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Myron Bolitar, ehemaliger Spitzensportler und Detektiv wider Willen, erinnert sich nur allzu gut an seine eigene Jugend und weiß, dass Heranwachsende manchmal lieber eine Dummheit begehen, als sich an die eigenen Eltern zu wenden. Daher zögert er nicht, als die Tochter einer Bekannten ihn mitten in der Nacht anruft und bittet, sie zu einer Freundin zu fahren. Doch am nächsten Tag ist Aimee verschwunden – und Bolitar begibt sich auf eine Suche, bei der bald nicht nur Aimees, sondern auch sein Leben auf dem Spiel steht …
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Seitenzahl: 594
Myron Bolitar wird mitten in der Nacht von einem Anruf aus dem Schlaf gerissen. Aimee, die Tochter einer Freundin, bittet ihn, sie an einer Straßenecke in Manhattan abzuholen. Da er ihr einmal versprochen hat, er würde sie immer abholen kommen, egal wo, macht er sich sofort auf den Weg. Aber das Mädchen will auf gar keinen Fall nach Hause gebracht werden, sondern zu einer Freundin nach New Jersey. Um ihr Vertrauen in ihn nicht zu gefährden, tut Bolitar widerstrebend, was sie verlangt. Doch schon am nächsten Tag stellt sich heraus, dass das ein Fehler war: Aimee ist spurlos verschwunden, und die angebliche Freundin von der Nacht zuvor existiert gar nicht. Getrieben von der Sorge ihrer Eltern – und seinem eigenen schlechten Gewissen –, macht Bolitar sich auf die Suche nach Aimee und bricht damit ein anderes Versprechen: Vor sechs Jahren hatte er sich geschworen, nie wieder sein Leben von den Nöten anderer bestimmen zu lassen. Denn das hat ihm und denen, die er liebt, immer nur Unglück gebracht. Und je weiter Bolitar nun auf den verschlungenen Pfaden vordringt, von denen er hofft, dass sie ihn zu Aimee führen, mit umso tödlicherer Klarheit erkennt er, dass kein Versprechen ungestraft gebrochen wird …
Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Nach seinem Studium der Politikwissenschaft arbeitete er in der Tourismusbranche, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Seine Werke wurden bislang in über dreißig Sprachen übersetzt. Harlan Coben wurde als erster Autor mit allen drei wichtigen amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet, dem »Edgar Award«, dem »Shamus Award« und dem »Anthony Award«. Er lebt mit seiner Frau und seinen Kindern in New Jersey. Weitere Titel des Autors sind bei Goldmann in Vorbereitung. Mehr zu Autor und Buch unter: www.harlancoben.com
Von Harlan Coben außerdem bei Goldmann erschienen:
Kein Sterbenswort. Roman (45251) Keine zweite Chance. Roman (45689) Kein Lebenszeichen. Roman (45688) Kein böser Traum. Roman (46084) Kein Friede den Toten. Roman (46160)
Für Charlotte, Ben, Will und Eve Mit Euch hat man ganz schön zu tun, trotzdem seid Ihr alles für mich.
Das vermisste Mädchen – im Fernsehen hatten sie unaufhörlich darüber berichtet und immer wieder das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait des verschwundenen Teenagers eingeblendet. Jeder kennt diese Fotos: im Hintergrund eine Regenbogenfahne, extrem glatte Haare, sehr verlegenes Lächeln. Danach ein schneller Schnitt zu den besorgten Eltern vor ihrem Haus, umgeben von Kameras und Mikrofonen – die Mutter weint leise vor sich hin, der Vater liest mit zitternden Lippen ein Statement vor. Dieses Mädchen – dieses vermisste Mädchen – war Edna Skylar gerade entgegengekommen.
Sie blieb wie angewurzelt stehen.
Ihr Mann Stanley ging noch zwei Schritte weiter, bis er merkte, dass seine Frau nicht mehr an seiner Seite war. Er drehte sich um. »Edna?«
Sie standen an der Ecke 21st Street und 8th Avenue in New York. An diesem Samstagvormittag waren nur wenige Autos auf den Straßen, dafür waren die Gehwege voller Menschen. Das vermisste Mädchen war Richtung Central Park gegangen.
Stanley stieß einen schwermütigen Seufzer aus. »Was ist?«
»Pst!«
Sie musste sich konzentrieren. Das High-School-Foto des Mädchens, das mit der Regenbogenfahne im Hintergrund … Edna schloss die Augen. Sie musste sich das Bild vergegenwärtigen. Und es dann mit dem Bild der Frau, die sie gerade gesehen hatte, vergleichen. Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten.
Das vermisste Mädchen auf dem Foto hatte lange, mattbraune Haare. Die Frau, die gerade an ihr vorbeigegangen war – Frau, nicht Mädchen, denn sie sah älter aus, aber vielleicht war das Foto auch nicht ganz aktuell gewesen –, hatte rote, gewellte und kürzere Haare. Das Mädchen auf dem Foto trug keine Brille. Die Frau, die die 8th Avenue in Richtung Norden ging, trug ein modisches Gestell mit getönten, rechteckigen Gläsern. Kleidung wie Make-up waren – in Ermangelung eines besseren Ausdrucks – erwachsener.
Das Studieren von Gesichtern war für Edna mehr als ein Hobby. Sie war 63 Jahre alt und eine der wenigen Ärztinnen ihrer Altersgruppe, die sich auf Genetik spezialisiert hatte. Gesichter waren ihr Leben. Auch außerhalb des Krankenhauses ließ die Arbeit sie nie ganz los. Dr. Edna Skylar studierte Gesichter – sie konnte nicht anders. Freunde und Familienmitglieder kannten ihren prüfenden Blick, Fremde und neue Bekannte hingegen empfanden ihn als irritierend.
Genau das hatte Edna also getan. Beim Spazierengehen hatte sie, wie so oft, die Sehenswürdigkeiten und das Geschehen um sich herum ignoriert und sich ganz ihrem Privatvergnügen hingegeben, die Gesichter der Passanten zu studieren: die Struktur der Wangenknochen, die Länge des Unterkiefers, den Augenabstand, die Lage der Ohren, die Kontur des Kinns und die Länge des Nasenrückens. Und genau deshalb hatte Edna das vermisste Mädchen erkannt – trotz neuer Frisur und Haarfarbe, trotz neuer Brille, trotz erwachsenem Make-up und entsprechender Kleidung.
»Da war ein Mann bei ihr.«
»Was?«
Edna hatte laut gedacht.
»Bei dem Mädchen.«
Stanley runzelte die Stirn. »Wovon redest du, Edna?«
Das Bild. Das schmerzhaft gewöhnliche Schüler-Portrait. Man hat es tausendmal gesehen. Sieht man es in einem Jahrbuch, geraten die Gefühle in Wallung. Man sieht zugleich in die Vergangenheit und in die Zukunft dieses Mädchens. Man spürt die Freude der Jugend, den Schmerz des Erwachsenwerdens. Man erkennt die Möglichkeiten, die sich ihr eröffnen. Man wird von Wehmut und Nostalgie übermannt. Die Jahre ziehen wie im Flug vorbei, Ausbildung oder Universität, Hochzeit, Kinder und so weiter.
Wenn aber das gleiche Foto in den Abendnachrichten eingeblendet wird, ist es wie ein Stich ins Herz. Man sieht sich das Gesicht an, das zaghafte Lächeln, die matten Haare und die hängenden Schultern, und die Gedanken wandern an dunkle Orte, von denen sie sich besser fernhalten sollten.
Wie lange wurde Katie – das Mädchen im Fernsehen hatte Katie geheißen –, wie lange wurde sie schon vermisst?
Edna versuchte, sich zu erinnern. Gut einen Monat. Vielleicht sechs Wochen. Nur die Lokalnachrichten hatten darüber berichtet, und auch die nicht besonders lange – viele glaubten, sie wäre nur ausgerissen. Katie Rochester war ein paar Tage vor ihrem Verschwinden achtzehn geworden – damit galt sie als Erwachsene, was den Druck, sie ausfindig zu machen, erheblich minderte. Angeblich hatte es zu Hause Ärger gegeben, vor allem mit ihrem strengen Vater, der sie jetzt trotzdem im Fernsehen mit zitternder Unterlippe suchen ließ.
