In seinen Händen - Harlan Coben - E-Book
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In seinen Händen E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Idylle oder Abgrund, Täter oder Opfer – nichts ist so, wie es scheint ...

Die 17-jährige Haley McWaid führt ein idyllisches Vorstadtleben: mustergültige Schülerin, Captain des Lacrosse-Teams und schon mit einem Bein im renommierten Elite-College. Doch dann verschwindet Haley von einem Tag auf den anderen spurlos, und für die McWaids bricht eine Welt zusammen.

Derweil feiert Fernsehreporterin Wendy Tynes mit ihrer Show Quotenerfolge: Vor laufender Kamera stellt sie mutmaßlichen Sexualverbrechern eine Falle. Ihr neues Opfer ist Sozialarbeiter Dan Mercer, den sie mühelos überführt und der bald auch mit Haleys Verschwinden in Verbindung gebracht wird. Doch Dans Geschichte ist nicht so einfach, wie alle glauben, und nach und nach kommen Wendy Zweifel. Sie beginnt neue, unbequeme Fragen zu stellen. Und obwohl ihr dabei jemand gewaltige Steine in den Weg legt, merkt sie bald, dass auch in der Vorstadtidylle oft alles anders ist, als es scheint …

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Seitenzahl: 552

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Buch

Die 17-jährige Haley McWaid führt ein idyllisches Vorstadtleben: mustergültige Schülerin, Captain des Lacrosse-Teams und schon mit einem Bein im renommierten Elite-College. Doch dann verschwindet Haley von einem Tag auf den anderen spurlos, und für die McWaids bricht eine Welt zusammen. Zur gleichen Zeit feiert Fernsehreporterin Wendy Tynes Quotenerfolge: Vor laufender Kamera stellt sie mutmaßlichen Pädophilen eine Falle. Ihr neuestes Opfer ist Sozialarbeiter Dan Mercier, der auch mit Haleys Verschwinden in Verbindung gebracht wird. Doch Dans Geschichte ist nicht so einfach, wie alle glauben, und nach und nach kommen Wendy Zweifel. Sie beginnt neue, unbequeme Fragen zu stellen. Und obwohl ihr dabei jemand gewaltige Steine in den Weg legt, merkt sie bald, dass in der Vorstadtidylle oft alles anders ist, als es scheint …

»Ein phänomenales Buch. Eine ergreifende, hochspannende Geschichte, die einem das Herz zerreißt und den Leser gleichzeitig bis zum Ende im Ungewissen lässt.« New York Journal of Books

Weitere Informationen zu Harlan Coben und zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches.

Harlan Coben

IN SEINENHÄNDEN

Thriller

Deutsch vonGunnar Kwisinski

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Caught« bei Dutton, a member of Penguin Group USA (Inc.), New York.

Page & Turner Bücher erscheinen im Wilhelm Goldmann Verlag, München, einem Unternehmen der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Harlan Coben

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2010 by Page &Turner/Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München.

Redaktion: Vera Thielenhaus

Covergestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Covermotiv: Trevor Payne / arcangel images

