Sein letzter Wille - Myron Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book
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Sein letzter Wille - Myron Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Wir alle lügen – um die, die wir lieben, vor der Wahrheit zu beschützen ...

Rockstar Lex und seine Frau Suzze führen eine äußerst glückliche Ehe. Voller Vorfreude erwarten sie die baldige Geburt ihres ersten Kindes – bis ein böswilliger Facebook-Kommentar Lex’ Vaterschaft anzweifelt. Der verschwindet daraufhin spurlos, und verzweifelt bittet Suzze ihren Agenten Myron Bolitar um Hilfe. Myron willigt ein, ohne die Angelegenheit sonderlich ernst zu nehmen. Doch dann wird er mit einer ersten Leiche konfrontiert – und mit den Abgründen der eigenen Familiengeschichte …

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Seitenzahl: 573

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Die amerikanische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »Live Wire« bei Dutton, a member of Penguin Group (USA), Inc., New York.
Copyright © der Originalausgabe 2011 by Harlan Coben
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: © FinePic Redaktion: Sigrun Zühlke Th · Herstellung: Str. Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-08529-2V004
www.goldmann-verlag.de www.penguinrandomhouse.de

GOLDMANN

Lesen erleben

Buch

Ein ruhiger Tag im Büro – Sportagent Myron Bolitar, im Nebenberuf Privatdetektiv wider Willen, hätte ihn bitter nötig gehabt. Doch es kommt anders: die hochschwangere Suzze T, ehemaliger Tennisstar, langjährige Klientin und eine alte Freundin, bittet ihn verzweifelt um Hilfe. Ihr Ehemann, der erfolgreiche Rockmusiker Lex, hat sich aus dem Staub gemacht, offensichtlich geschockt von etwas, das er auf seinem Laptop entdeckt hat. Und Myron findet schnell heraus, worüber Lex gestolpert ist: Auf ihrer Facebook-Seite hat Suzze fröhlich Ultraschallbilder des Ungeborenen gepostet – und damit den böswilligen Kommentar eines Unbekannten provoziert: »Nicht seins.«

Nur allzu verständlich, dass Lex irritiert ist. Myron zweifelt zuerst daran, dass hinter dessen Verschwinden wirklich etwas Ernstes steckt. Suzze zuliebe übernimmt er den Fall trotzdem – und schneller, als ihm lieb ist, wird die Suche nach einem Verschwunden zu einem höchst verwickelten Mordfall. Der auch vor Myrons eigener Familie nicht Halt macht. Denn bei seinen Recherchen läuft Myron einer alten Bekannten über den Weg: Kitty, die Frau seines Bruders Brad, von dem Myron schon seit Ewigkeiten nichts mehr gehört hat. In der Hoffnung, nicht nur etwas über Brads Verbleib, sondern auch über das Schicksal seines Neffen Mickey zu erfahren, heftet Myron sich an Kittys Fersen. Doch statt ihm zu neuen Erkenntnissen zu verhelfen, zieht ihn Kitty nur immer tiefer mit hinein in eine lebensgefährliche Jagd nach der Wahrheit …

Von Harlan Coben sind im Goldmann Verlag außerdem lieferbar:

Kein Sterbenswort. Roman (45251) · Kein Lebenszeichen. Roman (45688) · Keine zweite Chance. Roman (45689) · Kein böser Traum. Roman (46084) · Kein Friede den Toten. Roman (46160) · Das Grab im Wald. Roman (46599) · Sie sehen dich. Thriller (46862) In seinen Händen. Thriller (Page & Turner, 20371)

 

Aus der Serie um Myron Bolitar:

 

Das Spiel seines Lebens. Roman (46448) · Schlag auf Schlag. Roman (46450) · Der Insider. Roman (44534) · Ein verhängnisvolles Versprechen. Roman (46344) · Von meinem Blut. Thriller (47278)

Inhaltsverzeichnis

BuchVon Harlan Coben sind im Goldmann Verlag außerdem lieferbar:WidmungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32Kapitel 33EpilogDanksagungCopyright

Für Anne,weil das Beste noch kommt

1

Die hässlichste Wahrheit, hatte ein Freund einmal zu Myron gesagt, ist immer noch besser als die schönste Lüge.

Über diesen Satz dachte Myron nach, während er seinen Vater im Krankenhausbett ansah. Die Situation von vor sechzehn Jahren schoss ihm durch den Kopf, als er ihn zum letzten Mal belogen hatte. Diese Lüge, die so viel Kummer und Unheil verursacht hatte, weil sie Wellen geschlagen hatte, die sich im Lauf der Jahre zu einer gewaltigen Woge aufgetürmt hatte, die hier und jetzt mit verheerender Kraft über sie hereinbrach und alles mitzureißen drohte.

Sein Vater lag weiter mit geschlossenen Augen da. Er atmete rasselnd und unregelmäßig. Überall ragten Schläuche aus seinem Körper. Myron starrte auf seinen Unterarm. Er erinnerte sich daran, wie er als Kind bei seinem Vater im Lagerhaus in Newark zu Besuch gewesen war, der mit hochgekrempelten Ärmeln vor seinem riesigen Schreibtisch gesessen hatte. Seine Unterarme waren damals so kräftig gewesen, dass die Manschette, die sich gebildet hatte, fast wie eine Aderpresse auf dem Muskel spannte. Jetzt sahen diese Arme schwammig aus, als wäre mit der Zeit die Luft aus ihnen entwichen. Die breite Brust, an der Myron sich früher so sicher gefühlt hatte, war noch vorhanden, allerdings wirkte sie spröde, als könnten die Rippen bei einem kräftigen Stoß wie trockene Zweige zerbrechen. Im unrasierten Gesicht zeigten sich graue Flecken statt des gewohnten Nachmittagsbartschattens, und die Haut um sein Kinn hing schlaff herab wie ein viel zu großer Mantel.

Myrons Mutter – seit dreiundvierzig Jahren mit Al Bolitar verheiratet – saß neben Myron am Krankenbett. Ihre von Parkinson zitternde Hand umklammerte die ihres Mannes. Auch sie wirkte erschreckend schwach. In ihrer Jugend war Myrons Mutter eine der ersten Feministinnen gewesen, hatte mit Gloria Steinem zusammen ihren BH verbrannt und T-Shirts mit Aufschriften wie »Frauen gehören ins Haus … und in den Senat« getragen. Und jetzt waren sie hier, Ellen und Al Bolitar. (»Wir sind El-Al«, hatte Mom immer gescherzt, »wie die israelische Fluggesellschaft«.) Vom Alter gezeichnet, klammerten sie sich ans Leben und hatten dabei viel mehr Glück als die große Mehrheit alternder Ehepaare – aber genau so sah das Glück eben aus, wenn es aufs Ende zuging.

Gott hatte einen eigenartigen Sinn für Humor.

»Gut«, sagte Mom leise zu Myron. »Dann sind wir uns also einig?«

Myron antwortete nicht. Die schönste Lüge gegen die hässlichste Wahrheit. Eigentlich hätte Myron seine Lektion damals vor sechzehn Jahren gelernt haben müssen, als er den großen Mann, den er wie keinen anderen liebte, zum letzten Mal belogen hatte. Aber so einfach war das nicht. Die hässliche Wahrheit konnte verheerend sein. Sie könnte eine Welt erschüttern.

Oder sogar töten.

Und als die Augenlider seines Vaters sich zitternd öffneten und dieser Mann, den Myron wie keinen anderen achtete, mit flehentlicher, fast kindlicher Verwirrung zu seinem ältesten Sohn aufblickte, sah Myron seine Mutter an und nickte langsam. Dann verkniff er sich die Tränen und setzte an, seinen Vater ein letztes Mal zu belügen.

2

Sechs Tage vorher

 

»Bitte, Myron, ich brauche deine Hilfe.«

Für Myron hatte das etwas von einer Wunschvorstellung: Eine hinreißende üppige Lady kam in sein Büro geschlendert und bat ihn um Hilfe in der Not. Fast wie in einem alten Humphrey-Bogart-Film  – außer, na ja, das Schlendern war eher ein Watscheln, und die Üppigkeit resultierte in nicht geringem Maße daher, dass die hinreißende Dame im achten Monat schwanger war, und, tja, Entschuldigung, aber damit hatte sich das mit der Wunschvorstellung auch schon erledigt.