Vielleicht hatte Edna sich geirrt. Vielleicht war sie es doch nicht gewesen.
Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen.
»Schnell«, sagte Edna zu Stanley.
»Was ist denn, wo willst du hin?«
Für eine Antwort war keine Zeit. Das Mädchen war vermutlich schon an der nächsten Ecke. Stanley würde schon hinterherkommen. Stanley Rickenback, Gynäkologe und Spezialist für Geburtshilfe, war Ednas zweiter Ehemann. Der erste war ein echter Tausendsassa gewesen, ein kühner, zu attraktiver und zu leidenschaftlicher Mann und außerdem, tja, ein absolutes Arschloch. Wahrscheinlich war ihr Urteil nicht ganz fair, aber was sollte es. Ehemann Nummer eins hatte der neckischen Vorstellung, eine Ärztin zu heiraten – das war vor vierzig Jahren –, einfach nicht widerstehen können. Das Leben mit dieser Ärztin hatte ihn dann allerdings heillos überfordert. Er war davon ausgegangen, dass Edna diesen Ärztinnen-Spleen spätestens dann überwinden würde, wenn sie Kinder hatten. Das hatte sie nicht getan – ganz im Gegenteil. In Wahrheit – eine Wahrheit, die ihren Kindern nicht verborgen geblieben war – liebte Edna ihren Beruf sehr viel mehr als die Mutterrolle.
Sie hastete weiter. Die Gehsteige waren voll. Sie trat auf die Straße und ging schnell am Bordstein entlang. Stanley versuchte, nicht den Anschluss zu verlieren. »Edna?«
»Komm einfach mit.«
Er holte sie ein. »Was hast du vor?«
Ednas Blick suchte nach roten Haaren.
Da. Links vor ihr.
Sie musste sich die Frau näher ansehen. Edna rannte los. Wenn eine schick gekleidete Mittsechzigerin auf offener Straße rennt, erregt das an den meisten Orten Aufsehen, doch sie waren hier mitten in Manhattan. Man würdigte sie kaum eines zweiten Blickes.
Sie lief an der Frau vorbei, duckte sich dabei hinter größere Passanten, um nicht aufzufallen, und als sie weit genug weg war, drehte Edna sich um. Die vermeintliche Katie kam direkt auf sie zu. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde, und dann war Edna sicher.
Sie war es.
Katie Rochester wurde von einem dunkelhaarigen, etwa dreißig Jahre alten Mann begleitet. Sie gingen Hand in Hand. Sie sah nicht besorgt oder gestresst aus. Im Gegenteil, sie wirkte ziemlich zufrieden – zumindest, bis ihre Blicke sich trafen. Das hatte natürlich nichts zu bedeuten. Elizabeth Smart, das junge Mädchen, das drüben in Utah entführt worden war, war zeitweilig zusammen mit ihrem Kidnapper in der Öffentlichkeit unterwegs gewesen und hatte nicht ein einziges Mal signalisiert, dass sie Hilfe brauchte. Vielleicht verhielt es sich hier ähnlich.
Aber Edna glaubte das nicht.
Die rothaarige vermeintliche Katie flüsterte dem dunkelhaarigen Mann etwas zu. Die beiden beschleunigten ihren Schritt. Edna sah, wie sie nach rechts abbogen und im U-Bahn-Eingang verschwanden. Unten fuhren die Linien C und E. Stanley holte Edna ein. Er wollte etwas sagen, schwieg aber, als er ihr Gesicht sah.
»Komm mit«, sagte sie.
Sie eilten zum Eingang und die Treppe hinunter. Die vermisste Frau und der dunkelhaarige Mann hatten das Drehkreuz schon passiert. Edna wollte ihnen folgen.
»Mist.«
»Was ist?«
»Ich hab keine MetroCard.«
»Ich schon«, sagte Stanley.
»Gib her. Schnell.«
Er zog die Karte aus dem Portemonnaie und reichte sie ihr. Sie führte sie über den Scanner, ging durchs Drehkreuz und gab sie ihm zurück. Sie wartete nicht auf ihn. Die beiden waren die rechte Treppe hinuntergegangen. Sie folgte ihnen. Sie hörte das Rumpeln eines ankommenden Zuges und rannte los.
Der Zug hielt quietschend an. Die Türen öffneten sich. Ednas Herz raste. Sie sah nach links und rechts und suchte die roten Haare.
Nichts.
Wo war die Frau?
»Edna?« Stanley kam auf sie zu.
Sie sagte nichts. Katie Rochester war nicht zu sehen. Und wenn sie dagewesen wäre, was dann? Was hätte Edna dann tun sollen? Mit ihr in die U-Bahn steigen und sie verfolgen? Wohin? Und dann? Katies Wohnung ausfindig machen und dann die Polizei informieren?
Jemand klopfte ihr auf die Schulter.
Edna drehte sich um. Es war das vermisste Mädchen.
Noch lange danach fragte Edna sich, was sie im Gesicht des Mädchens gesehen hatte. Einen flehenden Blick? Verzweiflung? Gelassenheit? Sogar Freude? Entschlossenheit? Alles zusammen?
Die beiden Frauen starrten sich einen Moment lang einfach nur an. Die hektischen Menschen, das unverständliche Knistern und Rauschen aus den Lautsprechern, das Rumpeln des Zugs – das alles trat in den Hintergrund.
»Bitte«, flüsterte das vermisste Mädchen. »Sie dürfen niemandem sagen, dass Sie mich gesehen haben.«
Dann stieg das Mädchen in die U-Bahn. Edna lief ein Schauer über den Rücken. Die Türen schlossen sich. Edna wollte etwas tun, irgendetwas, konnte sich aber nicht von der Stelle rühren. Wieder sah sie dem Mädchen in die Augen.
»Bitte«, wiederholte das Mädchen tonlos durch die Scheibe.
Und dann verschwand der Zug in der Dunkelheit.
In Myrons Keller saßen zwei Mädchen.
Damit hatte alles angefangen. Hinterher, wenn Myron auf die Verluste und die gebrochenen Herzen zurückblickte, würden seine Gedanken auf diese erste Reihe von Was-wäre-wenns zurückkommen und ihn um den Schlaf bringen. Was wäre gewesen, wenn er kein Eis gebraucht hätte? Was wäre gewesen, wenn er die Kellertür eine Minute früher oder später geöffnet hätte? Was wäre gewesen, wenn die beiden Teenager – was machten die überhaupt in seinem Keller? – geflüstert hätten, und er sie nicht verstanden hätte?
Was wäre gewesen, wenn er sich nur um seine eigenen Angelegenheiten gekümmert hätte?
Myron stand oben auf der Treppe und hörte die beiden Mädchen kichern. Er blieb stehen und überlegte kurz, ob er die Tür schließen und sie in Ruhe lassen sollte. Der Rest seiner kleinen Abendgesellschaft hatte nicht mehr viel Eis, ein bisschen war aber schon noch da. Er konnte auch in ein paar Minuten zurückkommen.
Bevor er sich jedoch abwenden konnte, wehte eine Mädchenstimme wie Rauchschwaden die Treppe herauf. »Dann bist du mit Randy gekommen?«
Die andere: »Oh mein Gott, wir waren so betrunken.«
»Vom Bier?«
»Bier und Schnaps, ja.«
»Wie seid ihr nach Hause gekommen?«
»Randy ist gefahren.«
Myron erstarrte.
»Aber du hast doch gesagt …«
»Pst.« Dann: »Hallo, ist da jemand?«
Erwischt.
Myron trottete langsam die Treppe hinab. Er pfiff dabei. Mr Unbekümmert. Die beiden Mädchen saßen in Myrons früherem Schlafzimmer. Der Keller war 1975 ausgebaut worden, und genauso sah er auch aus. Myrons Vater, der jetzt in einer Eigentumswohnung in der Nähe von Boca Raton in Florida Däumchen drehte, war ein großer Freund des doppelseitigen Klebebands gewesen. Die Tapete mit dem Holzimitat-Aufdruck – ein Anblick, dem der Zahn der Zeit ebenso wenig anhaben konnte wie dem Betamax-Video – löste sich an mehreren Stellen von der Wand ab. Darunter kam bröckelnder Putz zum Vorschein. Die Bodenfliesen, die mit Alleskleber befestigt worden waren, hatten kleine Wellen geschlagen. Beim Betreten knirschte es, als zertrete man Käfer.
