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Als kleiner Junge wurde er im Wald gefunden, allein und ohne Erinnerungen. Niemand weiß, wer er ist oder wie er dort hinkam. Dreißig Jahre später ist Wilde immer noch ein Außenseiter, lebt zurückgezogen als brillanter Privatdetektiv mit außergewöhnlichen Methoden und Erfolgen. Bis die junge Naomi Pine verschwindet und Staranwältin Hester Crimstein ihn um Hilfe bittet. Was zunächst wie ein Highschooldrama aussieht, zieht bald immer weitere Kreise – in eine Welt, die Wilde meidet. Die Welt der Mächtigen und Unantastbaren, die nicht nur Naomis Schicksal in den Händen zu halten scheinen ...
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Seitenzahl: 528
Buch
Als kleinen Jungen fand man ihn in den Wäldern, allein und ohne jede Erinnerung an seine Vergangenheit. Auch dreißig Jahre später weiß Wilde noch nicht, woher er kommt und wer ihn einst seinem Schicksal überlassen hat. Auch darum hat er die Suche nach der Wahrheit zu seinem Beruf gemacht und ist Privatdetektiv geworden – mit außergewöhnlichen Methoden und einer beeindruckenden Erfolgsbilanz.
Und so bittet die Strafverteidigerin Hester Crimstein ganz bewusst Wilde um Hilfe, nachdem die Schülerin Naomi Pine spurlos verschwunden ist. Als Außenseiterin wurde die Jugendliche von ihren Klassenkameraden gnadenlos gemobbt – was für ein ganz normales Highschool-Drama spricht. Somit nimmt niemand Naomis Verschwinden wirklich ernst, noch nicht einmal ihr Vater. Doch je intensiver Wilde recherchiert, desto komplizierter wird der Fall. Und spätestens als Wilde selbst aufgrund seiner beharrlichen Fragen ins Visier einflussreicher Politiker gerät und ein weiterer Jugendlicher verschwindet, ist klar, dass Wilde und Hester einem gefährlichen Geheimnis auf der Spur sind …
Weitere Informationen zu Harlan Coben und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.
HARLAN COBEN
Der Junge aus dem Wald
Thriller
Aus dem Amerikanischenvon Gunnar Kwisinski
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The boy from the woods« bei Grand Central Publishing, New York/Boston. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Deutsche Erstveröffentlichung August 2020
Copyright © der Originalausgabe 2020 by Harlan Coben
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020
by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Straße 28, 81673 München
Redaktion: Anja Lademacher
Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München
Umschlagmotiv: © Arcangel / Aaro Keipi
TH · Herstellung: ik
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-25836-8V004
www.goldmann-verlag.deBesuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz
Für Ben SevierLektor und FreundZwölf Bücher, Tendenz steigend
North Jersey Gazette18. April 1986
»WILDER« JUNGE VERLASSEN IM WALD AUFGEFUNDEN
Entdeckung des geheimnisvollen Mogli-Jungen wirft viele Fragen auf
Westville, New Jersey – Es ist eines der bizarrsten Ereignisse der jüngeren Vergangenheit. Im Ramapo Mountain State Forest in der Nähe von Westville wurde ein schätzungsweise sechs- bis achtjähriger verwahrloster Junge aufgegriffen, der offenbar alleine im Wald gelebt hat. Die Behörden haben keinerlei Informationen über die Identität des Jungen oder die Dauer seines Aufenthalts dort. Der Fall bleibt mysteriös.
»Fast wie Mogli aus dem Dschungelbuch«, erklärte Oren Carmichael, der stellvertretende Polizeichef von Westville.
Der Junge – der zwar Englisch versteht und spricht, seinen Namen aber nicht kennt – wurde zuerst von Don und Leslie Katz, zwei Wanderern aus Clifton, New Jersey, entdeckt. »Wir wollten gerade unsere Picknicksachen zusammenpacken, als wir im Wald ein Rascheln hörten«, sagte Mr Katz. »Zuerst dachte ich, es könnte ein Bär sein, aber als er wegrannte, haben wir den Jungen deutlich gesehen.«
Drei Stunden später fanden Park Ranger mit Hilfe der örtlichen Polizei den abgemagerten und in zerfetzte Kleidung gehüllten Jungen in seinem behelfsmäßigen Lager. »Wir wissen derzeit nicht, seit wann der Junge sich im State Forest aufhält oder wie er hierhergekommen ist«, sagte Tony Aurigemma, der Leiter der New Jersey State Park Ranger. »Er erinnert sich nicht an seine Eltern oder andere Erwachsene. Wir haben bei anderen Strafverfolgungsbehörden nachgefragt, sind bisher jedoch noch nicht auf vermisste Kinder in seinem Alter gestoßen, auf die seine Beschreibung passt.«
Im Laufe des letzten Jahres hatten bereits mehrere Wanderer erzählt, dass sie in den Ramapo Mountains einen »wilden« Jungen oder einen »kleinen Tarzan« gesehen hätten, und eine Personenbeschreibung abgegeben, die auf den Jungen passte. Diese Sichtungen wurden aber meist als reine Legende abgetan.
James Mignone, ein Wanderer aus Morristown, New Jersey, sagte: »Man könnte glauben, jemand hätte ihn dort zur Welt gebracht und einfach in der Wildnis ausgesetzt.«
»Es ist der erstaunlichste Fall eines Überlebens in der Wildnis, mit dem wir je zu tun hatten«, sagte Park Ranger Aurigemma. »Wir wissen nicht, ob der Junge Tage, Wochen, Monate oder gar Jahre hier draußen verbracht hat.«
Personen, die über Informationen zu dem Jungen verfügen, werden gebeten, sich beim Westville Police Department zu melden.
»Irgendjemand da draußen muss doch etwas wissen«, sagte Deputy Chief Carmichael. »Der Junge ist ja nicht einfach vom Himmel in den Wald gefallen.«
Wie hält sie das aus?
Wie schafft sie es, diese Tortur immer wieder über sich ergehen zu lassen?
Tag für Tag. Woche für Woche. Jahr für Jahr.
Sie sitzt mit starrem Blick in der Schulaula. Sie blinzelt nicht. Ihre Miene ist versteinert. Sie blickt weder nach rechts noch nach links. Sie bewegt sich überhaupt nicht.
Sie starrt stur geradeaus.
Sie ist umgeben von Klassenkameraden, zu denen auch Matthew gehört, sieht aber keinen von ihnen an. Sie redet auch mit keinem, was die anderen jedoch nicht daran hindert, auf sie einzureden. Die Jungs – Ryan, Crash – ja, er heißt wirklich so –, Trevor, Carter – beleidigen sie ununterbrochen, werfen ihr hämisch flüsternd schreckliche Dinge an den Kopf, verspotten sie, lachen höhnisch. Sie bewerfen sie mit Büroklammern, beschießen sie mit Gummibändern, schnippen Popel auf sie. Sie stecken sich kleine Papierstücke in den Mund, formen nasse Kugeln daraus und beschießen sie auf verschiedenste Arten damit.
Als eine solche Papierkugel in ihren Haaren hängen bleibt, lachen sie laut.
Das Mädchen – sie heißt Naomi – rührt sich nicht. Sie versucht nicht, die Papierfetzen aus ihren Haaren zu entfernen. Sie starrt einfach geradeaus. Ihre Augen sind trocken. Matthew erinnert sich an eine Zeit – vor zwei oder drei Jahren –, als sie bei diesen ständigen, unerbittlichen, tagtäglichen Schmähungen noch feuchte Augen bekam.
Jetzt nicht mehr.
Matthew sieht zu. Er unternimmt nichts.
Die Lehrer sind inzwischen taub dafür und bemerken es kaum. Einer ruft erschöpft: »Okay, Crash, das reicht jetzt«, aber weder Crash noch einer der anderen schenken der Ermahnung auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
Naomi nimmt es derweil einfach ungerührt hin.
Matthew müsste etwas unternehmen, um das Mobbing zu stoppen. Doch das tut er nicht. Nicht mehr. Er hat es einmal versucht.
Es ist nicht gut ausgegangen.
Matthew versucht sich zu erinnern, wann das alles angefangen hat. In der Grundschule war sie ein fröhliches Kind gewesen. Er erinnerte sich daran, dass sie immer gelächelt hatte. Auch wenn sie ältere Kleidung aufgetragen und sich nicht oft genug die Haare gewaschen hatte, was dazu führte, dass ein paar Mädchen sich gelegentlich über sie lustig machten. Aber das blieb alles im Rahmen, bis zu dem Tag, als ihr so schrecklich übel wurde, und sie sich in der vierten Klasse bei Mrs Walsh übergab. Feste Stücke des Erbrochenen prallten wie Projektile vom Linoleum-Fußboden des Klassenzimmers ab, und die nassen braunen Teile klatschten auf Hosen und Schuhe von Kim Rogers und Taylor Russell, und alles stank so heftig, dass Mrs Walsh das Klassenzimmer räumen ließ, und alle Kinder, darunter auch Matthew, gingen mit zugehaltenen Nasen aufs Kickballfeld und murmelten unterwegs »bäh« und »igitt«.
Danach war für Naomi nichts mehr wie vorher.
Matthew hatte oft überlegt, wie es dazu kommen konnte. Hatte sie sich morgens schon unwohl gefühlt? Hatte ihr Vater – ihre Mutter war damals schon weg vom Fenster – sie gezwungen, zur Schule zu gehen? Wäre für Naomi alles anders gelaufen, wenn sie an diesem Tag zu Hause geblieben wäre? War eine Tür für sie zugefallen, weil sie sich so schrecklich erbrochen hatte? Oder war es von Anfang an vorgezeichnet gewesen, dass sie diesen harten, düsteren und steinigen Weg gehen musste?