Sie hieß Suzze T, Kurzform von Trevantino, und war ein ehemaliger Tennisstar. Auf der Tour hatte sie die Rolle des Bad Girls gespielt und ihren Ruhm zum größten Teil den knappen Outfits, den Piercings und Tattoos zu verdanken und weniger ihren Erfolgen. Immerhin hatte Suzze ein Grand-Slam-Turnier gewonnen und dazu Unsummen als Werbeikone verdient, unter anderem als Sprecherin (eine Umschreibung, die Myron außerordentlich gefiel) für La-La-Latte, eine Kette von Oben-ohne-Kaffeebars, in denen Studenten sich ein Kichern nicht verkneifen konnten, wenn sie »eine Extraportion Milch« bestellten. Ach, die guten alten Zeiten.

Myron breitete die Arme aus. »Ich bin immer für dich da, Suzze. Tag für Tag rund um die Uhr. Aber das weißt du ja.«

Sie befanden sich in seinem Büro in der Park Avenue, der Heimat von MB Reps, wobei das M für Myron, das B für Bolitar und das Reps dafür stand, dass sie Sportler, Schauspieler und Schriftsteller repräsentierten. Ein Hoch auf selbsterklärende Namen.

»Dann erzähl mal, was ich für dich tun kann.«

Suzze ging vor dem Schreibtisch auf und ab. »Ich weiß nicht recht, womit ich anfangen soll.« Myron wollte eine Bemerkung machen, sie streckte ihm jedoch die erhobene Hand entgegen. »Wenn du es wagst, ›Wie wär’s mit dem Anfang‹, zu sagen, dann reiß ich dir ein Ei ab.«

»Nur eins?«

»Du bist ja jetzt verlobt. Ich nehme nur Rücksicht auf deine arme zukünftige Gattin.«

Suzze ging immer schneller, die Schritte wurden schwerer und sie stampfte jedes Mal auf, so dass Myron schon fürchtete, dass sie jeden Moment hier in seinem neu renovierten Büro Wehen bekommen könnte.

»Äh, der Teppich«, sagte Myron, »der ist ganz neu.«

Sie runzelte die Stirn, ging weiter auf und ab und fing an, ihre perfekt manikürten Fingernägel zu kauen.

»Suzze?«

Sie blieb stehen. Ihre Blicke trafen sich.

»Erzähl schon«, sagte er.

»Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«

Myron nickte. Er hatte erst eine paar Monate zuvor seinen Abschluss in Jura gemacht und gerade seine Firma gegründet. Damals war MB Reps noch unter dem Namen MB SportsReps aufgetreten. Das lag daran, dass Myron anfangs nur Sportler vertreten hatte. Als er anfing, auch Schauspieler, Schriftsteller und andere Künstler zu vertreten, hatte er das Sports aus dem Namen gestrichen, was dann MB Reps ergab.

Wieder die selbsterklärenden Namen.

»Klar«, sagte er.

»Ich war einfach schrecklich, oder?«

»Du warst ein großes Tennistalent.«

»Und schrecklich. Versuch nicht, das zu beschönigen.«

Myron hob die Arme und drehte die Handflächen zur Decke. »Du warst achtzehn.«

»Siebzehn.«

»Dann eben siebzehn, ganz egal.« Ihm ging kurz ein altes Bild von Suzze im Sonnenlicht durch den Kopf: blonder Pferdeschwanz, ein schalkhaftes Grinsen im Gesicht, während sie mit der Vorhand auf den Ball drischt, als hätte der sie beleidigt. »Du warst gerade Profi geworden. Jungs in der Pubertät haben sich Poster von dir ins Schlafzimmer gehängt. Alle haben von dir erwartet, dass du die großen Stars auf der Tour sofort besiegst. Deine Eltern waren ehrgeiziger als sonst was und haben entsprechend Druck auf dich ausgeübt. Eigentlich ist es ein Wunder, dass du das überhaupt durchgestanden hast.«

»Auch wieder wahr.«

»Also, was ist los?«

Suzze starrte auf ihren Bauch hinab, als wäre er gerade erst erschienen. »Ich bin schwanger.«

»Äh, ja, das ist mir auch schon aufgefallen.«

»Das Leben ist schön, weißt du?« Sie sprach leise und versonnen. »Nach all den Jahren, in denen ich schrecklich war … habe ich Lex gefunden. Seine Musik ist besser denn je. Die Tennisakademie läuft großartig. Und, na ja, im Augenblick ist alles wunderbar.«

Myron wartete. Sie starrte weiter auf ihren Bauch hinab und wiegte ihn in den Händen, als wäre er sein Inhalt, was er, wie Myron dann bewusst wurde, ja auch irgendwie war. Damit das Gespräch nicht ins Stocken geriet, fragte Myron: »Bist du gern schwanger?«

»Meinst du den eigentlichen körperlichen Vorgang, ein Kind auszutragen?«

»Ja.«

Sie zuckte die Achseln. »Ich kann nicht behaupten, dass ich vor Glück strahle oder so. Von mir aus könnte das Kind jetzt wirklich mal kommen. Ist aber schon eine interessante Frage. Manche Frauen sind gerne schwanger.«

»Aber du gehörst nicht dazu?«

»Es fühlt sich an, als ob jemand einen Bulldozer auf meiner Blase geparkt hätte. Ich glaube, der Grund dafür, dass manche Frauen gern schwanger sind, liegt darin, dass sie in der Zeit das Gefühl haben, etwas Besonderes zu sein. Sie kommen sich wichtig vor, fast ein bisschen wie Prominente. Den meisten Frauen wird im Leben kaum viel Aufmerksamkeit geschenkt, aber wenn sie schwanger sind, machen die Leute ein Riesentamtam. Es mag lieblos klingen, aber schwangere Frauen stehen auf Applaus. Weißt du, was ich meine?«

»Ich glaube schon.«

»Und ich hab im Leben wohl schon genug Applaus bekommen.« Sie trat ans Fenster und sah einen Moment lang hinaus. Dann drehte sie sich zu ihm um. »Übrigens, ist dir aufgefallen, wie dick meine Titten sind?«

Myron sagte: »Äh«, beschloss dann aber, lieber den Mund zu halten.

»Ich überleg gerade, ob du nicht bei La-La-Latte anrufen und ein neues Fotoshooting vereinbaren solltest.«

»Strategisch ausgewählte Perspektiven?«

»Genau. Könnte eine großartige neue Kampagne werden mit den Möpsen hier.« Sie hob sie leicht an, falls Myron nicht begriffen haben sollte, welche Möpse sie meinte. »Was denkst du?«

»Ich denke, du lenkst vom Thema ab.«

Sie hatte feuchte Augen. »Ich bin so verdammt glücklich.«

»Na ja, dann. Schon klar, dass das ein Problem sein kann.«

Sie lächelte. »Die alten Dämonen konnte ich besänftigen. Ich hab mich sogar mit meiner Mutter versöhnt. Und mit Lex ist auch alles wunderbar. Wir freuen uns auf das Baby. Und ich will nicht, dass die Dämonen wieder zurückkehren.«

Myron richtete sich auf. »Du bist doch nicht wieder auf Drogen?«

»Um Gottes willen, nein. Diese Dämonen doch nicht. Das ist vorbei. Damit haben Lex und ich nichts mehr zu schaffen.«

Lex Ryder, Suzzes Ehemann, war die eine Hälfte des legendären Duos HorsePower – wenn auch ehrlich gesagt die sehr viel unbedeutendere Hälfte als der fast übermenschlich charismatische Frontmann Gabriel Wire. Lex war ein guter, wenn auch etwas unruhiger Musiker, trotzdem würde er immer der John Oates zu Gabriels Daryl Hall bleiben, der Andrew Ridgeley zu Gabriels George Michael oder der Rest der Pussycat Dolls zu Nicole Scherzinger.

»Was denn sonst für Dämonen?«

Suzze griff in ihre Handtasche. Sie zog etwas heraus, das von der anderen Seite des Schreibtischs wie ein Foto aussah. Sie starrte einen Moment lang drauf, dann schob sie es über den Schreibtisch zu Myron. Er sah es kurz an und wartete wieder darauf, dass sie etwas sagte.