Die beiden Mädchen – das eine kannte Myron schon, seit es auf der Welt war, dem anderen war er heute zum ersten Mal begegnet – sahen ihn an. Sie rissen die Augen auf. Einen Moment lang sagte keiner etwas. Er winkte ihnen kurz zu.
»Hey, Mädels.«
Myron Bolitar war stolz auf seine coolen Sprüche.
Die beiden waren im letzten High-School-Jahr und auf eine jugendlich-unsichere Art hübsch. Die eine, die auf der Ecke seines alten Betts saß, und die er vor einer Stunde zum ersten Mal gesehen hatte, hieß Erin. Myron ging seit zwei Monaten mit ihrer Mutter Ali Wilder aus, einer Witwe und freien Journalistin. Diese Party in diesem Haus, in dem Myron aufgewachsen war und das jetzt ihm gehörte, war gewissermaßen ihr Coming-out, mit dem Myron und Ali im Freundeskreis offiziell bekannt gaben, dass sie ein Paar waren.
Das andere Mädchen, Aimee Biel, ahmte sein Winken und seinen Tonfall nach: »Hey, Myron.«
Schweigen.
Aimee Biel hatte er zum ersten Mal am Tag nach ihrer Geburt im St. Barnabas Hospital gesehen. Aimee und ihre Eltern, Claire und Erik, wohnten nur zwei Blocks von ihm entfernt. Myron kannte Claire noch aus der Heritage Middle School, die nur gut fünfhundert Meter von ihrem jetzigen Aufenthaltsort entfernt lag. Myron sah Aimee an. Einen Moment lang fühlte er sich mehr als 25 Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt. Aimee sah ihrer Mutter sehr ähnlich, und sie hatte auch das gleiche verschmitzte Was-kostet-die-Welt-Grinsen.
»Ich wollte nur ein bisschen Eis holen«, sagte Myron. Er unterstrich diese Worte, indem er mit dem Daumen auf den Gefrierschrank deutete.
»Cool«, sagt Aimee.
»Sehr cool«, sagte Myron. »Eiskalt, um genau zu sein.«
Myron gluckste – als Einziger.
Myron behielt sein idiotisches Grinsen bei und sah Erin an. Die senkte den Blick. Im Prinzip entsprach das dem Verhalten, das sie schon den ganzen Tag gezeigt hatte. Sie war höflich und reserviert.
»Darf ich dich was fragen?«, erkundigte Aimee sich.
»Schieß los.«
Sie breitete die Hände aus. »War das wirklich dein Zimmer?«
»Absolut.«
Die Mädchen sahen sich an. Aimee kicherte. Erin folgte ihrem Beispiel.
»Was ist denn damit?«, fragte Myron.
»Das ist … also, langweiliger geht’s ja gar nicht mehr.«
Schließlich sagte Erin auch etwas. »Das ist viel zu retro, um retro zu sein.«
»Wie heißt das hier?«, fragte Aimee und zeigte unter sich.
»Das ist ein Sitzsack«, sagte Myron.
Wieder kicherten die beiden Mädchen.
»Und wieso hat die Lampe eine schwarze Glühbirne?«
»Die bringt die Poster zum Leuchten.«
Wieder Kichern.
»Hey, ich war damals auf der High School«, sagte Myron, als würde das alles erklären.
»Hast du auch Mädchen mit hier runter genommen?«, fragte Aimee.
Myron legte die Hand aufs Herz. »Ein echter Gentleman genießt und schweigt.« Dann: »Ja.«
»Wie viele?«
»Wie viele was?«
»Mit wie vielen Mädchen bist du hier unten gewesen?«
»Oh, so ungefähr …«, Myron sah nach oben und malte mit dem Zeigefinger in der Luft herum, »… drei im Sinn … Ich würde sagen, ungefähr acht- bis neuntausend.«
Das löste wildes Gelächter aus.
»Aber mal ehrlich«, fuhr Aimee fort. »Mom hat gesagt, du sollst echt süß gewesen sein.«
Myron zog eine Augenbraue hoch. »Gewesen sein?«
Die Mädchen klatschten sich ab und kugelten sich vor Lachen. Myron schüttelte den Kopf und grummelte etwas von Respekt vor dem Alter. Als die Mädchen sich wieder beruhigt hatten, sagte Aimee: »Darf ich noch was fragen?«
»Klar.«
»Ich meine, ernsthaft?«
»Frag schon.«
»Die Fotos von dir. Oben die.«
Myron nickte. Er konnte sich schon denken, worauf es hinauslief.
»Da bist du auf der Titelseite der Sports Illustrated.«
»Ja, das war ich.«
»Mom und Dad behaupten, du wärest so ziemlich der beste Basketballspieler im ganzen Land gewesen.«
»Mom und Dad übertreiben«, sagte Myron.
Beide Mädchen starrten ihn an. Fünf Sekunden verstrichen. Dann noch fünf.
»Hab ich was zwischen den Zähnen?«, fragte Myron.
»Warst du dann nicht bei den L.A. Lakers?«
»Bei den Boston Celtics«, korrigierte er.
»Ach klar, die Celtics.« Aimee sah ihm immer noch direkt in die Augen. »Und dann hast du dir das Knie verletzt, stimmt’s?«
»Stimmt.«
»Und damit war die Karriere gelaufen. Einfach so.«
»So ziemlich, ja.«
»Und wie …«, Aimee zuckte die Achseln, »… hat sich das angefühlt?«
»Als ich mir das Knie verletzt habe?«
»Nein, erst so ein Superstar zu sein und dann plötzlich nie wieder spielen zu können.«
Beide Mädchen warteten auf eine Antwort. Myron überlegte, was er Tiefsinniges sagen konnte.
»Es war echt scheiße«, erwiderte er dann.
Das gefiel ihnen.
Aimee schüttelte den Kopf. »Das muss echt das Schlimmste sein, was einem passieren kann.«
Myron sah Erin an. Die senkte den Blick. Es wurde still im Zimmer. Er wartete. Schließlich blickte sie wieder auf. Sie wirkte verunsichert, klein und jung. Er wollte sie in den Arm nehmen, aber das wäre das Verkehrteste gewesen, was er hätte tun können.
»Nein«, sagte Myron leise und sah Erin weiter an. »Es gibt sehr viel Schlimmeres.«
Eine Stimme oben auf der Treppe rief: »Myron?«
»Ich komme gleich.«
Dann wäre er fast gegangen. Das nächste große Was-wäre-wenn. Aber die Worte, die er oben auf der Treppe gehört hatte – Randy ist gefahren –, gingen ihm nicht aus dem Kopf. Bier und Schnaps. Er konnte das doch nicht einfach so ignorieren, oder?
»Ich muss euch was erzählen«, fing Myron an. Dann brach er ab. Eigentlich wollte er ihnen ein Vorkommnis aus seiner High-School-Zeit erzählen. Sie hatten in Barry Brenners Haus eine Party gefeiert. Es war sein letztes Jahr gewesen – genau wie für die beiden Mädchen jetzt. Sie hatten viel getrunken. Seine Mannschaft, die Livingston Lancers, hatte gerade die Basketballmeisterschaft von New Jersey gewonnen – angeführt vom Schüler-Nationalspieler Myron Bolitar mit seinen 43 Punkten. Alle waren betrunken. Er erinnerte sich an Debbie Frankel. Sie war ein tolles Mädchen, ein echtes Energiebündel gewesen, hatte sich nie zurückgehalten, dem Lehrer immer als Erste widersprochen und auch sonst immer Kontra gegeben – und er hatte sie dafür geliebt. Gegen Mitternacht hatte Debbie sich von ihm verabschiedet. Dabei war ihr die Brille auf die Nasenspitze gerutscht. Er erinnerte sich noch ganz genau daran. Myron hatte gesehen, dass Debbie betrunken war. Wie auch die beiden anderen Mädchen, die mit ihr in den Wagen gestiegen waren.