ISBN 978-3-641-04511-1V006

www.pageundturner-verlag.de

www.goldmann-verlag.de

Für Anne Vom glücklichsten Mann der Welt

PROLOG

Ich wusste, wenn ich die rote Tür öffnete, würde das mein Leben zerstören.
Ich weiß, das klingt sehr melodramatisch und nach bösen Vorahnungen, dabei bin ich wirklich kein Freund solcher Sachen, und eigentlich hatte die rote Tür auch nichts Bedrohliches an sich. Es war eine vollkommen normale Tür, wie man sie in drei von vier Häusern in den Vororten findet: Holztäfelung, leicht ausgebleichte Farbe, ein Messingknauf und in Brusthöhe ein Klopfer, den nie jemand benutzte.
Als ich aber im schwachen Licht einer fernen Straßenlaterne darauf zuging und die finstere Öffnung wie ein weit geöffneter Schlund darauf wartete, mich am Stück zu verschlingen, verstärkte sich das Gefühl, dem Untergang geweiht zu sein. Jeder Schritt vorwärts kostete mich ungeheuer viel Kraft, als ob ich nicht einen etwas unebenen Weg entlanggehen, sondern durch noch nicht getrockneten Zement waten würde. Mein Körper zeigte alle klassischen Symptome einer bevorstehenden Katastrophe: Frösteln am Rückgrat? Vorhanden. Gänsehaut an den Armen? Yep. Kribbeln im Nacken? Ja. Kitzeln auf der Kopfhaut? Check.
Das Haus lag vollkommen im Dunkeln, es war kein einziges Licht zu sehen. Darauf hatte Chynna mich schon vorbereitet. Doch das ganze Ensemble war fast schon zu typisch, entsprach fast zu sehr Schema F und war fast zu unscheinbar. Aus irgendeinem Grund störte mich das. Außerdem lag es einsam und verlassen am Ende einer Sackgasse, kauerte da ganz hinten in der Dunkelheit, als wollte es sich vor Eindringlingen verstecken.
Das gefiel mir nicht.
Die ganze Sache gefiel mir nicht, aber das ist nun einmal mein Job. Als Chynna anrief, war das Spiel der E-Jugend-Basketballmannschaft, die ich im Stadtzentrum von Newark betreue, gerade vorbei. Mein Team, lauter Viertklässler, die, wie ich, als Waise aufgewachsen waren (wir nennen uns die NoRents, Abkürzung von No Parents, die Elternlosen – Galgenhumor), hatte es geschafft, eine Sechs-Punkte-Führung innerhalb der letzten zwei Minuten zu verspielen. Genau wie im richtigen Leben waren die NoRents auch auf dem Platz nicht besonders gut, wenn sie unter Druck gerieten.
Chynna rief an, als ich meine jungen Korbjäger nach dem Spiel für die kurze Nachbesprechung um mich versammelt hatte, also die üblichen aufmunternden Worte beziehungsweise tiefschürfenden Lebensweisheiten wie »Guter Versuch«, »Beim nächsten Mal schaffen wir’s« und »Denkt daran, dass wir nächsten Donnerstag wieder ein Spiel haben« von mir gebe, alle in der Mitte die Hände aufeinanderlegen, sie zusammen hochwerfen und »Defense« schreien, die wir vermutlich vor allem deshalb heraufbeschwören, weil wir die Verteidigung in unserem Spiel vollkommen vernachlässigen.
»Dan?«
»Wer ist da?«
»Hier ist Chynna. Kannst du bitte kommen?«
Ihre Stimme zitterte, also hatte ich das Team verabschiedet, war in den Wagen gesprungen und gerade hier angekommen. Ich hatte nicht einmal Zeit zum Duschen gehabt. Und so vermischte sich jetzt der Schweißgeruch aus der Sporthalle mit dem der Angst. Ich verlangsamte meinen Schritt.
Was war los mit mir?
Na ja, wahrscheinlich hätte ich doch kurz duschen sollen. Ungeduscht funktioniere ich nicht richtig. Habe ich noch nie. Aber Chynna war sehr bestimmt gewesen. Sofort, hatte sie gefleht. Noch bevor jemand nach Hause käme. Also war ich gekommen, und das graue T-Shirt mit großen, dunklen Schweißflecken klebte mir auf der Brust, während ich auf die Tür zuging.
Wie die meisten Jugendlichen, mit denen ich arbeite, kämpfte auch Chynna mit ernsthaften Problemen, und vielleicht läuteten deshalb jetzt meine Alarmglocken. Ihre Stimme hatte mir am Telefon ganz und gar nicht gefallen, genauso wenig wie jetzt hier diese ganze Situation. Ich atmete tief durch und sah mich um. In der Ferne waren ein paar Lebenszeichen im nächtlichen Vorort zu erkennen – beleuchtete Häuser, das Flackern eines Fernsehers oder Computer-Bildschirms im Fenster, ein geöffnetes Garagentor -, aber hier in dieser Sackgasse tat sich nichts, alles war still und bewegungslos, hier herrschte Stille im Dunkeln.
Mein Handy vibrierte, worauf ich vor Schreck einen Satz machte. Ich dachte, es wäre Chynna, aber nein, es war Jenna, meine Exfrau. Ich drückte auf Annehmen und sagte: »Hey.«
»Darf ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte sie.
»Ich bin grade sehr beschäftigt.«
»Ich brauche morgen Abend einen Babysitter. Wenn du willst, kannst du Shelly ruhig mitbringen.«
»Shelly und ich, äh, wir haben ein paar Probleme«, sagte ich.
»Schon wieder? Aber sie ist gut für dich.«
»Ich habe Schwierigkeiten, gute Frauen bei mir zu behalten.«
»Das kannst du laut sagen.«
Jenna, meine wunderbare Exfrau, ist seit acht Jahren wieder verheiratet. Ihr neuer Mann ist ein angesehener Chirurg namens Noel Wheeler. Noel hilft mir auch ehrenamtlich im Jugendzentrum. Ich mag Noel, und er mag mich. Er hat eine Tochter mit in die Ehe gebracht, dann ist noch die inzwischen sechsjährige Kari dazugekommen. Ich bin Karis Patenonkel, und beide Kinder nennen mich Onkel Dan. Wenn ein Babysitter gebraucht wird, bin ich die erste Wahl.
Ich weiß, dass das alles furchtbar zivilisiert und naiv klingt – und das ist es wohl auch. Für mich mag es schiere Notwendigkeit sein. Ich habe sonst niemanden – weder Eltern noch Geschwister -, also ist meine Exfrau sozusagen die nächste Verwandte. Mein Leben sind die Kids, mit denen ich arbeite, denen ich Rechtsbeistand leiste, denen ich zu helfen und Schutz zu geben versuche. Wobei ich im Endeffekt nicht die geringste Ahnung habe, ob ich irgendetwas mit alledem erreiche.
Jenna sagte: »Erde an Dan?«
»Ich bin dann da«, sagte ich.
»Halb sieben. Du bist der Beste.«
Jenna machte ein Kussgeräusch in den Hörer und legte auf. Ich sah mein Handy einen Moment lang an und dachte an unsere Hochzeitsfeier. Für mich war die Ehe ein Fehler gewesen. Für mich war es generell ein Fehler, Menschen zu nahe zu kommen, und daran war nichts zu ändern. Jetzt wäre es wohl an der Zeit für ein paar Geigen, zu deren Aufschluchzen ich noch ein bisschen weiter vor mich hinphilosophieren könnte, dass es doch besser sei, wenn man geliebt und diese Liebe verloren hätte, als nie geliebt zu haben. Aber für mich trifft das einfach nicht zu. Leider liegt es in der Natur des Menschen, dieselben Fehler immer wieder zu machen, selbst wenn man es eigentlich besser wissen müsste. Hier stand ich also, der arme Waise, der sich ganz nach oben gekämpft hatte – bis an die Spitze seines Jahrgangs an einer Ivy-League-Universität – und der seine Vergangenheit trotzdem nie ganz abgelegt hatte. Auch wenn es schmalzig klingt, ich hätte eigentlich gern jemanden an meiner Seite. Leider ist das nicht meine Bestimmung. Ich bin ein Einzelgänger, geschaffen fürs Alleinsein.
»Wir sind der Abfall der Evolution, Dan …«
Das hatte mir mein Lieblings-Pflegevater beigebracht. Er war Professor, der sich gerne in philosophischen Diskussionen erging.
»Überleg doch mal, Dan. Was haben die Stärksten und Klügsten in der Geschichte der Menschheit von jeher getan? Sie sind in den Krieg gezogen. Erst im letzten Jahrhundert hat das aufgehört. Vorher haben wir unsere absolut besten Leute zum Kampf an die Front geschickt. Wer ist also zu Hause geblieben und hat sich vermehrt, während unsere Besten auf den Schlachtfeldern fielen? Die Lahmen, die Kranken, die Schwachen, die Krüppel, die Feiglinge – kurz gesagt, der Abfall. Und so sind wir dann entstanden, Dan – durch jahrtausendelanges Aussieben der Besten und die Fortpflanzung der Schwächlinge. Deshalb sind wir alle Abschaum – das Produkt jahrhundertelanger Fehlzucht.«
Ich beachtete den Türklopfer nicht, sondern trommelte leicht mit den Fingerknöcheln gegen die Tür. Leise knarzend öffnete sie sich einen Spaltbreit. Ich hatte nicht gesehen, dass sie nur angelehnt war.
Auch das gefiel mir nicht. Es gab hier eine ganze Menge, das mir nicht gefiel.
Als Kind hatte ich mir viele Horrorfilme angeguckt, was ziemlich seltsam war, weil ich sie eigentlich überhaupt nicht ausstehen konnte. Ich konnte es nicht ausstehen, wenn mich irgendetwas aus der Dunkelheit ansprang und zu Tode erschreckte. Auch Filmblut konnte ich nicht ausstehen. Trotzdem hatte ich mir diese Filme angesehen und das idiotische Verhalten der Heldinnen in vollen Zügen genossen. Jetzt gingen mir genau diese Szenen durch den Kopf, die Szenen, in denen besagte idiotische Heldinnen an eine Tür klopften, die sich leicht öffnete, worauf man als Zuschauer schreien wollte: »Mach, dass du wegkommst, du spärlich bekleidete Tussi!« Aber sie ging völlig unverständlicherweise weiter ins Haus hinein, und kaum zwei Minuten später schlug der Killer ihr den Schädel ein und löffelte ihr das Hirn heraus.
Eigentlich sollte ich sofort machen, dass ich wegkam.
Und genau das wollte ich auch. Aber dann fiel mir Chynnas Anruf wieder an, ich dachte an ihre Worte und an das Zittern in ihrer Stimme. Ich seufzte, beugte mich vor und spähte durch den Spalt in den Flur.
Dunkelheit.
Schluss mit diesem Mantel-und-Degen-Kram.
»Chynna?«
Meine Stimme hallte durchs leere Haus. Ich rechnete nicht damit, eine Antwort zu bekommen. Keine Antwort. Das passte ins Gesamtbild. Ich stieß die Tür etwas weiter auf, trat vorsichtig einen Schritt vor …
»Dan? Ich bin hier hinten. Komm rein.«
Die Stimme klang gedämpft und kam von ziemlich weit weg. Auch das gefiel mir nicht, aber jetzt würde ich auf keinen Fall zurückweichen. Zurückweichen hatte mich im Leben schon zu viel gekostet. Ich zögerte nicht mehr. Jetzt wusste ich, was zu tun war.
Ich öffnete die Haustür, trat ein und schloss sie hinter mir.
Andere hätten in meiner Lage eine Pistole oder irgendeine andere Waffe mitgebracht. Ich hatte darüber nachgedacht. Aber das ist einfach nicht mein Stil. Außerdem war es jetzt zu spät, mir darüber Gedanken zu machen. Chynna zufolge war ohnehin sonst niemand zu Hause. Und wenn doch, na ja, dann würde ich eben improvisieren.
»Chynna?«
»Geh schon mal ins Wohnzimmer. Ich komme sofort.«
Die Stimme klang … falsch. Am Ende des Flurs fiel etwas Licht durch die leicht geöffnete Tür, also ging ich darauf zu. Ich hörte etwas. Ich blieb stehen und horchte. Fließendes Wasser. Vielleicht eine Dusche.
»Chynna?«
»Ich zieh mich nur um. Komme sofort.«
Ich ging ins schwach beleuchtete Wohnzimmer. An der Tür war so ein Dimmer-Lichtschalter, und ich überlegte, ob ich das Licht heller stellen sollte, ließ es dann aber. Meine Augen gewöhnten sich schnell an das Halbdunkel. Die Decke war vertäfelt, das Material sah aber weniger nach Holz als vielmehr nach Vinyl aus. An den Wänden hingen zwei Bilder von traurigen Clowns mit riesigen Blumen am Revers – vielleicht hatte sie jemand beim Resteflohmarkt nach dem Umbau eines extrem billigen Motels erstanden. Im Regal stand eine große Flasche billiger Wodka.
Ich meinte, jemanden flüstern zu hören.
»Chynna?«, rief ich.
Keine Antwort. Ich stand auf und lauschte. Nichts.
Ich ging nach hinten, in die Richtung, aus der ich die Dusche gehört hatte.
»Ich komm gleich«, sagte die Stimme. Ich zuckte zusammen. Ein kalter Schauer erfasste mich, denn jetzt hatte ich die Stimme aus der Nähe gehört. Und eins fand ich äußerst seltsam:
Sie klang überhaupt nicht nach Chynna.
Drei widerstreitende Gefühle erfassten mich. Erstens: Panik. Das war nicht Chynna. Sieh zu, dass du aus dem Haus kommst. Zweitens: Neugier. Wenn das nicht Chynna war, wer war das dann, und was war hier los? Drittens: wieder Panik. Chynna hatte mich angerufen – was war mit ihr passiert?
Ich konnte hier jetzt nicht einfach abhauen.
Ich trat einen Schritt auf die Tür zu, durch die ich hereingekommen war, als es plötzlich geschah. Ein Scheinwerfer leuchtete mir direkt ins Gesicht. Ich taumelte zurück und hob die Hand.
»Dan Mercer?«
Ich blinzelte. Frauenstimme. Geschult. Volles Timbre. Kam mir seltsam bekannt vor.
»Wer sind Sie?«
Plötzlich erschienen noch mehr Menschen im Zimmer. Ein Mann mit einer Kamera. Ein anderer mit etwas, das wie ein Mikrofon-Galgen aussah. Und die Frau mit der bekannt klingenden Stimme. Sie war atemberaubend mit den rotbraunen Haaren und ihrem Kostüm.
»Wendy Tynes, NTC News. Was tun Sie hier, Dan?«
Ich öffnete den Mund, bekam aber nichts heraus. Ich kannte die Frau aus der Fernsehshow …
»Warum haben Sie sich auf anzügliche Weise mit einer Dreizehnjährigen unterhalten, Dan? Wir haben das Gespräch aufgezeichnet.«
… die Pädophile in die Falle lockt und vor laufender Kamera entlarvt, damit die ganze Welt sie sieht und Zeuge ihres schändlichen Tuns wird.
»Sind Sie hergekommen, um Sex mit einem dreizehnjährigen Mädchen zu haben?«
Die Wahrheit dessen, was hier ablief, traf mich wie ein Keulenschlag und ließ das Blut in meinen Adern gefrieren. Weitere Personen strömten ins Zimmer. Noch ein Kameramann. Ein Polizist. Die Kameras kamen näher an mich heran. Das Licht wurde heller. Auf meinen Augenbrauen sammelten sich Schweißtropfen. Ich fing an zu stammeln, wollte meine Unschuld beteuern.
Aber es war vorbei.
Zwei Tage später gingen die Bilder über den Sender. Die ganze Welt sah sie.
Und wie ich es irgendwie schon gewusst hatte, als ich auf die rote Haustür zuging, war das Leben Dan Mercers zerstört.
 