Um das Schweigen zu brechen, sagte er schließlich: »Das ist ein Ultraschallbild von deinem Kind.«

»Yep. Mit achtundzwanzig Wochen.«

Weiter Schweigen. Wieder brach Myron es. »Stimmt irgendetwas mit dem Baby nicht?«

»Nein. Er ist perfekt.«

»Er?«

Suzze T lächelte. »Ich werde meinen eigenen kleinen Mann haben.«

»Ist doch cool.«

»Ja. Ach, es gibt noch einen Grund dafür, dass ich gekommen bin. Ich habe das mit Lex besprochen. Wir wollen, dass du der Pate wirst.«

»Ich?«

»Yep.«

Myron sagte nichts.

»Und?«

Jetzt hatte Myron feuchte Augen. »Es wäre mir eine Ehre.«

»Heulst du?«

Myron antwortete nicht.

»Du benimmst dich ja wie ein Mädchen«, sagte sie.

»Was ist los, Suzze?«

»Vielleicht ist es überhaupt nichts.« Dann: »Ich glaube, irgendjemand will mein Leben kaputtmachen.«

Myron sah weiter auf das Ultraschallbild. »Wie das?«

Und dann zeigte sie es ihm. Sie zeigte ihm die zwei Worte, die in seinem Herzen noch sehr lange und dumpf widerhallen sollten.

3

Eine Stunde später stolzierte Windsor Horne Lockwood III – den diejenigen, die ihn fürchteten (und das waren fast alle), als Win kannten – in Myrons Büro. Win konnte ausgezeichnet stolzieren – es wirkte fast so, als trüge er einen schwarzen Smoking mit Rockschößen und Zylinder und wirbelte dazu einen Spazierstock herum. Stattdessen trug er eine rosa-grüne Lilly-Pulitzer-Krawatte, einen blauen Blazer mit einer Art Wappen auf der Brust und Khakis mit einer so scharfen Bügelfalte, dass man sich daran schneiden konnte, und dazu Mokassins ohne Socken. Im Grunde sah er so aus, als käme er direkt von einem Segeltörn mit der SS Altes Geld.

»Suzze T war gerade da«, sagte Myron.

Win nickte. »Ich hab sie noch gesehen.«

»Sah sie besorgt aus?«

»Ist mir nicht aufgefallen«, sagte Win und setzte sich. Dann: »Ihre Brüste waren sehr prall.«

Win.

»Sie hat ein Problem«, sagte Myron.

Win lehnte sich zurück und schlug mit der ihm eigenen, gespannten Leichtigkeit die Beine übereinander. »Erzähl.«

Myron drehte den Computermonitor so, dass Win ihn sehen konnte. Suzze hatte vor ungefähr einer Stunde etwas Ähnliches getan. Myron dachte über die beiden Worte nach. Für sich genommen waren sie vollkommen harmlos, allerdings ging es im Leben immer um Zusammenhänge. Und in diesem Zusammenhang wurde es durch diese beiden Worte kühler im Raum.

Win sah auf den Bildschirm, kniff die Augen zusammen und griff dann in seine Brusttasche. Er zog eine Lesebrille heraus. Er hatte sie sich vor gut einem Monat besorgt, und obwohl Myron es für unmöglich gehalten hatte, sah er damit noch hochnäsiger und arroganter aus als vorher. Außerdem deprimierte die Anwesenheit der Brille Myron ungemein. Win und er waren nicht alt – noch längst nicht –, aber, um die Golfanalogie zu bemühen, die Win benutzt hatte, als er die Brille in Myrons Gegenwart zum ersten Mal aufsetzte: »Wir sind ganz offiziell auf der Back Nine des Lebens.«

»Ist das eine Facebook-Seite?«, fragte Win.

»Ja. Suzze sagte, sie macht damit Werbung für ihre Tennisakademie.«

Win beugte sich etwas näher heran. »Ist das ihr Ultraschall?«

»Ja.«

»Und inwiefern kann man mit einem Ultraschallbild Werbung für eine Tennisakademie machen?«

»Das habe ich sie auch gefragt. Sie meinte, so eine Akademie bräuchte eine persönliche Note. Die Leute wollten nicht nur normale Werbung lesen.«

Win runzelte die Stirn. »Sie stellt ein Ultraschallbild von einem Fötus ins Netz?« Er sah Myron an. »Findest du das logisch?«

Das fand Myron nicht. Trotzdem – wo er Win mit der Lesebrille vor sich sah und sie gemeinsam über das moderne Leben mit den sozialen Netzwerken jammerten – kam er sich alt vor.

»Achte auf die Kommentare unter dem Bild«, sagte Myron.

Win sah ihn mit ausdrucksloser Miene an. »Die Leute kommentieren ein Ultraschallbild?«

»Lies sie einfach.«

Win las. Myron wartete. Er kannte die Seite inzwischen fast auswendig. Es gab insgesamt 26 Kommentare zu dem Bild, meistens Glückwünsche. Suzzes Mutter, das (alt gewordene) Paradebeispiel einer überehrgeizigen Tennismutter, hatte geschrieben: »An alle: Ich werde Oma. Juhu!« Jemand namens Amy sagte: »Och, niedlich!!!« Ein scherzhaftes: »Ganz der Vater! ;)«, von einem Studiodrummer, der mit HorsePower zusammengearbeitet hatte. Ein Kelvin schrieb: »Glückwunsch!!« Tami fragte: »Wann soll das Baby denn kommen, Schatz?«

Beim dritten von unten stoppte Win. »Witzbold.«

»Welcher?«

»Ein Scheißtyp namens Erik hat geschrieben« – Win räusperte sich und beugte sich näher an den Monitor – : »… Dein Baby sieht aus wie ein Seepferdchen‹, dann hat Erik der Spaßvogel noch ein ›LOL‹ angefügt.«

»Das ist nicht das Problem.«

Win beruhigte das nicht. »Trotzdem sollte man dem guten Erik eventuell einen Besuch abstatten.«

»Lies einfach weiter.«

»Gut.« Wins Miene zeigte nur sehr selten eine Regung. Sowohl für Geschäftsangelegenheiten als auch für Kämpfe hatte er sich antrainiert, sich nichts anmerken zu lassen. Aber ein paar Sekunden später sah Myron, wie sich die Augen seines alten Freundes verdunkelten. Win blickte auf. Myron nickte. Denn Myron wusste, dass Win die beiden Worte entdeckt hatte.

Sie standen ganz unten auf der Seite. Sie standen in einem Kommentar von »Abeona S«, ein Name, der Myron nichts sagte. Das Profilbild war eine Art Symbol, vielleicht ein chinesischer Buchstabe. Und daneben standen in Großbuchstaben ohne irgendwelche Satzzeichen die beiden einfachen und doch so aufwühlenden Worte:

»NICHT SEINS«

Schweigen.

Dann sagte Win: »Autsch.«

»Eben.«

Win nahm die Brille ab. »Muss ich die offensichtliche Frage stellen?«

»Die da lautet?«

»Ist es wahr?«

»Suzze schwört, dass es von Lex ist.«

»Glauben wir ihr?«

»Das tun wir«, sagte Myron. »Ist das wichtig?«

»Rein moralisch gesehen nicht, nein. Willst du meine Theorie hören? Das ist das Werk eines kastrierten Spinners.«

Myron nickte. »Das ist das Gute am Internet: Jeder bekommt eine Stimme. Das Schlechte am Internet: Jeder bekommt eine Stimme.«

»Es ist die Bastion der Feiglinge und Namenlosen«, pflichtete Win ihm bei. »Suzze sollte das lieber löschen, bevor Lex es sieht.«

»Zu spät. Das ist ein Teil des Problems. Lex ist irgendwie abgehauen.«

»Verstehe«, sagte Win. »Dann sollen wir ihn suchen.«

»Und nach Hause bringen, ja.«

»Dürfte nicht allzu schwer sein, einen berühmten Rockstar zu finden«, sagte Win. »Und der andere Teil des Problems?«

