je­nen Krä­mer­kar­ren glich, wie man sie so häu­fig in Eng­land von Hun­den oder ei­nem al­ten trä­gen Pfer­de fort­schlep­pen sieht.

Lang­sam ka­men sie her­an, und jetzt ge­wahr­te ich auch hin­ter ih­nen einen äl­te­ren Mann, der mit fes­tem Schrit­te und si­che­rer Hand den Kar­ren auf­hielt, da­mit er nicht, die Kna­ben über­wäl­ti­gend, den ziem­lich stei­len Ab­hang hin­ab­schie­ße.

Als der von wei­tem et­was aben­teu­er­lich aus­se­hen­de Zug ganz in mei­ne Nähe ge­langt war, so daß ich ihn ei­ner ge­naue­ren Prü­fung un­ter­wer­fen konn­te, rief der eine der Kna­ben, der au­gen­schein­lich der äl­tes­te von Bei­den war, in­dem er von dem Wa­gen fort­sprang und sich auf das Moos, ziem­lich dicht an mei­ner Sei­te, nie­der­warf: »Hier wol­len wir ein Weil­chen ras­ten, Va­ter – das war ein ab­scheu­li­ches Stück Ar­beit, den Berg her­ab!«

Die Kna­ben, in Jäck­chen und Bein­klei­dern von grau­er Lein­wand ge­klei­det, auf dem Kop­fe ein klei­nes Mütz­chen von grü­nem Tu­che tra­gend, sa­hen ein­an­der sehr ähn­lich und wa­ren Brü­der, ob­wohl der äl­te­re, der un­ge­fähr sech­zehn Jah­re zäh­len moch­te, von bei wei­tem stär­ke­rem Mus­kel­bau und auf­fal­len­de­rem Ge­sichts­aus­druck war als sein jün­ge­rer Ge­fähr­te. Es lag et­was Ent­schie­de­nes, Keckes auf sei­nem wohl­ge­form­ten Ge­sicht, das einen kräf­ti­gen und tüch­tig sich ent­wi­ckeln­den Geist ver­riet, wäh­rend der an­de­re, etwa zwei Jah­re jün­ge­re Bru­der mit sei­nen hell­blau­en Au­gen und blond­ge­lock­ten Haa­ren wei­che, kind­li­che­re Züge dar­bot, die, eben­so of­fen und fröh­lich wie die des an­de­ren, doch eine viel zar­te­re, fast weib­li­che Or­ga­ni­sa­ti­on ver­rie­ten.

Die­ser an­ge­neh­me Ein­druck, den die Be­trach­tung der bei­den Kna­ben her­vor­rief, wur­de nicht ver­min­dert durch den Hin­blick auf die ath­le­ti­sche Ge­stalt und die auf­fal­lend scharf ge­zeich­ne­te Ge­sichts­bil­dung des sie be­glei­ten­den Va­ters, der von Be­ruf ein Krä­mer zu sein schi­en und über die mitt­le­ren Jah­re hin­aus war, ob­schon sein dich­tes dun­kel­brau­nes Haar noch kei­ne der ge­wöhn­li­chen Spu­ren her­an­na­hen­den Al­ters zeig­te. Der Um­fang sei­nes Ar­mes ver­riet eine be­deu­ten­de Mus­kel­kraft, und der ei­gen­tüm­lich knap­pe An­zug, den er trug, hob die­sen schö­nen, kräf­ti­gen Wuchs nur noch mehr her­vor.

Im Gan­zen war er wie sei­ne Söh­ne ge­klei­det, nur hat­te er, zum Un­ter­schied von ih­nen, einen dun­kel­ro­ten, von wol­le­nem Zeu­ge ge­web­ten, hand­brei­ten Gür­tel um den Leib ge­schlun­gen, der vorn von ei­ner großen Schnal­le zu­sam­men­ge­hal­ten wur­de und Pa­pie­re oder Geld si­cher auf­zu­be­wah­ren be­stimmt schi­en. Sei­nen star­ken Haar­wuchs be­deck­te eben­falls eine klei­ne Müt­ze von grü­nem Tu­che ohne Schirm, wo­durch nur noch mehr das Ad­ler­ar­ti­ge sei­nes Ge­sich­tes her­vor­ge­ho­ben wur­de. Die­ses Ge­sicht aber, männ­lich, ernst, mit scharf aus­ge­präg­ten, sonn­ver­brann­ten Zü­gen, war wie von ei­nem dunklen Rah­men in einen sehr star­ken Ba­cken­bart ein­ge­faßt, der mit ei­nem großen Schnurr- und Spitz­bart um Kinn- und Mund­win­kel zu­sam­men­lief. Sei­ne große schot­ti­sche Nase ver­lieh die­sem Ge­sicht den Aus­druck von Schär­fe und Kraft, der den Hoch­län­dern so ei­gen­tüm­lich ist, und wür­de noch mehr auf­ge­fal­len sein, wenn er nicht durch die Gut­mü­tig­keit und Bie­der­keit, die aus sei­nen dun­kelblau­en, of­fe­nen Au­gen un­ver­kenn­bar her­vor­leuch­te­te, ge­mil­dert wor­den wäre. Es lag eine Art von ge­müt­li­cher und durch nichts zu be­sie­gen­der Hei­ter­keit auf die­sem merk­wür­di­gen Ant­litz, das so­gleich Ver­trau­en er­weck­te; auf­fal­len­der aber wur­de es bei ge­nau­e­rem Hin­blick noch durch einen um sei­nen Mund mit den kern­ge­sun­den Zäh­nen und die wohl­ge­bil­de­ten, flei­schi­gen Lip­pen lie­gen­den An­flug von mo­men­ta­ner Weh­mut, der einen nicht un­an­ge­neh­men Ge­gen­satz zu je­ner Hei­ter­keit bil­de­te und ihr ge­wis­ser­ma­ßen einen Zü­gel an­zu­le­gen schi­en.

Auf dem Hin­ter­teil des klei­nen vier­räd­ri­gen Wa­gens, den die­se drei Per­so­nen zu mir her­an­lei­te­ten, stand ein ziem­lich ho­hes, kor­bar­ti­ges Gerüst, von star­ken Wei­den­ru­ten ge­floch­ten; den vor­de­ren Raum nah­men meh­re­re klei­ne Kas­ten und in Wachs­lein­wand ein­ge­schla­ge­ne Pa­ke­te ein.

Als der Mann in mei­ne Nähe ge­kom­men, nahm er sei­ne Müt­ze ab und sag­te, in­dem er sich an mei­ner Sei­te im Moo­se nie­der­ließ, mit freund­li­chem Ton:

»Gu­ten Abend, Sir! Wenn es er­laubt ist, set­ze ich mich zu Ih­nen – in Wahr­heit, ein war­mer und schö­ner Abend nach ei­nem hei­ßen Tage!«

»Ja­wohl!«, er­wi­der­te ich und gab den Gruß eben­so freund­lich zu­rück. »Ihr habt da eine schwe­re Last zu zie­hen, wie es scheint, denn Ihr seid samt Eu­ren Kna­ben in Schweiß ge­ra­ten!«

»Ja!«, rief der äl­te­re der Kna­ben, »schwer ge­nug für uns, zu­mal wenn es so heiß ist!«

Der Va­ter lä­chel­te und schi­en mit Wohl­ge­fal­len auf den dreis­ten Bur­schen zu se­hen.

»Bob!«, sag­te er, »du kannst dich jetzt aus­ru­hen, wir sind bald, wo wir sein wol­len. – Wo­hin führt Sie Ihr Weg, Sir?«

»Nach St. Ja­mes, mein Freund; und es wür­de mir lieb sein, wenn Ihr mir sa­gen könn­tet, ob ich auf dem rech­ten Wege da­hin bin.«

Der Mann sah mich mit ei­nem ei­gen­tüm­li­chen Blick an, den ich mir nicht zu deu­ten wuß­te, und er­wi­der­te so­gleich:

»Bra­vo! da sind wir Rei­se­ge­fähr­ten, denn ich will eben­falls dort­hin, und es wun­dert mich, daß Sie ge­ra­de den nächs­ten Weg ge­fun­den ha­ben, wenn Sie hier nicht be­kannt sind.«

»Wie weit ha­ben wir noch?«

»Nun, vier Mei­len kön­nen es noch sein. Aus die­sem Tale kom­men wir auf einen grü­nen An­ger. Dann stei­gen wir eine klei­ne An­hö­he hin­auf und len­ken wie­der in die Land­stra­ße ein, wo dann das Haus dicht vor uns liegt. Sie sind noch nicht in St. Ja­mes ge­we­sen, Sir?«

»Nein, es ist das ers­te Mal, ob­gleich ich viel da­von ge­hört habe und brief­lich schon mit ei­ni­gen der Be­am­ten da­selbst be­kannt bin.«

Mein neu­er Ge­fähr­te ließ ein nach­denk­li­ches Hm! hö­ren und stütz­te den Kopf auf sei­ne bei­den Hän­de. Ei­nen Au­gen­blick noch schi­en er nach­zu­sin­nen, dann sprang er rasch auf und rief mit lau­tem, fast bar­schem Ton:

»Bob! – Will! – Marsch vor­wärts – wir kom­men vor Mon­den­schein nicht an. Tum­melt euch, ihr Jun­gen! Wenn es ge­fäl­lig ist, Sir, so ge­hen wir zu­sam­men.«

Ich stand auf; die Kna­ben nah­men die Zug­lei­nen um die Brust und er­faß­ten die Deich­sel des Wa­gens. Wir Äl­te­ren aber schrit­ten lang­sam hin­ter­her.

Wie mein Beglei­ter es ge­sagt, das klei­ne Tal, in dem wir ei­ni­ge Mi­nu­ten ge­ruht hat­ten, mün­de­te in einen wei­ten grü­nen An­ger, der, un­ge­fähr zwei Mei­len weit sich er­stre­ckend, den schöns­ten wei­chen Moor­grund bot. Wir wa­ren eben etwa bis zur Mit­te ge­kom­men, als wir die Kna­ben, hin­ter de­nen wir, in gleich­gül­ti­gem Ge­spräch be­grif­fen, zu­rück­ge­blie­ben wa­ren, ste­hen­blei­ben sa­hen. Wir nä­her­ten uns lang­sam, und als wir dicht bei ih­nen wa­ren, be­merk­ten wir, daß sich Bob auf die Erde ge­wor­fen hat­te und Will auf der Deich­sel saß.

»Nun, warum geht ihr nicht vor­wärts?«, frag­te des Va­ters erns­te, aber freund­li­che Stim­me.

»Weil wir nicht mehr kön­nen!«, ant­wor­te­te Bob mit ei­nem tro­ckenen Tone, wäh­rend sein sanf­te­rer Bru­der ihm einen be­schwich­ti­gen­den Blick zu­warf.

»Hoho, mein Jun­ge! Sprichst du so! Auf­ge­schirrt! An die Deich­sel, Bursch, und im­mer vor­wärts!«

»Ja!«, er­wi­der­te Bob mit ei­nem deut­li­chen Schmol­len in Ge­bär­de und Ton, »du hast gut re­den! Du schlen­derst ge­mäch­lich hin­ter­her und dei­ne ar­men, schwa­chen Kna­ben müs­sen die gan­ze La­dung al­lein zie­hen. Der Kuckuck hole den Wa­gen! Aber ich däch­te, du könn­test es dir und uns be­que­mer ma­chen, wenn du dir einen al­ten Gaul oder ein Paar Dog­gen zu­leg­test; sol­che Hun­de­ar­beit ist nicht für Men­schen, und umso we­ni­ger für Kin­der!«

»Da ha­ben wir’s!«, rief der Va­ter, und sah mich mit ei­nem erns­ten, aber im­mer noch nicht un­freund­li­chen Blick an. »Der Jun­ge ist wahr­haf­tig wie sei­ne Mut­ter, die sich die But­ter nicht vom Bro­te neh­men ließ – Gott ma­che sie se­lig! – Im­mer Feu­er und Flam­me; und das kommt ihm in der Tat zu Hil­fe, sonst soll­te es ihm dies­mal schlimm er­ge­hen! Bist du auch so müde, Will?«

»Nun, es geht!«, sag­te zö­gernd der sanf­te­re Kna­be und senk­te er­rö­tend sei­nen lo­cki­gen Kopf, so daß man ihm an­merk­te, er sei we­nigs­tens eben­so er­mü­det wie sein äl­te­rer Bru­der.