Als Marcia McWaid das leere Bett ihrer Tochter sah, geriet sie nicht sofort in Panik. Das würde später kommen.
Sie war um sechs Uhr aufgewacht, ziemlich früh für einen Samstagmorgen, und hatte sich fantastisch gefühlt. Ted, ihr Ehemann, mit dem sie seit zwanzig Jahren verheiratet war, schlief neben ihr im Bett. Er lag auf dem Bauch und hatte den Arm um ihre Hüfte gelegt. Ted schlief am liebsten mit Hemd und ohne Hose. Ganz ohne. Von der Hüfte abwärts nackt. »Lässt einem Mann da unten ein bisschen Raum und Freiheit«, sagte er grinsend, wenn sie ihn darauf ansprach. Und Marcia antwortete im Singsang-Ton ihrer Teenager-Tochter: »T-M-I – Too Much Information. So genau wollte ich’s gar nicht wissen.«
Marcia befreite sich aus seiner Umarmung und ging in die Küche. Sie machte sich mit der neuen Keurig-Kapsel-Maschine eine Tasse Kaffee. Ted liebte jede Art von technischen Geräten – Männerspielzeug -, aber dieses war wirklich ganz sinnvoll. Man nahm diese Kapsel, steckte sie in die Maschine, schon hatte man Kaffee. Kein Video-Display, kein Touch-Pad, keine drahtlose Netzverbindung. Marcia liebte es.
Sie hatten vor kurzem den Anbau fertiggestellt – ein zusätzliches Schlafzimmer, ein Bad und eine verglaste Nische in der Küche. Die Küchennische bot reichlich Morgensonne und war sofort zu dem Platz im Haus geworden, an dem Marcia am liebsten saß. Sie nahm die Kaffeetasse und die Zeitung, legte einen Fuß auf den Stuhl und setzte sich darauf.
Ein kleines Stück vom Himmel.
Sie las die Zeitung und schlürfte den Kaffee. In ein paar Minuten würde sie auf den Tagesplan gucken müssen. Ryan, ihr Drittklässler, musste um acht zu einem Basketballspiel erscheinen. Ted trainierte die Mannschaft. Sie hatte seit über einem Jahr kein Spiel mehr gewonnen.
»Warum gewinnen deine Mannschaften nie?«, hatte Marcia ihn gefragt.
»Ich suche die Kids nach zwei Kriterien aus.«
»Die wären?«
»Wie nett der Vater ist – und wie scharf die Mutter.«
Sie hatte ihm einen leichten Klaps gegeben, und vielleicht wäre Marcia tatsächlich ein bisschen besorgt gewesen, wenn sie nicht die Mütter am Spielfeld gesehen hätte und seitdem hundertprozentig sicher war, dass er einen Witz gemacht hatte. Tatsächlich war Ted ein wunderbarer Trainer, allerdings nicht in Hinsicht auf Taktik oder Spielstärke seiner Mannschaft, sondern was den Umgang mit den Kindern betraf. Alle liebten ihn, und weil er die Kinder nicht gegeneinander ausspielte, kamen selbst die untalentiertesten Spieler, die normalerweise schnell entmutigt waren und schon während der Saison aufhörten, jede Woche wieder. Ted hatte sogar einen Song von Bon Jovi genommen und ihn umgedreht: »You give losing a good name« – bei euch bekommt das Verlieren einen guten Ruf. Die Kids lachten und feierten jeden Korb, und genau so musste das bei Drittklässlern auch sein.
Marcias vierzehnjährige Tochter Patricia musste zur Probe der Highschool-Theatergruppe, die eine gekürzte Fassung des Musicals Les Misérables aufführte. Sie spielte mehrere kleine Rollen und hatte damit offenbar reichlich zu tun. Und ihre Älteste, Haley, die kurz vor ihrem Highschool-Abschluss stand, leitete einen »Captains-Kursus« für ihre Mädchen im Lacrosse-Team. Ein »Captains-Kursus« zählte offiziell nicht als Training, bot aber eine Möglichkeit, im Rahmen der für den Highschool-Sport geltenden Richtlinien noch ein paar Zusatzeinheiten zu absolvieren. Kurz gesagt: kein Trainer, nichts Offizielles, nur ein lockeres Treffen oder eben ein Trainingsspiel mit etwas hochtrabendem Namen, das von den Mannschaftsführerinnen geleitet wurde.
Wie die meisten Eltern in den Vororten empfand Marcia eine Art Hassliebe für den Sport. Einerseits wusste sie, wie unbedeutend das ganze Brimborium auf lange Sicht war, trotzdem ließ sie sich immer wieder davon mitreißen.
Eine ruhige halbe Stunde als Tagesauftakt. Mehr brauchte sie nicht.
Sie trank die erste Tasse Kaffee aus, machte sich eine zweite, nahm den »Lebensart«-Teil der Zeitung. Es war immer noch still im Haus. Sie stapfte die Treppe hinauf und sah nach ihren Schützlingen. Ryan schlief auf der Seite, das Gesicht praktischerweise der Tür zugewandt, so dass seine Mutter die Ähnlichkeit zu seinem Vater sah.
Daneben war Patricias Zimmer. Auch sie schlief tief und fest.
»Schatz?«
Patricia bewegte sich, gab womöglich sogar ein Geräusch von sich. Genau wie in Ryans Zimmer sah es auch hier aus, als ob jemand strategisch geschickt ein paar Dynamitstangen in den Schubladen verteilt und diese dann gezündet hätte, worauf ein paar der Kleidungsstücke tot auf dem Boden zurückgeblieben waren. Andere hatten sich verwundet noch ein Stück weitergeschleppt und klammerten sich jetzt an die Schränke wie die Gefallenen der Französischen Revolution an die Barrikaden.
»Patricia? In einer Stunde ist deine Probe.«
»Ich bin schon wach«, stöhnte ihre Tochter mit einer Stimme, die genau das Gegenteil besagte. Marcia ging zum nächsten Zimmer, Haleys, und sah kurz hinein.
Das Bett war leer.
Es war auch gemacht, was Marcia allerdings nicht überraschte. Im Gegensatz zu den Rumpelkammern ihrer Geschwister war dieses Zimmer ordentlich, sauber und perfekt aufgeräumt. Es hätte ein Ausstellungsraum in einem Möbelgeschäft sein können. Es lagen keine Kleidungsstücke auf dem Fußboden, und sämtliche Schubladen waren ordentlich geschlossen. Die Pokale – und davon gab es reichlich – standen sauber aufgereiht auf vier Regalbrettern. Das vierte hatte Ted erst vor kurzem angebracht, als Haleys Team das Ferienturnier in Franklin Lakes gewonnen hatte. Haley hatte die Pokale gewissenhaft auf alle vier Bretter verteilt, weil sie nicht wollte, dass auf dem neuen nur der eine stand. Warum, wusste Marcia auch nicht genau. Zum Teil lag es wohl daran, dass es nicht so aussehen sollte, als würde Haley nur auf weitere Pokale warten, aber der Hauptgrund war bestimmt ihr allgemeiner Widerwillen gegen Unordnung. Die Pokale standen alle im gleichen Abstand zueinander, und wenn einer dazukam, schob Haley alle etwas näher zusammen, so dass sie zuerst etwa sieben Zentimeter auseinanderstanden, dann fünf und schließlich nur noch drei. Bei Haley drehte sich alles um Ausgewogenheit. Sie war die gute Tochter, was natürlich wunderbar war – ein ehrgeiziges Mädchen, das seine Hausaufgaben machte, ohne dass man es dazu auffordern musste, das nicht wollte, dass andere schlecht über sie dachten, und das eine schon fast aberwitzige Leistungsbereitschaft an den Tag legte -, und doch sah Marcia darin auch eine gewisse Verklemmtheit, einen Anflug von Besessenheit, der ihr gelegentlich Sorgen bereitete.
Marcia fragte sich, wann Haley nach Hause gekommen war. Haley musste nicht zu einer bestimmten Zeit zu Hause sein, das war einfach nie notwendig gewesen. Sie war verantwortungsbewusst und hatte ihre Freiheiten bisher nie ausgenutzt. Außerdem hatte sie ihren Highschool-Abschluss sicher. Marcia war um zehn müde geworden und ins Bett gegangen. Ted war ihr, in seiner ewigen Lüsternheit, kurz darauf gefolgt.
Marcia wollte schon weitergehen, sich nicht weiter darum kümmern, als sie sich plötzlich – sie konnte gar nicht sagen, wie sie darauf kam – entschloss, eine Maschine Wäsche zu waschen. Sie ging in Haleys Bad. Die jüngeren Geschwister, Ryan und Patricia, glaubten offenbar, dass »Wäschekorb« nur ein anderes Wort für den Fußboden oder genaugenommen »alles außer dem Wäschekorb« war, aber Haley legte natürlich alles, was sie am Tag getragen hatte, pflichtbewusst und gewissenhaft in ihren hinein. Und als Marcia den öffnete, spürte sie zum ersten Mal etwas Schweres, Drückendes in ihrer Brust, etwas wie einen kleinen Stein.
Im Wäschekorb lag keine Kleidung.
Der Stein in ihrer Brust wuchs, als sie erst Haleys Zahnbürste, dann das Waschbecken und die Dusche prüfte.
Alles knochentrocken.
Der Stein verhärtete sich, als sie Ted rief und dabei versuchte, das Entsetzen aus ihrer Stimme fernzuhalten. Er wuchs, als sie zum Captains-Kursus fuhr, wo man ihr sagte, dass Haley nicht aufgetaucht wäre. Er wuchs, als sie Haleys Freundinnen und Freunde anrief, während Ted ihre Freunde mit E-Mails bombardierte – und keiner von ihnen wusste, wo Haley war. Er wuchs, als sie das örtliche Polizeirevier anrief und der Beamte, trotz Marcias und Teds eindringlicher Proteste, ganz offensichtlich davon ausging, dass Haley eine Ausreißerin wäre, eine Jugendliche, die mal ein bisschen Dampf ablassen musste. Er wuchs, als achtundvierzig Stunden später das FBI eingeschaltet wurde. Er wuchs, als man nach einer Woche noch immer keinen Hinweis auf Haleys Aufenthaltsort gefunden hatte.
Es war, als wäre sie vom Erdboden verschluckt worden.