Eine weitere zerkaute Papierkugel bleibt in ihren Haaren hängen. Wieder wird sie beschimpft und mit üblen Beleidigungen überhäuft.
Naomi sitzt nur stumm und reglos da und wartet, dass es aufhört.
Dass es zumindest für einen Moment aufhört. Vielleicht für heute. Ihr muss klar sein, dass es nicht für immer aufhört. Heute nicht. Morgen auch nicht. Das Leiden lässt nie lange auf sich warten. Es ist ihr ständiger Begleiter.
Wie hält sie das aus?
An manchen Tagen, so wie heute, achtet Matthew ganz genau darauf und möchte etwas unternehmen.
Meistens aber nicht. Natürlich wird sie auch an diesen Tagen schikaniert, aber es geschieht so häufig, ist so normal, dass es in den Hintergrund tritt. Matthew war etwas Schreckliches bewusst geworden: Man wird immun gegen Grausamkeiten. Sie werden zur Norm. Man akzeptiert sie. Man sieht darüber hinweg.
Hat Naomi sie auch einfach akzeptiert? Ist sie immun dagegen geworden?
Matthew weiß es nicht. Aber sie ist jeden Tag da, sitzt im Unterricht in der letzten Reihe, bei den morgendlichen Schul-Appellen in der ersten, in der Cafeteria ganz allein an einem Ecktisch.
Bis sie eines Tages – eine Woche nach diesem Appell – nicht da ist.
Eines Tages ist Naomi verschwunden.
Und Matthew muss unbedingt wissen, warum.
Der Experte im Hipster-Outfit sagte: »Den Typen sollte man einfach in den Knast stecken.«
Hester Crimstein war live auf Sendung und wollte gerade zum verbalen Gegenschlag ansetzen, als ihr am Rand ihres Blickfelds jemand ins Auge fiel, der wie ihr Enkel aussah. Gegen das Studio-Scheinwerferlicht war die Person nur schwer auszumachen, aber sie sah aus wie Matthew.
»Das sind aber starke Worte«, sagte der Moderator, ein ehemals charmanter Schönling, dessen Diskussionstechnik in erster Linie darin bestand, einen verblüfften Gesichtsausdruck aufzusetzen und beizubehalten, als wären seine Gäste Idioten, ganz egal, ob ihre Argumente Sinn ergaben oder nicht. »Was sagen Sie dazu, Hester?«
Matthews Erscheinen – er musste es sein – hatte sie aus dem Konzept gebracht.
»Hester?«
Kein guter Zeitpunkt, die Gedanken schweifen zu lassen, ermahnte sie sich. Konzentrier dich.
»Sie sind abscheulich«, sagte Hester.
»Wie bitte?«
»Sie haben mich schon verstanden.« Sie richtete ihren berüchtigten, vernichtenden Blick auf den Hipster-Experten. »Abscheulich.«
Was will Matthew hier?
Ihr Enkel hatte sie noch nie ohne Vorankündigung während der Arbeit besucht – weder im Büro noch in einem Gerichtssaal oder im Studio.
»Würden Sie das bitte erklären?«, fragte der Moderatoren-Schönling.
»Aber klar doch«, sagte Hester und sah den Hipster-Experten weiter mit einem feurigen Blick an. »Sie hassen Amerika.«
»Wie bitte?«
»Mal ehrlich«, fuhr Hester fort und warf ihre Hände in die Luft, »wozu haben wir überhaupt ein Gerichtswesen? Wer braucht denn so etwas? Schließlich haben wir doch die öffentliche Meinung, oder? Kein Prozess, keine Jury, kein Richter – lassen wir doch einfach die Twitter-Meute entscheiden.«
Der Hipster-Experte setzte sich etwas aufrechter hin. »Das habe ich nicht gesagt.«
»Doch, genau das haben Sie gesagt.«
»Es gibt Beweise, Hester. Ein sehr eindeutiges Video.«
»Oho, ein Video.« Sie wackelte mit den Fingern, als sprächen sie über einen Geist. »Also noch einmal: Da braucht es keinen Richter und keine Jury. Das erledigen Sie schon, als gütiger Anführer der Twitter-Meute …«
»Ich bin nicht …«
»Pst! Jetzt rede ich. Oh, Entschuldigung, ich glaube, ich habe Ihren Namen vergessen. Insgeheim nenne ich Sie den Hipster-Experten, aber ich kann Sie ja auch einfach Chad nennen?« Er öffnete den Mund, aber Hester ließ sich nicht bremsen. »Wunderbar. Sagen Sie, Chad, welche Strafe würden Sie als angemessen für meinen Mandanten erachten? Wo Sie doch schon darüber entschieden haben, ob er schuldig oder unschuldig ist, warum sprechen Sie dann nicht auch gleich das Urteil?«
»Ich heiße Rick.« Er schob seine Hipster-Brille hoch. »Und wir alle hier haben das Video gesehen. Ihr Mandant hat einem Mann ins Gesicht geschlagen.«
»Herzlichen Dank für die Analyse. Wissen Sie, was wirklich hilfreich wäre, Chad?«
»Mein Name ist Rick.«
»Rick, Chad, wo ist da der Unterschied? Es wäre wirklich hilfreich, ja geradezu wahnsinnig hilfreich, wenn Sie und Ihre Meute einfach alle Entscheidungen für uns treffen. Überlegen Sie nur, wie viel Zeit wir so sparen könnten. Wir posten einfach ein Video in den sozialen Medien und entscheiden anhand der Reaktionen über Schuld oder Unschuld. Daumen hoch oder Daumen runter. Wir bräuchten weder Zeugen noch Aussagen oder Beweise. Nur unseren Richter Rick Chad hier.«
Das Gesicht des Hipster-Experten lief rot an. »Wir haben alle gesehen, was Ihr reicher Mandant dem armen Mann angetan hat.«
Der Moderatoren-Schönling ging dazwischen: »Bevor wir fortfahren, zeigen wir das Video noch einmal, damit alle, die gerade erst zugeschaltet haben, wissen, worüber wir sprechen.«
Hester hätte am liebsten widersprochen, aber sie hatten das Video schon unzählige Male gezeigt und würden es noch unzählige Male zeigen. Ihr Einspruch wäre nicht nur vergebens, ihr Mandant, um den es in dem Video ging, ein wohlhabender Finanzberater namens Simon Greene, würde dadurch nur noch schuldiger wirken.
Viel wichtiger war jetzt, dass Hester die paar Sekunden, in denen die Kameras ausgeschaltet waren, dafür nutzen konnte, nach Matthew zu sehen.
Das virale Video – es hatte bereits vier Millionen Klicks, und täglich wurden es mehr – hatte ein Tourist im Central Park mit seinem iPhone aufgenommen. Auf dem Bildschirm holte Hesters Mandant Simon Greene im maßgeschneiderten Anzug mit perfekt gebundener Hermes-Krawatte aus und rammte einem ungekämmten jungen Mann in abgerissener Kleidung – bei dem es sich, wie Hester wusste, um einen Drogensüchtigen namens Aaron Corval handelte – die Faust ins Gesicht.
Aus Corvals Nase schoss Blut.
Ein Bild wie aus einem Roman von Charles Dickens – der reiche, privilegierte Gentleman verpasst dem armen Burschen aus der Gosse ohne jeden Grund einen Kinnhaken.
Hester reckte den Kopf zur Seite und versuchte durch den Dunstschleier der Studioscheinwerfer Augenkontakt zu Matthew aufzunehmen. Sie trat oft als Rechtsexpertin in den Nachrichten von Cable News auf, und an zwei Abenden in der Woche hatte die »berühmte Strafverteidigerin« Hester Crimstein ihre eigene Sendung auf diesem Kanal, Crimstein on Crime. Obwohl man ihren Namen nicht Crime-Stein aussprach, sondern Krimm-Stihn, war der Stabreim offenbar für ausreichend fernsehtauglich befunden worden, außerdem sah er im Laufband unten am Bildschirmrand gut aus, also hatte der Sender es dabei belassen.
Ihr Enkel stand im Schatten. Hester sah, dass Matthew die Hände rang, genau wie sein Vater es getan hatte, und plötzlich verspürte sie einen Stich tief in der Brust, sodass sie einen Moment lang keine Luft bekam. Sie überlegte ob sie zu Matthew gehen und ihn fragen sollte, aber das Prügel-Video war schon zu Ende, und Hipster Rick Chad hatte Schaum vor dem Mund.