»Ja, nun spricht er nicht!«, rief Bob laut aus, »aber mir hat er es ge­sagt, daß er kaum noch fort kann!«

»Die Kna­ben sind in der Tat er­mü­det«, sag­te ich ver­söh­nend, »der Grund ist weich und die Rä­der schnei­den tief ein.«

»Ei ja doch, Sir, ich glaub’s ja! Ich habe nichts da­wi­der. Wenn er mir vor­her ein gu­tes Wort ge­gönnt hät­te, wäre ihm schon längst ge­hol­fen, aber der Bob ist ein Ei­sen­kopf und ein Brau­se­wind! Auf, Bob! Auf, Will! ich wer­de mit Hand an­le­gen!«

Die Kna­ben er­ho­ben sich lang­sam und gin­gen wie­der an ihre Ar­beit. Der Va­ter schob hin­ten an der einen Sei­te des großen Kor­bes, ich an der an­de­ren, und so ging es leicht und rasch vor­wärts. Nach ei­ner Wei­le aber wur­de der Weg wie­der et­was ab­schüs­sig, der Wa­gen roll­te fast von selbst und un­se­re Hil­fe war nicht mehr nö­tig.

Der Va­ter wink­te mir, ei­ni­ge Schrit­te zu­rück­zu­blei­ben, und sag­te dann in lei­sem Tone:

»Glau­ben Sie nicht, Sir, daß ich zu­viel von mei­nen Kna­ben ver­lan­ge. Ich habe das Ein­se­hen, daß sie über ihre Kräf­te nichts leis­ten kön­nen, aber die Um­stän­de brach­ten es dies­mal so mit sich; ich habe es auch schon über­legt, daß ein Paar tüch­ti­ge Dog­gen schnel­ler und dau­er­haf­ter sind als die­se Kin­der. Über­dies sehe ich ein, daß es zu ih­rem ei­ge­nen Bes­ten ist, wenn sie eine re­gel­mä­ßi­ge Schu­le be­su­chen; ich habe sie aber lan­ge Zeit nicht bei mir ge­habt und konn­te es nicht über mein Herz brin­gen, mich so­gleich wie­der von ih­nen zu tren­nen. Tren­nung tut weh. Wenn sie aber ein­mal bei mir sind und es sich ge­ra­de so fügt, so müs­sen sie et­was zu tun ha­ben. Der Jun­ge, der Bob, schlägt sonst über die Strän­ge, und da habe ich ihm denn dies­mal die Ar­beit ei­nes Zug­pfer­des be­stimmt. Üb­ri­gens ist es das ers­te Mal, und un­ge­wohn­te Ar­beit ist sau­re Ar­beit! Den Kar­ren habe ich erst ges­tern ge­kauft, bis­her trug ich mei­ne paar Sie­ben­sa­chen sel­ber auf dem Rücken; da ha­ben Sie mei­ne Be­kennt­nis­se.«

»Ihr habt Recht, die Kin­der zu scho­nen und sie et­was ler­nen zu las­sen; sie schei­nen mir Bei­de An­la­gen zu ha­ben, und es wäre scha­de, wenn auf Kos­ten ih­res Geis­tes ihr Leib al­lein an­ge­strengt wür­de.«

»Das ist auch mei­ne Mei­nung, Sir! Und so ist es denn jetzt be­stimmt, sie sol­len in die Schu­le, ich habe schon mei­ne Ge­dan­ken dar­über; aber, se­hen Sie den schö­nen Abend, und da kommt der Mond schon lang­sam her­vor, wir ha­ben heu­te Voll­mond, den­ke ich!«

Wir blie­ben einen Au­gen­blick ste­hen und be­trach­te­ten still­schwei­gend die Ge­gend, die sich bei der abend­li­chen Be­leuch­tung in der Tat höchst ma­le­risch aus­nahm. Die Luft war mil­de und er­qui­ckend ge­gen den so heiß ge­we­se­nen Tag.

»Halt!«, rief der Va­ter sei­nen Söh­nen zu. »Halt! setzt euch ein we­nig und se­het den schö­nen Voll­mond her­auf­stei­gen.«

Wir gin­gen lang­sam vor­wärts und hat­ten die Kna­ben bald wie­der ein­ge­holt.

»Sir!«, fing der Va­ter an, als wir auf dem grü­nen Ra­sen­tep­pich sa­ßen und nach dem lang­sam sich he­ben­den Feu­er­ball vol­ler Span­nung und Be­wun­de­rung em­por­blick­ten, »Sie ha­ben mir ge­sagt, Sie gin­gen nach St. Ja­mes. Darf ich wis­sen, wel­ches Ge­schäft sie da ha­ben? Sie ver­zei­hen mei­ne of­fen­her­zi­ge Fra­ge, aber ich den­ke, weil ich selbst kei­ne Grün­de habe, mei­nen Be­ruf zu ver­schwei­gen, er­ge­he es An­de­ren eben­so.«

Die­se Wor­te wur­den gut­mü­tig und treu­her­zig vor­ge­bracht, daß ich sie gar nicht übel deu­ten konn­te, ob­wohl sie eine große Neu­gier­de ver­rie­ten, und ich er­wi­der­te da­her:

»Nun wohl, da Ihr of­fen­her­zig zu sein Euch rühmt, so macht den An­fang und er­zählt mir Euer Vor­ha­ben und nennt mir Eu­ren Na­men, dann will ich ge­gen Euch ein Glei­ches tun.«

»Das ist sehr ein­fach, Sir, und bald ge­sagt. Ich bin, wie Sie se­hen, zur Zeit ein Krä­mer und hei­ße Phil­lipps. St. Ja­mes ist ei­ner der vie­len Orte, wo ich einen Han­del zu ma­chen ge­den­ke, denn ich habe die Er­laub­nis, von Zeit zu Zeit da­selbst ein­zu­spre­chen.«

»So will ich denn eben­so kurz sein wie Ihr«, ent­geg­ne­te ich. »Ich bin Arzt. Ich rei­se zu mei­nem Ver­gnü­gen und zu mei­ner Be­leh­rung und be­su­che des­halb alle Ir­ren­häu­ser, wo ich sie fin­de, denn ich habe, was man in der Welt eine Pas­sion nennt, für die ar­men Kran­ken dar­in. St. Ja­mes aber ist eins der be­rühm­tes­ten der Art, und ich den­ke, da­selbst vor­treff­li­che Stu­di­en zu ma­chen.«

Ich blick­te ver­wun­dert den Mann an, zu dem ich die­se Wor­te sprach; er hing mit of­fe­nem Mun­de an mei­nen Lip­pen und sein Auge flog mit ei­nem auf­fal­len­den, halb über­rasch­ten, halb zu­frie­de­nen Blick über mein Ge­sicht. Als ich zu Ende war, stieß er sein ein­sil­bi­ges, dies­mal un­ge­mein me­lan­cho­lisch klin­gen­des Hm! her­vor.

»Was fin­det Ihr da­bei, Ihr scheint Euch zu wun­dern?«

»Wun­dern, Sir? Wa­rum das? Wo es lei­der Ver­rück­te gibt, muß es auch, Gott sei Dank! Ärz­te ge­ben, die sie zu hei­len ver­su­chen; es muß aber eine schwe­re Auf­ga­be sein, ob­wohl höchst in­ter­essant. Hm.«

»Ge­wiß höchst in­ter­essant, und be­leh­rend oben­drein!«

»Und es ist auch ein gu­tes Werk, Sir, sol­chen Un­glück­li­chen den ver­lo­re­nen Ver­stand wie­der zu ver­schaf­fen.«

»Ge­wiß!«, sag­te ich, »aber ge­hen wir wie­der wei­ter, sonst kom­men wir zu spät an.«

Und wir bra­chen als­bald wie­der auf. Wir wa­ren aber noch kei­ne hun­dert Schrit­te ge­gan­gen, als Mr. Phil­lipps wie­der das Wort nahm:

»So­viel ich weiß«, sag­te er, »gibt es sehr vie­le be­leh­ren­de Fäl­le da un­ten, Sie wer­den da auch den – den Ir­ren von St. Ja­mes ken­nen­ler­nen, den­ke ich.«

Die­se Wor­te, ziem­lich un­be­fan­gen an sich, wur­den doch mit ei­nem ge­wis­sen Nach­druck vor­ge­bracht und schie­nen mir et­was, um mich so aus­zu­drücken, lau­ernd ge­spro­chen zu sein.

»Den Ir­ren von St. Ja­mes?«, frag­te ich. »Wer ist das?«

»Ein Ver­rück­ter, Sir, ohne Zwei­fel, wie es de­ren vie­le in dem Hau­se gibt – was weiß ich!«

»Aber Ihr nennt ihn den Ir­ren von St. Ja­mes, warum wird er so ge­nannt? Es muß doch sei­ne Be­wandt­nis ha­ben, ge­ra­de ihn den Ir­ren von St. Ja­mes zu nen­nen, da es doch da­selbst der Ir­ren vie­le gibt.«

»Nun, Sir! Das wer­den Sie ja selbst se­hen, wenn Sie ihn ken­nen ler­nen. Ich für mei­ne Per­son, der ich dar­über nur eine un­ter­ge­ord­ne­te Mei­nung habe, den­ke, man nennt ihn so, weil er ein ganz ei­gen­tüm­li­cher, ge­bil­de­ter und oft ganz ver­nünf­ti­ger Mann ist, der nur bis­wei­len sei­ne tol­len An­fäl­le hat, und weil so ein ge­wis­ses, ge­heim­nis­vol­les Dun­kel um ihn schwebt, doch las­sen Sie es gut sein; wenn Sie sich aber, nach­dem Sie ihn ge­se­hen ha­ben, viel­leicht für ihn in­ter­es­sie­ren soll­ten, und das dürf­te leicht mög­lich sein, so könn­te es ganz gut für ihn sein.«

»Wie­so gut für ihn?«

»Nun, las­sen wir das, las­sen wir das, Sir! Sa­gen Sie mir lie­ber, wo Sie Ihr Eng­lisch ge­lernt ha­ben; Sie spre­chen es sehr gut, und doch höre ich, daß Sie kein Eng­län­der sind.«

»Ihr seid auch kei­ner, mein lie­ber Mr. Phil­lipps!«, sag­te ich lä­chelnd.

Der Mann sah mich auf­merk­sam von der Sei­te an, dann lä­chel­te er eben­falls und er­wi­der­te:

»Sie ha­ben ein gu­tes Ohr, ich hät­te es nicht ge­dacht, denn ich spre­che für einen Schot­ten ein ziem­lich rei­nes Eng­lisch; ja, ich ge­ste­he es, ich bin ei­gent­lich ein Schot­te, oder viel­mehr nur ein hal­ber, denn mei­ne Mut­ter war so gut eng­lisch wie die Mut­ter die­ser Kna­ben, aber mein Va­ter«, setz­te er mit ei­nem ge­wis­sen Stolz hin­zu, »war echt schot­tisch, und das konn­ten Sie mir ei­gent­lich gleich an­se­hen.«

»Das habe ich auch mehr ge­se­hen als ich es ge­hört habe, mein Freund«, er­wi­der­te ich. »Ihr habt eine echt schot­ti­sche Phy­sio­gno­mie, aber ich will eben­so of­fen­her­zig sein wie Ihr, ich bin ein Deut­scher von Ge­burt.«

»Ah!«, rief der Mann, »habe ich es mir doch ge­dacht!«, und er be­trach­te­te mich zu mei­ner Ver­wun­de­rung noch ein­mal so freund­lich wie vor­her.