»Sie will wissen, wer das geschrieben hat.«

»Die wahre Identität von Mr. Kastrierter Spinner?«

»Suzze meint, es steckt mehr dahinter. Sie glaubt, irgendjemand hat es richtig auf sie abgesehen.«

Win schüttelte den Kopf. »Das ist ein kastrierter Spinner.«

»Komm schon. Einfach ›Nicht seins‹ zu schreiben ist schon ziemlich krank.«

»Dann ist es eben ein kranker kastrierter Spinner. Hast du dir diesen Mist im Internet schon mal genauer angesehen? Geh auf irgendeine Nachrichtenseite und sieh dir die rassistischen, homophoben, paranoiden ›Kommentare‹ an.« Er zeichnete mit den Fingern Anführungszeichen in die Luft. »Da möchte man am liebsten den Mond anheulen.«

»Ich weiß, aber ich habe ihr versprochen, mich darum zu kümmern.«

Win seufzte, setzte die Brille wieder auf und beugte sich zum Monitor. »Das wurde von einer Person namens Abeona S gepostet. Können wir davon ausgehen, dass es sich dabei um ein Pseudonym handelt?«

»Yep. Abeona ist der Name einer römischen Göttin. Ich hab keine Ahnung, wofür das S steht.«

»Und was ist mit dem Profilbild? Was für ein Symbol ist das?«

»Keine Ahnung.«

»Hast du Suzze gefragt?«

»Yep. Sie hat gesagt, sie weiß es nicht. Es sieht ein bisschen aus wie ein chinesischer Buchstabe.«

»Vielleicht finden wir jemanden, der ihn uns erklären kann.« Win lehnte sich zurück und legte die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Ist dir auch aufgefallen, wann der Kommentar gepostet wurde?«

Myron nickte. »Um drei Uhr siebzehn nachts.«

»Verdammt spät.«

»Das hab ich auch gedacht«, sagte Myron. »Es könnte einfach das Gegenstück zu ›betrunken anrufen‹ in sozialen Netzwerken sein.«

»Ein rachsüchtiger Ex?«, sagte Win.

»Gibt es auch andere?«

»Und wenn ich an Suzzes zügellose Vergangenheit denke, könnte es, vorsichtig gesprochen, mehrere Kandidaten geben.«

»Allerdings keinen, bei dem sie ein solches Verhalten für möglich hält.«

Win starrte weiter auf den Monitor. »Und wie fangen wir jetzt an?«

»Ehrlich?«

»Wie bitte?«

Myron stand auf und ging ein paar Schritte in seinem renovierten Büro auf und ab. Die Poster von Broadway-Musicals und die Batman-Memorabilien waren verschwunden. Er hatte sie vor dem Streichen abgenommen und wusste nicht, ob er sie wieder aufhängen würde. Auch die alten Trophäen und Auszeichnungen aus seiner Sportlerzeit waren weg – die Meisterschaftsringe der Universitätsliga, die Urkunden der Zeitschrift Parade, die ihn als Mitglied der Studentennationalmannschaft auszeichnete, und der Pokal als Universitätsspieler des Jahres – mit einer Ausnahme: Direkt vor seinem ersten Profispiel für die Boston Celtics, als sein Traum endlich wahr wurde, hatte Myron eine schwere Knieverletzung erlitten, worauf die Sports Illustrated sein Foto auf die Titelseite gesetzt und in Großbuchstaben gefragt hatte: IST ER ERLEDIGT? Obwohl die Antwort im zugehörigen Artikel noch offen gelassen wurde, sollte sich herausstellen, dass die Antwort ein lautes und deutliches ›YEP!‹ war. Er wusste nicht recht, warum er die gerahmte Titelseite wieder aufgehängt hatte. Wenn ihn jemand danach fragte, antwortete er, es diene als Warnung für all die »Superstars«, die in sein Büro kamen, damit sie nicht vergaßen, wie schnell alles vorbei sein konnte – Myron nahm aber an, dass noch mehr dahintersteckte.

»Das ist nicht unsere übliche Vorgehensweise«, sagte Myron.

»Ach, erzähl.«

»Dies ist normalerweise die Stelle, an der du mir erzählst, dass ich Agent bin und nicht Privatdetektiv und dass du keinen Sinn darin siehst, dass wir uns darum kümmern, weil kein finanzieller Gewinn dabei herausspringt.«

Win sagte nichts.

»Dann beklagst du dich normalerweise, dass ich einen Heldenkomplex hätte und dauernd jemanden retten müsste, um mich als vollständiger Mensch zu fühlen. Und letztlich – oder soll ich sagen, erst vor kurzem – hast du mir erzählt, dass meine Einmischung tatsächlich mehr Schlechtes als Gutes bewirkt und ich womöglich mehr Menschen verletzt oder sogar umgebracht als gerettet hätte.«

Win gähnte. »Und worauf willst du hinaus?«

»Ich dachte, das wäre ziemlich offensichtlich, aber gut: Warum bist du plötzlich bereit – oder sogar davon angetan –, ausgerechnet diese Rettungsmission anzugehen, während du in der Vergangenheit …«

»Auch in der Vergangenheit«, unterbrach Win, »habe ich dir immer geholfen, richtig?«

»Im Großen und Ganzen schon, ja.«

Win blickte auf und klopfte sich mit dem Zeigefinger ans Kinn. »Wie soll ich das erklären?« Er schwieg, überlegte, nickte. »Wir neigen dazu zu glauben, dass die guten Dinge ewig bestehen. Das liegt in unserer Natur. Die Beatles zum Beispiel. Ach, die wird’s ewig geben. Oder die Sopranos – die Serie wird immer irgendwo laufen. Die Zuckerman-Romane von Philip Roth. Bruce-Springsteen-Konzerte. Gute Dinge sind selten. Man muss sie hegen und pflegen, weil sie schließlich doch immer zu früh enden.«

Win stand auf und ging zur Tür. Bevor er das Zimmer verließ, sah er sich noch einmal um.

»So etwas mit dir zusammen zu machen«, sagte Win, »gehört zu diesen guten Dingen.«

4

Sie brauchten nicht lange, um Lex Ryder aufzuspüren.

Esperanza Diaz, Myrons Geschäftspartnerin bei MB Reps, rief Myron um 23 Uhr an und sagte: »Lex hat gerade im Three Downing mit seiner Kreditkarte bezahlt.«

Myron war, wie so oft, in Wins Apartment im legendären Dakota-Building mit dem Ausblick auf den westlichen Central Park an der Ecke 72nd Street. Win hatte das eine oder andere Gästezimmer. Das Dakota war 1884 erbaut worden, was man ihm auch ansah. Der festungsartige Bau war schön, düster und irgendwie auf wunderbare Art deprimierend. Es war eine wilde Gemengelage aus Dächern, Balkonen, Kreuzblumen, Ziergiebeln, Balustraden, Kuppeln, Bogengängen, Ziergeländern, Dachgauben – eine aberwitzige Kombination, bei der alles nahtlos zusammenpasste, so dass es eher quälend perfekt als überwältigend wirkte.

»Was ist das Three Downing?«, fragte Myron.

»Du kennst das Three Downing nicht?«, fragte Esperanza.

»Sollte ich?«

»Das ist im Moment wahrscheinlich der angesagteste Club in der Stadt. Diddy, Supermodels, die Modeszene und so weiter. In Chelsea.«

»Oh.«

»Ich bin schon etwas enttäuscht«, sagte Esperanza.

»Wovon?«

»Dass ein Playboy deines Formats nicht alle angesagten Läden kennt.«

»Wenn ich mit Diddy unterwegs bin, fahren wir in der Hummer-Strechlimousine direkt in die Tiefgarage und nehmen da den Fahrstuhl. Da kann man sich nicht an jeden Namen erinnern.«

»Oder du bist durch die Verlobung einfach etwas gehemmt«, sagte Esperanza. »Also, willst du hinfahren und ihn abholen?«

»Ich bin im Schlafanzug.«

»Ja, ein echter Playboy. Hat dein Schlafanzug auch so kleine Füßlinge?«

Myron sah noch einmal auf die Uhr. Wenn er sich beeilte, war er noch vor Mitternacht Downtown. »Ich mach mich auf den Weg.«

»Ist Win da?«, fragte Esperanza.