»Haben Sie gesehen?« Speicheltropfen flogen aus seinem Mund und verfingen sich in seinem Bart. »Das ist doch sonnenklar. Ihr reicher Mandant hat grundlos einen Obdachlosen angegriffen.«
»Sie wissen nicht, was passiert ist, bevor die Kamera eingeschaltet wurde.«
»Das macht keinen Unterschied.«
»Natürlich tut es das. Genau deshalb haben wir ein Rechtssystem, damit Bürgerwehrler wie Sie nicht einfach nach dem Mob rufen, der dann gewaltsam gegen einen unschuldigen Menschen vorgeht.«
»Moment. Niemand hat hier von Lynchjustiz gesprochen.«
»Natürlich haben Sie das. Sie haben fast das Patent darauf. Sie wollen meinen Mandanten, einen Mann ohne Vorstrafen und Vater von drei Kindern, sofort in den Knast stecken. Ohne Prozess, weitere Fragen oder sonst irgendetwas. Kommen Sie, Rick Chad, lassen Sie Ihren inneren Faschisten raus.« Hester schlug auf den Tisch, erschreckte den Moderatoren-Schönling damit und skandierte: »Sperrt ihn ein. Sperrt ihn ein.«
»Hören Sie auf damit!«
»Sperrt ihn ein!«
Ihr Sprechgesang machte ihn offensichtlich ganz fertig. Er wurde rot. »Das habe ich doch überhaupt nicht gemeint. Sie übertreiben absichtlich maßlos.«
»Sperrt ihn ein!«
»Hören Sie auf damit. Das hat keiner gesagt.«
Hester konnte gut Menschen imitieren. Sie nutzte das auch gern im Gerichtssaal, um Staatsanwälte subtil vorzuführen, auch wenn das vielleicht ein wenig infantil war. Sie lehnte sich zurück und wiederholte Rick Chads Aussage Wort für Wort im gleichen Tonfall wie er: »Den Typen sollte man einfach in den Knast stecken.«
»Die Entscheidung liegt beim Gericht«, sagte Hipster Rick Chad, »aber wenn jemand sich so benimmt, wenn er einem anderen am helllichten Tag ins Gesicht schlägt, hat er es vielleicht verdient, gekündigt zu werden und seinen Job zu verlieren.«
»Wieso? Weil Sie selbst und Deprimierte-Dental-Hygienikerin sowie Nagel-Die-Ladys69 auf Twitter das sagen? Sie kennen die Zusammenhänge doch gar nicht. Sie wissen nicht einmal, ob das Video echt ist.«
Moderatoren-Schönling kommentierte die Äußerung durch das Hochziehen einer Augenbraue. »Wollen Sie sagen, dass das Video gefälscht ist?«
»Gut möglich, ja. Wissen Sie, ich hatte da eine Mandantin, jemand hatte ihr lächelndes Gesicht neben eine tote Giraffe gephotoshopt und behauptet, sie sei Jägerin und habe das Tier geschossen. Es war die Racheaktion eines Exmanns. Können Sie sich vorstellen, was für einen Shitstorm sie über sich ergehen lassen musste, mit wie viel Hass sie überhäuft wurde?«
Die Geschichte stimmte nicht – Hester hatte sie sich ausgedacht –, aber sie hätte ohne Weiteres stimmen können, und manchmal reichte das.
»Und wo ist Ihr Mandant Simon Greene derzeit?«, fragte Hipster Rick Chad.
»Welche Rolle spielt das denn?«
»Er ist zu Hause, stimmt’s? Auf Kaution entlassen?«
»Er ist ein unschuldiger Mensch, ein guter, fürsorglicher Mann …«
»Und reich.«
»Jetzt wollen Sie auch noch das Kautionssystem abschaffen?«
»Ein reicher weißer Mann.«
»Hören Sie, Rick Chad, ich weiß, dass Sie ein toleranter Typ sind, mit politischem Bewusstsein und all dem Zeug, man sieht das ja schon an Ihrem coolen Bart und der Hipster-Mütze – ist die von Kangol? –, aber Ihre schlichten Antworten und Ihre Vorurteile gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen sind ebenso schlimm wie die schlichten Antworten und die Vorurteile der anderen Seite.«
»Wow, das ist fast schon klassischer Whataboutism – Sie lenken ab, indem Sie auf die anderen zeigen.«
»Nein, mein Junge, ich lenke nicht ab. Hören Sie gut zu, Sie verkennen leider, dass Sie und diejenigen, die Sie hassen, drauf und dran sind, ein und dasselbe zu werden.«
»Umgekehrt wird ein Schuh draus«, sagte Rick Chad. »Wäre Simon Greene arm und schwarz und Aaron Corval reich und weiß …«
»Sie sind beide weiß. Es ist keine Frage von Rassismus.«
»Alles ist eine Frage von Rassismus, aber von mir aus. Wenn der Typ in Lumpen den reichen weißen Mann im Anzug geschlagen hätte, würde er nicht von Hester Crimstein verteidigt werden. Also säße er jetzt im Gefängnis.«
Hmh, dachte Hester. Sie musste zugeben, dass Rick Chad da vollkommen richtiglag.
Der Moderatoren-Schönling sagte: »Hester?«
Die Zeit für diesen Programmteil ging sowieso gerade zu Ende, also warf Hester die Hände in die Luft und sagte: »Wenn Rick Chad behauptet, dass ich eine großartige Anwältin bin, werde ich ihm doch nicht widersprechen.«
Das Publikum lachte.
»Und damit müssen wir dieses Thema für heute beenden. Anschließend sprechen wir über die neu aufflammende Kontroverse um den aufstrebenden Präsidentschaftskandidaten Rusty Eggers. Ist Rusty pragmatisch oder barbarisch? Ist er wirklich die gefährlichste Person in Amerika? Bleiben Sie dran, wir sind gleich zurück.«
Hester zog den Ohrhörer-Stöpsel heraus und nahm das Mikrofon ab. Die Werbepause hatte schon angefangen, als sie aufstand, um zu Matthew zu gehen. Er war ziemlich groß geworden, genauso groß wie sein Vater – was ihr erneut einen Stich in der Brust versetzte.
Hester sagte: »Deine Mutter …?«
»Der geht’s gut«, sagte Matthew. »Allen geht’s gut.«
Hester konnte es sich nicht verkneifen. Sie schlang die Arme um den höchstwahrscheinlich peinlich berührten Teenager und drückte ihn ungestüm, obwohl sie keine eins sechzig maß und er fast dreißig Zentimeter größer war. Matthew erinnerte sie immer mehr an seinen Vater. Als er klein war und sein Vater noch lebte, war er David nicht sehr ähnlich gewesen, inzwischen war die Verwandtschaft unverkennbar – die Haltung, der Gang, das Händeringen, das Kräuseln der Stirn –, und es brach ihr erneut das Herz. So sollte es natürlich eigentlich nicht sein. Eigentlich sollte Hester einen gewissen Trost daraus ziehen, dass sie Züge ihres verstorbenen Sohns in seinem Jungen wiederfand, als ob ein kleiner Teil von David den Unfall überlebt hätte und in ihm fortbestehen würde. Stattdessen machten ihr die Geister der Vergangenheit schrecklich zu schaffen, rissen selbst nach all den Jahren noch alte Wunden auf, und Hester fragte sich oft, ob es besser war, diesen Schmerz zu empfinden als gar nichts zu fühlen. Auch wenn das natürlich eine rhetorische Frage war. Sie hatte sowieso keine Wahl, und sie würde auch nichts anderes wollen. Nichts zu empfinden, darüber hinweg zu sein wäre der schlimmste Verrat.
Also drückte sie ihren Enkel und kniff die Augen zusammen. Der Teenager klopfte ihr sanft auf den Rücken, beinah so, als ließe er das Ganze nur ihr zuliebe über sich ergehen.
»Nana?«
So nannte er sie. Nana. »Ist wirklich alles in Ordnung mit dir?«
»Mir geht’s gut.«
Matthews Haut war dunkler als die seines Vaters. Laila, seine Mutter, war schwarz, womit Matthew auch als schwarz galt oder als dunkelhäutig oder Mischling oder was auch immer. Eigentlich war das Alter ja keine Ausrede, aber Hester, die über siebzig war, auch wenn sie allen sagte, sie hätte bei neunundsechzig aufgehört zu zählen – nur zu, raus mit dem dummen Spruch, sie hatte sie alle schon gehört –, hatte Probleme, bei den jeweils korrekten Begriffen für die ethnische Zugehörigkeit auf dem Laufenden zu bleiben.
»Wo ist deine Mutter?«, fragte Hester.
»Bei der Arbeit, nehme ich an.«
»Was ist los?«, fragte Hester.
»Es geht um dieses Mädchen in der Schule«, sagte Matthew.
»Was ist mit ihr?«
»Sie ist verschwunden, Nana. Ich möchte, dass du mir hilfst.«
Sie heißt Naomi Pine«, sagte Matthew.
Sie saßen auf dem Rücksitz von Hesters Cadillac Escalade. Matthew war mit dem Zug aus Westville gekommen. Auf der einstündigen Zugfahrt war er am Frank-Lautenberg-Bahnhof in Secaucus umgestiegen, um nach Manhattan zu kommen. Aber Hester hielt es für einfacher und besser, ihn mit dem Wagen nach Westville zurückzubringen. Sie war dort schon viel zu lange nicht mehr zu Besuch gewesen, über einen Monat war es her, und auf diese Weise konnte sie die sprichwörtlichen zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, ihrem verstörten Enkel helfen und gleichzeitig etwas Zeit mit ihm und seiner Mutter verbringen.
»Nana?«
»Diese Naomi«, sagte Hester, »ist das deine Freundin?«
Matthew zuckte die Achseln, wie es nur ein Teenager kann. »Ich kenn sie schon, seit wir beide so sechs waren.«
Das war keine echte Antwort auf ihre Frage, aber sie würde es durchgehen lassen.
»Seit wann wird sie vermisst?«
»So seit einer Woche.«
So sechs waren. So seit einer Woche. Hester machte das verrückt – dieses ewige »So« und »Du-weißt-schon« –, aber dafür war jetzt keine Zeit.
»Hast du versucht, sie anzurufen?«
»Ich hab ihre Telefonnummer nicht.«
»Wird sie von der Polizei gesucht?«
Teenager-Achselzucken.
»Hast du mit ihren Eltern gesprochen?«
»Sie wohnt bei ihrem Vater.«
»Hast du mit ihrem Vater gesprochen?«
Er verzog das Gesicht, als wäre das das Dümmste, was er je gehört hatte.
»Na ja, woher weißt du dann, dass sie nicht einfach krank ist? Oder im Urlaub oder so etwas?«
Keine Antwort.