»Nun, ist es et­was so Sel­te­nes, einen Deut­schen in Eng­land rei­sen zu se­hen?«

»Nein, durch­aus nicht, aber es freut mich, Sir, es freut mich sehr, und ihn wird es noch mehr freu­en!«, setz­te er halb­laut und mit ei­gen­tüm­lich wei­chem Tone hin­zu.

»Wel­chen ihn?«, frag­te ich.

»Nun, nun, war­ten Sie die Zeit ab, ich will da­mit nur sa­gen, daß ich auch ei­ni­ge Jah­re in Deutsch­land war und daß ich auch et­was von Ih­rer schwe­ren Spra­che ver­ste­he, ich bin mit mei­nem frü­he­ren Herrn da­ge­we­sen, ja, Sir, so ist es!«

»Ei, das ist mir ja ganz au­ßer­or­dent­lich lieb!«, rief ich aus und bot ihm die Hand, die er kräf­tig schüt­tel­te. »Ihr glaubt nicht, wie gern man in frem­den Län­dern sei­ne Mut­ter­spra­che hört, und wenn es Euch recht ist, un­ter­hal­ten wir uns jetzt Deutsch.«

»Ich bin da­bei!«, rief der Krä­mer Phil­lipps auf Deutsch aus, das er, wie ich in der Fol­ge der Un­ter­hal­tung sah, ziem­lich ge­läu­fig, ob­wohl mit­un­ter falsch sprach, und nun un­ter­hiel­ten wir uns von Deutsch­land, und konn­ten nicht müde wer­den, mein schö­nes, stil­les Va­ter­land zu lo­ben und uns un­se­res Zu­sam­men­tref­fens zu freu­en.

Das Ge­spräch wur­de durch Bob un­ter­bro­chen, der jetzt im Ernst klag­te, daß er und Will vollends müde sei­en.

»Noch eine hal­be Stun­de, mein Jun­ge!«, sag­te der Va­ter, »und wenn du sie ohne Mur­ren er­trägst, so ist dir ein hal­ber Schil­ling ge­wiß.«

»Das ist sehr gut!«, er­wi­der­te Bob mit ei­nem ei­gen­tüm­lich zwei­fel­haf­ten Kopf­schüt­teln. »Wenn ich ihn nur erst hät­te!«

»Da­mit du dei­nen Lohn si­cher hast, Bob«, sag­te ich, »so hast du von mir hier für’s Ers­te einen gan­zen Schil­ling, und du, klei­ner Will, nimm auch einen.«

»Dan­ke, Sir!«, sag­ten Will und Bob zu­gleich. »Ich wer­de es Ih­nen einst ein­ge­denk sein!«, füg­te aber Letz­te­rer hin­zu.

»Was führt der al­ber­ne Jun­ge für när­ri­sche Re­den!«, rief der Va­ter. »Hal­ten Sie es ihm zu­gu­te, Sir, er ist ein Na­se­weis und Wild­fang!«

»Sei doch still, Bob, und fass’ tüch­tig an, wir sind ja bald da!«, flüs­ter­te Will lei­se.

Wir bei­den Er­wach­se­nen hal­fen jetzt noch ein­mal den Wa­gen vor­wärts­schie­ben, denn es ging bergan. Nach ei­ni­gen Mi­nu­ten hat­ten wir den Gip­fel der An­hö­he er­reicht und be­fan­den uns jetzt auf der Land­stra­ße, die mit Pap­peln ein­ge­faßt war. Jetzt ging der Mond hel­leuch­tend auf, wir stan­den still und sa­hen vor uns in eine of­fe­ne, la­chen­de, vom sanf­ten Mond­licht lieb­lich be­leuch­te­te Ge­gend.

Un­ge­fähr eine gute Büch­sen­schuß­wei­te vor uns, we­nigs­tens schi­en es mir so nahe zu sein, lag in der Mit­te ei­nes wei­ten Kes­sels, zum Teil hin­ter großen Baum­grup­pen ver­bor­gen, ein un­ge­wöhn­lich lan­ges und ho­hes Ge­bäu­de, des­sen hel­le Far­be bei dem jet­zi­gen Abend­lich­te dem Be­schau­er bei­na­he glän­zend ent­ge­gen­trat. Sei­ne drei deut­lich zu un­ter­schei­den­den Stock­wer­ke wa­ren, so­weit man die Fens­ter durch die Schat­ten der Bäu­me er­bli­cken konn­te, sämt­lich und gleich­mä­ßig hell er­leuch­tet, was einen über­aus freund­li­chen An­blick in die­ser stil­len Abend­land­schaft ge­währ­te. Vor dem Ge­bäu­de lehn­te sich an die vor uns lie­gen­de Wand die­ses großen Kes­sels ein wei­ter, mit vie­len Bäu­men und Busch­werk be­setz­ter Raum, der mir eine park­ar­ti­ge Ein­rich­tung zu ver­ra­ten schi­en; we­nigs­tens kam es mir vor, als wenn ich in dem un­be­stimm­ten glit­zern­den Mond­licht mit hel­lem Kies­san­de be­wor­fe­ne Wege und hie und da zer­streut lie­gen­de, weiß an­ge­stri­che­ne Ru­he­sit­ze wahr­näh­me. Rings um die­sen Park her­um lief eine hohe stei­ner­ne Mau­er, an wel­cher sich in ziem­lich gleich­mä­ßi­ger Ent­fer­nung von­ein­an­der klei­ne Häu­ser­chen oder viel­mehr Türm­chen be­fan­den, aus de­ren run­den Fens­tern hier und da ein schwa­cher Licht­schein her­vor­brach. Auch konn­te man, ob­wohl nur sehr un­deut­lich, einen Gra­ben hin­ter der Mau­er un­ter­schei­den, der mit Was­ser an­ge­füllt war, über wel­chen bei je­dem Türm­chen eine klei­ne, höl­zer­ne Brücke führ­te.

Das Gan­ze hat­te so­mit das An­se­hen ei­ner Fes­tung, wel­che ab­sicht­li­che Ein­rich­tung durch spä­te­re Wahr­neh­mung noch deut­li­cher her­vor­tre­ten soll­te.

Al­les die­ses be­merk­te ich je­doch nicht im ers­ten Au­gen­blick mei­nes Hin­schau­ens, denn das auf­fal­len­de Be­neh­men mei­ner Beglei­ter, be­son­ders des äl­te­ren, lenk­te mei­ne gan­ze Auf­merk­sam­keit zu­nächst auf die­se hin.

Wir wa­ren näm­lich auf der höchs­ten Spit­ze des Ber­ges an­ge­langt, von wo aus man das er­leuch­te­te Ge­bäu­de zu­erst wahr­neh­men konn­te, als er in ei­nem aus Freu­de und Trau­er ge­misch­ten Tone aus­rief:

»Ach! da ist es ja, das alte St. Ja­mes!«

Dann aber sei­nen Söh­nen einen lei­sen Wink ge­bend, den die­se so­gleich ver­stan­den und be­folg­ten, nah­men sie alle drei ihre klei­nen Müt­zen ab und, in tie­fem Still­schwei­gen ver­har­rend, das Auge vor­wärts ge­wen­det, schie­nen sie ein kur­z­es Ge­bet zu ver­rich­ten.

Als ihr Ge­bet be­en­det war, schlug der Va­ter sei­ne Arme in­ein­an­der, stütz­te sein Kinn auf sei­ne et­was er­ho­be­ne rech­te Hand, und ich sah, wie er mit un­ge­heu­chel­ter Trau­rig­keit und Rüh­rung schwei­gend auf das vor uns lie­gen­de Ge­bäu­de hin­ab­schau­te. Nach­dem er sein Auge ei­ni­ge Mi­nu­ten lang an dem An­blick des­sel­ben ge­sät­tigt hat­te, ließ er die Hand sin­ken, ein tiefer Seuf­zer ent­quoll sei­ner Brust und kaum hör­bar für mich mur­mel­te er die Wor­te:

»Da bin ich ein­mal wie­der bei ihm, Gott gebe, daß es bald das letz­te Mal sei!«

»Habt Ihr einen Ver­wand­ten oder einen Freund in dem Hau­se, Mr. Phil­lipps?«, frag­te ich teil­neh­mend.

»Ei­nen Ver­wand­ten? Nein!«, er­wi­der­te er und schüt­tel­te trau­rig sei­nen Kopf, »aber einen Freund, einen Freund, ja, mag sein, ich bin ja hier sein ein­zi­ger Freund, ja, ja, den hab ich dort, Sir!«

»Und ist er un­ter den Kran­ken oder un­ter den Ge­sun­den?«

Hier ver­nahm ich wie­der das be­deut­sa­me Hm! wel­ches er je­des­mal aus­zu­sto­ßen schi­en, wenn ich eine be­stimm­te Ant­wort auf mei­ne Fra­ge er­war­te­te. Doch setz­te er dies­mal, ob­wohl et­was zö­gernd und mit un­si­che­rem Tone, hin­zu:

»Ohne Zwei­fel be­fin­det sich der, den ich mei­ne, un­ter der Zahl der Kran­ken.«

»So habt Ihr auch wohl vor­hin für sein Wohl ge­be­tet?«

»Ge­wiß, Sir, in­des­sen, wenn das auch nicht wäre, ich bit­te je­des­mal Gott, wenn ich dies trau­ri­ge Haus sehe und mich eine un­ge­wöhn­li­che Rüh­rung er­greift, mir mei­nen und der Mei­ni­gen Ver­stand zu er­hal­ten, denn Sir, glau­ben Sie mir, es gibt nichts Un­glück­se­li­ge­res, als – als – ver­rückt zu sein. Und nun, Jun­gen«, rief er plötz­lich laut, als er­wa­che er aus ei­nem un­frei­wil­li­gen Trau­me, »nehmt die Deich­sel und marsch vor­wärts.«

Wir schrit­ten alle Vier rüs­tig den Ab­hang auf der Land­stra­ße hin­ab, und es dau­er­te nicht lan­ge, so ka­men wir an die ers­te der höl­zer­nen Brücken, die über den ziem­lich brei­ten und mit Was­ser an­ge­füll­ten Gra­ben führ­te und mit ei­nem star­ken und ho­hen Git­ter, wie man es an ei­nem Stadt­to­re fin­det, ver­schlos­sen war.

»Das ist ja ganz fes­tungs­ar­tig hier!«, sag­te ich.

»War­ten Sie nur ein klein we­nig, das wird noch bes­ser kom­men; jetzt fol­gen noch zwei Brücken und dann erst kommt die zwan­zig Fuß hohe Mau­er, mit ih­ren spit­zen Wi­der­ha­ken höchst künst­lich ver­ziert.«

»Die­se star­ke Be­fes­ti­gung«, er­wi­der­te ich, »setzt eine Be­sorg­nis vor­aus, die mir nicht ganz klar ist.«

»Haha! Ist das nicht klar ge­nug, Sir? Man fürch­tet die Ent­wei­chung. Seit­dem aber die Brücken und die Mau­er und die vie­len Wär­ter und Auf­se­her, die wie Spür­hun­de auf je­den Schritt und je­des Wort pas­sen, und alle die­se Teu­fe­lei­en im Schwun­ge sind, kann kein Mensch un­be­merkt her­aus und hin­ein. Nun, was das Hin­ein be­trifft, frei­lich, das hat gute Wege, aber das Heraus, Sir, das ist ein üb­ler Um­stand. Haha!«

»Aber ich däch­te, so vie­le Vor­keh­run­gen wä­ren kaum nö­tig, um Wahn­sin­ni­ge zu­rück­zu­hal­ten; sie sind doch kei­ne Ge­fan­ge­nen.«

»O ja, doch, Sir! Wir sind in St. Ja­mes, müs­sen Sie be­den­ken. Hier gibt es an die fünf­hun­dert mehr oder min­der Wahn­sin­ni­ge, und die­se Her­ren und Da­men wol­len be­hü­tet sein. Und den­ken Sie nur, wie vie­le rei­che Leu­te dar­un­ter sind und wel­che schö­ne Sum­me jähr­lich für sie ge­zahlt wird, es kos­tet Geld, mit An­stand ver­rückt zu sein, ach! und dies Geld ver­liert man nicht gern. So man­cher Spring­ins­feld von Gent­le­man wür­de sich trotz ih­rer Höhe und trotz der Wach­sam­keit der Auf­se­her doch auf die Mau­er be­ge­ben und sich in Got­tes frei­er Welt ein we­nig um­schau­en wol­len, wenn die al­ler­liebs­te Ver­zie­rung mit den klei­nen, spit­zen Sta­cheln nicht wäre.« Und er ließ wie­der sein bit­te­res Haha! hö­ren, das mehr wie eine ver­hal­te­ne An­kla­ge als eine of­fe­ne Iro­nie klang. – »Aber, heda! al­ter Brumm­bär, sol­len wir denn ewig vor dei­nem Git­ter ste­hen?«, rief er laut und warf et­was un­sanft einen Stein an ein Fens­ter des Türm­chens, worin der Wär­ter wohn­te, vor des­sen ver­schlos­se­nem Ein­gan­ge wir schon eine Wei­le stan­den.