»Nein, er ist noch unterwegs.«

»Dann fährst du allein hin?«

»Machst du dir Sorgen, dass einem so leckeren Happen wie mir in so einem Club was passieren könnte?«

»Ich mach mir Sorgen, dass sie dich nicht reinlassen. Wir treffen uns da. In einer halben Stunde. Vorm Eingang in der 17th Street. Ach so, und du musst die Leute mit deinem Aussehen beeindrucken, also zieh dich entsprechend an.«

Esperanza legte auf. Myron war überrascht. Seit sie ein Kind hatte, war Esperanza, das bisexuelle ehemalige Partygirl, das oft die Nacht durchgemacht hatte, abends so gut wie gar nicht mehr weggegangen. Ihre Arbeit hatte sie immer ernst genommen  – ihr gehörten inzwischen 49 Prozent von MB Reps, und durch Myrons seltsame Reisen in letzter Zeit hatte sie eigentlich den Großteil der Arbeit gemacht. Aber nachdem sie mehr als zehn Jahre ein so ausschweifendes Nachtleben geführt hatte, dass selbst Caligula neidisch geworden wäre, hatte Esperanza von einem Tag auf den anderen damit aufgehört, den überkorrekten Tom geheiratet und ihren Sohn Hector genannt. Sie hatte sich in nicht einmal viereinhalb Sekunden von Lindsey Lohan in Carol Brady verwandelt.

Myron sah in den Schrank und überlegte, was er in einem angesagten Club tragen könnte. Esperanza hatte gesagt, er solle die Leute beeindrucken, also entschied er sich für den bewährten und erprobten Mr. Casual Chic – Jeans, blauer Blazer, teure Mokassins –, vor allem, weil es das Einzige war, dass er in dieser Richtung besaß. Er hatte nichts im Schrank, das zwischen Jeans und Blazer und einem richtigen Anzug lag – falls er nicht wie ein Verkäufer in einem Elektromarkt aussehen wollte.

Er stieg am Central Park West in ein Taxi. Das Klischee über Taxifahrer in Manhattan besagte, dass sie alle Ausländer sind und kaum ein Wort Englisch sprachen. Das mochte durchaus zutreffen, Myron hatte allerdings seit mindestens fünf Jahren nicht mehr mit einem Taxifahrer gesprochen. Trotz der neuen Gesetze hatte jeder Taxifahrer in New York City rund um die Uhr ein Bluetooth Headset fürs Handy am Ohr und unterhielt sich darüber leise in seiner Muttersprache mit irgendjemandem. Abgesehen von den etwas zweifelhaften Umgangsformen fragte Myron sich immer, wer bereit war, den ganzen Tag mit ihnen zu reden. Da es aber offensichtlich jemanden gab, durfte man annehmen, dass New Yorks Taxifahrer sehr glückliche Menschen waren.

Myron war davon ausgegangen, dass er vor dem Eingang eine lange Schlange, eine Samtkordel oder etwas Ähnliches sehen würde, aber als sie an die 17th Street kamen, war nichts von einem Club zu entdecken. Schließlich kam ihm der Gedanke, dass die »Three« für den dritten Stock stand und Downing der Name des Hochhauses vor ihm war. Offenbar hatte er es mit einem Vertreter der MB-Reps-Schule für selbsterklärende Firmennamen zu tun.

Der Fahrstuhl hielt in der dritten Etage. Als die Tür sich öffnete, spürte Myron die tiefen Bässe der Musik in der Brust. Direkt vor ihm begann die lange Schlange verzweifelter Möchtegernclubbesucher. Angeblich gingen die Leute in Clubs wie diesen, um Spaß zu haben, in Wahrheit standen die meisten jedoch nur in der Schlange, womit ihnen noch einmal ganz deutlich mitgeteilt wurde, dass sie immer noch nicht cool genug waren, um beim Mittagessen in der Schule am Tisch mit den beliebten Kindern zu sitzen. VIPs gingen an ihnen vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, aber irgendwie wollten die Wartenden deshalb nur noch dringender hinein. Ihr niedriger Status wurde natürlich auch durch eine Samtkordel bekräftigt, die von drei anabolikagemästeten Türstehern mit kahlrasierten Schädeln und finsteren Blicken bewacht wurde.

Myron stolzierte in seinem besten Win-Schritt auf sie zu. »Hey, Jungs.«

Die Türsteher beachteten ihn nicht. Der Größte von ihnen trug einen schwarzen Anzug ohne Hemd. Ganz ohne. Jackett ohne Hemd. Seine Brust war ordentlich enthaart und zeigte ein beeindruckendes metrosexuelles Dekolleté. Er beschäftigte sich gerade mit einer Gruppe aus vier etwa einundzwanzigjährigen jungen Frauen. Alle trugen aberwitzig hohe Absätze – hohe Absätze waren dieses Jahr eindeutig angesagt –, daher pendelten sie mehr, als dass sie gingen. Ihre Kleider waren so knapp, dass man sie wegen Unzucht hätte festnehmen können, das war aber alles eigentlich nicht neu.

Der Türsteher begutachtete sie mit prüfendem Blick wie ein Viehauktionator. Die Mädchen posierten lächelnd. Myron rechnete schon fast damit, dass sie den Mund öffneten, damit er ihre Zähne begutachten könnte.

»Ihr drei seid okay«, sagte Dekolleté zu ihnen. »Aber eure Freundin hier ist zu pummelig.«

Das pummelige Mädchen, das vielleicht Größe 36 hatte, fing an zu weinen. Ihre drei hageren Freundinnen bildeten einen Kreis und diskutierten, ob sie ohne sie reingehen sollten. Das pummelige Mädchen rannte schluchzend davon. Die anderen Mädchen zuckten die Achseln und gingen hinein. Die Türsteher grinsten.

Myron sagte: »Erste Sahne.«

Die grinsenden Gesichter wandten sich ihm zu. Dekolleté sah Myron herausfordernd in die Augen. Myron hielt dem Blick stand. Dekolleté musterte Myron von oben bis unten und fand ihn zweifelsohne ungenügend.

»Hübsches Outfit«, sagte Dekolleté. »Wollen Sie vor einem Verkehrsgericht gegen einen Strafzettel wegen Falschparkens angehen?«

Seinen Kumpanen, beide in sehr eng sitzenden Ed-Hardy-T-Shirts, gefiel der Spruch.

»Schon klar«, sagte Myron und deutete aufs Dekolleté. »Ich hätte das Hemd lieber zu Hause lassen sollen.«

Der Mund des Türstehers links von Dekolleté öffnete sich zu einem überraschten O.

Dekolleté deutete wie ein Schiedsrichter mit dem Daumen nach hinten. »Ab nach hinten in die Schlange, Kumpel. Oder am besten gehen Sie einfach wieder.«

»Ich bin hier, weil ich Lex Ryder sprechen will.«

»Und wer sagt, dass der hier ist?«

»Ich sag das.«

»Und Sie sind?«

»Myron Bolitar.«

Schweigen. Einer der drei blinzelte. Myron hätte fast »Tah-dah«, gerufen, hielt sich aber zurück.

»Ich bin sein Agent.«

»Ihr Name steht nicht auf der Liste«, sagte Dekolleté.«

»Und wir kennen Sie nicht«, ergänzte Überraschtes-O.

»Also …« Der dritte Türsteher winkte mit dem fleischigen Zeigefinger. »Bye-bye.«

»Ironie«, sagte Myron.

»Was?«

»Seht ihr Jungs die Ironie nicht?«, fragte Myron. »Ihr seid Türsteher an einem Laden, in den ihr selbst nie reinkommen würdet – und statt das zu erkennen und euch den Leuten gegenüber etwas menschlicher zu verhalten, kompensiert ihr das, indem ihr euch wie Arschlöcher benehmt und verletzende Witze reißt.«

Sie blinzelten. Dann traten alle drei wie eine einzige Wand aus Brustmuskeln einen Schritt auf ihn zu. Myron spürte seinen Herzschlag. Unwillkürlich ballte er die Fäuste. Dann öffnete er sie wieder und versuchte, ruhig weiterzuatmen. Sie traten noch einen Schritt näher. Myron wich nicht zurück. Dekolleté, der Anführer, beugte sich zu ihm.