»Wie kommst du darauf, dass sie verschwunden ist?«
Matthew starrte nur aus dem Fenster. Tim, Hesters langjähriger Fahrer, bog von der Route 17 ab und lenkte den Cadillac ins Zentrum von Westville, New Jersey, keine 50 Kilometer von Manhattan entfernt. Die Ramapo Mountains, die zu den Appalachen gehörten, erhoben sich hinter dem Ort. Wie üblich stürzten hier diverse Erinnerungen auf sie ein und versetzten ihr schmerzhafte Stiche.
Jemand hatte einmal zu Hester gesagt, dass Erinnerungen schmerzten. Besonders die guten. Mit zunehmendem Alter erkannte Hester, wie viel Wahrheit darin lag.
Hester und Ira – ihr vor sieben Jahren verstorbener Mann – hatten in Westville, New Jersey, diesem selbst ernannten Gebirgsvorort drei Jungs großgezogen. Ihr ältester Sohn Jeffrey war inzwischen Zahnarzt in Los Angeles und in der vierten Ehe mit einer Immobilienmaklerin namens Sandy verheiratet. Sandy war die erste von Jeffreys Frauen, die nicht sehr viel jünger war und die er nicht als Dentalhygienikerin in seiner Praxis kennengelernt hatte. Ein Fortschritt, wie Hester hoffte. Ihr zweiter und mittlerer Sohn Eric arbeitete, wie schon sein Vater, im für sie undurchschaubaren Finanzwesen. Hester hatte nie ganz verstanden, was die beiden Männer, ihr Mann und ihr Sohn, wirklich machten, aber irgendwie schoben sie große Geldmengen von A nach B, damit C Geld verdiente. Eric und seine Frau Stacey hatten drei Jungs, die, genau wie bei Hester und Ira, in Abständen von jeweils zwei Jahren auf die Welt gekommen waren. Die Familie war kürzlich nach Raleigh, North Carolina, gezogen, was im Moment offenbar der letzte Schrei war.
Ihr jüngster Sohn – und, wenn sie ehrlich war, Hesters Liebling – war Matthews Vater, David, gewesen.
Hester fragte Matthew: »Wann kommt deine Mom nach Hause?«
Seine Mutter Laila arbeitete wie Oma Hester in einer großen Anwaltskanzlei, ihr Spezialgebiet war jedoch Familienrecht. Ihre ersten Berufserfahrungen hatte sie in den Semesterferien als Hesters Praktikantin gemacht, als sie noch an der Columbia Law School studierte. Dabei hatte sie auch Hesters Sohn kennengelernt.
Laila und David hatten sich quasi auf den ersten Blick ineinander verliebt. Sie hatten geheiratet. Und sie hatten einen Sohn bekommen – Matthew.
»Keine Ahnung«, sagte Matthew. »Soll ich ihr eine SMS schicken?«
»Klar.«
»Nana?«
»Was ist, mein Schatz?«
»Sag Mom nichts davon.«
»Wovon?«
»Von Naomi.«
»Wieso nicht?«
»Sag’s ihr einfach nicht, okay?«
»Okay.«
»Versprochen?«
»Schluss jetzt«, sagte Hester leicht verärgert, als er eine Bestätigung einforderte. Aber dann fügte sie sanfter hinzu: »Ja, ich verspreche es. Natürlich verspreche ich es.«
Matthew blickte wieder auf sein Handy, während Tim in die bekannte Straße nach rechts einbog, die nächste links und noch zweimal rechts abfuhr. Dann waren sie in der Downing Lane, dieser wunderschönen Sackgasse. Vor ihnen lag das große Haus im Blockhaus-Stil, das Hester und Ira vor zweiundvierzig Jahren gebaut hatten. In diesem Haus hatten sie Jeffrey, Eric und David aufgezogen, bis sie vor fünfzehn Jahren, als ihre Söhne erwachsen waren, beschlossen hatten, dass es an der Zeit wäre, Westville den Rücken zu kehren. Sie hatten ihr Zuhause am Fuße der Ramapo-Mountains geliebt, Ira noch mehr als Hester, denn, Gott sei ihr Zeuge, Ira war ein Outdoor-Fan, der gerne wanderte und angelte und all die Dinge liebte, die ein Mann, der den Namen Ira Crimstein trug, eigentlich nicht mögen dürfte. Vor fünfzehn Jahren also, als ihre Söhne erwachsen geworden waren, wurde es für sie Zeit, den nächsten Schritt zu machen. Orte wie Westville sind perfekt, um Kinder großzuziehen. Man heiratet, zieht aus der Stadt in einen Vorort, bekommt ein paar Babys, besucht ihre Fußballspiele und Tanzvorführungen, reagiert bei den Abschlussfeiern übermäßig emotional, die Kinder gehen aufs College, kommen gelegentlich zu Besuch und müssen dann dringend einmal ausschlafen. Das passiert schließlich immer seltener, bis sie gar nicht mehr kommen und man allein ist, und dann ist wie bei jedem Lebenszyklus der Zeitpunkt gekommen, ihn hinter sich zu lassen und das Haus an ein anderes junges Paar zu verkaufen, das aus der Stadt auszieht, um ein paar Babys zu bekommen und einen Neuanfang zu machen.
Mit zunehmendem Alter konnten Orte wie Westville einem dann nichts mehr bieten – was überhaupt nicht schlimm war.
Und so hatten Hester und Ira also tatsächlich den nächsten Schritt gemacht. Sie hatten sich eine Wohnung am Riverside Drive in der Upper West Side von Manhattan mit Blick auf den Hudson River gesucht. Sie liebten das Leben dort. Fast dreißig Jahre lang waren sie mit demselben Zug in die Stadt gependelt, den Matthew heute genommen hatte, umgestiegen – damals allerdings noch in Hoboken –, doch dann, im höheren Alter, war es einfach himmlisch gewesen, nach dem Aufstehen kurz zu Fuß zur Arbeit zu gehen oder mal eben die U-Bahn zu nehmen.
Hester und Ira genossen ihr Leben in New York City.
Und das alte »Blockhaus« in der Downing Lane hatten sie schließlich ihrem Sohn David und seiner wunderbaren Frau Laila verkauft, die gerade ihr erstes Kind bekommen hatten – Matthew. Hester hatte gedacht, dass es für David seltsam sein könnte, in dem Haus zu leben, in dem er aufgewachsen war. Aber er hatte ihr gesagt, dass es der perfekte Ort sei, um eine eigene Familie zu gründen. Laila und er renovierten das ganze Haus, drückten ihm ihren eigenen Stempel auf, sodass Hester und Ira es bei ihren Besuchen kaum wiedererkannten.
Matthew starrte noch immer auf sein Handy. Sie legte ihm die Hand aufs Knie. Er sah sie an.
»Hast du etwas gemacht?«, fragte sie.
»Wie gemacht?«
»Mit Naomi.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich hab nichts gemacht. Das ist ja das Problem.«
Tim hielt in der Einfahrt ihres früheren Zuhauses. Die Erinnerungen schwirrten nicht mehr ziellos umher – sie organisierten sich, gingen in den Angriffsmodus über und stürzten sich gemeinsam auf sie. Tim machte den Motor aus, drehte sich um und sah Hester an. Er war inzwischen fast zwanzig Jahre bei ihr, seit seiner Flucht aus dem Balkan. Also wusste er, was los war. Er sah ihr in die Augen. Sie nickte fast unmerklich, um ihm mitzuteilen, dass sie es hinkriegen würde.
Matthew hatte sich bereits bei Tim bedankt und war ausgestiegen. Jetzt streckte auch Hester die Hand zum Türgriff aus, aber Tim stoppte sie mit einem Räuspern. Hester verdrehte die Augen und wartete, während Tim, ein Kerl von einem Mann, sich aus seinem Sitz rollte, aufrichtete, ausstieg und ihr die Tür aufhielt. Eine vollkommen sinnlose Geste, aber Tim war beleidigt, wenn Hester die Tür alleine öffnete, dabei hatte sie auch so Tag für Tag genug Kämpfe auszutragen, besten Dank auch.
»Ich weiß nicht, wie lange wir bleiben«, sagte sie zu Tim.
Er sprach immer noch mit einem deutlichen Akzent: »Ich warte hier.«
Matthew hatte die Haustür aufgeschlossen, und Hester sah, dass er sie einen Spalt weit offen gelassen hatte. Hester wechselte noch einen kurzen Blick mit Tim, dann ging sie den Kopfsteinpflasterweg hinauf – den Ira und sie an einem Wochenende vor dreiunddreißig Jahren gemeinsam verlegt hatten. Als sie im Haus war, schloss sie die Tür hinter sich.
»Matthew?«
»Ich bin in der Küche.«
Sie ging weiter nach hinten. Die Tür des riesigen Sub-Zero-Kühlschranks stand offen – der war zu ihrer Zeit noch nicht dort gewesen. Erneut hatte sie einen Flashback, sie sah David vor sich, als er so alt war wie Matthew jetzt, oder vielmehr sah sie all ihre Jungs während ihrer Highschool-Zeit vor sich. Jeffrey, Eric und David hatten immer mit den Köpfen im Kühlschrank gesteckt. Es war nie genug zu essen im Haus gewesen. Sie hatten gefressen wie Müllschlucker auf zwei Beinen. Wenn sie irgendwelche Lebensmittel gekauft hatte, waren sie am nächsten Tag verschwunden.
»Willst du was essen, Nana?«
»Nein, danke.«
»Sicher?«
»Ganz sicher. Erzähl mir, was los ist, Matthew.«
Sein Kopf kam hinter der Tür hervor. »Hast du was dagegen, wenn ich mir vorher einen kleinen Snack mache?«
»Wenn du Lust hast, lade ich dich zum Essen ein.«
»Ich muss noch richtig viel Hausaufgaben machen.«
»Wie du willst.«
Hester ging ins Wohnzimmer mit der Fernsehecke. Es roch nach verbranntem Holz. Jemand hatte vor Kurzem den Kamin benutzt. Das war eigenartig. Aber vielleicht auch nicht. Sie sah den Couchtisch an.