Eine in der Tat brum­men­de Stim­me ließ sich aus dem In­nern des Hau­ses ver­neh­men, und gleich dar­auf trat ein be­jahr­ter Mann, in einen Pelz gehüllt, her­aus, um zu fra­gen, wer da sei.

»Ich bin’s, Phil­lipps, der Krä­mer, mein Jun­ge, und habe Ta­bak mit­ge­bracht, einen Schil­ling das Pfund, wie du ihn längst ge­wünscht hast, mor­gen kannst du ihn kos­ten, he?«

»Das ist brav, Mr. Phil­lipps, aber was zum Teu­fel habt Ihr denn da für ein Ge­spann von jun­gen Eseln mit der selt­sa­men Korb­ta­ke­la­ge?«

»Das kannst du dir auch bei Tag be­se­hen, Dick, die jun­gen Fül­len sind mei­ne Söh­ne und in dem Kor­be sind mei­ne Wa­ren, und hier ein Gent­le­man, ein Be­su­cher, glau­be ich, nicht, Sir?«

»Ja­wohl, ja­wohl, Mr. Phil­lipps!«, sag­te ich, »und ich will zum Be­su­che beim Herrn Di­rek­tor, mein wer­ter Dick«, füg­te ich, zu die­sem ge­wandt, hin­zu.

»Sie kön­nen alle pas­sie­ren, Gent­le­men!«, er­wi­der­te der Mann im Pel­ze und schloß, als wir sein Git­ter über­schrit­ten hat­ten, hin­ter uns wie­der zu.

»Sie ta­ten Recht, daß Sie sag­ten, mein wer­ter Dick«, flüs­ter­te Mr. Phil­lipps, »man kann nicht wis­sen, wie man die­se Leu­te künf­tig ein­mal ge­braucht; ein freund­li­ches Wort zu spre­chen macht so we­nig Mühe und trägt oft hohe Zin­sen. Hol­lah! auf­ge­macht, Vet­ter Jen­kins! ich bin’s, Phil­lipps, der Krä­mer!«

Aber­mals schloß uns ein Mann das Tor auf, und wir wur­den mit den­sel­ben Ze­re­mo­ni­en ein­ge­las­sen. Auf ähn­li­che Wei­se ka­men wir durch ein drit­tes Git­ter und be­fan­den uns nun end­lich in­ner­halb der großen Mau­er, die den Park von St. Ja­mes um­schloß, der hin­ter dem Hau­se lag, wel­ches uns bis jetzt sei­ne Rück­sei­te zu­ge­kehrt hat­te.

Hier ließ Phil­lipps sei­ne Söh­ne mit dem Wa­gen ste­hen, in­dem er ih­nen den Be­scheid gab, auf sei­ne Wie­der­kehr zu war­ten, die so­gleich er­fol­gen soll­te, so­bald er mich zum Di­rek­tor ge­führt ha­ben wür­de. Wir durch­schrit­ten jetzt Bei­de den weit­läu­fi­gen Park und ka­men end­lich an das große Hin­ter­tor des Hau­ses, wel­ches eben­falls ver­schlos­sen und von ei­nem ei­ge­nen Schlie­ßer be­auf­sich­tigt war. Hier er­fuh­ren wir, daß der Di­rek­tor der An­stalt mit sei­ner Fa­mi­lie und ei­ni­gen Be­am­ten im Gar­ten, der vor dem Hau­se ge­le­gen war, beim Abendes­sen sei. Das Vor­der­tor, gleich­falls ver­schlos­sen, ward uns von dem Ober­por­tier ge­öff­net, und wir tra­ten nun in einen, so­viel ich se­hen konn­te, sehr wohl un­ter­hal­te­nen und mit Blu­men­bee­ten und schö­nen Stau­den­ge­wäch­sen ver­zier­ten Gar­ten, aus des­sen ei­nem Laub­gan­ge wir die Stim­men ei­ner mun­te­ren Ge­sell­schaft ver­nah­men, die in ei­nem höchst hei­te­ren Ge­plau­der be­grif­fen zu sein schi­en.

»Das klingt ganz gut für ein Ir­ren­haus«, dach­te ich, als Phil­lipps zu der Ge­sell­schaft ge­tre­ten war und den Di­rek­tor einen Au­gen­blick her­vor­zu­kom­men bat, wozu wir uns hat­ten ent­schlie­ßen müs­sen, da im Au­gen­blick kein an­de­rer Die­ner in der Nähe war. Der Ge­ru­fe­ne er­schi­en so­gleich und trat nach ei­ni­gen Wor­ten des Krä­mers schnell auf mich zu, wor­auf ich mich ihm vor­stell­te und zu­gleich er­klär­te, wie ich auf mei­ner Rei­se Phil­lipps be­geg­net und von die­sem in den Be­reich sei­nes Ge­bie­tes ein­ge­führt wor­den sei.

Der Di­rek­tor, Mr. El­liot­son, ein hoch­ge­wach­se­ner und wohl­be­leib­ter Mann, der noch nicht fünf­und­vier­zig Jah­re zäh­len konn­te, er­freu­te sich sehr ein­neh­men­der Ge­sichts­zü­ge und ei­nes ge­fäl­li­gen, ob­schon et­was vor­neh­men We­sens, wel­ches sei­ner Er­schei­nung eine ge­wis­se Wür­de ver­lieh. Er drück­te mir herz­lich die Hand, als ich ihm mei­nen Na­men ge­nannt und die mir auf­ge­tra­ge­nen Grü­ße aus­ge­rich­tet hat­te Da­bei gab er mir die Ver­si­che­rung, daß er mich mit Freu­den schon lan­ge er­war­tet und zu dem Ende eine Woh­nung habe ein­rich­ten las­sen. Er ließ mir die Wahl, ob ich mich schon jetzt da­hin zu­rück­zie­hen oder an der Ge­sell­schaft im Gar­ten teil­neh­men wol­le, wo er mich so­gleich sei­ner Fa­mi­lie und ei­ni­gen Be­am­ten des Hau­ses vor­stel­len kön­ne.

Ich wähl­te das Letz­te­re, und so ward ich denn in eine große Geis­blatt­lau­be ge­führt, die durch meh­re­re Lam­pen er­leuch­tet war und in der ich eine ziem­lich zahl­rei­che Ge­sell­schaft bei dem Nach­tisch ei­nes gu­ten kal­ten eng­li­schen Abendes­sens ver­sam­melt fand.

Un­se­re An­kunft und die von Sei­ten Mr. El­liot­sons er­fol­gen­de Vor­stel­lung mei­ner ge­rin­gen Per­son un­ter­brach so­gleich ihre leb­haf­te Un­ter­hal­tung, und sie wa­ren ar­tig ge­nug, ihre Auf­merk­sam­keit von dem Ge­gen­stan­de, der sie be­schäf­tigt hat­te, ab und auf mich zu wen­den.

Ich fand hier die Gat­tin des Di­rek­tors und sei­ne Kin­der, ei­ni­ge Be­am­te des Hau­ses mit ih­ren Fa­mi­li­en, die bei­den un­ver­ehe­lich­ten Ärz­te und den Pre­di­ger. Auch wa­ren noch ei­ni­ge un­ver­hei­ra­te­te Per­so­nen bei­der­lei Ge­schlechts zu­ge­gen, und na­ment­lich zeich­ne­ten sich die Da­men durch eine ge­schmack­vol­le Toi­let­te und ein freund­li­ches Ent­ge­gen­kom­men vor­teil­haft aus, so daß die gan­ze Ver­samm­lung mit ih­rem un­ge­zwun­ge­nen, ver­trau­li­chen We­sen mir bald of­fen­bar­te, wie man auch in ei­nem Ir­ren­hau­se ganz harm­los und be­hag­lich in gu­ter Ge­sell­schaft le­ben kön­ne.

Nach­dem ich einen Im­biß ge­nom­men, wand­te sich das Ge­spräch auf die Ge­gen­den, aus de­nen ich her­kam, auf die Hoch­lan­de, auf mei­ne frü­he­ren Rei­sen und von da höchst freund­lich auf mein gu­tes, ehr­li­ches Deutsch­land, das ich so in­nig lie­be.

Ich sprach, wie es mir im­mer geht, wenn ich warm wer­de und der Ge­gen­stand mein Herz be­schäf­tigt, mit Ei­fer und Leb­haf­tig­keit, und man hör­te mir, wie es schi­en, auf­merk­sam zu. Un­ter al­len Zu­hö­rern be­merk­te ich einen, der mir vom ers­ten Au­gen­blick an auf­ge­fal­len war und der in be­schei­de­ner Ent­fer­nung von der üb­ri­gen Ge­sell­schaft, bald ste­hend, bald sit­zend, einen leb­haf­ten An­teil an dem Ge­spräch nahm, in­dem er kein Auge von mir ver­wand­te und mit sei­nen Bli­cken, wie ge­fes­selt, an mei­nen Lip­pen hing.

Der noch jun­ge Mann, der alle Ei­gen­schaf­ten männ­li­cher Schön­heit auf sei­nem Ge­sich­te trug, saß mir schräg ge­gen­über, et­was seit­wärts von der üb­ri­gen Ge­sell­schaft. Die vom Lam­pen­licht her­rüh­ren­de und nicht ganz vor­teil­haf­te mat­te Be­leuch­tung hin­der­te mich, sei­ne ein­zel­nen Züge ge­nau­er zu stu­die­ren; was ich aber sah, be­frie­dig­te mich nicht al­lein, son­dern for­der­te mich zu ei­ner um­ständ­li­che­ren For­schung auf.

Er war groß, mehr schlank als stark, aber in wun­der­schö­nen Ver­hält­nis­sen ge­baut. Sein blas­ses, schein­bar et­was lei­den­des Ge­sicht, sei­ne hohe, edle, Nach­den­ken ver­ra­ten­de Stirn, sein glän­zend schwar­zes Haupt­haar, vor al­lem aber sein blit­zen­des, tie­fes und in­tel­lek­tu­el­les Auge er­weck­ten so­gleich in mir das Ver­lan­gen, in nä­he­ren Ver­kehr mit ihm zu tre­ten und den Geist, der in die­se schö­ne Hül­le ge­klei­det war, ge­nau­er ken­nen­zu­ler­nen. Er hat­te mich vom ers­ten Au­gen­blick mei­nes Ein­tre­tens an un­auf­hör­lich, bei­na­he auf­fal­lend be­trach­tet und mei­nen Er­zäh­lun­gen eine un­ge­teil­te Auf­merk­sam­keit ge­schenkt. Als ich von Deutsch­land sprach, nick­te er mir ei­ni­ge Male bei­fäl­lig zu, als wenn er mir sein Ein­ver­ständ­nis da­durch an­zei­gen wol­le, so daß ich bei mehr­fa­cher Ge­le­gen­heit mei­ne Wor­te aus­drück­lich an ihn al­lein rich­te­te.