Man kann sich unschwer denken, wie die Geschichte ausging. Die drei fuhren zu schnell über die Kuppe an der South Orange Avenue. Debbie starb noch am Unfallort. Die folgenden sechs Jahre hatte das Autowrack als warnendes Beispiel vor der High School gestanden. Myron fragte sich, wo es jetzt wohl sein mochte – was hatten sie damit gemacht?
»Was ist?«, fragte Aimee.
Aber Myron erzählte ihnen nicht von Debbie Frankel. Ohne Zweifel kannten Erin und Aimee andere Versionen derselben Geschichte. Es änderte nichts, wenn er sie ihnen noch einmal erzählte. Er wusste das. Also versuchte er es anders.
»Ihr müsst mir was versprechen«, sagte Myron.
Die beiden Mädchen sahen ihn an.
Er zog sein Portemonnaie aus der Tasche und nahm zwei Visitenkarten heraus. Dann zog er die oberste Schublade seines alten Schreibtischs auf und fand nach kurzem Suchen einen funktionierenden Kugelschreiber. »Das sind sämtliche Telefonnummern, die ich habe – das Haus hier, das Büro, das Handy und die Wohnung in New York City.«
Myron kritzelte etwas auf beide Karten und reichte jeder eine. Die beiden Mädchen nahmen sie wortlos entgegen.
»Hört mir bitte gut zu, ja? Wenn ihr je in Schwierigkeiten seid. Wenn ihr unterwegs seid und was getrunken habt, oder eure Freunde haben was getrunken oder geraucht oder was weiß ich. Versprecht mir – versprecht mir, dass ihr mich anruft. Ich komme vorbei und hole euch ab, ganz egal, wo ihr seid. Ich werde keine Fragen stellen. Ich sag euren Eltern nichts. Das verspreche ich euch. Ich bring euch, wohin ihr wollt. Ganz egal, wie spät es ist. Ganz egal, wie weit ihr weg seid. Ganz egal, wie betrunken oder bekifft ihr seid. Rund um die Uhr und sieben Tage die Woche. Ruft mich an, dann hole ich euch ab.«
Die Mädchen sagten nichts.
Myron trat einen Schritt näher an sie heran. Er versuchte, nicht zu flehentlich zu klingen. »Aber bitte … bitte fahrt nicht mit jemandem mit, der was getrunken hat.«
Sie starrten ihn an.
»Versprecht mir das«, wiederholte er.
Und einen Augenblick später – das letzte Was-wäre-wenn – versprachen sie es.
Zwei Stunden darauf gingen die Biels – Aimees Familie – als Erste.
Myron brachte sie zur Tür. Claire beugte sich zu ihm und flüsterte: »Ich hab gehört, die Mädchen waren unten in deinem alten Zimmer.«
»Ja.«
Sie grinste verschlagen. »Hast du es ihnen erzählt?«
»Herrje, nein.«
Claire schüttelte den Kopf. »Du bist ja so prüde.«
In der High School waren Claire und Myron enge Freunde gewesen. Er hatte ihre lockere Art toll gefunden. Sie hatte sich – in Ermangelung eines besseren Begriffs – wie ein echter Kerl verhalten. Auf Partys hatte sie immer versucht, einen Typen aufzureißen – meist erfolgreich, schließlich war sie ein gut aussehendes Mädchen. Sie hatte auf Kraftprotze gestanden. Sie war mit ihnen ein oder vielleicht zwei Mal ausgegangen und hatte sich dann einen Neuen aufgerissen.
Claire war jetzt Anwältin. In den Ferien ihres letzten High-school-Jahrs hatte sie einmal auch mit Myron rumgemacht, da unten, in ebenjenem Keller. Myron war das ziemlich peinlich gewesen. Claire hatte am nächsten Tag nicht die geringsten Probleme damit gehabt. Keine Spur von Unsicherheit, kein Ausweichen vor dem Thema, aber auch kein »Lass uns noch mal kurz darüber reden«.
Es hatte auch keine Zugabe gegeben.
Ihren Mann hatte Claire während des Jura-Studiums kennen gelernt. »Erik mit K.« So stellte er sich immer vor. Erik war schlank und steif. Er lächelte nur selten und lachte so gut wie nie. Seine Krawatte war immer mit einem perfekten Windsorknoten gebunden. Erik mit K entsprach nicht dem Bild, das Myron sich von Claires Ehemann gemacht hatte, aber die Beziehung schien gut zu laufen. Wahrscheinlich war es die Sache mit den Gegensätzen, die sich anziehen.
Erik verabschiedete sich von Myron mit einem kräftigen Händedruck. »Sehen wir uns am Sonntag?«
Sie trafen sich jeden Sonntagvormittag mit verschiedenen anderen Nachbarn zum Basketballspielen, aber Myron war schon seit ein paar Monaten nicht mehr hingegangen. »Nein, ich komm diese Woche nicht.«
Erik nickte, als hätte Myron eine tiefe Wahrheit verkündet, und ging zur Tür. Aimee verkniff sich ein Lachen und winkte. »War nett, mit dir zu reden, Myron.«
»Geht mir genauso, Aimee.«
Myron versuchte, ihr einen Blick zuzuwerfen, der besagte: »Und denk an dein Versprechen.« Er wusste nicht, ob seine Nachricht angekommen war, auf jeden Fall nickte Aimee ihm noch kurz zu, bevor sie ging.
Claire gab ihm einen Kuss auf die Wange und flüsterte: »Du siehst glücklich aus.«
»Das bin ich auch«, erwiderte er.
Claire strahlte ihn an. »Ali ist klasse, was?«
»Ja.«
»Ich bin die beste Ehestifterin aller Zeiten.«
»Du würdest jeder misslungenen Provinz-Aufführung von Anatevka neuen Glanz verleihen«, sagte er.
»Ich will ja nicht angeben, aber ich bin einfach die Größte, stimmt’s? Du kannst es mir ruhig sagen. Ich verkrafte das. Ich bin die Beste.«
»Es geht doch noch um die Ehestifterei, oder?«
»Auch. Dass ich ansonsten die Größte bin, weiß ich schon lange.«
Myron sagte: »Äähhh.«
Sie tätschelte ihm den Arm und ging. Er sah ihr lächelnd nach und schüttelte den Kopf. Irgendwie bleibt man doch immer siebzehn und wartet darauf, dass das Leben so richtig losgeht.
Zehn Minuten später sammelte Ali Wilder, Myrons neue Freundin, ihre Kinder ein. Myron brachte sie zum Wagen. Jack, ihr neunjähriger Sohn, trug stolz ein altes Celtics-Trikot mit Myrons damaliger Nummer. Das war jetzt der letzte Schrei in der Hip-Hop-Szene. Erst hatte es die Retro-Trikots der alten Superstars gegeben. Jetzt konnte man auf einer Internet-Seite namens Big-Time-Losahs.com oder so ähnlich Trikots von Spielern kaufen, die ihre besten Jahre hinter sich oder es nie geschafft hatten. Gescheiterte Spieler.
So wie Myron.
Der erst neun Jahre alte Jack erkannte den Sarkasmus nicht, der dahintersteckte.
Jack umarmte Myron am Wagen herzlich. Myron wusste nicht recht, wie er damit umgehen sollte. Er erwiderte die Umarmung, brach sie aber schnell wieder ab. Erin blieb abseits stehen, nickte Myron dann beiläufig zu und stieg hinten ein. Jack folgte seiner großen Schwester. Ali und Myron lächelten sich an wie zwei frisch verliebte, unsichere Teenager.
»Das war nett«, sagte Ali.
Myron lächelte immer noch. Ali sah ihn mit ihren wunderschönen, grünbraunen Augen an. Sie hatte rotblonde Haare und immer noch Reste von Sommersprossen. Er war vollkommen gebannt von dem strahlenden Lächeln in ihrem breiten Gesicht.
»Was ist?«, fragte sie.