Es war ordentlich aufgeräumt. Zu ordentlich, dachte sie.
Die Zeitschriften waren aufeinandergestapelt. Genau wie die Untersetzer. Alles lag an seinem Platz.
Hester runzelte die Stirn.
Während Matthew noch sein Sandwich aß, schlich sie auf Zehenspitzen in den ersten Stock hinauf. Natürlich ging sie das nichts an. David war seit zehn Jahren tot. Laila hatte es verdient, glücklich zu sein. Hester meinte es nicht böse, aber sie konnte einfach nicht anders.
Sie ging ins Schlafzimmer.
Sie wusste, dass David auf der Fensterseite des Betts geschlafen hatte, Laila an der Tür. Das große Bett war gemacht. Makellos.
Zu ordentlich, dachte sie wieder.
Plötzlich hatte sie einen Kloß im Hals. Sie durchquerte das Zimmer und sah ins Bad. Auch das war makellos sauber und ordentlich. Sie konnte sich einfach nicht bremsen, ging zum Bett und sah sich das Kissen auf Davids Seite an.
Davids Seite? Dein Sohn ist seit zehn Jahren tot, Hester. Lass es gut sein.
Es dauerte ein paar Sekunden, aber schließlich entdeckte sie ein hellbraunes Haar auf dem Kissen.
Ein langes hellbraunes Haar.
Lass gut sein, Hester.
Vom Schlafzimmerfenster aus hatte man einen Blick auf den Garten und die dahinterliegenden Berge. Der Rasen ging in einen Hang über, an dem nur ein paar einzelne Bäume standen, dann wurden es mehr, bis es schließlich ein dichter Wald war. Natürlich hatten ihre Jungs da gespielt. Ira hatte ihnen geholfen, ein Baumhaus, kleine Festungen und Gott weiß was zu bauen. Stöcke waren in Messer und Gewehre verwandelt worden. Sie hatten Verstecken gespielt.
Eines Tages, als David sechs Jahre alt war und sie geglaubt hatte, er hätte alleine dort gespielt, hatte Hester gehört, wie er im Wald mit jemandem sprach. Als sie sich hinterher erkundigte, wer das gewesen war, hatte sich der Körper des kleinen David angespannt, und er hatte gesagt: »Ich hab bloß mit mir ganz allein gespielt.«
»Aber ich hab dich doch mit jemandem sprechen hören.«
»Oh«, hatte ihr kleiner Sohn gesagt, »das war mein unsichtbarer Freund.«
Soweit Hester das beurteilen konnte, war es das einzige Mal, dass David sie belogen hatte.
Hester hörte, wie unten die Haustür geöffnet wurde.
Matthews Stimme: »Hey, Mom.«
»Wo ist deine Großmutter?«
»Hier, bei mir«, sagte er. »Äh, Nana?«
»Ich komme!«
Hester, die panisch wurde und sich wie eine Idiotin vorkam, huschte schnell aus dem Schlafzimmer durch den Flur ins Bad. Sie schloss die Tür leise, betätigte die Toilettenspülung und ließ sogar Wasser laufen, damit es echt klang. Dann ging sie die Treppe hinunter. Laila stand unten am Absatz und blickte zu ihr hinauf.
»Hey«, sagte Hester.
»Hey.«
Laila sah umwerfend aus. Es ließ sich nicht anders beschreiben. Ihr maßgeschneidertes graues Business-Kostüm betonte die wichtigsten Körperpartien – bei ihr eigentlich alle. Die Bluse leuchtete strahlend weiß und bildete einen reizvollen Kontrast zu ihrer dunklen Haut.
»Alles in Ordnung bei dir?«, fragte Laila.
»Ja, natürlich.«
Hester ging die letzten Treppenstufen hinunter, und die beiden Frauen umarmten sich kurz.
»Also, was führt dich hier raus, Hester?«
Matthew trat dazu. »Nana hat mir bei einem Schulaufsatz geholfen.«
»Wirklich? Über welches Thema?«
»Recht und Gesetz«, sagte er.
Laila verzog das Gesicht. »Und warum hast du mich nicht gefragt?«
»Und, äh, es ging auch darum, wie es ist, wenn man im Fernsehen ist«, ergänzte Matthew unbeholfen. Er war kein guter Lügner, dachte Hester. Auch da ähnelte er seinem Vater. »Äh, ist nicht böse gemeint, Mom, du weißt schon, weil sie eine berühmte Anwältin ist und so.«
»So ist das also?«
Laila sah Hester an. Hester zuckte die Achseln.
»Also gut«, sagte Laila.
Hester musste an Davids Beerdigung denken. Laila stand mit dem kleinen Matthew an der Hand am Grab. Ihre Augen waren trocken. Sie weinte nicht. Nicht ein einziges Mal an jenem Tag. Nicht vor Hester oder sonst irgendjemandem. Am Abend waren Hester und Ira mit Matthew auf einen Hamburger zum Allendale Bar & Grill im Nachbarort gefahren. Hester war früher gegangen und zum Haus zurückgefahren. Sie war in den Garten gegangen, zu der Waldlichtung, wohin David unzählige Male verschwunden war, um mit dem Jungen zu spielen, den sie inzwischen alle Wilde nannten. Und selbst aus dieser großen Entfernung und über das Heulen des Nachtwinds hinweg hatte sie Lailas kehlige Schluchzer aus ihrem Schlafzimmer gehört. Es klang so roh, so herzzerreißend und so voller Pein, dass Hester fürchtete, in Laila könne etwas zerbrechen, das sich nie wieder reparieren ließe.
Laila hatte nicht wieder geheiratet. Wenn es in den letzten zehn Jahren andere Männer in ihrem Leben gegeben hatte – und sie musste Angebote gehabt haben, viele Angebote –, hatte sie Hester nichts davon erzählt.
Aber heute war es zu ordentlich im Haus und dazu das lange braune Haar …
Lass gut sein, Hester.
Ohne jede Vorwarnung streckte Hester die Arme aus und zog Laila fest an sich.
»Hester?«, sagte Laila überrascht.
Lass gut sein.
»Ich liebe dich«, flüsterte Hester.
»Ich liebe dich auch.«
Hester kniff die Augen zusammen. Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten.
»Geht’s dir gut?«, fragte Laila.
Hester sammelte sich, trat einen Schritt zurück, strich ihre Kleidung glatt. »Ja, mir geht’s gut.« Sie zog ein Taschentuch aus der Handtasche. »Manchmal werde ich einfach …«
Laila nickte. »Ich kenn das …«, sagte sie.
Matthew stand hinter seiner Mutter. Über ihre Schulter sah Hester, wie er den Kopf schüttelte, um sie an ihr Versprechen zu erinnern.
Hester sagte: »Ich geh dann mal lieber.«
Sie gab beiden einen Kuss und verschwand eilig durch die Tür.
Tim erwartete sie an der geöffneten Autotür. Er trug immer einen schwarzen Anzug und eine Chauffeurmütze, bei jedem Wetter und zu jeder Jahreszeit, obwohl Hester ihm gesagt hatte, dass das nicht nötig wäre. Und weder Anzug noch Mütze schienen jemals richtig zu sitzen, was vielleicht an Tims massigem Körper lag, vielleicht aber auch daran, dass er eine Waffe trug.
Als Hester auf dem Rücksitz saß, drehte sie sich noch einmal um und warf einen letzten Blick auf das Haus. Matthew stand in der Tür. Er sah sie an. Wieder traf es sie wie ein Schlag:
Ihr Enkel bat sie um Hilfe.
Das hatte er noch nie getan. Und er hatte ihr nicht die ganze Geschichte erzählt. Bisher jedenfalls nicht. Doch während sie noch vor Selbstmitleid zerfloss, sich in ihrem Schmerz suhlte und an den Tiefpunkt ihres Lebens dachte, ermahnte sie sich, nicht zu vergessen, dass es für Matthew ein viel brutalerer und tieferer Einschnitt gewesen war. Er musste seitdem ohne Vater auskommen, ohne diesen Vater, ohne diesen guten und freundlichen Mann, der das Beste war, was Hester und vor allem Ira hervorgebracht hatten – Ira, der, da war sie sich sicher, an einem Herzinfarkt gestorben war, weil ihm der Verlust seines Sohnes bei diesem Unfall das Herz gebrochen hatte und er nicht darüber hinweggekommen war.
Tim rutschte wieder auf den Fahrersitz.
»Hast du gehört, was Matthew gesagt hat?«, fragte sie.
»Ja.«
»Was hältst du davon?«
Tim zuckte die Achseln. »Er verschweigt etwas.«
Hester antwortete nicht.
»Fahren wir zurück nach Manhattan?«, fragte Tim.
»Noch nicht«, sagte Hester. »Wir machen noch einen Zwischenstopp auf dem Polizeirevier.«
Na sieh mal einer an. Hester Crimstein, wie sie leibt und lebt, in meinem bescheidenen Revier.«
Sie saß im Büro des Polizeichefs von Westville, Oren Carmichael, der mit seinen siebzig Jahren kurz vor der Pensionierung stand, aber immer noch das war, was er schon immer gewesen war – ein höchst ansehnliches Bild von einem Mann.