ERSTER TEIL

EINS

Drei Monate später
 
Schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit, so wahr Ihnen Gott helfe?«
Wendy Tynes tat das, trat in den Zeugenstand und sah in den Saal. Sie kam sich vor, als stünde sie auf einer Bühne, was sie als Fernsehreporterin in gewisser Weise gewöhnt sein sollte. Aber dieses Mal fühlte sie sich dabei extrem unwohl. Sie ließ den Blick über die Zuschauer streifen und entdeckte die Eltern von Dan Mercers Opfern. Vier Paare. Sie kamen jeden Tag. Anfangs hatten sie Fotos ihrer Kinder mitgebracht und sie hochgehalten, aber das hatte die Richterin ihnen dann untersagt. Jetzt saßen sie nur noch schweigend da und hörten zu – und irgendwie war das noch viel verstörender.
Der Stuhl war unbequem. Wendy setzte sich zurecht, schlug ein Bein über das andere, stellte sie dann wieder nebeneinander und wartete.
Flair Hickory, der berühmte Starverteidiger, stand auf, und nicht zum ersten Mal fragte Wendy sich, woher Dan Mercer so viel Geld hatte, dass er sich ihn leisten konnte. Flair trug seinen üblichen grauen Anzug mit breiten, rosafarbenen Streifen, rosa Hemd und rosa Krawatte. Er durchquerte den Raum auf eine Art, die man – zurückhaltend – vielleicht als theatralisch bezeichnen konnte. In Wirklichkeit erinnerte sie eher an etwas, das Liberace in seine Show hätte eingebaut haben können, allerdings nur, wenn er all seinen Mut zusammengenommen und mal so richtig die Sau rausgelassen hätte.
»Ms. Tynes«, begann er mit einem freundlichen Lächeln. Das war Flairs Stil. Ja, er war schwul, im Gerichtssaal trieb er dieses Gehabe aber auf die Spitze wie Harvey Fierstein in Leder-Chaps, während er Liza Minellis Jazz-Hands aus Cabaret parodierte. »Mein Name ist Flair Hickory. Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen.«
»Guten Morgen«, sagte sie.
»Sie arbeiten für eine reißerische Boulevard-Fernsehshow namens In Flagranti, ist das korrekt?«
Der Staatsanwalt, ein Mann namens Lee Portnoi, sagte: »Einspruch. Es ist eine Fernsehsendung. Es gibt keine Beweise für die Anschuldigung, dass die Sendung reißerisch oder dem Boulevard zuzuordnen ist.«
Flair lächelte. »Dürfte ich Ihnen ein paar Beweise präsentieren, Mr. Portnoi?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Richterin Lori Howard in einem Tonfall, aus dem schon jetzt deutliche Erschöpfung sprach. Sie wandte sich an Wendy. »Bitte beantworten Sie die Frage.«
»Ich arbeite nicht mehr für diese Sendung«, sagte Wendy.
Flair tat so, als überraschte ihn diese Auskunft. »Nicht? Aber das haben Sie doch, oder?«
»Ja.«
»Was ist passiert?«
»Die Sendung wurde abgesetzt.«
»Wegen zu niedriger Einschaltquoten?«
»Nein.«
»Wirklich nicht? Warum dann?«
Portnoi sagte: »Euer Ehren, wir wissen alle, warum.«
Lori Howard nickte: »Fahren Sie fort, Mr. Hickory.«
»Kennen Sie meinen Mandanten, Dan Mercer?«
»Ja.«
»Und Sie sind in sein Haus eingebrochen, ist das korrekt?«
Wendy versuchte, seinem Blick standzuhalten, versuchte, nicht schuldig auszusehen, was immer das auch bedeuten mochte. »Das ist nicht ganz richtig, nein.«
»Ist es nicht? Nun gut, meine Liebe, wir wollen doch so akkurat vorgehen wie menschenmöglich, also lassen Sie uns noch einen Schritt zurückgehen, ja?« Er schlenderte durch den Gerichtssaal, als wäre es ein Laufsteg in Mailand. Er war sogar so unverschämt, den Familien der Opfer zuzulächeln. Die meisten sahen Flair ganz bewusst nicht an, aber ein Vater, Ed Grayson, durchbohrte ihn mit seinem Blick. Flair schien das nicht zu beeindrucken.
»Wie haben Sie meinen Klienten kennengelernt?«
»Er hat mich in einem Chatroom angesprochen.«
Flairs Augenbrauen schossen himmelwärts. »Tatsächlich?« Als wäre es das Faszinierendste, was je jemand gesagt hätte. »Was für ein Chatroom war das?«
»Ein Chatroom für Jugendliche.«
»Und Sie waren in diesem Chatroom?«
»Ja.«
»Sie sind keine Jugendliche, Ms. Tynes. Ich meine, Sie entsprechen zwar nicht meinem Geschmack, aber selbst ich erkenne, dass Sie eine sehr wohlproportionierte, erwachsene Frau sind.«
»Einspruch!«
Richterin Howard seufzte. »Mr. Hickory?«
Flair lächelte und entschuldigte sich mit einem kurzen Winken. Das konnte sich nur Flair erlauben. »Also, Ms. Tynes, als Sie in diesem Chatroom waren, haben Sie vorgegeben, ein minderjähriges Mädchen zu sein, ist das korrekt?«
»Ja.«
»Dann haben Sie andere in Gespräche verwickelt, die dem Zweck dienten, Männer dazu zu verlocken, mit Ihnen Sex haben zu wollen.«
»Nein.«
»Wie bitte?«
»Ich habe nie den ersten Schritt gemacht, sondern ihn immer den anderen überlassen …«
Flair schüttelte den Kopf und ts-tste missbilligend. »Wenn ich auch nur einen Dollar für jedes Mal bekommen hätte, wo ich das gesagt habe …«
Verstohlenes Lachen ertönte im Gerichtssaal.
Die Richterin sagte: »Wir haben die Transkripte, Mr. Hickory. Wir können sie lesen und daraufhin unsere eigene Entscheidung treffen.«
»Ausgezeichneter Hinweis, Euer Ehren, vielen Dank.«
Wendy fragte sich, warum Dan Mercer nicht da war. Andererseits war das ziemlich offensichtlich. Dies war nur eine mündliche Anhörung zur Beweisaufnahme, also bestand keine Anwesenheitspflicht. Flair Hickory hoffte, die Richterin dazu bewegen zu können, das widerliche, ekelerregende Material nicht als Beweis zuzulassen, das die Polizei auf Mercers Laptop und an verschiedenen Stellen im Haus versteckt gefunden hatte. Wenn er damit durchkam – wobei sich alle einig waren, dass die Chancen dazu sehr gering waren -, würde der Fall Dan Mercer sich höchstwahrscheinlich in Wohlgefallen auflösen, und ein weiterer gefährlicher Perverser würde frei herumlaufen.
»Ach, übrigens…«, Flair wandte sich wieder Wendy zu, »… woher haben Sie gewusst, dass es sich bei Ihrem Gesprächspartner bei diesem Online-Chat um meinen Mandanten handelte?«
»Zu Anfang habe ich es nicht gewusst.«
»Oh? Und mit wem glaubten Sie da zu konversieren?«
»Ich kannte keinen Namen. Das macht auch für viele den Reiz dieser Chatrooms aus. Zu dem Zeitpunkt wusste ich nur, dass ich es mit jemandem zu tun hatte, der versucht, Kontakt zu minderjährigen Mädchen zu bekommen, um Sex mit ihnen zu haben.«
»Woher wussten Sie das?«
»Wie bitte?«
Flair zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »›Der versucht, Kontakt zu minderjährigen Mädchen zu bekommen, um Sex mit ihnen zu haben‹, wie Sie es gerade formuliert haben. Woher wussten Sie, was Ihr Chat-Partner beabsichtigte?«
»Wie die Richterin schon sagte, Mr. Hickory. Lesen Sie die Transkripte.«
»Oh, das habe ich. Und wissen Sie, zu welchem Schluss ich gekommen bin?«
Lee Portnoi sprang auf. »Einspruch. Es interessiert uns nicht, zu welchem Schluss Mr. Hickory gekommen ist. Er ist hier nicht als Sachverständiger geladen.«
»Stattgegeben.«
Flair ging an seinen Tisch zurück und blätterte in seinen Akten. Wendy blickte zur Besuchergalerie. Das half ihr, sich zu konzentrieren. Viele der Menschen da hinten hatten schwer gelitten, und Wendy unterstützte sie bei ihrer Suche nach Gerechtigkeit. Auch wenn sie vorgab, abgehärtet zu sein, oder öffentlich bekundete, nur ihren Job zu machen, war es für sie doch sehr wichtig, dass sie so viel Gutes getan hatte. Als sie jetzt jedoch Ed Grayson in die Augen blickte, lag darin etwas, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Sie sah Wut, aber auch Provokation darin.
Flair legte die Akten zur Seite. »Dann möchte ich es folgendermaßen formulieren, Ms. Tynes: Wenn ein leidlich mit Verstand gesegneter Mensch diese Transkripte läse, würde er definitiv und zweifelsfrei zu dem Schluss kommen, dass es sich bei der Chat-Partnerin um eine wohlproportionierte, sechsunddreißigjährige Reporterin handelt …«
»Einspruch!«
»… oder würde er vielleicht glauben, dass die Chat-Beiträge von einem dreizehnjährigen Mädchen geschrieben wurden?«
Wendy öffnete den Mund, schloss ihn wieder und wartete. Richterin Howard sagte: »Sie können die Frage beantworten.«
»Ich habe mich als dreizehnjähriges Mädchen ausgegeben.«
»Ach«, sagte Flair, »haben wir das nicht alle schon einmal?«
»Mr. Hickory«, sagte die Richterin tadelnd.