»Du bist schön.«
»Mann, du hast es aber echt mit den Worten.«
»Ich will ja nicht angeben, aber klar, das kann man wohl kaum anders sagen.«
Ali sah zum Haus. Win – eigentlich Windsor Horne Lockwood III – lehnte mit verschränkten Armen am Türrahmen. »Dein Freund Win«, sagte sie, »macht einen netten Eindruck.«
»Das täuscht.«
»Stimmt auch nicht ganz, ich dachte nur, weil er dein bester Freund ist und so, da sag ich das einfach mal.«
»Win ist kompliziert.«
»Er sieht gut aus.«
»Das weiß er.«
»Ist aber nicht mein Typ. Zu hübsch. Zu sehr der ewige flotte Yuppie.«
»Und du stehst eher auf die echt harten Macho-Typen«, sagte Myron. »Dafür hab ich vollstes Verständnis.«
Sie kicherte. »Warum sieht er mich so an?«
»Ich vermute mal, er versucht, deinen Hintern zu benoten.«
»Na ja, wenigstens einer.«
Myron räusperte sich und sah weg. »Wollen wir morgen Abend zusammen essen?«
»Das wäre schön.«
»Dann hol ich dich um sieben ab.«
Ali legte ihm die Hand auf die Brust. Myron spürte, wie es bei dieser Berührung funkte. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen – Myron war 1,92 Meter groß – und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Ich koch was für dich.«
»Ehrlich?«
»Wir bleiben zu Hause.«
»Prima. Dann wird das so ein Familienabend? Damit ich die Kids besser kennen lerne?«
»Die Kinder übernachten bei meiner Schwester.«
»Oh«, sagte Myron.
Sie warf ihm einen vielsagenden Blick zu und setzte sich auf den Fahrersitz.
»Oh«, wiederholte Myron.
Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und du wolltest nicht mit deiner Wortgewandtheit angeben.«
Dann fuhr sie los. Während Myron dem Wagen nachschaute, lag das dämliche Lächeln immer noch auf seinem Gesicht. Dann drehte er sich um und ging zum Haus zurück. Win hatte sich nicht von der Stelle gerührt. In Myrons Leben hatte sich viel verändert – seine Eltern waren nach Florida gezogen, Esperanza hatte ein Baby bekommen, seine Agentur, selbst Big Cyndi war nicht mehr dieselbe –, nur Win war unverändert. Ein paar der aschblonden Strähnen an seinen Schläfen waren leicht ergraut, doch Win war immer noch der Über-WASP. Der aristokratische Unterkiefer, die perfekte Nase, der wie von Gottes Hand gezogene Scheitel – er stank förmlich nach Geld, und das vollkommen zu Recht, mit allen dazugehörigen Privilegien wie weißen Schuhen und Golfbräune.
»Sechs Komma acht«, sagte Win. »Wenn du willst, kannst du auf sieben aufrunden.«
»Wie bitte?«
Win hob eine flache Hand und drehte sie abschätzig nach rechts und links. »Deine Miss Wilder. Mit etwas gutem Willen geb ich ihr eine Sieben.«
»Holla, das will schon was heißen. Erst recht von dir und so.«
Sie gingen ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer. Win schlug die Beine perfekt übereinander. Seine Miene war so arrogant wie immer. Er sah verhätschelt, verwöhnt und verweichlicht aus – zumindest im Gesicht. Sein Körper passte nicht zu diesem Bild. Er bestand nur aus festen, angespannten Muskeln; er war nicht einfach nur drahtig, sondern – wenn man so wollte – stacheldrahtig.
Win legte die Fingerspitzen aneinander. Eine Geste, die perfekt zu ihm passte. »Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Nein.«
»Warum bist du mit ihr zusammen?«
»Das soll jetzt ein Witz sein, oder?«
»Nein. Ich will wissen, was genau du in Miss Ali Wilder siehst.«
Myron schüttelte den Kopf. »Ich hab gleich gewusst, dass ich dich besser nicht einlade.«
»Oh, das hast du aber. Daher möchte ich dir meine Überlegungen erläutern.«
»Lass es bitte.«
»In Duke auf der Universität warst du mit dieser reizenden Emily Downing zusammen. Die darauffolgenden gut zehn Jahre war dann die berückende Jessica Culver die Liebe deines Lebens. Du hattest eine kurze Affäre mit Brenda Slaughter und zum Schluss dann leider auch noch eine Leidenschaft für Terese Collins.«
»Kommst du irgendwann auf den Punkt?«
»Aber gewiss doch.« Win breitete kurz die Hände aus, legte sie dann aber sofort wieder aneinander. »Was verbindet all deine verflossenen Geliebten?«
»Verrat’s mir«, sagte Myron.
»Mit einem Wort: Formidabilität.«
»Tolles Wort.«
»Das waren so heiße Bräute, dass man sich an ihnen verbrennen konnte«, fuhr Win mit seinem hochnäsigen Akzent fort. »Und das gilt für jede von ihnen. Auf einer Skala von eins bis zehn hätte ich Emily auf neun eingestuft. Und die wäre das Schlusslicht gewesen. Jessica wäre eine So-heiß-dass-die-Augäpfel-kochen-Elf. Terese Collins und Brenda Slaughter sind beide ganz nah an der Zehn.«
»Und nach deiner fachmännischen Ansicht …«
»Ist eine Sieben noch eine wohlwollende Einstufung«, vollendete Win den Satz.
Myron schüttelte nur den Kopf.
»Dann erzähl mir doch bitte einmal«, sagte Win, »was dich so sehr zu ihr hinzieht.«
»Ist das dein Ernst?«
»Voll und ganz, ja.«
»Naja, dann jetzt in Kurzform, Win. Erstens, obwohl es eigentlich keine Rolle spielt, stimme ich mit deiner peinlichen Punktewertung nicht überein.«
»Soso. Und wie würdest du Miss Wilder benoten?«
»Damit fang ich gar nicht erst an. Aber erstens braucht man bei Ali eine Weile, bis man ihre Vorzüge erkennt. Erst denkt man, sie ist ja ganz hübsch, aber dann, wenn man sie näher kennen …«
»Pah.«
»Pah?«
»Selbsttäuschung.«
»Tja, und dann hätte ich noch eine Neuigkeit für dich. Es geht im Leben nicht nur ums Aussehen.«
»Pah.«
»Wieder dieses Pah?«
Wieder legte Win die Finger aneinander. »Spielen wir was. Ich sage ein Wort, und du sagst dann, was dir dabei als Erstes in den Sinn kommt.«
Myron schloss die Augen. »Ich weiß nicht, warum ich mit dir noch über Herzensangelegenheiten spreche. Das ist, als würde man mit einem Tauben über Mozart reden.«
»Ja, sehr komisch. Hier kommt das erste Wort. Genau genommen sind es sogar zwei Wörter. Sag mir einfach, was dir dabei durch den Kopf geht: Ali Wilder.«
»Wärme«, sagte Myron.
»Lügner.«
»Okay, ich glaube, wir sollten langsam das Thema wechseln.«
»Myron?«
»Was ist?«
»Wann hast du das letzte Mal versucht, jemanden zu retten?«
Die üblichen Gesichter blitzten vor Myrons innerem Auge auf. Er versuchte, sie beiseitezuschieben.
»Myron?«
»Fang nicht wieder damit an«, sagte Myron leise. »Ich habe meine Lektion gelernt.«
»Wirklich?«
Er dachte an Ali, an das wunderbare Lächeln und ihr offenes Gesicht. Er dachte an Aimee und Erin unten in seinem alten Zimmer im Keller und an das Versprechen, das er ihnen abgerungen hatte.
»Ali braucht keinen Retter, Myron.«
»Du glaubst, dass es darum geht?«
»Wenn ich ihren Namen sage, was kommt dir dann als Erstes in den Sinn?«
»Wärme«, wiederholte Myron.
Aber dieses Mal wusste er, dass er log.
Sechs Jahre.