»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Oren.«
»Du siehst gut aus.«
»Du auch.« Graue Haare standen Männern so unglaublich gut, dachte Hester. Das war verdammt ungerecht. »Wie geht’s Cheryl?«
»Hat mich verlassen«, sagte er.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Sie kam mir immer schon etwas dusslig vor.«
»Okay?«
»Nichts für ungut.«
»Schon in Ordnung.«
»Eine wunderschöne Frau«, fuhr Hester fort.
»Das ist wahr.«
»Aber dusslig. Ist das taktlos von mir?«
»Cheryl würde es wohl so sehen.«
»Wie sie das sieht, ist mir egal.«
»Mir auch.« Oren Carmichaels Lächeln verschlug ihr fast den Atem. »Macht Spaß, so ein kleines Wortgefecht.«
»Auf jeden Fall.«
»Aber du bist bestimmt nicht wegen meiner mittelmäßigen Schlagfertigkeit hier.«
»Gut möglich.« Hester lehnte sich zurück. »Wie nennen es die Jugendlichen, wenn man mehrere Dinge auf einmal macht?«
»Multitasking.«
»Genau.« Sie schlug die Beine übereinander. »Na ja, womöglich mach ich das gerade.«
Hester hätte sofort zugegeben, dass sie eine Schwäche für Männer in Uniform hatte, aber das war so ein unsägliches Klischee. Was nichts daran änderte, dass Oren Carmichael in seiner Uniform einfach schrecklich attraktiv war.
»Erinnerst du dich noch daran, wann du das letzte Mal hier warst?«, fragte Oren.
Hester lächelte. »Wegen Jeffrey.«
»Er hatte von der Überführung Eier auf Autos geworfen.«
»Das war eine schöne Zeit«, sagte Hester. »Warum hast du damals Ira angerufen, damit er Jeffrey abholen kommen soll, und nicht mich?«
»Vor Ira hatte ich keine Angst.«
»Und vor mir hattest du Angst?«
»Wenn du die Vergangenheitsform verwenden willst …« Oren Carmichael kippelte mit dem Stuhl nach hinten. »Erzählst du mir jetzt, warum du hier bist, oder frotzeln wir einfach weiter?«
»Glaubst du, dass wir dann besser werden?«
»Im Frotzeln? Na ja, schlechter kann es kaum werden.«
Oren hatte vor vierunddreißig Jahren dem Suchtrupp angehört, der den kleinen Jungen im Wald gefunden hatte. Alle, auch Hester, hatten damals gedacht, dass dieses Rätsel schnell gelöst werden würde, aber es hatte sich niemand gemeldet, der Wilde, den Jungen aus dem Wald, vermisste. Es wurde nie geklärt, wer ihn da zurückgelassen hatte oder wie er dorthin gekommen war. Und es ließ sich nicht mehr feststellen, wie lange der kleine Junge auf sich allein gestellt war und wie er überlebt hatte.
Auch jetzt – nach all den Jahren – wusste niemand, wer zum Teufel Wilde wirklich war.
Sie überlegte, ob sie Oren nach Wilde fragen sollte, einerseits um sich auf dem Laufenden zu halten, andererseits um über diesen Umweg die anderen Themen diskreter zur Sprache bringen zu können.
Aber Wilde ging sie nichts mehr an.
Von der Sache musste sie die Finger lassen, also kam sie direkt auf das Thema zu sprechen, das sie hergeführt hatte.
»Naomi Pine. Kennst du sie?«
Oren Carmichael faltete die Hände und legte sie auf den flachen Bauch. »Glaubst du etwa, ich würde jedes Mädchen von der Highschool im Ort kennen?«
»Woher weißt du, dass sie auf der Highschool ist?«, fragte Hester.
»Dir entgeht aber auch gar nichts. Nehmen wir mal an, ich würde sie kennen.«
Hester wusste nicht recht, wie sie vorgehen sollte, aber auch hier schien der direkte Weg der beste zu sein. »Eine Quelle hat mir erzählt, dass sie vermisst wird.«
»Eine Quelle?«
Na ja, also der ganz direkte Weg war es dann doch nicht. Aber, herrje, Oren war wirklich attraktiv. »Ja.«
»Hmm, ist dein Enkel nicht in Naomis Alter?«
»Tun wir einfach so, als wäre das reiner Zufall.«
»Er ist übrigens ein guter Junge. Matthew, meine ich.«
Sie sagte nichts.
»Ich trainiere immer noch die Basketball-Mannschaft der achten Klassen«, fuhr er fort. »Matthew ist immer mit vollem Einsatz dabei und genauso giftig wie …«
Er brach ab, bevor er Davids Namen aussprach. Beide rührten sich nicht, so als fehlte ihnen für einen Moment die Luft zum Atmen.
»Tut mir leid«, sagte Oren.
»Das muss es nicht.«
»Soll ich wieder so tun, als gäbe es keine Vergangenheit?«, fragte er.
»Nein«, sagte Hester leise. »Auf keinen Fall. Nicht, wenn es um David geht.«
Oren war damals Polizeichef und daher natürlich am Unfallort gewesen.
»Aber, um deine Frage zu beantworten«, fuhr Oren fort, »nein, ich habe nicht gehört, dass Naomi vermisst wird.«
»Also hat niemand eine Vermisstenmeldung aufgegeben oder so etwas?«
»Nein, wieso?«
»Sie war seit einer Woche nicht mehr in der Schule.«
»Und?«
»Und darum könntest du vielleicht einfach zum Telefon greifen und dort anrufen?«
»Machst du dir Sorgen?«
»Das wäre vielleicht zu viel gesagt. Sagen wir einfach, ein Anruf würde mich beruhigen.«
Oren kratzte sich das Kinn. »Muss ich sonst noch etwas wissen?«
»Außer meiner Telefonnummer?«
»Hester.«
»Nein, nichts. Ich möchte nur jemandem einen Gefallen tun.«
Oren runzelte die Stirn. Dann: »Ich werde ein paar Telefonate führen.«
»Wunderbar.«
Er sah sie an. Sie sah ihn an.
Oren sagte: »Wenn ich das richtig sehe, willst du nicht, dass ich das später mache, dich dann anrufe und dir sage, was ich herausgefunden habe?«
»Warum, bist du gerade beschäftigt?«
Er seufzte und rief bei Naomi zu Hause an. Dort ging niemand ans Telefon. Dann rief er die für Schulschwänzer zuständige Stelle der Highschool an. Nachdem er die Situation geschildert hatte und kurz in die Warteschleife geschaltet worden war, meldete sich die Schule wieder: »Ja, wir können bestätigen, dass die Schülerin fehlt.«
»Haben Sie mit den Eltern gesprochen?«
»Ich persönlich nicht, aber ein Kollege hat mit dem Vater telefoniert.«
»Und was hat er gesagt?«
»Sie wurde danach als entschuldigt vermerkt.«
»Mehr nicht?«
»Warum? Möchten Sie, dass ich zu ihr rausfahre?«
Oren sah Hester an. Die schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht nötig. Ich wollte das nur abchecken. Können Sie mir sonst noch irgendetwas dazu sagen?«
»Eigentlich nur, dass das Mädchen wohl entweder die Klasse wiederholen oder ein ausgiebiges Nachhilfeprogramm in der Sommerschule absolvieren muss. Sie hat im letzten Halbjahr sehr häufig gefehlt.«
»Vielen Dank.«
Oren legte auf.
»Danke«, sagte Hester.
»Keine Ursache.«
Sie überlegte kurz. »Woher du Matthew kennst, weiß ich«, sagte sie dann bedächtig. »Über mich, über David und über das Basketballteam.«
Er schwieg.
»Ich weiß auch, dass du sehr aktiv in der Community mitarbeitest, was ich sehr löblich finde.«
»Aber du fragst dich, woher ich Naomi kenne.«
»So ist es.«
»Das hätte ich dir wohl gleich sagen sollen.«
»Ich höre.«
»Erinnerst du dich an den Film The Breakfastclub?«, fragte er.
»Nein.«
Oren sah sie überrascht an. »Du hast ihn nie gesehen?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Meine Kinder haben ihn dauernd geguckt, obwohl der Film schon älter ist.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Erinnerst du dich an die Schauspielerin Ally Sheedy?«
Sie verkniff sich einen Seufzer. »Nein.«
»Ist auch nicht wichtig. In dem Film spielt Ally Sheedy eine Außenseiterin auf der Highschool, die mich an Naomi erinnert. In einer Szene kommt diese Außenseiterin etwas aus sich heraus und sagt: ›Meine ganze Familie ist völlig unbefriedigend.‹«
»Und das hätte Naomi auch sagen können?«
Oren nickte. »Vielleicht ist sie ausgerissen, es wäre nicht das erste Mal. Ihr Vater – und diese Information ist vertraulich – wurde schon dreimal mit Alkohol am Steuer erwischt.«
»Gibt es Anzeichen von Missbrauch oder Misshandlungen?«
»Nein, ich glaube nicht, dass so etwas dahintersteckt. Es geht eher in Richtung Vernachlässigung. Naomis Mutter hat die Familie verlassen. Das ist so zwischen fünf bis zehn Jahre her. Ihr Vater arbeitet abends oft lange in der Stadt. Ich glaube, die Rolle als alleinerziehender Vater überfordert ihn einfach.«
»Okay«, sagte Hester. »Danke, dass du mir das erzählt hast.«
»Ich begleite dich raus.«
An der Tür drehten sich beide um und standen sich direkt gegenüber. Hester spürte, dass ihre Wangen warm wurden. Sie errötete doch tatsächlich. War man denn nie zu alt dafür?
»Wolltest du mir nicht auch erzählen, was Matthew über Naomi gesagt hat?«, fragte Oren.