»Entschuldigung, Euer Ehren, da konnte ich einfach nicht widerstehen. Also, Ms. Tynes, wenn ich Ihre Beiträge in dem Chatroom ohne Vorwissen gelesen hätte, wäre mir nicht klar gewesen, dass Sie nur vorgeben, eine Dreizehnjährige zu sein, oder? Ich hätte Sie tatsächlich für einen Teenager gehalten.«
Lee Portnoi warf die Arme in die Luft. »Wo ist da die Frage?«
»Dazu wollte ich gerade kommen, mein Süßer, also passen Sie gut auf: Wurden diese Nachrichten von einem dreizehnjährigen Mädchen geschrieben?«
»Die Frage wurde schon gestellt und auch beantwortet, Euer Ehren.«
Flair sagte: »Sie ist mit einem schlichten Ja oder Nein zu beantworten. War der Schreiber dieser Nachrichten ein dreizehnjähriges Mädchen?«
Richterin Howard forderte Wendy mit einem Nicken auf, die Frage zu beantworten.
»Nein«, sagte Wendy.
»Tatsächlich haben Sie, wie schon erwähnt, vorgegeben, ein dreizehnjähriges Mädchen zu sein, richtig?«
»Richtig.«
»Und woher wollen Sie wissen, dass Ihr Chat-Partner nicht nur vorgegeben hat, ein Erwachsener zu sein, der Sex mit Minderjährigen sucht? Woher wollen Sie wissen, dass Sie nicht mit einer Albino-Nonne mit Herpes kommuniziert haben?«
»Einspruch.«
Wendy sah Flair in die Augen. »Im Haus der Dreizehnjährigen ist keine Albino-Nonne mit Herpes auf der Suche nach Sex aufgetaucht.«
So einfach ließ Flair sie nicht davonkommen. »Um welches Haus handelt es sich hierbei, Ms. Tynes? Das, in dem Sie Ihre Kameras aufgestellt hatten? Sagen Sie, hat dort ein minderjähriges Mädchen gewohnt?«
Wendy schwieg.
»Beantworten Sie bitte die Frage«, sagte die Richterin.
»Nein.«
»Aber Sie waren da, richtig? Vielleicht hat Ihr Partner in dem Online-Chat – und bisher wissen wir nicht, um wen es sich dabei handelte -, vielleicht hatte diese Person Ihre Sendung …«, Flair sprach das Wort aus, als hinterließe es einen schlechten Geschmack in seinem Mund, »… gesehen und beschlossen mitzuspielen, um einen wohlproportionierten, sechsunddreißigjährigen, weiblichen Fernsehstar kennenzulernen. Wäre das nicht möglich?«
Portnoi war aufgesprungen. »Einspruch, Euer Ehren. Für diese Fragen sind die Geschworenen zuständig.«
»Auch wieder wahr«, sagte Flair. »Dann können wir ja auch vor dem Geschworenengericht klären, ob mein Mandant nicht ganz offensichtlich in eine hinterhältige Falle gelockt wurde.« Er wandte sich wieder an Wendy. »Also bleiben wir doch lieber bei dem Abend des siebzehnten Januar. Was geschah, nachdem Sie sich meinem Mandanten in Ihrer Hausefalle zu erkennen gegeben haben?«
Wendy wartete auf den Einspruch des Staatsanwalts gegen das Wort Hausefalle, der meinte aber offenbar, schon genug getan zu haben. »Ihr Mandant ist weggerannt.«
»Nachdem Sie mit Ihren Kameras, Mikrofonen und Scheinwerfern urplötzlich auf ihn losgestürzt sind, korrekt?«
Wieder wartete sie auf einen Einspruch, bevor sie sagte »Ja.«
»Sagen Sie, Ms. Tynes, reagiert die Mehrheit der Männer, die Sie in Ihre Hausefalle locken, so?«
»Nein. Die meisten Männer bleiben da und versuchen, das Ganze zu erklären.«
»Und sind diese ›meisten Männer‹ schuldig?«
»Ja.«
»Mein Mandant hat sich also anders verhalten. Interessant.«
Portnoi sprang wieder auf. »Das mag für Mr. Hickory durchaus interessant sein. Wir anderen halten seinen billigen Klamauk …«
»Ja, schon gut, zurückgezogen«, sagte Flair, als wollte er sich um solche Kleinigkeiten jetzt nicht kümmern. »Immer mit der Ruhe, Herr Staatsanwalt, es sind ja keine Geschworenen im Saal. Glauben Sie nicht, dass die Richterin auch ohne Ihre Hilfe in der Lage ist, meinen billigen Klamauk zu durchschauen?« Er richtete einen Manschettenknopf. »Also, Ms. Tynes. Sie haben die Scheinwerfer und die Kameras angestellt und sich mit einem Mikrofon in der Hand auf ihn gestürzt, worauf Dan Mercer die Flucht ergriffen hat. Ist das Ihre Aussage?«
»Ja.«
»Was haben Sie dann getan?«
»Ich habe meine Assistenten aufgefordert, ihm zu folgen.«
Wieder zeigte Flair sich schockiert. »Sind Ihre Assistenten Polizisten, Ms. Tynes?«
»Nein.«
»Sind Sie der Ansicht, dass Privatleute ohne Hilfe von Polizeibeamten Verdächtige verfolgen sollten?«
»Wir hatten auch einen Polizisten dabei.«
»O bitte.« Aus Hickorys Miene sprach große Skepsis. »Ihre Show spricht die niedrigste Sensationsgier an. Das ist Schund der allerschlimmsten Sorte und …«
Wendy unterbrach ihn. »Wir sind uns schon einmal begegnet, Mr. Hickory.«
Er stockte. »Tatsächlich?«
»Als ich noch Produktionsassistentin bei In Flagranti war, habe ich Sie einmal als Experten für den Mordprozess gegen Robert Blake gebucht.«
Flair wandte sich den Zuschauern zu und verbeugte sich tief. »Also, meine Damen und Herren, damit hätten wir nun belegt, dass ich eine Medienhure bin. Touché.« Wieder erntete er Gelächter. »Und dennoch, Ms. Tynes, wollen Sie dem Gericht wirklich weismachen, dass die Polizei Ihr pseudojournalistisches Gewäsch in einem solchen Ausmaß unterstützt, dass sie mit Ihnen zusammenarbeitet?«
»Einspruch.«
»Ich lasse die Frage zu.«
»Aber, Euer Ehren …«
»Abgewiesen. Setzen Sie sich, Mr. Portnoi.«
Wendy sagte: »Wir standen mit der Polizei und der Staatsanwaltschaft in Kontakt. Wir haben großen Wert darauf gelegt, die Grenzen von Recht und Gesetz nicht zu überschreiten.«
»Verstehe. Daher haben Sie mit den Ermittlungsbehörden zusammengearbeitet, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Also was denn nun, Ms. Tynes? Haben Sie diesen Hinterhalt in Zusammenarbeit mit den Ermittlungsbehörden gelegt? Oder waren die zumindest über Ihr Vorhaben informiert?«
»Nein.«
»Gut, in Ordnung. Haben Sie schon vor dem Abend des siebzehnten Januar hinsichtlich meines Mandanten Kontakt zur Polizei und zur Staatsanwaltschaft aufgenommen?«
»Wir haben Kontakt zur Staatsanwaltschaft aufgenommen, ja.«
»Wunderbar, vielen Dank. Jetzt sagten Sie gerade, dass Sie Ihre Assistenten losgeschickt hätten, um meinen Mandanten zu jagen, ist das korrekt?«
»So hat sie das nicht formuliert«, sagte Portnoi. »Sie sprach von ›folgen‹.«
Flair sah Portnoi an, als hätte er noch nie ein lästigeres Insekt gesehen. »Also gut, von mir aus – jagen, folgen. Können wir den Unterschied ein andermal diskutieren? Als mein Mandant geflohen war, Ms. Tynes, wo sind Sie dann hingegangen?«
»Zu seinem Haus.«
»Warum?«
»Weil ich davon ausging, dass Dan Mercer dort irgendwann auftauchen könnte.«
»Und dann haben Sie da vor seinem Haus auf ihn gewartet?«
»Ja.«
»Haben Sie draußen gewartet?«
Wendy wand sich. Jetzt ging es los. Sie ließ ihren Blick über die Gesichter streifen, sah Ed Grayson in die Augen, dessen neunjähriger Sohn eines der frühen Opfer von Dan Mercer war. Sie spürte die Last, die in diesem Blick lag, als sie sagte: »Ich habe Licht brennen sehen.«
»In Dan Mercers Haus.«
»Ja.«
»Wie eigentümlich«, sagte Flair voller Sarkasmus. »Ich habe noch nicht ein einziges Mal gehört, dass jemand ein Licht brennen lässt, wenn er das Haus verlässt.«
»Einspruch!«
Richterin Howard seufzte. »Mr. Hickory.«
Flair sah Wendy weiter an. »Und was haben Sie dann getan, Ms. Tynes?«
»Ich habe an die Tür geklopft.«
»Hat mein Mandant geöffnet?«
»Nein.«
»Hat jemand anders geöffnet?«
»Nein.«
»Was haben Sie dann getan, Ms. Tynes?«
Wendy versuchte, ganz ruhig zu bleiben, als sie ihren nächsten Satz sagte: »Ich meinte, durchs Fenster so etwas wie eine Bewegung gesehen zu haben.«
»Sie meinten, durchs Fenster so etwas wie eine Bewegung gesehen zu haben«, wiederholte Flair. »Meine Güte, könnten Sie sich nicht noch etwas unbestimmter ausdrücken?«
»Einspruch!«
»Zurückgezogen. Was haben Sie dann getan?«
»Ich habe den Knauf gedreht. Die Tür war nicht abgeschlossen. Ich habe sie geöffnet.«
»Wirklich? Warum hätten Sie so etwas tun sollen?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht.«
»Worüber haben Sie sich Sorgen gemacht?«
»Es gab Fälle, in denen Pädophile sich selbst etwas angetan haben, nachdem sie ertappt wurden.«
»Tatsächlich? Sie haben sich also Sorgen gemacht, dass Ihr Hinterhalt meinen Mandanten in den Selbstmord treiben könnte?«
»So etwas in der Art, ja.«