So lange war es her, seit Myron zum letzten Mal den Superhelden gespielt hatte. Sechs Jahre lang hatte er nicht ein einziges Mal zugeschlagen. Er hatte keine Pistole in der Hand gehabt, von Abfeuern ganz zu schweigen. Er hatte niemanden bedroht und war nicht bedroht worden. Er hatte sich keine Wortgefechte mit irgendwelchen anabolikagemästeten Schleimbeuteln geliefert. Er hatte Win – immer noch der furchteinflößendste Mensch, dem er je begegnet war – nicht angerufen und aufgefordert, ihn aus der Bredouille zu holen. In den letzten sechs Jahren war keiner seiner Klienten ermordet worden – was in seiner Branche eindeutig positiv zu bewerten war. Niemand hatte eine Kugel abbekommen, niemand war festgenommen worden – na ja, abgesehen von der Prostitutions-Sache in Las Vegas, was Myron aber immer noch für eine Falle hielt. Von seinen Klienten, Freunden oder Geliebten war keiner plötzlich verschwunden.
Er hatte seine Lektion gelernt.
Steck deine Nase nicht in fremder Leute Angelegenheiten. Du bist nicht Batman, und Win ist kein durchgeknallter Robin. Natürlich hatte Myron in seinen quasi-heldenhaften Tagen mehrmals Unschuldigen das Leben gerettet, darunter auch seinem eigenen Sohn. Jeremy war inzwischen neunzehn – Myron fand das selbst unglaublich – und diente beim Militär an irgendeinem geheimen Ort im Nahen Osten.
Doch Myron hatte auch Schaden angerichtet. Man brauchte sich nur anzusehen, was mit Duane, Christian, Greg, Linda und Jack passiert war … Aber vor allem ging Myron Brenda nicht aus dem Kopf. Er besuchte ihr Grab immer noch viel zu häufig. Er konnte nicht sagen, ob sie vielleicht auch ohne sein Zutun gestorben wäre. Vielleicht war es gar nicht seine Schuld gewesen.
Der Erfolg nutzt sich mit der Zeit ab. Die Verwüstung – die Toten – bleiben bei dir, klopfen dir immer mal wieder auf die Schulter, bremsen dich aus und verfolgen dich im Schlaf.
Seinen Heldenkomplex hatte Myron jedenfalls begraben. In den letzten sechs Jahren war sein Leben ruhig, normal, durchschnittlich, ja langweilig verlaufen.
Myron spülte die Teller ab. Er lebte zum Teil in Livingston, New Jersey, nicht nur in derselben Stadt, sondern sogar in demselben Haus, in dem er aufgewachsen war. Seine Eltern, Ellen und Alan Bolitar, die er sehr liebte, waren vorfünf Jahren ins Vaterland ihres Volks zurück gezogen (also nach Süd-Florida). Myron hatte das Haus aus zwei Gründen gekauft: Als Investition, die sich schon bezahlt gemacht hatte, und damit seine Eltern ein Zuhause hatten, wenn sie in den heißen Sommermonaten wieder zurückkamen. Myron verbrachte etwa ein Drittel seiner Zeit in diesem Vorort-Haus und die anderen zwei Drittel in Wins Gästezimmer in dessen Wohnung im berühmten Dakota-Haus am Central Park West in Manhattan.
Er dachte an den nächsten Abend und seine Verabredung mit Ali. Win war ein Idiot, das stand außer Zweifel, aber wie üblich hatte er mit seiner Frage einen Treffer, womöglich sogar einen Volltreffer gelandet. Die Sache mit dem Aussehen konnte man vergessen. Das war absoluter Quatsch. Genau wie die Geschichte mit dem Heldenkomplex. Darum ging es nicht. Aber irgendetwas bremste ihn, und das hatte tatsächlich etwas mit dem Unglück zu tun, das Ali widerfahren war. Sosehr er es auch versuchte, er kam nicht dagegen an.
Was den heldenhaften Auftritt Aimee und Erin gegenüber betraf, als er ihnen das Versprechen abnötigte, ihn jederzeit anzurufen – das war etwas ganz anderes. Die Pubertät ist für jeden Menschen eine sehr schwierige Zeit, ganz egal, wie gut man aussieht oder wie beliebt man ist. Die High School ist Kriegsgebiet. Myron war bei seinen Mitschülern beliebt gewesen. Er war ein Vorzeige-Basketballspieler in der Schüler-Nationalmannschaft gewesen, einer der besten Spieler des Landes, und, um ein beliebtes Klischee zu bedienen, dabei auch noch ein wirklich guter Schüler. Wenn einer ohne Probleme durch die High School kommen müsste, dann doch wohl jemand wie Myron Bolitar. Aber selbst ihm war das nicht gelungen. Im Endeffekt übersteht niemand diese Zeit, ohne dass ein paar Narben zurückbleiben.
Man muss die Pubertät einfach nur überleben. Mehr nicht. Es geht nur ums Durchkommen.
Das hätte er den Mädchen vielleicht sagen sollen.
Am nächsten Morgen machte Myron sich auf den Weg zur Arbeit.
Sein Büro lag im zwölften Stockwerk des Lock-Horne-Buildings – es hieß nicht zufällig wie Win – an der Ecke Park Avenue und 52nd Street in Midtown Manhattan. Als die Fahrstuhltür sich oben öffnete, stand Myron vor einem großen Schild – einer Neuerwerbung –, auf dem in einer modernen, schicken Schrift
MB REPS
stand. Das neue Logo hatte Esperanza entworfen. Das M stand für Myron, das B für Bolitar. Das Reps begründete sich aus der Tatsache, dass sie als Agentur Prominente repräsentierten. Myron hatte sich den Namen selbst ausgedacht. Wenn er das erzählte, machte er häufig eine kleine Pause und wartete, bis der Applaus langsam wieder abebbte.
Ursprünglich hatten sie nur Sportler vertreten. Da hatte die Firma noch MB SportsReps geheißen. Innerhalb der letzten fünf Jahre hatten sie ihren Geschäftsbereich ausgeweitet und auch Schauspieler, Schriftsteller und andere Prominente unter Vertrag genommen. Daher die kluge Kürzung des Namens. Man beschnitt das Überflüssige und verschlankte den Betrieb. Ja, genau das war die Geschäftsphilosophie von MB Reps, die sich jetzt sogar schon im Namen widerspiegelte.
Myron hörte das Baby schreien. Esperanza musste schon da sein. Er steckte den Kopf in ihr Büro.
Esperanza gab dem Baby die Brust. Er senkte sofort den Blick.
»Äh, ich komm später wieder.«
»Jetzt stell dich nicht so idiotisch an«, sagte Esperanza. »Man könnte glauben, dass du noch nie eine weibliche Brust gesehen hast.«
»Na ja, ist halt schon ’ne Weile her.«
»Und so ansehnlich ist sie bestimmt auch nicht gewesen«, ergänzte sie. »Jetzt setz dich hin.«
Anfangs hatte MB SportsReps nur aus dem Superagenten Myron und seiner Empfangsdame, Sekretärin und Gehilfin Esperanza bestanden. Manche kannten Esperanza vielleicht noch aus ihrer Zeit als hübsche, geschmeidige Profi-Catcherin, wo sie unter dem Namen Little Pocahontas aufgetreten war. Esperanza war hier im Umland New York Citys jeden Sonntagvormittag auf Channel II zu sehen gewesen, wie sie, nur mit einem Feder-Stirnband und einem Bikini aus Wildlederimitat bekleidet, der den Großteil der männlichen Zuschauer zum Sabbern brachte, in den Ring kletterte. Zusammen mit ihrer Partnerin, Big Chief Mama, die sich außerhalb des Rings Big Cyndi nannte, hatte sie eine ganze Weile lang den interkontinentalen Meisterschaftsgürtel im Team-Catchen der FLOW getragen, was für Fabulous Ladies Of Wrestling stand. Der Catcherinnen-Verband hatte sich ursprünglich Beautiful Ladies Of Wrestling nennen wollen, die Fernsehsender hatten aber Probleme mit den Initialen geltend gemacht.
Offiziell war Esperanza jetzt die stellvertretende Geschäftsführerin von MB Reps, im Prinzip führte sie den Sportbereich jedoch selbstständig.
»Tut mir leid, dass ich eure Coming-out-Party verpasst habe«, sagte Esperanza.