»Nichts.«
»Bitte, Hester, tun wir doch einfach so, als sei ich ein ausgebildeter Ermittler mit vierzig Jahren Berufserfahrung. Da schneist du also einfach bei mir ins Büro rein und fragst ganz beiläufig nach einem Mädchen, das in Schwierigkeiten steckt und rein zufällig eine Klassenkameradin deines Enkels ist. Der Ermittler in mir fragt sich, warum du das machst, und schlussfolgert, dass Matthew dir etwas erzählt haben muss.«
Hester wollte widersprechen, wusste aber, dass das nichts genützt hätte. »Okay, aber das ist inoffiziell. Matthew hat mich darum gebeten, dass ich mir die Sache mal angucke.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht.«
Er wartete.
»Ich weiß es wirklich nicht.«
»Schon gut.«
»Er macht sich offenbar Sorgen um sie.«
»Was für Sorgen?«
»Auch das weiß ich nicht. Aber wenn du nichts dagegen hast, werde ich die Angelegenheit weiter im Auge behalten.«
Oren runzelte die Stirn. »Im Auge behalten?«
»Ich denke, ich fahr mal zu ihr und rede mit dem Vater. Ist das okay?«
»Würde es etwas ändern, wenn ich dir antworte, dass es das nicht ist?«
»Nein. Aber ich glaube auch nicht, dass wirklich etwas an der Sache dran ist.«
»Aber?«
»Aber Matthew hat mich noch nie um Hilfe gebeten. Verstehst du?«
»Ja, ich glaub schon«, erwiderte er. »Und falls du doch etwas erfahren solltest, während du die Sache im Auge behältst …«
»Dann rufe ich dich sofort an. Versprochen.« Hester zog eine Visitenkarte aus der Handtasche und reichte sie ihm. »Meine Handynummer.«
»Soll ich dir meine auch geben?«
»Das wird nicht nötig sein.«
Er sah ihre Karte an. »Aber hast du nicht gerade gesagt, dass du mich anrufen willst?«
Sie spürte, wie ihr Herzschlag sich beschleunigte. Das mit dem Alter war schon komisch. Wenn das Herz raste, kam man sich wieder vor wie auf der Highschool.
»Oren?«
»Ja?«
»Ich weiß, dass wir alle ganz modern und aufgeschlossen sein sollen und so weiter …«
»Klar.«
»Trotzdem finde ich, dass der Junge das Mädchen anrufen sollte.«
Er hielt ihre Visitenkarte hoch. »Und wie durch einen Zufall habe ich jetzt deine Telefonnummer.«
»Die Welt ist klein.«
»Pass auf dich auf, Hester.«
***
»Das sind die ersten Informationen«, sagte Tim und reichte Hester ein paar Zettel. »Es kommt bald mehr.«
Sie hatten einen Drucker im Kofferraum, der mit dem Laptop im Handschuhfach verbunden war. Hesters Mitarbeiter schickten ihr auch gelegentlich Informationen aufs Handy, sie zog es jedoch immer noch vor, etwas Greifbares in der Hand zu halten und auf Papier zu lesen. So konnte sie sich Notizen dazuschreiben oder wichtige Sätze unterstreichen.
Alte Schule. Oder halt einfach alt.
»Hast du Naomi Pines Adresse?«, fragte sie ihn.
»Ja.«
»Wie weit ist es von hier?«
Tim blickte aufs Navi. »Vier Komma drei Kilometer, acht Minuten.«
»Fahren wir.«
Auf der Fahrt überflog sie die Notizen. Naomi Pine, sechzehn Jahre alt. Eltern geschieden. Vater, Bernard. Mutter, Pia. Der Vater hatte das alleinige Sorgerecht, was für sich schon interessant war. Offenbar hatte die Mutter all ihre elterlichen Rechte abgetreten. Das war ungewöhnlich, um es vorsichtig auszudrücken.
Das Haus war alt und etwas heruntergekommen. Die ehemals weiße Farbe hatte inzwischen eher einen Ton, der in der Farbskala zwischen cremefarben und hellbraun angesiedelt war. Sämtliche Fenster waren verschlossen, manche mit stabilen Jalousien, andere mit oft defekten Fensterläden.
»Was hältst du davon?«, fragte Hester Tim.
Tim verzog das Gesicht. »Sieht aus wie ein Safe House in der alten Heimat. Oder ein Gebäude, in dem Dissidenten gefoltert wurden.«
»Warte hier.«
In der Einfahrt stand ein neuwertiger roter Audi A6. Er war vermutlich mehr wert als das Haus. Auf dem Weg zur Tür sah Hester, dass es ein großes viktorianisches Gebäude war. Es hatte eine umlaufende Veranda und geschnitzte, wenn auch ziemlich verwitterte Deckenleisten. Obwohl es jetzt trist wirkte und kaum noch Charme hatte, ging Hester davon aus, dass es früher einmal eine sogenannte »Painted Lady« gewesen war, ein farbenfrohes, gepflegtes Schmuckstück.
Hester klopfte an die Tür. Nichts. Sie klopfte noch einmal lauter.
Eine Männerstimme sagte: »Stellen Sie es einfach vor die Tür.«
»Mr Pine?«
»Ich bin gerade beschäftigt. Wenn ich etwas unterschreiben muss …«
»Mr Pine, ich bin nicht wegen einer Lieferung hier.«
»Wer sind Sie?«
Er sprach etwas undeutlich. Die Tür hatte er noch immer nicht geöffnet.
»Ich heiße Hester Crimstein.«
»Wie?«
»Hester …«
Er öffnete die Tür.
»Mr Pine?«
»Woher kenne ich Sie?«, fragte er.
»Sie kennen mich nicht.«
»Doch, das tue ich. Aus dem Fernsehen, oder?«
»Das ist möglich. Mein Name ist Hester Crimstein.«
»Holla.« Bernard Pine schnippte mit den Fingern und zeigte auf sie. »Sie sind diese Strafverteidigerin, die dauernd in den Nachrichten ist, stimmt’s?«
»Ja, das stimmt.«
»Wusst ich’s doch.« Dann erschrak er und wich argwöhnisch ein Stück zurück. »Moment mal, was wollen Sie von mir?«
»Ich bin wegen Ihrer Tochter hier.«
Seine Augen weiteten sich leicht.
»Wegen Naomi«, ergänzte Hester.
»Ich weiß, wie meine Tochter heißt«, sagte er schnippisch. »Was wollen Sie?«
»Sie war nicht in der Schule.«
»Na und? Hat die Schule Sie geschickt?«
»Nein.«
»Was haben Sie dann mit meiner Tochter zu tun? Was wollen Sie von mir?«
Er sah aus wie jemand, der gerade von einem harten Arbeitstag nach Hause gekommen war. Er hatte das Jackett ausgezogen, die Ärmel hochgekrempelt und die Krawatte gelockert. In seiner Brusttasche klemmten zwei identische Kugelschreiber. Der Bartschatten sah eher nach sieben Uhr abends als nach fünf Uhr nachmittags aus, die Augen waren leicht gerötet, und auch ansonsten wirkte er erschöpft. Hester hätte gewettet, dass er schon mindestens ein Glas Hochprozentiges getrunken hatte.
»Kann ich Naomi sprechen?«
»Wieso?«
»Ich bin …«, Hester probierte es mit ihrem legendären, entwaffnenden Lächeln. »Hören Sie, ich will Ihnen nichts Böses. Ich bin nicht in irgendeiner rechtlichen Funktion hier.«
»Was wollen Sie dann?«
»Mir ist klar, dass das etwas ungewöhnlich ist, aber geht es Naomi gut?«
»Das versteh ich nicht. Was geht Sie meine Tochter an?«
»Nichts. Ich will ihr auch nicht nachspionieren.« Hester versuchte, die Angelegenheit aus sämtlichen Blickwinkeln zu betrachten, und entschied sich für die persönlichste und wahrhaftigste Antwort. »Naomi ist eine Schulkameradin meines Enkels Matthew. Vielleicht hat sie ihn mal erwähnt?«
Pines Lippen wurden schmaler. »Was wollen Sie hier?«
»Ich … Matthew und ich wollten nur sichergehen, dass mit Naomi alles okay ist.«
»Es geht ihr gut.«
Er wollte die Tür schließen.
»Kann ich sie sehen?«
»Ist das Ihr Ernst?«
»Ich weiß, dass sie nicht in der Schule war.«
»Na und?«
Schluss mit dem charmanten, entwaffnenden Vorgehen. Mit härterer Stimme fragte sie: »Und daher will ich wissen, wo Naomi ist, Mr Pine?«
»Mit welchem Recht …?«
»Ohne«, sagte Hester. »Ohne jedes Recht. Absolut ohne jede Rechtsgrundlage. Aber ein Freund von Naomi macht sich Sorgen um sie.«
»Ein Freund?« Er schnalzte spöttisch. »Dann ist Ihr Enkel also ihr Freund, was?«
Hester wusste nicht recht, was sie von seinem Tonfall halten sollte. »Ich würde sie nur gern sehen.«
»Sie ist nicht da.«
»Wo ist sie denn?«
»Das geht Sie wirklich nichts an.«
Ihre Stimme wurde noch härter: »Sie haben gesagt, Sie hätten mich im Fernsehen gesehen.«
»Und?«
»Dann wissen Sie wahrscheinlich auch, dass es nicht klug ist, sich mit mir anzulegen.«
Sie starrte ihn an. Er trat einen Schritt zurück.
»Naomi besucht ihre Mutter.« Der Griff am Türknauf wurde fester. »Und noch etwas, Miss Crimstein. Meine Tochter geht weder Sie noch Ihren Enkel etwas an. Und jetzt verlassen Sie mein Grundstück.«
Er machte die Tür zu. Und dann, als wollte er dem noch einmal Nachdruck verleihen, schloss er sie mit einem hörbaren Klicken ab.