Nichts­de­sto­we­ni­ger aber ant­wor­te­te oder sprach er nie, und doch drück­te sei­ne Mie­ne den An­teil aus, den sein In­ne­res an der Un­ter­hal­tung nahm.

So­weit ich an die­sem Abend be­mer­ken konn­te, war er ei­gen­tüm­lich ge­klei­det, denn er trug ein kur­z­es schwarz­sei­de­nes Jäck­chen ohne Schö­ße; ein fei­nes ba­tis­te­nes Hemd, um des­sen Kra­gen ein bunt­sei­de­nes Tuch nach­läs­sig ge­schlun­gen war, be­deck­te sei­ne brei­te Brust und ließ so den männ­lich kräf­ti­gen Hals wahr­neh­men, der auf den star­ken Schul­tern so vor­nehm stolz ge­tra­gen wur­de. Sei­ne klei­nen wei­ßen ari­sto­kra­ti­schen Hän­de um­gab eben­falls ein schma­ler Ba­tist­strei­fen; den un­te­ren Teil sei­ner Klei­dung konn­te ich nicht ge­nau­er be­trach­ten, doch war sie auch von dunk­ler Far­be.

Bald wur­de das Ge­spräch wie­der ge­teilt, man sprach in Grup­pen ge­schie­den über man­nig­fal­ti­ge Ge­gen­stän­de, bis end­lich der Ablauf der zehn­ten Abend­stun­de der Un­ter­hal­tung ein Ende mach­te und der Di­rek­tor sich freund­lich er­bot, mich auf mein Zim­mer zu füh­ren, das, im un­ters­ten Stock­werk ge­le­gen, mich, den Mü­den, wie er sag­te, mit al­len wün­schens­wer­ten Be­quem­lich­kei­ten er­war­te­te.

Ich ver­ab­schie­de­te mich und stieg mit Mr. El­liot­son ein paar Stu­fen in dem Haupt­ge­bäu­de em­por und be­fand mich bald in ei­nem freund­li­chen Zim­mer, wel­ches die Aus­sicht nach dem Gar­ten dar­bot, den wir so­eben ver­las­sen hat­ten.

»Wenn Sie nun noch ein Be­dürf­nis ha­ben, mein lie­ber Dok­tor«, sag­te mein Beglei­ter, »so zie­hen Sie die­se Schel­le, man wird je­den Ih­rer Wün­sche mög­lichst bald er­fül­len.«

Ich dank­te ver­bind­lichst und Mr. El­liot­son woll­te sich schon ent­fer­nen, als mir noch et­was ein­fiel.

»Noch ein Wort, mein bes­ter Mr. El­liot­son!«, sag­te ich. »Wer ist der jun­ge schö­ne Mann in dem schwar­zen An­zu­ge, mit der ho­hen Stirn und der Ad­ler­na­se?«

»Aha! ge­fällt Ih­nen der? Das glau­be ich wohl, nun, das ist Mr. Sid­ney, ei­ner un­se­rer Pfleg­lin­ge, in der Nach­bar­schaft und von den Be­woh­nern un­se­res Hau­ses ge­wöhn­lich der ›Ir­re von St. Ja­mes‹ ge­nannt.«

»Was!«, rief ich, »es ist ein Wahn­sin­ni­ger?«

»So ist es, lie­ber Dok­tor! – Und nun schla­fen Sie wohl, eine gute Nacht und an­ge­neh­me Träu­me!«

Er ging und ließ mich über die­sen sei­nen un­er­war­te­ten Auss­pruch in tie­fes Sin­nen ver­sun­ken zu­rück.

Das war also der Irre von St. Ja­mes! Ge­rech­ter Gott! so jung, so schön und wahn­sin­nig!

Hier fiel mir, ich weiß nicht durch wel­che Ide­en­ver­bin­dung her­vor­ge­ru­fen, plötz­lich und un­will­kür­lich das son­der­ba­re Hm! mei­nes ehr­li­chen Krä­mers wie­der ein. Ich konn­te nicht un­ter­las­sen, ein eben­so ge­heim­nis­vol­les, ein­sil­bi­ges Hm! aus­zu­sto­ßen und über das schreck­li­che Schick­sal die­ses Men­schen nach­zu­den­ken, der, mit al­len Ga­ben sei­nes Schöp­fers ver­schwen­de­risch aus­ge­stat­tet, der höchs­ten, un­ent­behr­lichs­ten Gabe er­man­gel­te, des ge­sun­den, zum Le­ben vol­ler Selbst­be­wußt­sein un­er­läß­lich not­wen­di­gen un­ge­trüb­ten Ver­stan­des.

2. Kapitel

Ich bin oft­mals im Le­ben, und na­ment­lich in mei­nem Be­ru­fe als Arzt, über den merk­wür­di­gen und un­er­klär­li­chen Ein­fluß er­staunt ge­we­sen, den ein mensch­li­ches Ant­litz in un­se­rer See­le zu­rück­läßt, das nicht al­lein über­aus schön und edel ist, son­dern einen un­klar und ne­bel­haft in uns lie­gen­den Keim zu we­cken scheint und da­durch, wir wis­sen selbst nicht wie und warum, un­se­rer Stim­mung eine Rich­tung gibt, die sie vor­her nicht hat­te. Von je­nem Ein­druck rede ich, der wie ein geis­ti­ger Wink, ein Aus­fluß von oben uns über­rascht, den wir nicht be­zeich­nen, son­dern nur emp­fin­den kön­nen, der, schnell wie der Blitz sich in un­ser Herz gra­bend, uns mit Teil­nah­me er­füllt.

Wa­rum zieht uns die­ser tie­fe, ru­hi­ge, un­be­fan­ge­ne Blick des doch nur mensch­li­chen Au­ges so un­wi­der­steh­lich an? Wa­rum klopft un­ser Herz die­sem auf je­ner Stirn sicht­ba­ren Her­zen ent­ge­gen? Was will die­ser stum­me Mund uns, was wol­len wir der schweig­sam uns ge­gen­über­ste­hen­den Er­schei­nung sa­gen? Je­nes edle, so ru­hi­ge und so schö­ne Ge­sicht schweb­te mir jetzt wie eine we­sen­lo­se Er­schei­nung vor, die ich in mir zum We­sen ge­stal­ten woll­te, und was un­se­re Phan­ta­sie ein­mal erst mit Wär­me er­faßt hat, das hält sie mit dau­ern­der Kraft, nach al­len Sei­ten es aus­for­schend, ent­wi­ckelnd, Um­fang, In­halt und Tie­fe des neu­ge­schaf­fe­nen Pro­blems zu er­grün­den su­chend.

Bei al­ler Er­ge­bung und männ­li­chen Fas­sung, die auf die­sem aus­ge­zeich­ne­ten Ant­litz thron­te, lag et­was auf­fal­lend Trau­ri­ges in sei­nen blas­sen, ich möch­te sa­gen, ein un­se­li­ges Ge­heim­nis ver­ber­gen­den Mie­nen. Das aber war die Trau­rig­keit des Wahn­sinns nicht, die mir so oft in ih­ren stark aus­ge­präg­ten Zü­gen ent­ge­gen­ge­tre­ten war, nein! die­se sanf­te, stil­le und er­ge­be­ne, doch aber nicht stump­fe Trau­rig­keit sah aus, als wenn sie aus ei­ner zwar kum­mer­vol­len und ge­preß­ten, aber doch ent­schlos­sen und nur dem Ge­schick un­ter­lie­gen­den See­le käme. Aus ihr erst moch­te der Wahn­sinn all­mäh­lich ent­sprun­gen sein, nach­dem die Hoff­nungs­lo­sig­keit in Verzweif­lung über­ge­gan­gen war. Ja, nur so konn­te die­ser Mensch ge­fal­len sein, des­sen Zu­stand mir nun kla­rer wur­de. Wenn aber die­se Trau­rig­keit viel­leicht zu he­ben, die­se Hoff­nungs­lo­sig­keit zu er­hel­len und die­se Verzweif­lung zu ver­nich­ten war, konn­te dann nicht auch der Wahn­sinn selbst zu be­sie­gen sein? Ich muß ge­ste­hen, die­ser An­schein hat­te et­was für sich, was mich mit Hoff­nung er­füll­te. Ach! und um die­se mar­mor­ne Stirn, die den Stem­pel des Gött­li­chen so un­ver­fälscht trug, in dem lei­den­den Zuge um den ge­preß­ten Mund, in dem strah­len­den Bli­cke die­ses tief dunklen, eine so kla­re See­le ver­ra­ten­den Au­ges lag et­was so un­aus­sprech­lich Ver­stän­di­ges, Geistrei­ches – Geistrei­ches? Kann ein Wahn­sin­ni­ger geist­reich sein? Gibt es doch vie­le Wahn­sin­ni­ge, die, nur in ei­ner ein­zi­gen Rich­tung ab­ir­rend, im Üb­ri­gen ganz ge­schei­te, au­ßer­or­dent­lich be­gab­te und vor­ur­teils­freie Men­schen sind!

Als ich in mei­nem Zim­mer al­lein war, rief ich mir die gan­ze so­eben ge­hab­te Er­schei­nung wie­der vor Au­gen. Ich brauch­te nicht lan­ge zu ru­fen, sie hat­te schon Bo­den in mir ge­won­nen und saß fest in der Tie­fe mei­nes geis­ti­gen Seins; denn jene hohe, ge­bie­te­ri­sche Stirn stand im­mer­wäh­rend und un­ver­rückt vor mei­nem Auge. Ich be­sich­tig­te mei­ne bei­den Zim­mer, was ich stets auf Rei­sen zu tun pfle­ge, ehe ich mich nie­der­le­ge, aber wenn ich aus dem einen Zim­mer in das an­de­re trat, glaub­te ich die dunkle, große Ge­stalt mit dem duld­sam ge­neig­ten Kop­fe und der un­nach­ahm­li­chen Hal­tung vor mir ste­hen und mich fra­gend an­bli­cken zu se­hen.

End­lich leg­te ich mich nie­der und schloß die Au­gen; da war sie auch da, und erst nach vie­lem Be­mü­hen, den Schlaf zu er­ja­gen, schlief ich end­lich wirk­lich ein, aber ich träum­te von ihr.

War es eine dunkle Ah­nung, die mir an­deu­ten woll­te, wie das Ge­schick je­nes Men­schen mit mei­nem Ver­hal­ten in ei­ner noch un­be­kann­ten Ver­bin­dung ste­he? – ich weiß es nicht, aber es war so, und ich nahm es wil­lig auf, in­dem ich be­schloß, auf­merk­sam und des Au­gen­blicks ge­wär­tig zu sein.

Als ich am nächs­ten Mor­gen nach ei­nem un­ru­hi­gen Schla­fe er­wach­te, fie­len schon die Strah­len der Son­ne in mein Ge­mach. Ich fuhr mit der Hand über die Stirn ich be­sann mich auf Al­les, was ich am Abend vor­her ge­se­hen, ge­dacht und ge­ahnt, was ich im Trau­me zum zwei­ten Male durch­lebt hat­te.

Da klopf­te es an mei­ne Tür und der Di­rek­tor trat her­ein.