Flair legte die Hand auf die Brust. »Sie sehen mich gerührt.«
»Euer Ehren!«, rief Portnoi.
Wieder wischte Flair den Einspruch mit einer kurzen Geste beiseite. »Also wollten Sie meinen Mandanten retten?«
»Ja, ich wollte ihn aufhalten, wenn er wirklich in Gefahr gewesen wäre.«
»In Ihrer Sendung haben Sie Worte wie ›Perverser‹, ›Kranker‹, ›verkommen‹, ›monströs‹ und ›Abschaum‹ benutzt, um diejenigen zu beschreiben, die Sie in die Falle gelockt haben, ist das korrekt?«
»Ja.«
»Dann lautet Ihre Aussage also, dass Sie bereit waren, in sein Haus einzubrechen – also das Gesetz zu brechen -, um meinem Mandanten das Leben zu retten?«
»Das könnte man so sagen.«
Seine Stimme triefte nicht nur vor Sarkasmus, sie schien sogar tagelang darin mariniert worden zu sein. »Wie edelmütig.«
»Einspruch!«
»Es war kein Edelmut«, sagte Wendy. »Ich finde es besser, wenn diese Männer vor Gericht gestellt werden. Dadurch haben die Familien der Opfer zumindest in dieser Hinsicht das Gefühl, dass die Sache zu einem Abschluss gebracht wurde. Selbstmord ist ein zu einfacher Ausweg.«
»Verstehe. Also, was geschah, als Sie in das Haus meines Mandanten eingebrochen waren?«
»Einspruch«, sagte Portnoi. »Ms. Tynes sagte, die Tür wäre nicht abgeschlossen gewesen.«
»Ja, schon gut. Eingedrungen, eingebrochen, ganz wie es dem Manne dort drüben am besten mundet«, sagte Flair und stemmte die Hände in die Hüften. »Aber hören Sie bitte auf, mich dauernd zu unterbrechen. Was passierte, Ms. Tynes, als Sie ins Haus meines Mandanten eingedrungen …«, wieder betonte er das Wort über alle Maßen, »… waren?«
»Nichts.«
»Mein Mandant war nicht dabei, sich selbst etwas anzutun?«
»Nein.«
»Was tat er stattdessen?«
»Er war nicht da.«
»War überhaupt jemand im Haus?«
»Nein.«
»Und diese ›Bewegung‹, die Sie gesehen zu haben meinten?«
»Ich weiß nicht.«
Flair nickte, wandte sich ab und schlenderte durch den Gerichtssaal. »Sie haben ausgesagt, dass Sie zum Haus meines Mandanten gefahren sind, direkt nachdem er geflohen war und Ihre Assistenten hinter ihm hergejagt sind. Glaubten Sie wirklich, er hätte genug Zeit gehabt, nach Hause zu fahren und einen Selbstmord vorzubereiten?«
»Er hätte wohl den schnellsten Weg gekannt, außerdem hatte er ein paar Minuten Vorsprung. Ja, ich habe geglaubt, dass er genug Zeit hatte.«
»Verstehe. Aber da lagen Sie offensichtlich falsch, nicht wahr?«
»Inwiefern?«
»Wie es aussieht, ist mein Mandant nicht direkt nach Hause gefahren?«
»Nein, richtig, das ist er nicht.«
»Aber Sie waren in Mr. Mercers Haus eingedrungen – bevor er oder die Polizei dort waren, korrekt?«
»Nur für einen kurzen Moment.«
»Wie lang ist so ein kurzer Moment?«
»Ich weiß nicht.«
»Na ja, immerhin mussten Sie ja in jedem Zimmer nachsehen, oder? Um sicherzugehen, dass er nicht an seinem Gürtel an einem Balken baumelte oder so etwas, korrekt?«
»Ich habe nur in das Zimmer geschaut, in dem Licht brannte. Also in die Küche.«
»Was bedeutet, dass Sie zumindest das Wohnzimmer durchqueren mussten. Sagen Sie, Ms. Tynes, was haben Sie getan, als Sie entdeckten, dass mein Mandant nicht zu Hause war?«
»Ich habe das Haus wieder verlassen und draußen gewartet.«
»Und worauf haben Sie dort gewartet?«
»Auf die Ankunft der Polizei.«
»Ist sie gekommen?«
»Ja.«
»Und die Polizei hatte dann einen Durchsuchungsbefehl für das Haus meines Mandanten dabei, korrekt?«
»Ja.«
»Während mir also inzwischen klar geworden ist, dass Sie aus edelmütigen Motiven ins Haus meines Mandanten eingebrochen sind, hat sich in Ihrem Inneren nicht doch eine leise Stimme gemeldet, die besorgt gefragt hat, ob dieser Hinterhalt, in den Sie meinen Mandanten gelockt haben, vor Gericht überhaupt standhalten wird?«
»Nein.«
»Seit der Sendung, die am neunzehnten Januar ausgestrahlt wurde, haben Sie sich intensiv mit der Vergangenheit meines Mandanten beschäftigt. Abgesehen von dem, was die Polizei in dieser Nacht in seinem Haus gefunden hat, haben Sie noch weitere belastende Hinweise auf illegale Aktivitäten meines Mandanten entdeckt?«
»Noch nicht.«
»Ich denke, das heißt ›Nein‹«, sagte Flair. »Kurz gesagt, ohne das Material, das die Polizei bei der Hausdurchsuchung gefunden hat, haben Sie bei meinem Mandanten nichts entdeckt, was auf irgendwelche verbotenen Tätigkeiten hindeutet, ist das korrekt?«
»Er ist in der Nacht im Haus aufgetaucht.«
»In der Hausefalle, in der überhaupt kein minderjähriges Mädchen wohnte. Also genaugenommen, Ms. Tynes, hängen der Fall und … äh … Ihr Ruf als Journalistin zur Gänze an dem Material, das im Haus meines Mandanten entdeckt wurde. Ohne dieses Material hätten Sie nichts in der Hand. Kurz gesagt: Sie hatten die Möglichkeit und einen hinreichenden Grund, diese vermeintlichen Beweismaterialien in die Wohnung zu schmuggeln, oder etwa nicht?«
Lee Portnoi war sofort aufgesprungen. »Euer Ehren, das ist doch lächerlich. Solche Entscheidungen obliegen den Geschworenen.«
»Ms. Tynes hat zugegeben, das Haus illegal und ohne Durchsuchungsbefehl betreten zu haben«, sagte Flair.
»Gut«, sagte Portnoi. »Dann zeigen Sie sie wegen Einbruchs an, wenn Sie glauben, das beweisen zu können. Und wenn Mr. Hickory gerne abstruse Theorien über Albino-Nonnen oder eingeschmuggelte Beweise präsentieren möchte, ist auch das sein gutes Recht – in der Hauptverhandlung. Bei der Hauptverhandlung und vor den Geschworenen. Dafür haben wir Gerichte und Prozesse. Ms. Tynes ist eine Privatperson – und für Privatpersonen gelten nicht dieselben Auflagen wie für Polizisten. Sie können die Beweiskraft der Fotos und Dateien, die wir im Computer gefunden haben, nicht ignorieren, Euer Ehren. Sie wurden bei einer rechtmäßigen Hausdurchsuchung mit korrekt ausgestelltem Durchsuchungsbefehl gefunden. Einige der ekelerregenden Fotos waren in der Garage und hinter einem Bücherregal versteckt – und es ist unmöglich, dass Ms. Tynes diese Sachen dort in den paar Minuten versteckt hat, die sie sich im Haus aufhielt.«
Flair schüttelte den Kopf. »Wendy Tynes ist mit bestenfalls vorgeschobenen und zweifelhaften Gründen ins Haus eingebrochen. Ein Licht brannte? Bewegung? Ach, kommen Sie. Außerdem hatte sie ein sehr gutes Motiv, Beweismaterial einzuschmuggeln, und natürlich auch die Gelegenheit dazu – des Weiteren wusste sie, dass Dan Mercers Haus kurz darauf durchsucht werden würde. Das ist ein weiter reichender Eingriff als das Sichern von ein paar Beweisen auf nicht ganz zulässige Art und Weise. Sämtliche Beweismaterialien, die in dem Haus gefunden wurden, müssen für unzulässig erklärt werden.«
»Wendy Tynes ist eine Privatperson.«
»Trotzdem hatte sie in diesem Fall nicht freie Hand. Sie hätte ohne weiteres den Laptop und die Fotos ins Haus schmuggeln können.«
»Auch dieses Argument können Sie in der Hauptverhandlung den Geschworenen präsentieren.«
»Euer Ehren, wenn das gefundene Material bekannt werden würde, käme das einer Vorverurteilung gleich. Laut ihrer eigenen Aussage ist Ms. Tynes in diesem Fall offensichtlich sehr viel mehr als nur eine Privatperson. Ich habe sie mehrmals nach ihren Verbindungen zur Staatsanwaltschaft gefragt. Nach ihren eigenen Angaben war sie gewissermaßen als Agentin für die Ermittlungsbehörden tätig.«
Lee Portnoi lief rot an. »Das ist doch lächerlich, Euer Ehren. Soll jetzt jeder Reporter, der sich mit einem Kriminalfall befasst, als Agent der Ermittlungsbehörden gelten?«
»Nach ihren eigenen Angaben hat Wendy Tynes in enger Abstimmung mit Ihrem Büro gearbeitet, Mr. Portnoi. Ich kann Ihnen die Stelle von der Gerichtsstenografin vorlesen lassen, in der sie zugibt, dass sowohl ein Polizist vor Ort als auch die Staatsanwaltschaft informiert war.«
»Das macht sie nicht zu einer Polizistin.«
»Das ist Wortklauberei, wie Mr. Portnoi ganz genau weiß. Ohne Wendy Tynes hätte sein Büro absolut nichts gegen meinen Mandanten in der Hand. Ihr ganzer Fall -, sämtliche Verbrechen, die meinem Mandanten zur Last gelegt werden -, beruhen auf Ms. Tynes’ Versuch, ihn in einen Hinterhalt zu locken. Ohne ihr Eingreifen wäre niemals ein Haftbefehl ausgestellt worden.«