»Das war keine Coming-out-Party.«
»Ist ja auch egal. Aber Hector hatte Schnupfen.«
»Geht’s ihm wieder besser?«
»Ja, alles klar.«
»Und was gibt’s jetzt?«
»Es geht um Michael Discepolo. Wir müssen seinen Vertrag unter Dach und Fach kriegen.«
»Kommen die Giants immer noch nicht in die Hufe?«
»Nein.«
»Dann ist er demnächst vertragsfrei und kann sich was anderes suchen«, sagte Myron. »So wie er in letzter Zeit gespielt hat, wird er sich dabei nicht verschlechtern.«
»Aber Discepolo ist ein echter New Yorker. Er würde lieber schnell bei den Giants verlängern.«
Esperanza nahm Hector von der einen Brust und legte ihn an die andere Seite. Myron versuchte, nicht zu plötzlich wegzusehen. Er wusste nie, wie er damit umgehen sollte, wenn eine Frau in seiner Anwesenheit ihr Baby stillte. Er wollte sich vernünftig benehmen, wusste aber nicht, was das bedeutete. Natürlich starrte man nicht hin, wandte aber auch nicht den Blick ab. Und dazwischen bewegte man sich wirklich auf dünnem Eis.
»Ich hab noch eine Neuigkeit«, sagte Esperanza.
»Aha?«
»Tom und ich heiraten.«
Myron sagte nichts. Er verspürte ein eigenartiges Stechen.
»Und?«
»Glückwunsch.«
»Das ist alles?«
»Ich bin halt ein bisschen überrascht. Aber eigentlich finde ich das toll. Wann ist denn der große Tag?«
»Samstag in drei Wochen. Aber ich muss dich was fragen. Wenn ich jetzt den Vater meines Kindes heirate, bin ich dann immer noch ein gefallenes Mädchen?«
»Na ja, immerhin war Hector bei der Geburt ein uneheliches Kind.«
»Gutes Argument. Ich glaub, damit kann ich leben.«
Myron sah sie an.
»Was ist los?«
»Du heiratest.« Er schüttelte den Kopf.
»Ich war nicht unbedingt der Typ für langfristige Beziehungen, was?«
»Du hast die Partner gewechselt wie ein Multiplex-Kino die Filme.«
Esperanza lächelte. »Das stimmt.«
»Ich könnte nicht mal sagen, ob du je länger als einen Monat am Stück beim gleichen Geschlecht geblieben bist.«
»Das Wunder der Bisexualität«, sagte Esperanza. »Aber mit Tom ist das was anderes.«
»Wieso?«
»Ich liebe ihn.«
Er sagte nichts.
»Du glaubst nicht, dass ich das schaffe«, sagte sie. »Einem Menschen treu zu sein.«
»Das hab ich nicht gesagt.«
»Weißt du, was bisexuell bedeutet?«
»Klar«, sagte Myron. »Ich kannte viele bisexuelle Frauen. Zweimal Sex, und weg waren sie.«
Esperanza sah ihn nur an.
»Okay, der Witz hat schon einen ziemlich langen Bart«, sagte Myron. »Es ist bloß …« Er zuckte die Achseln.
»Ich steh auf Frauen und Männer. Aber wenn ich mich langfristig binde, geht’s um einen Menschen, nicht um ein Geschlecht. Klar?«
»Klar.«
»Gut. Und jetzt erzähl, was zwischen dir und dieser Ali Wilder schiefläuft.«
»Nichts.«
»Win sagt, ihr habt’s noch nicht getan.«
»Win hat das gesagt?«
»Ja.«
»Wann?«
»Heute Morgen.«
»Win war hier, um dir das zu sagen?«
»Erst hat er eine Bemerkung über die Zunahme meiner Körbchengröße nach der Geburt gemacht, und dann hat er mir erzählt, dass du dich mit dieser Frau seit fast zwei Monaten triffst, und ihr es noch nicht getrieben habt.«
»Wie kommt er denn darauf?«
»Körpersprache.«
»Hat er das gesagt?«
»In Körpersprache ist Win verdammt gut.«
Myron schüttelte den Kopf.
»Und, hat er Recht?«
»Ich bin heute bei Ali zum Abendessen eingeladen. Die Kinder sind bei ihrer Schwester.«
»Ist der Plan von ihr?«
»Ja.«
»Und ihr habt nicht …?« Obwohl Hector noch saugte, gelang es Esperanza, den Punkt zu verdeutlichen.
»Nein, wir haben nicht.«
»Mann.«
»Ich warte auf ein Zeichen.«
»Was zum Beispiel? Ein brennender Busch? Sie hat dich zu sich nach Hause eingeladen und dir gesagt, dass die Kinder über Nacht außer Haus sind.«
»Ich weiß.«
»Das ist das internationale Zeichen für Bespring mich.«
Er sagte nichts.
»Myron?«
»Ja.«
»Sie ist Witwe – kein Krüppel. Wahrscheinlich hat sie einfach ein bisschen Angst.«
»Deshalb lass ich es ja langsam angehen.«
»Das ist edel und lieb, aber dämlich. Und es nützt auch nichts.«
»Du meinst also …?«
»Stürz dich so bald wie möglich auf sie, ja.«
Myron war um sieben bei Ali.
Die Wilders wohnten in Kasselton, einer Stadt, die etwa eine Viertelstunde mit dem Auto von Livingston entfernt lag. Vor dem Verlassen des Hauses hatte Myron ein seltsames Ritual zelebriert: Eau de Cologne oder kein Eau de Cologne? Das war einfach: kein Eau de Cologne. Enger Slip oder Boxershorts? Er entschied sich für ein Zwischending, bei dem es sich weder um enge Boxershorts noch einen langbeinigen Slip handelte. Boxer-Slips stand auf der Packung. Er wählte einen dunkelgrauen. Er zog ein schwarzes T-Shirt an und darüber einen braunen Pullover von Banana Republic. Die Jeans war von The Gap. Leichte Slipper aus dem Tod’s Outlet-Store in Schuhgröße 49 schmückten seine Füße. Lässiger ging es nicht.
Ali öffnete die Tür. Hinter ihr brannte schummriges Licht. Sie trug ein schwarzes Kleid mit rundem Ausschnitt. Sie hatte die Haare nach hinten gesteckt. Myron gefiel das. Die meisten Männer mochten offenes Haar, Myron hatte es schon immer schöner gefunden, wenn das Gesicht frei war.
Er starrte sie noch einen Moment an und sagte dann: »Wow.«
»Hattest du nicht behauptet, dass du redegewandt bist?«
»Ich versuche, mich zurückzuhalten.«
»Und wieso?«
»Wenn ich meine ganze Coolness zum Einsatz bringe, fangen die Frauen in den umliegenden Staaten an, sich die Kleider vom Leib zu reißen. Ich muss meine Macht im Zaum halten.«
»Da hab ich ja noch mal Glück gehabt. Komm rein.«
Bisher war er noch nicht weiter ins Haus vorgedrungen als bis in den Flur. Jetzt folgte er Ali in die Küche. Sein Magen zog sich zusammen. An der Wand hingen Familienfotos. Myron betrachtete sie kurz. Er entdeckte Kevins Gesicht. Er war auf mindestens vier Fotos zu sehen. Myron wollte die Bilder nicht anstarren, sein Blick blieb aber an einem Foto von Erin hängen. Es zeigte sie und ihren Vater beim Angeln. Ihr Lächeln war herzzerreißend. Myron versuchte, sich das Mädchen, das in seinem Keller gesessen hatte, mit einem solchen Lächeln vorzustellen – es gelang ihm nicht.
Er drehte sich zu Ali um. Ihre Miene veränderte sich kurz.
Myron sog die Luft durch die Nase ein und schnupperte. »Was gibt’s zu essen?«
»Hähnchen Kiew.«
»Duftet klasse.«
»Können wir erst ein bisschen reden?«
»Klar.«
Sie gingen ins Wohnzimmer. Myron versuchte, sich zu konzentrieren. Er hielt nach weiteren Bildern Ausschau und entdeckte ein gerahmtes Hochzeitsfoto. Alis Haare waren zu stark hochfrisiert, aber vielleicht war das damals Mode gewesen. Er fand sie jetzt hübscher. Manche Frauen gewannen einfach mit den Jahren. Daneben stand ein Foto mit fünf Männern in schwarzen Smokings mit Fliegen. Die Trauzeugen, dachte Myron. Ali folgte seinem Blick. Sie ging zum Regal und nahm das Gruppenfoto heraus.