Tim wartete vor dem Auto. Als sie näher kam, öffnete er ihr die Tür.
»Blödmann«, murmelte Hester.
Es war spät geworden. Dunkelheit hatte sich über den Ort gelegt. Hier draußen, besonders in der Nähe der Berge, gab es so gut wie keine Straßenbeleuchtung. Heute Abend konnte sie nichts mehr für Naomi Pine tun.
Tim setzte sich auf den Fahrersitz und ließ den Motor an. »Wir sollten uns langsam auf den Rückweg machen«, sagte er. »In zwei Stunden hast du deinen Auftritt.«
Tim sah ihr über den Rückspiegel in die Augen und wartete.
»Wie lange ist es her, seit wir das letzte Mal bei Wilde waren?«, fragte Hester.
»Im September werden es sechs Jahre.«
Sie hätte überrascht sein können, wie viel Zeit vergangen war. Sie hätte auch überrascht sein können, dass Tim sich sofort an das Jahr und den Monat erinnerte.
Das war sie aber nicht.
»Meinst du, du würdest den Weg zu ihm noch finden?«
»Jetzt im Dunkeln?« Tim überlegte kurz. »Ich denke schon.«
»Dann lass es uns versuchen.«
»Kannst du ihn nicht anrufen?«
»Ich glaube nicht, dass er ein Telefon hat.«
»Vielleicht ist er auch umgezogen.«
»Nein«, sagte Hester.
»Oder er ist nicht zu Hause.«
»Tim.«
Er legte den Gang ein. »Schon unterwegs.«
Als sie die Halifax Road zum dritten Mal entlangfuhren, entdeckte Tim die Abzweigung. Die schmale Fahrspur war fast vollständig zugewuchert. Es war, als führen sie durch ein riesiges Gebüsch. Die Zweige schabten über das Autodach wie die Bürsten in einer Waschstraße. Ein paar hundert Meter südlich befand sich das Split Rock Sweetwater Gebetscamp der … wie nannten sie sich jetzt?… Ramapough Lenape Nation oder Ramapough Mountain People oder Ramapough Mountain Indians oder einfach Ramapoughs. Ihre Herkunft war ein wenig undurchschaubar. Manche behaupteten, dass sie direkt von den in diesem Gebiet heimischen amerikanischen Ureinwohnern abstammten, eventuell hatten sich diese Eingeborenen aber auch mit den Hessen vermischt, die im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hatten, oder mit entlaufenen Sklaven, die vor dem Bürgerkrieg bei den alten Lenape-Stämmen Zuflucht gesucht hatten. Wie auch immer, jetzt waren die Ramapoughs – zumindest im Kopf würde sie es einfach halten – ein zurückgezogen lebender und dahinschwindender Stamm.
Vor vierunddreißig Jahren, als der kleine Junge, den man jetzt Wilde nannte, nicht einmal einen Kilometer von hier entfernt gefunden wurde, waren viele davon ausgegangen – und nicht wenige glaubten das immer noch –, dass er in irgendeiner Beziehung zu den Ramapoughs stehen musste. Natürlich wusste niemand etwas Konkretes, aber wenn man anders, arm und zurückgezogen lebte, befeuerte das die Legendenbildung. Vielleicht hatte also eine Stammesangehörige ein außereheliches Kind ausgesetzt, oder das Kind war im Zuge einer irren Stammeszeremonie in den Wald geschickt worden, vielleicht hatte es sich aber auch einfach verirrt, und der Stamm hatte Angst, das zuzugeben und es zurückzuholen. Aber natürlich war das alles Unsinn.
Die Sonne war untergegangen. Die dunklen Bäume schienen die Straße nicht zu säumen, sondern zu bedrängen. Die Äste überragten sie wie Gliedmaßen und schienen sich zu berühren wie Kinderhände bei dem Singspiel Dornröschen war ein schönes Kind. Hester nahm an, dass irgendein Sensor ausgelöst wurde, als sie in diese Straße eingebogen waren, und wahrscheinlich noch zwei, drei weitere, als sie die Straße weiter entlanggefahren waren. Am Ende der Sackgasse wendete Tim den Wagen, sodass sie später direkt wieder zurückfahren konnten.
Im Wald blieb alles ruhig und still. Die Autoscheinwerfer waren die einzige Lichtquelle.
»Und jetzt?«, fragte Tim.
»Bleib im Auto.«
»Du kannst da nicht allein rausgehen.«
»Kann ich nicht?« Beide streckten die Hände aus, um ihre Tür zu öffnen, doch Hester stoppte ihn mit einem bestimmten: »Sitzen bleiben.«
Sie trat in die stille Nacht und schloss die Tür hinter sich.
Die Kinderärzte, von denen Wilde damals untersucht worden war, hatten sein Alter auf sechs bis acht Jahre geschätzt. Er konnte sprechen. Er behauptete, es durch seine »geheime« Freundschaft mit Hesters Sohn David und auch durchs Fernsehen gelernt zu haben, das er viele Stunden lang in den Häusern geguckt hatte, in die er eingebrochen war. Auf die Art hatte Wilde sich auch ernährt. In der wärmeren Jahreshälfte hatte er zwar auch von dem gelebt, was das Land hergab, oder er hatte in der kälteren Jahreszeit in den Mülltonnen der Häuser und den Papierkörben in der Nähe von Parks nach Essbarem gesucht, aber meistens hatte er sich in die Sommerhäuser geschlichen – was man auch als Einbruch bezeichnete – und die Vorrats- und Kühlschränke geplündert.
An ein anderes Leben konnte der Junge sich nicht erinnern.
Keine Eltern. Keine Familie. Kein Kontakt zu anderen Menschen außer zu David.
Eine Erinnerung jedoch suchte Wilde immer wieder heim, eine Erinnerung, die den Jungen verfolgt hatte und ihn jetzt als Mann noch immer verfolgte, sodass er immer mal wieder nachts wach lag oder mitten in der Nacht schweißgebadet aufschreckte. Diese Erinnerung bestand jedoch aus einzelnen Schnappschüssen, die keinem erkennbaren Erzählstrang folgten: ein dunkles Haus, Mahagoni-Bodenbretter, ein rotes Geländer, das Porträt eines Mannes mit Schnurrbart und Schreie.
»Was für Schreie?«, hatte Hester den kleinen Jungen gefragt.
»Schreckliche Schreie.«
»Ja, natürlich. Ich meine, welche Art von Schreien? Männerschreie? Frauenschreie? Wer schreit in deiner Erinnerung?«
Wilde hatte darüber nachgedacht. »Ich«, sagte er dann. »Ich schreie.«
Hester lehnte sich ans Auto, verschränkte die Arme und wartete. Es dauerte nicht lange.
»Hester.«
Als Wilde in ihr Blickfeld trat, füllte sich Hesters Herz und drohte zu platzen. Sie wusste selbst nicht, warum. Vielleicht war es einfach einer dieser Tage gewesen, und als sie jetzt dem besten Freund ihres Sohnes gegenüberstand – der letzten Person, die David lebend gesehen hatte –, überwältigten die Gefühle sie einfach.
»Hi, Wilde.«
Wilde war ein Genie. Das wusste sie. Warum wusste das sonst niemand? Ein Kind kam mit bestimmten Veranlagungen auf die Welt. Das lernte man als Elternteil – dein Kind ist wer und was es ist, und wir Eltern überschätzen unsere Bedeutung für seine Entwicklung völlig. Ein guter Freund hatte ihr einmal gesagt, Eltern hätten eher die Funktion eines Automechanikers – man konnte das Auto reparieren, sich darum kümmern, es pflegen und fahrbereit halten, man konnte es aber nicht grundlegend verändern. Wenn man einen Sportwagen zur Reparatur in eine Werkstatt brachte, kam er nicht als SUV wieder heraus.
Das galt auch für Kinder.
Tja, und es war eben ein Teil von Wildes Veranlagung, dass er ein Genie war.
Experten betonen jedoch auch, wie entscheidend die frühkindliche Entwicklung ist, dass etwa neunzig Prozent des kindlichen Gehirns bis zum Alter von fünf Jahren entwickelt sind. Aber wie war das bei Wilde in diesem frühen Alter gewesen? Man stelle sich vor, welche Erfahrungen er gemacht, was er erlebt hatte, welche Stimulation er dadurch bekam, dass er schon als Kleinkind alles selbst machen musste, sich um alles kümmern, sich ernähren, eine Unterkunft suchen oder errichten, sich verteidigen und sich Trost zusprechen.
Wie würde das die Entwicklung eines solchen Kinderhirns intensivieren?
Wilde trat ins Scheinwerferlicht, damit sie ihn richtig sehen konnte. Er lächelte ihr zu. Er war ein attraktiver Mann mit einem dunklen, sonnengebräunten Teint und einem Körper, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, mit Unterarmen, die wie gespannte Stahldrähte aus den aufgekrempelten Ärmeln seines Flanellhemds ragten, in einer ausgebleichten Jeans, abgewetzten Wanderschuhen und mit langen Haaren.
Mit sehr langen hellbraunen Haaren.
Genau wie das Haar, das sie auf dem Kissen gefunden hatte.
Hester kam direkt zur Sache: »Was läuft zwischen dir und Laila?«
Er sagte nichts.
»Streite es nicht ab.«
»Das tue ich nicht.«
»Und?«
»Sie hat Bedürfnisse«, sagte Wilde.
»Ist das dein Ernst?«, fragte Hester. »Sie hat Bedürfnisse? Dann bist du also – was genau, Wilde? – ein guter Samariter?«
Er trat einen Schritt auf sie zu. »Hester?«