»Aha!«, rief er, als er mich noch im Bet­te sah, »Sie sind also ein Lang­schlä­fer, nun, das wird sich bald än­dern. Hier ist man früh wach, denn es gibt viel Ar­beit, und Sie wer­den es schon ler­nen, mit uns des Mor­gens tä­tig zu sein.«

Ich woll­te mich ent­schul­di­gen, als er lä­chelnd er­wi­der­te:

»Sa­gen Sie nichts, ich scher­ze nur. Schla­fen Sie aus, und wenn es Ih­nen ge­nehm ist, kom­men Sie als­dann zu mir hin­über, dann will ich Sie mit der Ein­rich­tung un­se­rer An­stalt be­kannt ma­chen.«

»Ich wer­de so­gleich auf­ste­hen«, ant­wor­te­te ich, »in ei­ner hal­b­en Stun­de ste­he ich zu Ihren Diens­ten.«

»So will ich Ih­nen Ihr Früh­stück sen­den und Sie in ei­ner hal­b­en Stun­de selbst wie­der ab­ho­len. Adieu!«

Bald nach sei­nem Weg­ge­hen er­schi­en ein halb blöd­sin­ni­ger Kna­be, den man mir zum Die­ner ge­ge­ben zu ha­ben schi­en, denn er be­sorg­te auch mei­ne Klei­der und brach­te mein Früh­stück. Nach­dem ich das­sel­be ein­ge­nom­men, kam der pünkt­li­che Mr. El­liot­son wie­der, nahm mei­nen Arm und führ­te mich im Hau­se um­her.

Ich er­lau­be mir, eine treue Schil­de­rung von dem Zu­stan­de zu ge­ben, in wel­chem ich die­ses we­gen sei­ner Ein­rich­tung und sei­ner um­fas­sen­den Mit­tel mit Recht be­rühm­te Ir­ren­haus an­traf.

Was zu­nächst die Bau­lich­keit des­sel­ben und sei­ne nächs­te Um­ge­bung an­be­langt, so war das Ge­bäu­de, wie ich schon er­wähnt habe, ein sehr großes, durch­aus mas­si­ves, erst vor ei­ni­gen Jah­ren wie­der neu aus­ge­bau­tes Haus, das aus ei­nem Haupt­ge­bäu­de und zwei Flü­geln be­stand, wel­che letz­te­re, vorn und hin­ten weit über die Vor­der- und Hin­ter­front hin­aus­rei­chend, ein Stock­werk mehr tru­gen und so das An­se­hen zwei­er statt­li­cher Tür­me hat­ten.

Die gan­ze rech­te Ab­tei­lung des Ge­bäu­des war für die weib­li­che, zahl­rei­che­re Hälf­te, denn es wer­den über­all mehr Frau­en als Män­ner wahn­sin­nig, die lin­ke für die Män­ner be­stimmt. Über ei­nem sehr wohn­lich ein­ge­rich­te­ten Erd­ge­schoß er­ho­ben sich drei große Stock­wer­ke, de­ren obers­tes mit ei­nem halb­fla­chen Zink­da­che ver­se­hen war, die sämt­lich aber durch große und ver­git­ter­te Fens­ter von glei­cher Grö­ße er­hellt wur­den.

Die un­ge­heu­re Vor­der­front des Ge­bäu­des, von ei­ni­gen vier­zig Fens­tern Aus­deh­nung, sah in den Blu­men- oder Er­ho­lungs­gar­ten der An­stalt, in wel­chem die Män­ner und Frau­en ab­ge­son­dert zu be­stimm­ten Stun­den des Ta­ges die freie Luft ge­nie­ßen und sich an dem rei­zen­den An­blick und dem Duft der Blu­men er­qui­cken konn­ten.

Gro­ße, grü­ne Ra­sen­plät­ze wech­sel­ten an­mu­tig und re­gel­mä­ßig mit buschrei­chen An­pflan­zun­gen ab; an dem zier­lich er­hal­te­nen Kies­weg ent­lang zo­gen sich teils üp­pig grü­nen­de Buchs­baum­he­cken, teils wa­ren sie von ei­nem dich­ten Ge­he­ge duf­ten­der La­ven­del­blu­men ein­ge­faßt.

Schat­ti­ge Lau­ben, mit Bän­ken und Ti­schen ver­se­hen, reih­ten sich zu bei­den Sei­ten an­ein­an­der, und au­ßer ih­nen, eben­falls un­ter ei­nem schat­ti­gen Ge­büsch oder an einen brei­ten Baum­stamm sich leh­nend, bo­ten sich den Er­mü­de­ten be­que­me Sitz­bän­ke dar.

An den äu­ßers­ten Gren­zen die­ses Er­ho­lungs­gar­tens wa­ren zu bei­den Sei­ten brei­te, dunkle Wein­gän­ge ge­zo­gen, die mit ih­rem rei­chen Blät­ter­schmuck über­all die hohe Mau­er ver­deck­ten, die auch hier, wie hin­ter dem Ge­bäu­de, die gan­ze An­stalt um­faß­te.

In der Mit­te die­ses ein­la­den­den Auf­ent­halts­or­tes sprang täg­lich auf ei­nem run­den, mit Was­ser­blu­men be­setz­ten Ra­sen­stücke ein drei­ßig Fuß ho­her Was­ser­strahl, der aus dem großen Was­ser­bas­sin in der Ba­de­an­stalt ge­speist wur­de und von wel­chem aus bieg­sa­me Le­der­schläu­che nach al­len Tei­len des Gar­tens lie­fen, nicht al­lein ihn zu be­wäs­sern, son­dern auch in der hei­ßen Jah­res­zeit die Luft ab­zu­küh­len be­stimmt.

Die­ser Teil der An­stalt war, wie ge­sagt, nur dem Ver­gnü­gen und der Er­ho­lung der Be­woh­ner der­sel­ben ge­weiht.

Hin­ter dem Hau­se aber lag der bei wei­tem grö­ße­re, mit schö­nen ur­al­ten Bäu­men ge­schmück­te, von brei­ten Kies­we­gen durch­schnit­te­ne und eben­falls mit ge­fäl­li­gen Ru­he­plät­zen be­sä­te Park.

In ihm be­fan­den sich, durch He­cken und Zäu­ne von­ein­an­der ab­ge­son­dert, die Räu­me für die Spie­le, die gym­nas­ti­schen Übun­gen und die zur Kur not­wen­di­gen Ar­bei­ten der Ir­ren.

Hier sah man zu­erst einen großen Platz, zum Zer­klei­nern des Hol­zes be­stimmt, eine Ar­beit, die über­all für eine vor­treff­li­che Be­schäf­ti­gung Ge­müts­kran­ker gilt.

Dicht da­ne­ben war die so­ge­nann­te Renn­bahn, ein mit wei­chem San­de be­streu­ter großer Platz. Hier zo­gen die Kran­ken zu ih­rer Be­lus­ti­gung und zur Übung ih­rer Kräf­te das Seil; hier lie­fen sie um die Wet­te, hier üb­ten sie sich im Rin­gen und Sprin­gen.

Dann kam die Ke­gel­bahn, sehr be­liebt und flei­ßig be­sucht. Sie trenn­te die Renn­bahn von dem frei­en Ball­plat­ze, der eben­falls ein großer Lieb­lings­auf­ent­halt für vie­le Spi­el­lus­ti­ge war und von wo aus man denn auch stets ein lau­tes Ru­fen und Jauch­zen ver­nahm.

An den Ball­platz schloß sich der som­mer­li­che Fecht­platz, wo mit De­gen von Holz und Korb­ge­flecht und von Ei­ni­gen, de­nen man grö­ße­res Zu­trau­en schen­ken konn­te, auch mit ei­ser­nen un­ter ste­ter Auf­sicht und An­lei­tung der dazu an­ge­stell­ten Leh­rer ge­foch­ten wur­de.

An die­sen Raum lehn­te sich der all­be­lieb­te Turn­platz, und hier vor­züg­lich war es, wo man die selt­sams­ten Übun­gen, die son­der­bars­ten An­stren­gun­gen und die bis­wei­len vollen­dets­ten Ge­schick­lich­kei­ten der im All­ge­mei­nen scheu­en, nur in ein­zel­nen Fäl­len toll­kühn sich ab­ar­bei­ten­den Men­ge sah.

Nach dem Turn­plat­ze folg­te die Reit­bahn, die im Win­ter über­deckt wer­den konn­te; denn auch für die­se wohl­tä­ti­ge Lei­bes­übung war vor­treff­lich ge­sorgt und die duld­sams­ten Schul­pfer­de stan­den dicht da­ne­ben in den mas­si­ven Stäl­len.

Hin­ter die­sen Spiel- und Übungs­plät­zen la­gen die Kü­chen- und Obst­gär­ten, die meis­ten­teils un­ter An­lei­tung zwei­er Gärt­ner von den Ir­ren selbst be­stellt wur­den. Üb­ri­gens nah­men Män­ner und Wei­ber an die­sen Ar­bei­ten teil; doch nie ar­bei­te­ten die ver­schie­de­nen Ge­schlech­ter zu glei­cher Zeit und an glei­chem Orte.

Ich war von die­ser Aus­stat­tung an­ge­nehm über­rascht und konn­te nicht um­hin, dem Di­rek­tor mei­nen un­ge­teil­ten Bei­fall dar­über aus­zu­drücken. Er schi­en sich über mei­ne Be­mer­kun­gen zu freu­en, und ich er­fuhr von ihm, daß dies nach und nach ent­stan­den sei und je­des Jahr er­wei­tert und den Um­stän­den ge­mäß ver­bes­sert wur­de.

»Aber die Kos­ten, mein lie­ber Sir, wo kom­men die her?«

»Das ist un­se­re ge­rings­te Sor­ge, denn sie müs­sen wis­sen, daß wir von Sei­ten des Staa­tes ein­mal reich be­gabt sind, dann aber auch so­wohl durch reich­li­che Spen­den und Ver­mächt­nis­se zahl­rei­cher Gön­ner, wie auch durch einen vor­treff­lich ver­wal­te­ten Grund­be­sitz un­ter­stützt wer­den; wes­halb denn auch die, Ih­nen viel­leicht über­mä­ßig er­schei­nen­de Be­sol­dung der hier An­ge­stell­ten mög­lich ist. Na­ment­lich sind un­se­re bei­den Arz­te vor­treff­lich ge­stellt. Ärz­te müs­sen gut ge­hal­ten wer­den, wenn sie ihre schwe­re Pf­licht mit Lie­be und Selb­st­auf­op­fe­rung üben sol­len, denn es gibt kei­nen ed­le­ren, aber auch kei­nen mü­he­vol­le­ren Be­ruf als den ih­ri­gen. Tag und Nacht ohne Ruhe, stets für das Wohl an­de­rer tä­tig be­sorgt, muß die kur­ze Mu­ße­stun­de, die ih­nen von ih­rem sau­ren Ta­ge­wer­ke üb­rig bleibt, sor­gen­los und an­ge­nehm ver­flie­ßen kön­nen, da­mit sie neue Lie­be und Kraft zu ih­rem Wer­ke fin­den.«

Die­ses Ge­spräch fand statt, als wir uns aus dem Par­ke in das In­ne­re des Hau­ses zu­rück­be­ga­ben, um auch dies zu be­sich­ti­gen.

Durch das große Ein­gang­stor, wenn man vom vor­de­ren Gar­ten her­ein­kam, trat man in eine Art ge­räu­mi­ger Vor­hal­le, die von den auf­wärts füh­ren­den Trep­pen durch eine ver­schließ­ba­re Glas­wand ge­schie­den war und von de­ren hoch­ge­wölb­ter De­cke eine glän­zend po­lier­te me­tal­le­ne Lam­pe, die vom Ein­bruch der Dun­kel­heit an bis zum hel­len Mor­gen mit sechs großen Flam­men brann­te, her­ab­hing. Stei­ner­ne, brei­te Trep­pen führ­ten dop­pelt ge­wun­den hin­auf in die hö­he­ren Stock­wer­ke und hin­ab in die hel­len und wei­ten Räu­me des Erd­ge­schos­ses.

In die­sem letz­te­ren be­fan­den sich die Kü­chen, die Vor­rats­kam­mern, die Wasch- und Roll­stu­ben und eben­so die Woh­nun­gen der Haus­war­te, der Kö­che, der Mäg­de, der Wasch­frau­en und vie­ler an­de­rer Per­so­nen, die in dem großen Hau­se zu al­ler­lei Dienst­ver­rich­tun­gen ge­braucht wur­den.