ZWEI

Na ja«, sagte Wendy im Flur zu Portnoi, »das ist ja mal echt bescheiden gelaufen.«
»Die Richterin wird die Beweise nicht für unzulässig erklären.«
Wendy war sich da nicht so sicher.
»Irgendwo hatte das gerade auch sein Gutes.«
»Wieso?«
»Der Fall an sich ist viel zu publicityträchtig, da kann man solche Beweise nicht einfach außen vor lassen«, sagte Portnoi und deutete auf den Verteidiger. »Im Prinzip hat Flair uns da eben nur gezeigt, welche Prozessstrategie er verfolgen wird.«
Vor ihnen beantwortete Jenna Wheeler, Dan Mercers Exfrau, Fragen vom Fernsehreporter eines Konkurrenzsenders. Selbst als die Beweise gegen Dan sich immer weiter verdichteten, hatte Jenna ihren Exmann standhaft verteidigt und behauptet, Dan wäre völlig zu Unrecht in eine Falle gelockt worden. Diese Haltung, in Wendys Augen gleichermaßen bewundernswert wie naiv, hatte Jenna in der Stadt zu einer Art Ausgestoßenen gemacht.
Noch weiter vorne hielt Flair Hickory für mehrere Reporter Hof. Natürlich liebten sie ihn – genau wie Wendy vor nicht allzu langer Zeit, als sie über seine Prozesse berichtet hatte. Er hatte dem Wort Extravaganz eine ganz neue Bedeutung verliehen. Aber jetzt, wo sie die Kehrseite der Medaille erlebte, wurde ihr bewusst, wie sehr diese Extravaganz an Skrupellosigkeit grenzte.
Wendy runzelte die Stirn. »Flair Hickory kommt mir nicht so vor, als würde er sich von anderen auf der Nase herumtanzen lassen.«
Flair erntete einen Lacher von den kriecherischen Pressevertretern, klopfte ein paar Leuten anerkennend auf den Rücken und ging. Als er schließlich allein war, stellte Wendy überrascht fest, dass Ed Grayson auf ihn zuging.
»Uh-oh«, sagte sie.
»Was ist?«
Wendy deutete mit dem Kinn auf die Szene. Portnoi sah hinüber. Grayson, ein kräftiger Mann mit kurzgeschorenen Haaren, baute sich direkt vor Flair Hickory auf. Die beiden Männer starrten sich an, während sie leise miteinander redeten. Grayson näherte sich immer weiter, rückte Flair auf die Pelle. Der wich keinen Millimeter zurück.
Portnoi trat ein paar Schritte auf die beiden zu. »Mr. Grayson?«
Der Abstand zwischen ihren Gesichtern betrug vielleicht gerade mal zehn Zentimeter. Grayson wandte Portnoi den Kopf zu und starrte ihn an.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Portnoi.
»Wunderbar«, sagte Grayson.
»Mr. Hickory?«
»Alles bestens, Herr Staatsanwalt. Nur ein Gespräch unter Freunden.«
Grayson sah Wendy an, und wieder gefiel es ihr nicht, was sie in diesem Blick sah. Hickory sagte: »Tja, wenn wir das damit also geklärt hätten, Mr. Grayson …?«
Grayson antwortete nicht. Hickory drehte sich um und ging. Grayson kam auf Portnoi und Wendy zu.
»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte Portnoi.
»Nein.«
»Darf ich fragen, worüber Sie mit Mr. Hickory gesprochen haben?«
»Natürlich dürfen Sie das fragen.« Grayson sah Wendy an. »Glauben Sie, dass die Richterin Ihnen Ihr Märchen abgenommen hat, Ms. Tynes?«
»Das war kein Märchen«, sagte sie.
»Aber es war auch nicht die ganze Wahrheit, oder?« Ed Grayson drehte sich um und ging.
»Was um alles in der Welt war das denn?«, fragte Wendy.
»Keine Ahnung«, sagte Portnoi. »Aber machen Sie sich keine Sorgen über ihn. Und über Flair auch nicht. Er ist gut, aber diese Runde wird nicht an ihn gehen. Fahren Sie nach Hause, und genehmigen Sie sich einen Drink, das wird schon.«
Wendy fuhr nicht nach Hause. Sie fuhr in ihr Fernsehstudio nach Secaucus, New Jersey, von dem sie den Meadowlands Sports Complex überblicken konnte. Der Ausblick war weder hübsch noch beruhigend. Sie sah auf sumpfiges Marschgebiet hinab, das unter dem Gewicht der massigen Bauwerke ächzte. Sie checkte ihre E-Mails und sah, dass sie eine Mail von ihrem Boss Vic Garrett bekommen hatte. Es war vermutlich die längste Nachricht, die Vic je per E-Mail geschickt hatte: »KOMM SOFORT RÜBER.«
Es war halb vier. Ihr Sohn Charlie, der auf die Kasselton High School ging, würde inzwischen zu Hause sein. Sie rief trotzdem auf dem Handy an, weil er nie ans Festnetztelefon ging. Nach dem vierten Klingeln meldete er sich mit der üblichen Begrüßungsformel: »Was?«
»Bist du zu Hause?«, fragte sie ihren Sohn.
»Yep.«
»Was machst du gerade?«
»Nichts.«
»Hast du Hausaufgaben?«
»Ein paar.«
»Hast du sie schon gemacht?«
»Gleich.«
»Warum nicht jetzt?«
»Ist nicht viel. Dafür brauch ich höchstens zehn Minuten.«
»Darum geht’s ja. Wenn es sowieso nicht viel ist, mach sie einfach, dann hast du es hinter dir.«
»Mach ich später.«
»Und was machst du jetzt?«
»Nichts.«
»Warum wartest du dann noch? Warum machst du die Hausaufgaben nicht sofort?«
Jeden Tag das gleiche Gespräch. Schließlich sagte Charlie, dass er sich »gleich« an die Arbeit machen würde, was die Kurzform war für: Wenn ich gleich sage, hörst du vielleicht auf, mich zu nerven.
»Ich komme wohl so gegen sieben nach Haus«, sagte Wendy. »Soll ich was vom Chinesen mitbringen?«
»Von Bamboo House«, sagte er.
»Okay. Denk dran, Jersey heute Nachmittag was zum Fressen hinzustellen.«
Jersey war ihre Katze.
»Okay.«
»Vergiss das nicht.«
»Mhm.«
»Und mach deine Hausaufgaben.«
»Tschüss.«
Klick.
Sie atmete tief durch. Charlie war jetzt siebzehn, im letzten Highschool-Jahr und eine absolute Nervensäge. Die aufreibende Suche nach der richtigen Universität – eine vorstädtische Aktivität, in deren Rahmen Eltern Skrupellosigkeiten begingen, die Dritte-Welt-Despoten die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte – war mit der Zusage vom Franklin & Marshall College in Lancaster, Pennsylvania, beendet worden. Wie alle Teenager reagierte Charlie mit Angst und Nervosität auf diese gewaltige Veränderung in seinem Leben – allerdings längst nicht so ängstlich und nervös wie seine Mutter. Charlie, ihr wunderbarer, trübsinniger, unerträglicher Sohn, war ihr Ein und Alles. Die beiden waren jetzt seit neun Jahren auf sich gestellt, die alleinerziehende Mutter und das Einzelkind gemeinsam in der Welt des großen, weißen Suburbia. Wie immer, wenn Kinder im Spiel waren, flogen die Jahre nur so dahin. Wendy wollte Charlie nicht gehen lassen. Jeden Abend sah sie ihn an, erblickte in ihm eine fast nervenzerreißende Perfektion und wünschte sich wie jeden Tag, seit er vier Jahre alt war, dass er genauso bleiben sollte – sie wollte ihren wunderbaren Sohn einfrieren, damit er keinen Tag älter oder jünger wurde, sondern so, wie er war, noch ein paar Tage länger bei ihr blieb.
Denn bald würde sie ganz allein sein.
Eine weitere E-Mail erschien auf dem Computer-Monitor. Wieder war sie von ihrem Boss. »WELCHEN TEIL VON ›KOMM SOFORT RÜBER‹ HAST DU NICHT VERSTANDEN?«
Sie klickte auf Antworten und tippte: »Komme.«
Da Vics Büro direkt gegenüberlag, wirkte der ganze E-Mail-Austausch etwas sinnlos und seltsam, aber so lief es eben heutzutage. Sie kommunizierte häufig mit Charlie per SMS, während sie beide zu Hause waren. Sie war zu erschöpft, ihn zu rufen, also simste sie »Zeit fürs Bett« oder »Lass Jersey raus« oder das immer wieder beliebte »Schluss mit dem Computer, lies ein Buch«.
Wendy war eine neunzehnjährige Studentin im zweiten Jahr auf der Tufts University gewesen, als sie schwanger wurde. Sie war auf eine Campus-Party gegangen, und nachdem sie zu viel getrunken hatte, war sie bei John Morrow hängengeblieben, ausgerechnet einem Sport-Ass, dem Quarterback der Football-Mannschaft, und wenn man ihn in Wendy Tynes’ persönlichem Handbuch finden wollte, hätte man nur unter »nicht mein Typ« nachzusehen brauchen. Wendy sah sich als linksliberale Studentin und Underground-Journalistin, die knallenge, schwarze Kleidung trug, ausschließlich Alternative Rock hörte, zu Slam-Poetry-Lesungen und Cindy-Sherman-Ausstellungen ging. Aber das Herz will nichts von Alternative Rock, Slam-Poetry und Kunstausstellungen wissen. Am Ende gefiel ihr der fantastische Sportler. Was für eine Überraschung. Am Anfang war es keine große Sache gewesen. Sie waren ein paar Mal abends miteinander ausgegangen und hatten gerade angefangen, auch ansonsten etwas Zeit miteinander zu verbringen – echte Dates waren es noch nicht, aber sie verabredeten sich häufig. Das war vielleicht einen Monat so gegangen, als Wendy merkte, dass sie schwanger war.