»Das ist Kevins Bruder«, sagte sie und deutete auf den zweiten Mann von rechts.
Myron nickte.
»Die anderen Männer waren Kollegen von Kevin bei Carson Wilkie. Sie waren seine besten Freunde.«
Myron fragte: »Sind sie alle …«
»Alle tot«, sagte Ali. »Sie waren alle verheiratet und hatten Kinder.«
Plötzlich erfüllte das Thema, das sie bisher gemieden hatten, den ganzen Raum.
»Das musst du nicht tun«, sagte Myron.
»Doch, Myron, das muss ich.«
Sie setzten sich.
»Als Claire unser erstes Date arrangiert hat«, begann sie, »hab ich ihr gesagt, dass du den 11. September zur Sprache bringen musst. Hat sie das an dich weitergegeben?«
»Ja.«
»Aber du hast es nicht getan.«
Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder, und setzte dann noch einmal an. »Wie hätte ich das machen sollen? Hi, wie geht’s Ihnen? Ich hab gehört, dass Sie eine 9/11-Witwe sind. Würden Sie lieber italienisch oder chinesisch essen gehen?«
Ali nickte. »Da ist was dran.«
Die große, prunkvolle Standuhr in der Ecke schlug. Myron dachte darüber nach, woher Ali sie wohl hatte, woher die ganze Einrichtung hier im Haus stammte, wie viel von Kevins alten Sachen hier wohl noch im Haus standen und sie beobachteten – in seinem Haus?
»Kevin und ich sind in unserem vorletzten High-School-Jahr zum ersten Mal miteinander ausgegangen. Auf der Universität haben wir beschlossen, eine Pause einzulegen. Ich war auf der New York University, er in Philadelphia auf der Wharton. Das war eine vernünftige Entscheidung. Aber als wir im Herbst über Thanksgiving zu Hause waren und uns getroffen haben …« Sie zuckte die Achseln. »Ich bin nie mit einem anderen Mann zusammen gewesen. Nicht ein einziges Mal.«
Sie schwieg einen Moment. Dann fuhr sie fort: »Siehst du, jetzt ist es raus. Ich weiß also nicht, ob wir das richtig gemacht haben. Das ist schon komisch. Irgendwie haben wir es wohl zusammen gelernt.«
Myron saß einfach nur da. Sie war höchstens dreißig Zentimeter von ihm entfernt. Er wusste nicht, was er jetzt tun sollte – das war typisch. Er schob seine Hand an ihre heran. Sie ergriff sie und hielt sie fest.
»Ich weiß nicht, wann mir klar geworden ist, dass ich so weit bin, mich mit einem Mann zu verabreden. Bei mir hat das länger gedauert als bei den meisten anderen 9/11-Witwen. Wir haben uns natürlich darüber unterhalten – die Witwen, meine ich. Zu einigen habe ich einen ganz guten Draht. Aber irgendwann hab ich mir einfach gesagt, okay, vielleicht sollte ich’s jetzt einfach mal probieren. Als ich Claire das dann erzählt habe, hat sie dich vorgeschlagen. Und weißt du, was ich da gedacht hab?«
Myron schüttelte den Kopf.
»Der ist ein paar Nummern zu groß für mich, aber es könnte Spaß machen. Ich hab gedacht – ich weiß, dass das albern klingt, und du darfst auch nicht vergessen, dass ich dich ja gar nicht kannte –, dass du eine gute Übergangslösung bist.«
»Übergangslösung?«
»Du weißt genau, was ich meine. Du warst früher Profisportler und wahrscheinlich mit jeder Menge Frauen im Bett. Ich hab gedacht, das wird ein nettes Abenteuer. Eine rein körperliche Sache. Und vielleicht lern ich dann hinterher irgendwann einen netten Typen kennen. Hast du’s jetzt verstanden?«
»Ich denke schon«, sagte Myron. »Du hattest es nur auf meinen Körper abgesehen.«
»So ziemlich, ja.«
»Ich komme mir so ausgenutzt vor«, sagte er. »Oder elektrisiert? Einigen wir uns auf elektrisiert.«
Sie lächelte. »Nimm mir das bitte nicht übel.«
»Kein Problem.« Dann: »Flittchen.«
Sie lachte. Ein melodisches Lachen.
»Und was ist aus deinem Plan geworden?«, fragte er.
»Du warst nicht so, wie ich erwartet hatte.«
»Ist das gut oder schlecht?«
»Ich weiß nicht. Du warst mit Jessica Culver zusammen. Hab ich in People gelesen.«
»Stimmt.«
»War das was Ernstes?«
»Ja.«
»Sie ist eine tolle Schriftstellerin.«
Myron nickte.
»Außerdem sieht sie einfach umwerfend aus.«
»Das tust du auch.«
»Nicht wie sie.«
Er wollte widersprechen, wusste aber, dass es herablassend geklungen hätte.
»Als du dich mit mir verabredet hast, dachte ich, du wärst auf der Suche nach – na ja – was anderem.«
»Was meinst du damit?«
»Ich hab gedacht, du interessierst dich für mich, weil ich eine 9/11-Witwe bin«, sagte sie. »So ungern ich das auch zugebe, aber irgendwie macht einen das auf eine etwas perverse Weise zur Prominenten.«
Er wusste, was sie meinte. Er musste an Wins Reaktion denken, der Myron gefragt hatte, was ihm als Erstes durch den Kopf ging, wenn er ihren Namen hörte.
»Also hab ich mir gedacht – auch das wieder, ohne dich zu kennen, ich wusste halt nur, dass du dieser attraktive Ex-Profisportler bist, der mit Frauen ausgeht, die wie Supermodels aussehen –, ich dachte, ich wäre nur eine neue Marke in deiner Sammlung.«
»Weil du eine 9/11-Witwe bist?«
»Ja.«
»Das ist ziemlich makaber.«
»Eigentlich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Wir sind dadurch so was wie Prominente geworden. Jede Menge Leute, die vorher nie Zeit für uns gehabt hätten, wollten uns plötzlich näher kennen lernen. Das passiert zwischendurch immer noch mal. Vor gut einem Monat hab ich im Racket Club Tennis gespielt. Eine von den Frauen – so eine hochnäsige Kuh, die mir nicht erlaubt hat, die Abkürzung durch ihren Garten zu nehmen, als wir neu in die Stadt gezogen waren – ist zu mir gekommen und hat dieses Ach-je-ach-je-Gesicht gezogen.«
»Ein Ach-je-ach-je-Gesicht.«
»So nenne ich das. Das Ach-je-ach-je-Gesicht. Es sieht so aus.«
Ali führte es vor. Sie schürzte die Lippen, runzelte die Stirn und klapperte mit den Wimpern.
»Du siehst aus wie Donald Trump, nachdem man ihm Tränengas ins Gesicht gesprüht hat.«
»Das ist das Ach-je-ach-je-Gesicht. Seit Kevin tot ist, werde ich häufig so empfangen. Ich will niemandem die Schuld daran geben. Das ist völlig normal. Aber diese Frau ist mit dem Ach-je-ach-je-Gesicht auf mich zugekommen, hat meine Hände ergriffen, mir tief in die Augen geschaut und sich auch sonst so ernst und innig gegeben, dass ich nur noch laut schreiend wegrennen wollte. Dann hat sie gesagt: ›Sind Sie Ali Wilder? Oh, ich wollte unbedingt Kontakt zu Ihnen aufnehmen. Wie geht es Ihnen denn jetzt?‹ Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
»Ja.«
Sie sah ihn an.
»Was ist?«
ENDE DER LESEPROBE
Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »Promise Me« bei Dutton, a member of the Penguin Group (USA), Inc., New York.
1. Auflage
Deutsche Erstausgabe März 2007
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by Harlan Coben. All rights reserved. Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2007 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur Umschlagmotiv: FinePic®, München Redaktion: Sigrun Zühlke SH · Herstellung: Str. Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
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