Die lan­gen und von Zeit zu Zeit durch Gla­stü­ren ver­schlos­se­nen Kor­ri­do­re wa­ren breit, hell und hoch und durch eine hin­rei­chen­de An­zahl vor­treff­li­cher Lam­pen hell zu er­leuch­ten.

Jetzt tra­ten wir in das ers­te Stock­werk. Die Zim­mer des­sel­ben wa­ren fast glän­zend ein­ge­rich­tet. Im ers­ten Tei­le des Hau­ses be­fan­den sich die Woh­nun­gen der Ober­be­am­ten: des Di­rek­tors, des Pre­di­gers, der Ärz­te, des Ver­wal­ters, des Apo­the­kers, meh­re­rer Leh­rer und vie­ler An­de­rer, auch wa­ren hier die Be­suchs­zim­mer ge­le­gen, also auch die mei­ni­gen. Von den Zim­mern der Ärz­te und des Di­rek­tors lie­fen sinn­reich kon­stru­ier­te Schall­röh­ren in die obe­ren Stock­wer­ke, mit­tels wel­cher sie Al­les ver­neh­men, aber auch ihre Be­feh­le schleu­nigst hin­auf­sen­den und eben­so schnell hin­auf­ge­ru­fen wer­den konn­ten.

In der lin­ken Hälf­te des Haupt­ge­bäu­des be­fan­den sich die Biblio­thek, die Apo­the­ke, die Ban­da­gen- und In­stru­men­ten­ka­bi­net­te und meh­re­re grö­ße­re und klei­ne­re Säle, wie z. B. der Kon­fe­renz­saal, das Bil­lard- und Le­se­zim­mer der Be­am­ten, ei­ni­ge Er­ho­lungs- und Ge­sell­schafts­sä­le für die Ir­ren, so­wie eben­sol­che für den Un­ter­richt und ver­schie­de­ne Män­ner­ar­bei­ten be­stimmt.

In dem lin­ken Flü­gel, in­ner­halb des so­ge­nann­ten Tur­mes, lag die ziem­lich große Kir­che der An­stalt, die, wür­dig, aber ein­fach ge­schmückt, mit ei­ner sehr wohl­klin­gen­den Or­gel ver­se­hen war.

Im rech­ten Flü­gel des un­te­ren Stock­wer­kes la­gen die Säle für die weib­li­chen Hand­ar­bei­ten, die Spinn­stu­ben, die Lern­zim­mer und die Un­ter­hal­tungs­sä­le für die Frau­en und Mäd­chen.

Das zwei­te und drit­te Stock­werk war gleich­mä­ßig ein­fach, aber höchst zweck­dien­lich aus­ge­stat­tet. Hier näm­lich la­gen die Kran­ken­sä­le und klei­ne­ren Kran­ken­zim­mer in ei­ner lan­gen Rei­he ne­ben­ein­an­der, die Pri­vat­zim­mer in den Flü­geln, die all­ge­mei­nen im Haupt­ge­bäu­de. Die jün­ge­ren Leu­te, männ­li­che und weib­li­che, wohn­ten im drit­ten Stock­werk, die äl­te­ren im zwei­ten, da­mit sie nicht so hoch zu stei­gen brauch­ten.

Zwi­schen je zwei Kran­ken­zim­mern be­fand sich je­des­mal ein Wär­ter­zim­mer, wel­ches groß ge­nug war, vier Wär­ter be­quem be­her­ber­gen zu kön­nen, die sich zwei und zwei nach­ein­an­der ab­lös­ten, so daß je­der­zeit zwei im Kran­ken­saa­le ver­weil­ten. Bei den Frau­en wa­ren dies na­tür­lich Wär­te­rin­nen, äl­te­re und jün­ge­re, größ­ten­teils Frau­en de­rer, wel­che bei den männ­li­chen Kran­ken den­sel­ben Dienst ver­rich­te­ten. Es wa­ren dies sämt­lich sehr ver­stän­di­ge, aus­er­le­se­ne und kräf­ti­ge Per­so­nen, die wohl­un­ter­rich­tet und gut be­sol­det wur­den und wel­che vor ih­rer förm­li­chen An­stel­lung eine be­stimm­te Lern­zeit durch­ma­chen muß­ten.

In den Flü­geln bei­der Sei­ten la­gen au­ßer­dem die Ba­de­stu­ben und die sonst zur Kur not­wen­di­gen Ört­lich­kei­ten mit den da­hin ge­hö­ren­den Gerät­schaf­ten.

Na­ment­lich aber wa­ren die Ba­de­stu­ben und die dazu er­for­der­li­chen Räum­lich­kei­ten mit ei­nem ge­wis­sen Lu­xus und al­len mög­li­chen Be­quem­lich­kei­ten aus­ge­stat­tet. Da wa­ren Dusch-, Staub-, Tropf-, Dampf-, Sturz­bä­der und alle die man­nig­fal­ti­gen Abar­ten der­sel­ben.

Au­ßer­dem be­fand sich dort ein großes Bil­lard­zim­mer mit zwei Bil­lards dar­in für die Kran­ken.

Die Kran­ken­sä­le selbst wa­ren höchst rein­lich, luf­tig und hell. Die Er­leuch­tung ge­sch­ah durch vor­treff­li­che, am spä­te­ren Abend grün be­schat­te­te Lam­pen.

Die weiß über­zo­ge­nen, rein­li­chen Bet­ten, auf ei­ser­nen Roll­fü­ßen be­weg­lich, stan­den in zwei par­al­lel­lau­fen­den lan­gen Rei­hen, eine an den Fens­tern, die an­de­re an der ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­te. An dem Kop­fen­de ei­nes je­den Bet­tes stand eine Art Tisch, mit ver­schließ­ba­ren Fä­chern und Kas­ten ver­se­hen, am Fens­ter eine Kom­mo­de, am Fu­ßen­de ein Stuhl und ein stets mit weißem San­de ge­füll­ter, zier­li­cher Spuck­napf; über dem Bet­te hing ein klei­ner Spie­gel und die den Kran­ken be­zeich­nen­de so­ge­nann­te Na­tio­nal­ta­fel; die an­de­ren not­wen­di­gen Be­dürf­nis­se la­gen hin­ter ei­ner grü­nen Gar­di­ne ver­bor­gen.

Die Pri­vat­zim­mer wa­ren na­tür­lich nach den Mit­teln und dem Ge­schmack ih­rer Be­woh­ner ein­ge­rich­tet, doch sah ich nur we­ni­ge da­von, denn ich woll­te den Be­sit­zern der­sel­ben mit mei­ner Neu­gier­de, die fast al­len Kran­ken so läs­tig ist, nicht be­schwer­lich fal­len.

Auf je­dem Trep­pen­ab­sat­ze in je­dem Stock­wer­ke, eben­so an je­der Wen­dung des Hau­ses war ein Tür­ste­her an­ge­stellt, der das Aus- und Ein­ge­hen der Kran­ken und die Be­su­cher über­wach­te.

Den Pri­vat­zim­mern ge­gen­über lag je­des­mal ein Wär­ter­zim­mer, denn je­der Ein­zel­ne die­ser Kran­ken hat­te sei­nen ei­ge­nen Auf­se­her oder Auf­se­he­rin, die je­doch un­ter sich von vier­und­zwan­zig zu vier­und­zwan­zig Stun­den ab­wech­sel­ten.

Im rech­ten Flü­gel end­lich, der Kir­che im lin­ken ge­gen­über­lie­gend, be­fand sich der große Kon­zert­saal der An­stalt, der über fünf­hun­dert Per­so­nen faß­te, ein un­ge­heu­rer, ho­her und wei­ter Raum, der auch für Thea­ter­vor­stel­lun­gen her­ge­rich­tet wer­den konn­te, denn auch für die­se Art von Er­ho­lung war in St. Ja­mes vor­treff­lich ge­sorgt. Von der De­cke die­ses Saa­l­es hin­gen drei große präch­ti­ge Kron­leuch­ter her­ab; die Wän­de matt ro­sen­rot, mit sin­nig ab­ge­teil­ten Fel­dern, in de­nen Blu­men­stücke ge­malt wa­ren, zähl­ten auf je­der Sei­te vier klei­ne Ni­schen, in wel­chen sich klei­ne Sta­tu­en be­fan­den, von de­nen jede einen klei­nen glä­ser­nen Wand­leuch­ter hielt, so daß, wenn bei ei­ner Fei­er­lich­keit alle Lich­ter brann­ten, hun­dert­und­zwei­und­fünf­zig Flam­men den Saal er­leuch­te­ten.

Die acht Fens­ter in die­sem Saa­le konn­ten durch wol­ken­ar­tig ge­ar­bei­te­te wei­ße Vor­hän­ge ver­schlos­sen wer­den.

Der Platz für das Or­che­s­ter war et­was er­höht, der üb­ri­ge Teil des Saa­l­es mit Stüh­len und Bän­ken voll­stän­dig be­setzt.

»Das Al­les ist ganz vor­treff­lich, Sir«, sag­te ich zu dem Di­rek­tor, der mich auf alle Ein­zel­hei­ten auf­merk­sam mach­te, »ich habe nie et­was Ähn­li­ches an Zweck­mä­ßig­keit, Ge­schmack und Ele­ganz ge­se­hen.«

»Ja! und nun sol­len Sie un­se­re Mu­sik hö­ren«, er­wi­der­te er, »da wer­den Sie erst stau­nen. Die­ser ver­söh­nen­de Geist ist eins un­se­rer kräf­tigs­ten und be­lieb­tes­ten Heil­mit­tel, und erst seit drei Jah­ren sind wir voll­stän­dig mit al­len nö­ti­gen In­stru­men­ten und ih­ren Spie­lern ver­se­hen. Sehr vie­le Irre ha­ben bis­wei­len eine wah­re Lei­den­schaft für die Mu­sik und die Er­ler­nung von mu­si­ka­li­schen In­stru­men­ten. Man be­greift erst die be­ru­hi­gen­de Wir­kung die­ser gött­li­chen Kunst, wenn man Ge­le­gen­heit hat, sich so da­von zu über­zeu­gen, wie wir sie ha­ben. Alle Sin­ne der Wahn­sin­ni­gen sind mehr oder we­ni­ger stumpf; der des Ge­hörs al­lein, und zwar des Ge­hörs für Mu­sik, scheint fei­ner aus­ge­bil­det zu sein als die an­de­ren, was mir ein Be­weis ist, daß beim Wahn­sinn das Ge­fühls­ver­mö­gen bei wei­tem ent­wi­ckel­ter ist als ir­gend­ein an­de­res. Da­her ist denn auch bei uns die Mu­sik das letz­te und kräf­tigs­te Be­ru­hi­gungs­mit­tel für die Auf­re­gung der Lei­den­schaft und die Über­span­nung der Ner­ven.«

»Sie mö­gen Recht ha­ben«, un­ter­brach ich ihn, »zu­mal die Er­fah­rung auf Ih­rer Sei­te ist, aber Sie wer­den mir die Be­mer­kung er­lau­ben, daß die Mu­sik nicht im­mer be­ru­higt, im Ge­gen­teil, sie regt so­gar bis­wei­len auf.«

»Ganz ge­wiß! Aber die­se Klip­pe um­ge­hen wir da­durch, daß wir un­se­re Mu­sik­stücke nach un­se­rem Zwe­cke wäh­len oder die­je­ni­gen Kran­ken von der Auf­füh­rung aus­schlie­ßen, bei de­nen doch noch ir­gend­ei­ne Auf­re­gung zu fürch­ten wäre.«

»Aber wo­her neh­men Sie die vie­len Mu­si­ker, die zu ei­nem or­dent­li­chen Or­che­s­ter ge­hö­ren?«