»Du gehst jetzt besser, mein Junge.«

»Warum? Bin ich zu pummelig? Ach übrigens, mal ganz im Ernst, macht diese Jeans einen dicken Hintern? Ihr könnt es mir ruhig sagen.«

In der langen Schlange aus Möchtegernbesuchern wurde es angesichts der Provokation still. Die Türsteher sahen sich an. Myron verfluchte sich selbst. So würde er nicht weiterkommen. Er war hier, um Lex zu holen, nicht um einen Streit mit einer Horde wütender, von Anabolika benebelter Schläger anzufangen.

Dekolleté lächelte und sagte: »Na sieh mal einer an. Da haben wir es wohl mit einem Komiker zu tun.«

»Ja«, sagte Überraschtes-O, »ein Komiker. Ha-ha.«

»Ja«, sagte sein Partner. »Du bist ein echter Komiker, was, du Witzbold?«

»Also«, sagte Myron, »ich will ja nicht unbescheiden wirken, aber ich bin auch ein toller Sänger. Normalerweise fange ich mit The Tears of a Clown an, mach dann mit einer ganz schlichten Version von Lady weiter – eher die Kenny-Rogers-Version als die von Lionel Richie. Da bleibt kein Auge trocken.«

Dekolleté beugte sich ganz nah an Myrons Ohr. Auch seine Kumpel senkten den Kopf. »Dir ist schon klar, dass wir dir jetzt den Arsch versohlen müssen?«

»Und dir ist sicher bekannt, dass von Anabolika die Hoden schrumpfen?«

Dann sagte Esperanza hinter ihm: »Er gehört zu mir, Kyle.«

Myron drehte sich um, sah Esperanza und es gelang ihm, nicht laut Wow zu sagen, obwohl es ihm nicht leichtfiel. Er kannte Esperanza inzwischen seit zwanzig Jahren, hatte Seite an Seite mit ihr gearbeitet, und wenn man jemanden jeden Tag sah, zu besten Freunden wurde, vergaß man manchmal einfach, was für eine scharfe Braut sie war. Als sie sich kennenlernten, war Esperanza eine knapp bekleidete Proficatcherin gewesen, die unter dem Namen Little Pocahontas auftrat. Zierlich, geschmeidig und so heiß, dass einem die Zähne im Mund schmolzen, hatte das Glamourgirl die FLOW (Fabulous Ladies of Wrestling) verlassen, um seine Assistentin zu werden, während sie in Abendkursen Jura studierte. Dann hatte sie sich über die Jahre hochgearbeitet und war inzwischen Myrons Partnerin bei MB Reps.

Auf Dekolleté Kyles Gesicht breitete sich ein Lächeln aus. »Poca? Mädchen, bist du das wirklich? Du siehst so gut aus, man möchte an dir lecken wie an einem Eis.«

Myron nickte. »Cooler Spruch, Kyle.«

Esperanza bot ihm die Wange für einen Kuss an. »Ich freu mich auch, dich zu sehen«, sagte sie.

»Ist viel zu lange her, Poca.«

Esperanzas dunkle Schönheit rief Bilder von sternenklaren Himmelszelten, nächtlichen Strandspaziergängen und Olivenbäumen in sanftem Wind hervor. Sie trug Kreolen. Ihre langen, schwarzen Haare waren wie immer perfekt verstrubbelt. Die schneeweiße Bluse saß wie von einer wohlwollenden Gottheit geschneidert. Sie war zwar womöglich einen Knopf zu weit geöffnet, sah aber einfach fantastisch aus.

Die drei Schläger traten zurück. Einer öffnete die Samtkordel. Esperanza belohnte ihn mit einem strahlenden Lächeln. Als Myron ihr folgte, stellte Dekolleté Kyle sich so hin, dass Myron ihn im Vorbeigehen berühren musste. Myron spannte die Muskeln, damit Kyle den Zusammenstoß spürte. Esperanza seufzte: »Männer.«

Dekolleté Kyle flüsterte Myron zu: »Mit dir bin ich noch nicht fertig, Jungchen.«

»Wir könnten mal zusammen essen gehen«, sagte Myron. »Und hinterher vielleicht noch in die Nachmittagsvorstellung von South Pacific.«

Als sie im Club waren, warf Esperanza Myron einen finsteren Blick zu und schüttelte den Kopf.

»Was ist?«

»Ich hab gesagt, du sollst dich so anziehen, dass die Leute beeindruckt sind. Du siehst aus, als wolltest du zur Elternversammlung eines Fünftklässlers.«

Myron deutete auf seine Füße. »In Ferragamo-Mokassins?«

»Und wieso fängst du Streit mit diesen Neandertalern an?«

»Er hat ein Mädchen pummelig genannt.«

»Und da bist du zu ihrer Rettung herbeigeeilt?«

»Äh, nein. Aber er hat es ihr direkt ins Gesicht gesagt. ›Deine Freundinnen können rein, du aber nicht, weil du zu pummelig bist.‹ Wer macht denn so was?«

Der Hauptsaal des Clubs war dunkel bis auf ein paar Neoneffekte. Es gab einen Bereich mit Großbildfernsehern. Was sollte man in einem Club auch machen, außer Fernsehen zu gucken, dachte Myron. Die Soundanlage, die etwa die Ausmaße der Lautsprechertürme bei einem Stadionkonzert von The Who hatte, griff ihre Sinne an. Der DJ spielte House, eine Musikform, bei der der ›begnadete‹ DJ einen womöglich durchaus anständigen Song nahm und ihn total verhunzte, indem er einen synthetischen Bass oder elektronischen Beat darunterlegte. Außerdem lief eine Lasershow, etwas, von dem Myron angenommen hatte, dass es etwa 1979 nach der Tournee von Blue Öyster Cult aus der Mode gekommen war, und eine Schar junger, bleistiftdünner Mädchen ohhte und ahhte über einen Spezialeffekt, mit dem die Tanzfläche in Rauch gehüllt wurde, als würde man das nicht bei nahezu jedem Versorgungswagen der Stadtwerke auch auf der Straße sehen.

Myron versuchte vergeblich, die Musik durch lautes Schreien zu übertönen. Esperanza führte ihn in einen ruhigeren Bereich mit – ausgerechnet – Internetterminals. Sie waren alle besetzt. Wieder schüttelte Myron den Kopf. Gingen die Menschen wirklich in einen Club, um dort im Internet zu surfen? Er sah hinter sich auf die Tanzfläche. Im rauchigen Licht waren die Frauen alle recht attraktiv, wenn sie auch sehr jung waren und in ihrer Kleidung oft so aussahen, als würden sie nur Erwachsene spielen. Die meisten Frauen hielten ihre Handys in den dünnen Fingern, simsten und tanzten so verträumt, dass es schon fast komatös wirkte.

Esperanza lächelte.

»Was ist?«, fragte Myron.

Sie deutete auf die rechte Seite der Tanzfläche. »Guck dir mal den Hintern von der Braut in Rot an.«

Myron sah die karmesinroten Backen an und musste an den Song von Alejandro Escovedo denken: »I like her better when she walks away.« Es war lange her, seit Myron so etwas von Esperanza gehört hatte.

»Nett«, sagte Myron.

»Nett?«

»Fantastisch.«

Esperanza nickte immer noch lächelnd. »Mit so einem Hintern könnte ich einiges anstellen.«

Als Myron erst die ziemlich sinnliche Tänzerin und dann Esperanza ansah, entstand ein Bild in seinem Kopf. Er schob es sofort wieder beiseite. Es gibt Orte, an die die Gedanken sich lieber nicht begeben sollten, wenn man versuchte, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. »Dein Mann fände das bestimmt ganz prima.«

»Ich bin verheiratet, nicht tot. Ich darf doch wohl noch gucken.«

Myron sah ihr in die Augen, beobachtete die Begeisterung, die darin lag, und hatte das seltsame Gefühl, dass sie wieder in ihrem Element war. Vor zwei Jahren, als ihr Sohn Hector geboren wurde, hatte Esperanza sofort in den Mamamodus gewechselt. Mit einem Schlag war auf ihrem Schreibtisch ein Potpourri der üblichen, kitschigen Fotos erschienen: Hector mit dem Osterhasen, Hector mit dem Weihnachtsmann, Hector mit Disney-Figuren und auf den Kinderkarussells in Hershey Park. Esperanzas beste Geschäftskostüme waren oft fleckig, weil ihr Sohn sich darauf erbrochen hatte, und statt die Flecken zu kaschieren, erzählte sie lieber, wie sie dahin gekommen waren. Sie freundete sich mit mütterlichen Frauen an, bei deren Anblick sie früher Brechreiz bekommen hätte, und diskutierte die Vor- und Nachteile von Maclaren-Kinderwagen, Montessori-Kindergärten, Darmbewegungen und in welchem Alter die jeweiligen Sprösslinge zuerst gekrabbelt, gelaufen oder gesprochen hatten. Ihre ganze Welt war, wie bei so vielen Müttern vor ihr – und ja, diese Aussage hatte etwas Sexistisches –, auf die Größe ihres Babys zusammengeschrumpft.