Was jetzt zu geschehen hatte, war, wie man Wendy als durch und durch moderner Frau schon ihr Leben lang erzählt hatte, einzig und allein ihre Entscheidung. Mit noch zweieinhalb Jahren auf der Universität und ihrer angehenden Karriere als Journalistin hätte das Timing natürlich kaum schlechter sein können – für sie wurde die Antwort allerdings nur noch eindeutiger. Sie rief John an und sagte: »Wir müssen reden.« Er kam herüber in ihr kleines Zimmer, und sie forderte ihn auf, Platz zu nehmen. John setzte sich in den Sitzsack, und es sah ziemlich komisch aus, wie er es sich mit seinen muskulösen einssechsundneunzig zwar nicht bequem machte, aber doch immerhin versuchte, eine stabile Position einzunehmen. John hatte an ihrem Tonfall erkannt, dass es um etwas Ernstes ging, und bemühte sich, nicht zu lachen, während er auf dem Sitzsack balancierte, wobei er insgesamt jedoch wie ein kleiner Junge wirkte, der einen Erwachsenen spielte.
»Ich bin schwanger«, begann Wendy die Rede, die sie zwei Tage lang auswendig gelernt hatte. »Was jetzt passiert, ist ganz allein meine Entscheidung, und ich hoffe, du respektierst das.«
Wendy fuhr fort, während sie im kleinen Zimmer auf und ab ging, ihn nicht ansah und versuchte, so sachlich wie möglich zu sprechen. Sie beendete die vorbereitete Rede sogar damit, dass sie ihm für sein Kommen dankte und alles Gute wünschte. Schließlich riskierte sie es, einen kurzen Blick auf ihn zu werfen.
John Morrow sah mit Tränen in den blausten Augen, die sie je gesehen hatte, zu ihr hoch und sagte: »Aber ich liebe dich doch, Wendy.«
Eigentlich wollte sie lachen, fing aber stattdessen sofort an zu weinen, worauf John von dem verdammten Sitzsack rutschte, sich vor sie kniete und ihr auf der Stelle einen Heiratsantrag machte, während Wendy nicht aufhören konnte, gleichzeitig zu lachen und zu weinen. Trotz der Bedenken ihrer Freunde, Bekannten und Verwandten heirateten sie. Niemand gab ihnen wirklich eine Chance, aber die nächsten neun Jahre waren einfach wunderbar gewesen. John Morrow war liebenswert, fürsorglich, toll, witzig, clever und einfühlsam. Er war die Liebe ihres Lebens, mit allem, was dazugehörte. In ihrem vorletzten Jahr auf der Tufts wurde Charlie geboren. Zwei Jahre später gelang es John und Wendy, genug Geld zusammenzubekommen, um die Anzahlung für ein erstes, kleines Haus an einer verkehrsreichen Straße in Kasselton zu bezahlen. Wendy bekam einen Job bei einem lokalen Fernsehsender. John studierte weiter, um ein Doktor der Psychologie zu werden. Alles lief bestens.
Und dann, es kam ihr vor wie ein Fingerschnippen, starb John. Das kleine Haus beherbergte jetzt nur noch Wendy, Charlie und das riesengroße Loch in ihrem Herzen.
Sie klopfte an Vics Tür und steckte den Kopf herein. »Sie haben geläutet?«
»Hab gehört, dass sie dir im Gericht den Hintern versohlt haben«, sagte ihr Boss.
»Unterstützung«, sagte Wendy. »Deshalb arbeite ich hier. Weil die Mitarbeiter einem hier so viel Halt geben.«
»Wenn du mehr Halt brauchst«, sagte Vic, »kauf dir einen BH.«
Wendy runzelte die Stirn. »Dir ist schon klar, dass das keinen Sinn ergibt.«
»Ja, ich weiß. Ich hab dein Memo gekriegt – korrigiere, die vielen Memos -, in denen du dich über deine Aufträge beschwerst.«
»Was für Aufträge? In den letzten beiden Wochen hast du mich zur Eröffnung eines Kräuterteeladens und zu einer Modenschau für Männerschals geschickt. Gib mir endlich mal wieder etwas zumindest halbwegs Reelles.«
»Moment.« Vic legte die Hand ans Ohr, als versuchte er angestrengt zu lauschen. Er war klein, hatte aber einen dicken Kugelbauch. Sein Gesicht hätte man als »frettchenartig« bezeichnen können, sofern man von einem wirklich hässlichen Frettchen sprach.
»Was ist?«, fragte sie.
»Kommt jetzt der Teil, wo du dich darüber beklagst, dass du die heiße Braut in einer von Männern dominierten Branche bist, und behauptest, dass ich dich nur als hübschen Blickfang benutze?«
»Würde mir das helfen, bessere Aufträge zu bekommen?«
»Nein«, sagte er. »Aber soll ich dir sagen, was helfen könnte?«
»Wenn ich in den Sendungen mehr Dekolleté zeige?«
»Ausgezeichnete Idee, aber nein, im Moment nicht. Im Moment lautet die Antwort: Dan Mercers Verurteilung. Du musst am Ende als diejenige dastehen, die einen perversen Pädophilen in den Knast gebracht hat, nicht als übermütige Reporterin, die mit schuld daran war, dass man ihn laufen lassen musste.«
»Mit schuld daran, dass man ihn laufen lassen musste?«
Vic zuckte die Achseln.
»Ohne mich hätte die Polizei überhaupt nichts von Dan Mercer gewusst.«
Vic klemmte sich eine Luftgeige unters Kinn, schloss die Augen und fing an zu spielen.
»Lass den Scheiß«, sagte sie.
»Soll ich ein paar von deinen Kollegen herbeordern, damit sie dich alle umarmen? Vielleicht könnt ihr euch auch die Hände geben und eine aufwühlende Fassung von Kumbaya singen.«
»Später vielleicht, nach eurem Gruppenwichsen.«
»Autsch.«
»Weiß irgendjemand, wo Dan Mercer sich versteckt hat?«, fragte sie.
»Nein. Er wurde seit zwei Wochen nicht mehr gesehen.«
Wendy wusste nicht, was sie davon halten sollte. Dan war aufgrund von Morddrohungen aus seinem Haus ausgezogen, trotzdem passte es nicht zu ihm, dass er heute nicht im Gericht gewesen war. Sie wollte eine weitere Frage stellen, als Vics Gegensprechanlage summte.
Vic hob kurz den Finger, damit Wendy einen Moment schwieg, dann drückte er auf die Sprechtaste. »Was ist?«
Die Rezeptionistin sagte leise: »Marcia McWaid ist hier. Sie möchte Sie sprechen.«
Alle waren still. Marcia McWaid wohnte im gleichen Ort wie Wendy, nur gut einen Kilometer von ihr entfernt. Vor drei Monaten war ihre Tochter Haley – eine Mitschülerin von Charlie – angeblich durchs Schlafzimmerfenster ausgerissen und seitdem nicht wieder aufgetaucht.
»Gibt’s irgendwas Neues über ihre Tochter?«, fragte Wendy.
Vic schüttelte den Kopf. »Absolut nichts«, sagte er, was natürlich das Schlimmste war, was er sagen konnte. Drei oder vier Wochen lang war Haley McWaids Verschwinden das Thema in den lokalen Medien gewesen – entführter Teenager? Ausreißerin? – mitsamt Brennpunkt-Sendungen, Laufbändern am unteren Bildrand und Interviews mit diversen »Fernseh-Experten«, die versuchten zu rekonstruieren, was mit ihr passiert sein könnte. Aber im Endeffekt konnte keine Story, so sensationell sie auch sein mochte, überleben, wenn es kein neues Futter gab. Die Sender hatten es weiß Gott versucht. Sie waren allen erdenklichen Gerüchten nachgegangen, von weißer Sklaverei bis Teufelsanbetung, aber in dieser Branche waren »keine Nachrichten« tatsächlich »schlechte Nachrichten«. Die Kürze der menschlichen Aufmerksamkeitsspanne war wirklich jämmerlich, und natürlich konnte man auch daran den Medien die Schuld geben – aber im Prinzip bestimmten die Zuschauer, was weiter auf Sendung blieb. Solange die Leute die Berichte zu einem Thema ansahen, wurde weiter über dieses Thema berichtet, wenn nicht, suchte sich der Sender ein neues, schönes und noch richtig glänzendes Spielzeug, um das rastlose Auge der Zuschauer auf sich zu ziehen.
»Soll ich mit ihr reden?«, fragte Wendy.
»Nein, nein, ich mach das schon. Dafür geben sie mir ja schließlich richtig dick Kohle.«
Vic schickte Wendy weg, und sie ging den Flur hinab. Als sie sich umdrehte, stand Marcia McWaid vor Vics Tür. Wendy kannte Marcia nicht näher, war ihr aber im Ort ein paarmal an den üblichen Orten wie bei Starbucks, vor der Schule beim Abholen der Kinder oder in der Videothek begegnet. Laut dem vorherrschenden Klischee hätte die flott wirkende Mutter, die scheinbar immer ein Kind bei sich hatte, jetzt zehn Jahre älter aussehen müssen. Doch das tat sie nicht. Marcia war immer noch eine recht attraktive Frau und sah nicht älter aus, als sie war, aber es wirkte, als ob jede ihrer Bewegungen sich etwas verlangsamt hätte, als ob selbst die Muskeln, die für das Mienenspiel verantwortlich waren, mit Sirup umhüllt wären. Marcia McWaid drehte sich um und sah Wendy an. Wendy nickte und lächelte kurz. Marcia wandte sich wieder ab und trat in Vics Büro.