»Das scheint in der Tat schwie­ri­ger als es ist. Nicht al­lein fast alle un­se­re Be­am­te sind mu­si­ka­lisch und spie­len die ver­schie­den­ar­tigs­ten In­stru­men­te, son­dern auch ei­ni­ge Irre sind aus­ge­zeich­ne­te prak­ti­sche Mu­si­ker, ja, wir ha­ben so­gar ei­ni­ge Kom­po­nis­ten dar­un­ter, und was nun un­se­re Mu­sik­leh­rer be­trifft, so leis­ten sie das Mög­lichs­te, und sie wer­den auch durch ihre glück­li­chen Er­fol­ge er­mun­tert, denn ihre Schü­ler ma­chen ih­nen Ehre und die­se selbst stre­ben nach Bei­fall und Lob, denn der Mensch, auch der Ver­rück­te, ist nie ohne Ehr­geiz. Üb­ri­gens mu­si­zie­ren wir flei­ßig, denn wir ge­ben re­gel­mä­ßig alle Jah­re vier große Kon­zer­te und alle acht Tage ein klei­nes, und dann tei­len wir für die vor­züg­lichs­ten Leis­tun­gen an­ge­mes­se­ne Prei­se aus. Zu die­sem Be­hu­fe ha­ben wir auch einen Mu­si­kor­den ge­stif­tet, und Sie wer­den die In­ha­ber des­sel­ben mit Stolz und er­ho­be­nem Selbst­ge­fühl ihre un­schul­di­gen In­si­gni­en tra­gen se­hen und lei­en kön­nen, wel­che Nach­ei­fe­rung eine sol­che Be­loh­nung her­vor­zu­ru­fen im Stan­de ist. Eben­so ge­ben wir re­gel­mä­ßig je­des Jahr zwei Thea­ter­vor­stel­lun­gen, und wenn Sie so lan­ge hier­blei­ben, wie Sie uns ver­spro­chen ha­ben, so sol­len Sie sich von dem Nut­zen der­sel­ben und den Freu­den, die sie schaf­fen, ge­nü­gend über­zeu­gen. Doch die­se Sei­te un­se­rer Be­stre­bun­gen ist vor­zugs­wei­se Sa­che des Ober­arz­tes, der sein gan­zes Au­gen­merk auf die­se Kur­art ge­rich­tet hat.«

Die Kran­ken selbst, die wir auf ih­ren Zim­mern tra­fen, fand ich alle mit et­was Nütz­li­chem be­schäf­tigt; sie er­ho­ben sich sämt­lich bei un­se­rem Ein­tre­ten und er­wie­sen dem Di­rek­tor durch eine Ver­beu­gung ihre Ach­tung und ihr Wohl­wol­len.

Üb­ri­gens fand ich alle Gat­tun­gen von Ir­ren, wie sie ge­wöhn­lich in Ir­ren­häu­sern ge­fun­den wer­den, auch hier vor. Von den Stumpf und Blöd­sin­ni­gen, die mehr Tie­ren als Men­schen glei­chen, an, den so­ge­nann­ten Me­lan­cho­li­schen, die die Ein­sam­keit lie­ben und düs­te­re, schwe­re Bli­cke um sich wer­fen, dann den ei­gent­li­chen Nar­ren, die ewig schwat­zen und nir­gends Ruhe fin­den, bis zu den Tob­süch­ti­gen hin­auf, die teils durch Zwangs­ja­cken, teils durch ernst­haf­te­re Mit­tel un­schäd­lich ge­macht wer­den müs­sen, sah ich alle die trau­ri­gen Über­gän­ge die­ser lei­der so häu­fi­gen und bei den über­trie­be­nen An­for­de­run­gen und stei­gen­den Be­dürf­nis­sen des jet­zi­gen Le­bens im­mer mehr und mehr sich aus­brei­ten­den ent­setz­li­chen Krank­heit.

Was die Klei­dung der Kran­ken be­trifft, so be­stand die der Är­me­ren all­ge­mein in rein­li­chen, lei­ne­nen, blau und weiß ge­streif­ten Bein­klei­dern und Über­rö­cken, an­stän­di­gen Hals­tü­chern, dun­kelblau­en Tuch­wes­ten und wol­le­nen St­rümp­fen und Schu­hen; die Frau­en wa­ren dement­spre­chend ge­klei­det. Die Be­mit­tel­te­ren da­ge­gen, be­son­ders die Pri­vat­kran­ken, die ihr ei­ge­nes Zim­mer be­wohn­ten, klei­de­ten sich nach ih­rem ei­ge­nen Ge­schmack; nur füge ich die Be­mer­kung hin­zu, daß när­ri­sche und über­trie­ben lu­xu­ri­öse oder ko­ket­te Klei­dun­gen, so­ge­nann­te Phan­ta­siero­ben, nicht ge­dul­det wur­den.

Auf­fal­lend war mir die Men­ge jun­ger und wirk­lich recht hüb­scher, so­gar ei­ni­ger schö­ner Mäd­chen, die alle mehr oder we­ni­ger ge­schmack­voll, vie­le gar ele­gant und reich ge­klei­det wa­ren.

So hat­te ich denn die meis­ten Kran­ken­zim­mer be­sucht, und ich hat­te alle Ur­sa­che ein­zu­ge­ste­hen, daß vie­le mei­ner Er­war­tun­gen über­trof­fen wor­den wa­ren.

Die Woh­nung des Ir­ren von St. Ja­mes aber, nach der ich ein so leb­haf­tes Ver­lan­gen trug, war mir nicht ge­zeigt wor­den, auch er­wähn­te der Di­rek­tor ihn gar nicht, ob­gleich er mich auf ei­ni­ge an­de­re Pri­vat­kran­ke auf­merk­sam ge­macht hat­te. Gern hät­te ich et­was Nä­he­res über ihn er­fah­ren, al­lein ich be­schränk­te noch mei­ne Neu­gier­de, in­dem ich mir vor­nahm, erst mei­ne ei­ge­nen Beo­b­ach­tun­gen über ihn zu sam­meln, be­vor ich mir die ge­naue­re Aus­kunft von sei­nen Pfle­gern er­bat.

Hier­auf führ­te mich Mr. El­liot­son in sei­ne ei­ge­ne Woh­nung, die ich wie das vor­nehms­te Haus in Lon­don aus­ge­stat­tet fand. Bei dem zwei­ten Früh­stück, wel­ches ich hier mit mei­nem gast­frei­en Wir­te ein­nahm, hat­te ich auch das Ver­gnü­gen, den Pre­di­ger der An­stalt nä­her ken­nen­zu­ler­nen, der zu­fäl­lig eben in die Türe trat, als der Kork von der ers­ten Fla­sche ge­zo­gen ward.

»Haha, Mr. Brom­field!«, sag­te der Di­rek­tor lä­chelnd, »Sie kön­nen kei­nen Prop­fen sprin­gen hö­ren, ohne da­bei­sein zu müs­sen.«

»Sa­gen Sie lie­ber, ich habe ein ge­wis­ses Ah­nungs­ver­mö­gen, wo ei­ner sprin­gen wird«, ant­wor­te­te Mr. Brom­field, »denn sonst hät­te ich un­mög­lich so schnell hier­sein kön­nen, da der in­ter­essan­te Knall ge­sch­ah, als ich ge­ra­de zwi­schen Tür und An­gel stand.«

»Sie ha­ben doch kei­nen Scha­den von dem Schreck da­von­ge­tra­gen, wie?«

»O nein, Sir! Sie wis­sen ja, ich lie­be der­ar­ti­ge Geräusche und habe auch viel der­glei­chen in mei­nem Le­ben ge­macht«, setz­te er mit ei­nem hei­te­ren Blick auf mich hin­zu.

Dies wa­ren die ers­ten Wor­te, die ich den Geist­li­chen von St. Ja­mes in mei­ner Ge­gen­wart mit dem Di­rek­tor wech­seln hör­te, und ich schloß dar­aus, daß Bei­de auf ei­nem gu­ten Fuße mit­ein­an­der stan­den; auch ging das Ge­spräch noch eine Wei­le in ähn­li­cher Art fort, und ich konn­te hin­läng­lich be­mer­ken, daß Mr. Brom­field ein lus­ti­ger Ge­sell­schaf­ter und eben kein Duck­mäu­ser war. Mei­ne spä­te­ren Er­fah­run­gen über ihn be­stä­tig­ten denn auch die­se Mei­nung voll­kom­men; er war ge­ra­de das Ge­gen­teil da­von.

Üb­ri­gens war er ein höchst ori­gi­nel­ler Mensch, der au­ßer sei­nem wei­ßen Hals­tu­che mit lang her­ab­hän­gen­den Zip­feln, und sei­nem lan­gen, bis weit über die Knie her­ab­rei­chen­den schwar­zen Ro­cke nichts Pries­ter­li­ches an sich hat­te. Sein Ge­sicht war ohne Bart, im­mer hei­ter und von ei­ner et­was röt­li­chen Far­be, be­son­ders aber fie­len mir sei­ne leb­haf­ten Au­gen auf.

Mr. Brom­field war bei wei­tem mehr der Ge­sel­lig­keit und ih­ren re­el­len Freu­den als den ab­strak­ten Stu­di­en ei­ner in zu enge Gren­zen ge­wie­se­nen Wis­sen­schaft zu­ge­tan, und er woll­te sich auch jetzt, glau­be ich, für die vie­len Schick­sals­prü­fun­gen, die er hat­te be­ste­hen müs­sen, da­durch schad­los hal­ten, daß er den Rest sei­nes kost­ba­ren Le­bens wie ein ech­ter Le­bens­künst­ler hin­brach­te. Denn er war frü­her als ein gu­ter Kan­zel­red­ner be­rühmt, in ei­ner klei­nen wohl­ha­ben­den Stadt Eng­lands Pfar­rer ge­we­sen, hat­te aber die­se ein­träg­li­che Stel­le, ich weiß nicht aus wel­chen Grün­den, ver­las­sen und sich zu­fol­ge ei­nes Be­fehls auf ein kö­nig­li­ches Schiff ver­fü­gen müs­sen, das für eine drei Jah­re dau­ern­de Wel­t­um­seg­lungs­rei­se be­stimmt war.

Mr. Brom­field nahm jede Ge­le­gen­heit wahr, sich von den gu­ten Sit­ten der Be­woh­ner der Welt zu un­ter­rich­ten, und er zog eine drei­jäh­ri­ge Was­ser­rei­se ei­nem viel­leicht eben­so lan­ge dau­ern­den Auf­ent­hal­te an ei­nem lang­wei­li­ge­ren Orte, wo es auch sehr viel Was­ser gab, vor. Der gute Mann kehr­te nach über­stan­de­ner Prü­fungs­zeit nach Eng­land zu­rück, und es ist kein Wun­der, daß ein so lan­ges Ver­wei­len un­ter so vie­len Wil­den, die er ge­se­hen, ihn eben nicht viel zah­mer ge­macht hat­te, und so sah er sich ge­nö­tigt, auch aus dem be­schwer­li­chen Ma­ri­ne­dienst Sei­ner Ma­je­stät zu schei­den.

Jetzt aber hat­te der in alle Welt wan­dern­de Jün­ger nicht mehr vie­le Aus­sich­ten auf eine gute Pfar­rei, aber der Him­mel, der sei­ne Lieb­lings­kin­der im­mer be­schützt und ver­sorgt, füg­te es, daß ei­ni­ge ihm noch nicht er­stor­be­ne Gön­ner, die die Welt lieb­ten, wie er sie lieb­te, ihm so­viel Ein­sicht und Er­fah­rung zu­trau­ten, um den Wahn­sin­ni­gen in ei­ner ent­fern­ten Pro­vinz­stadt täg­lich ei­ni­ge heil­sa­me Leh­ren zu ge­ben. So kam er denn nach je­ner Ir­ren­an­stalt und von da, weil er sich in sei­nem neu­en Be­ru­fe durch einen ge­wis­sen Takt aus­zeich­ne­te, den er bis da­hin noch nicht be­ses­sen, durch aber­ma­li­ge Ver­wen­dung je­ner Gön­ner nach St. Ja­mes.