»Und wo würde Lex sich aufhalten?«

»Wahrscheinlich in einem der VIP-Räume.«

»Wie kommen wir da rein?«

»Ich mache noch einen Knopf auf«, sagte Esperanza. »Im Ernst, überlass das mir. Ich brauch nur ein bis zwei Minuten. Geh auf die Toilette. Ich wette zwanzig Mäuse, dass du nicht ins Urinal pinkeln kannst.«

»Was?«

»Schlag einfach ein und geh«, sagte sie und deutete nach rechts.

Myron zuckte die Achseln und ging zur Toilette. Sie war dunkel, schwarz und aus Marmor. Er ging zum Urinal und wusste sofort, was Esperanza gemeint hatte. Die Urinale waren an einer riesigen Wand aus halbdurchlässigem Spiegelglas angebracht, fast wie in einem Verhörraum bei der Polizei. Man sah also alles, was auf der Tanzfläche passierte. Die verträumten Frauen waren nur etwas mehr als einen Meter von ihm entfernt, und manche nutzten die Spiegelseite des Glases, um ihr Aussehen zu prüfen, weil sie nicht wussten (oder vielleicht nur zu gut wussten), dass sie auf einen Mann starrten, der versuchte, sich zu erleichtern.

Er ging wieder raus. Esperanza erwartete ihn mit ausgestreckter Hand. Myron legte einen Zwanzigdollarschein hinein.

»Dann kannst du wohl immer noch nicht pinkeln, wenn jemand zuguckt.«

»Ist das in der Damentoilette genauso?«

»Das willst du nicht wissen.«

»Und was jetzt?«

Esperanza zeigte mit dem Kinn auf einen Mann mit nach hinten gegelten Haaren, der auf sie zuglitt. Beim Ausfüllen seines Bewerbungsformulars musste nach Myrons Ansicht gestanden haben: Nachname: Abschaum. Vorname: Euro. Myron suchte auf dem Weg hinter ihm nach Schleimspuren.

Euro lächelte Esperanza mit Frettchenzähnen zu. »Poca, mi amor.«

»Anton«, sagte sie und reichte ihm mit einem Hauch zu viel Begeisterung die Hand zum Handkuss. Myron fürchtete, er würde ihr mit seinen Frettchenzähnen die Haut bis auf die Knochen abnagen.

»Du bist immer noch ein unglaublich herrliches Wesen, Poca.«

Er sprach mit einem eigenartigen, vielleicht ungarischen, vielleicht aber auch arabischen Akzent, der klang, als hätte er sich ihn extra für einen Comedy-Sketch ausgedacht. Anton war unrasiert, und die Stoppeln in seinem Gesicht glitzerten unangenehm. Er trug eine Sonnenbrille, obwohl es hier dunkel wie in einer Höhle war.

»Das ist Anton«, stellte Esperanza ihn vor. »Er sagt, Lex ist im Flaschenservice.«

»Ach«, sagte Myron, der keine Ahnung hatte, was Flaschenservice war.

»Folgen Sie mir«, sagte Anton.

Sie durchquerten ein Meer von Körpern. Esperanza ging vor ihm. Myron beobachtete fasziniert, wie sich jeder Kopf nach ihr umdrehte, um einen zweiten Blick zu erhaschen. Als sie sich weiter durch die Menge schlängelten, erwiderten ein paar Frauen Myrons Blick und hielten auch Blickkontakt, allerdings nicht so viele, wie es vor ein, zwei oder fünf Jahren gewesen wären. Er kam sich vor wie ein alternder Baseballpitcher, der eine Radarpistole brauchte, um zu realisieren, dass sein schneller Wurf langsamer wurde. Aber vielleicht lief hier auch etwas anderes ab. Vielleicht spürten die Frauen einfach, dass Myron jetzt verlobt, dass er nicht mehr zu haben war, weil die liebreizende Terese Collins ihn für sich beanspruchte, so dass sie ihre Blicke nicht mehr an ihm weiden durften.

Yep, dachte Myron. Ganz genau. Das musste es sein.

Anton zog einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete die Tür zu einem anderen Raum – und damit in eine andere Welt. Während der eigentliche Club eine glänzende Technowelt aus glatten Oberflächen mit klaren Winkeln war, präsentierte sich diese VIP-Lounge im Stil früher amerikanischer Bordelle. Burgunderrote Plüschsofas, Kristallleuchter, eine lederbezogene Decke und brennende Kerzen an den Wänden. Auch dieser Raum war mit einer halbdurchlässigen Spiegelwand ausgestattet, so dass die VIPs den Mädchen beim Tanzen zusehen und womöglich ein paar auswählen konnten, damit sie ihnen Gesellschaft leisteten. Ein paar an Softpornomodels erinnernde Serviererinnen mit feisten Brustimplantaten in Korsetts und Strapsen stöckelten mit Champagnerflaschen umher, was dann auch, wie Myron schlussfolgerte, den Begriff Flaschenservice erklärte.

»Guckst du dir die vielen Flaschen an?«, fragte Esperanza.

»Äh, auch.«

Esperanza nickte, lächelte einer besonders gut gebauten Hostess in einem schwarzen Korsett zu. »Hmm … Ich könnte selbst ein bisschen Flaschenservice brauchen, wenn du verstehst, was ich meine.«

Myron dachte darüber nach. Dann: »Ehrlich gesagt, verstehe ich das nicht. Ihr seid beide Frauen, stimmt’s? Daher verstehe ich nicht, wie ich die Anspielung auf die Flasche einordnen soll.«

»Gott, musst du denn immer alles wörtlich nehmen?«

»Du hast gefragt, ob ich mir die Flaschen angucke. Wieso?«

»Weil sie Cristal-Champagner ausschenken«, sagte Esperanza.

»Und?«

»Wie viele von den Flaschen siehst du hier?«

Myron sah sich um. »Ich weiß nicht. Ungefähr neun oder zehn.«

»Die kosten acht Riesen pro Korkenknall. Trinkgeld geht extra.«

Myron legte die Hand auf die Brust, als hätte er Herzrasen. Dann sah er Lex Ryder, der sich umgeben von einer bunten Mischung reizender Damen auf einer Couch räkelte. Wenn man sich die anderen Männer im Raum ansah, wusste man sofort, dass man es mit alternden Musikern oder Roadies zu tun hatte – Haarverlängerungen, Kopftücher, Bärte, spindeldürre Arme, schlaffe Bäuche. Myron schob sich zwischen ihnen hindurch.

»Hi, Lex.«

Lex’ Kopf rollte zur Seite. Er blickte auf und rief viel zu begeistert: »Myron!«

Lex versuchte aufzustehen, kam aber nicht hoch, also bot Myron ihm seine Hand an. Lex ergriff sie, zog sich hoch und umarmte Myron mit dem gefühlsduseligen Enthusiasmus, den Männer nur zeigen, wenn sie zu viel getrunken haben. »Hey, Mann. Klasse, dass du auch hier bist.«

HorsePower hatte als kleine australische Band in Lex’ und Gabriels Heimatstadt Melbourne angefangen. Der Name setzte sich aus Lex’ Nachnamen Ryder (Horse-Ryder) und Gabriels Nachnamen Wire (Power-Wire) zusammen. Allerdings hatte es sich von Anfang an fast ausschließlich um Gabriel gedreht. Natürlich hatte Gabriel Wire eine wunderbare Stimme, und er war schon fast absurd attraktiv und besaß ein nahezu übernatürliches Charisma – aber dazu hatte er diese schwer zu fassende, unerklärliche »Man erkennt sie, wenn man sie sieht«-Ausstrahlung, die einen Großen zu einer Legende machte.

Muss ganz schön hart sein für Lex, hatte Myron oft gedacht – wie auch für jeden anderen –, so im Schatten eines anderen zu leben. Natürlich war Lex reich und berühmt, und offiziell waren auch alle Songs Wire-Ryder-Kompositionen, aber Myron, der sich um Lex’ Finanzen kümmerte, wusste auch, dass Lex 25 und Gabriel 75 Prozent bekam. Und natürlich war Lex von Frauen umlagert, und auch Männer versuchten, sich mit ihm anzufreunden – andererseits musste Lex auch immer wieder als Pointe in Late-Night-Shows herhalten, war die Zielscheibe aller Witze, in denen es um zweitrangige oder so gut wie überflüssige Nebenfiguren ging.

HorsePower war immer noch eine große Band, vielleicht sogar größer denn je, obwohl Gabriel Wire nach einem tragischen Skandal vor über fünfzehn Jahren komplett untergetaucht war. Mit Ausnahme von ein paar Paparazzifotos und jeder Menge Gerüchte hatte es in der ganzen Zeit so gut wie kein Lebenszeichen von ihm gegeben – keine Touren, keine Interviews, keine Pressetermine, keine öffentlichen Auftritte. Doch diese Geheimnistuerei steigerte den Hunger der Fans noch.

»Ich glaube, es wird Zeit, dass du nach Hause gehst, Lex.«

»Nee, Myron«, erwiderte Lex mit belegter Stimme, und Myron hoffte, dass das nur von Alkohol kam. »Komm schon. Wir amüsieren uns hier. Oder etwa nicht? Wir amüsieren uns doch, was Leute?«

Es gab mehrere zustimmende Äußerungen. Myron sah sich um. Einen oder zwei der Anwesenden hatte er wohl schon gelegentlich gesehen, namentlich kannte er jedoch nur Buzz, Lex’ langjährigen Bodyguard und rechte Hand. Buzz sah Myron an und zuckte die Achseln, als wollte er sagen, was kann ich machen?

Lex schlang Myron seinen Arm wie einen Kamerariemen um den Hals. »Setz dich zu mir, mein Freund. Trink einen mit. Entspann dich. Komm einfach ein bisschen runter.«

»Suzze macht sich Sorgen um dich.«

»Echt?« Lex zog eine Augenbraue hoch. »Und da hat sie ihren alten Laufburschen geschickt, damit er mich abholen kommt?«

»Genaugenommen bin ich auch dein Laufbursche, Lex.«

»Ach, Agenten. Der käuflichste aller Berufe.«

Lex trug eine schwarze Hose, eine schwarze Lederweste und sah insgesamt aus, als hätte er sich gerade bei Rockers R Us eingekleidet. Seine Haare waren grau geworden und sehr kurz geschnitten. Er ließ sich wieder auf die Couch fallen und sagte: »Setz dich, Myron.«

»Wie wär’s, wenn wir ein paar Schritte spazieren gehen, Lex?«

»Du hast doch gerade gesagt, dass du auch mein Laufbursche bist, oder? Also setz dich hin.«

Er hatte recht. Myron suchte sich einen freien Platz und versank tief im Polster. Lex drehte einen Knopf, und die Musik wurde leiser. Jemand reichte Myron ein Glas Champagner und verschüttete dabei etwas. Die meisten von den Damen in den engen Korsetts – und Myron musste zugeben, dass dieser Look immer funktionierte – waren jetzt ohne großes Aufhebens verschwunden. Esperanza redete auf diejenige ein, die sie sich beim Hereinkommen ausgeguckt hatte. Die anderen Männer im Raum beobachteten die beiden flirtenden Frauen mit der Faszination von Höhlenmenschen, die zum ersten Mal ein Feuer sahen.

Buzz rauchte eine Zigarette die, äh, komisch roch. Er wollte sie an Myron weiterreichen. Der schüttelte den Kopf und wandte sich wieder an Lex. Lex lehnte sich zurück, als hätte ihm jemand ein Mittel zur Muskelentspannung verabreicht.

»Hat Suzze dir den Kommentar gezeigt?«, fragte Lex.

»Ja.«

»Und wie siehst du das, Myron?«

»Ich denke, das ist irgendein Spinner, der es auf Psychospiele abgesehen hat.«

Lex trank einen kräftigen Schluck Champagner. »Meinst du wirklich?«

»Ja«, sagte Myron, »ist aber auch egal, wir leben im 21. Jahrhundert.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, es ist heutzutage keine große Sache mehr. Wenn dich das so sehr beunruhigt, kannst du einen DNA-Test machen und die Vaterschaft überprüfen lassen.«

Lex nickte bedächtig und trank noch einen kräftigen Schluck. Myron versuchte, nicht in den Agentenmodus zu verfallen, aber in der Flasche waren 750 ml, also sieben bis acht Gläser, geteilt durch 8000 Dollar, das machte gut 300 Dollar pro Schluck.

»Ich hab gehört, dass du dich verlobt hast«, sagte Lex.

»Yep.«

»Dann lass uns darauf trinken.«

»Oder nippen. Nippen ist billiger.«

»Entspann dich, Myron. Ich bin stinkreich.«

Auch wieder wahr. Sie tranken.

»Also, was macht dir Sorgen, Lex?«

Lex ignorierte die Frage. »Wie kommt’s, dass ich deine Zukünftige noch nicht kennengelernt habe?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

»Und wo ist sie?«

Myron blieb unbestimmt. »Im Ausland.«

»Darf ich dir einen Rat für die Ehe geben?«

»Wie wär’s mit: ›Glaub nicht an dumme Internetgerüchte über die Vaterschaft?‹«

Lex grinste: »Der war gut.«

Myron sagte. »Na ja.«

»Aber ich mein was anderes: Seid offen zueinander. Absolut offen.«

Myron wartete. Als nichts weiter kam, fragte er: »Das ist alles?«

»Hast du was Tiefsinnigeres erwartet?«

Myron zuckte die Achseln. »Irgendwie schon.«

»Kennst du diesen Song«, fragte Lex. »Eine Textzeile lautet: ›Your heart is like a parachute.‹ Weißt du wieso?«

»Ich glaube, dabei geht’s eigentlich um den Verstand, der mit einem Fallschirm verglichen wird, weil er nur funktioniert, wenn er offen ist.«

»Nee, das ist ein anderer, den kenn ich auch. Aber der Text ist noch besser. ›Dein Herz ist wie ein Fallschirm – es öffnet sich nur, wenn du fällst.‹« Er lächelte. »Gut, nicht?«

»Ich denke schon.«

»Wir haben alle Freunde im Leben, wie … na ja, nimm meine Kumpel hier. Ich mag sie, feiere mit ihnen, wir reden über das Wetter und Sport und heiße Bräute, aber wenn ich sie ein Jahr lang nicht sehen würde – oder auch nie wieder –, würde das in meinem Leben nicht viel verändern. Und so ist das bei den meisten Leuten, die wir kennen.«

Er trank noch einen Schluck. Die Tür hinter ihnen wurde geöffnet. Eine Gruppe kichernder Frauen kam herein. Lex schüttelte den Kopf, und sie verschwanden wieder durch die Tür. »Und dann«, fuhr er fort, »hat man gelegentlich einen echten Freund. Wie Buzz da drüben. Wir reden über alles. Wir wissen, wie der andere wirklich tickt, kennen die Wahrheit – jeden Fehler und jede Verkommenheit. Hast du auch solche Freunde?«

»Esperanza weiß, dass ich nicht pinkeln kann, wenn jemand zuguckt«, sagte Myron.

»Was?«

»Vergiss es. Erzähl weiter. Ich weiß, was du meinst.«

»Genau, also, wahre Freunde. Denen verrät man auch den kranken Scheiß, der einem im Kopf rumgeht. Das Hässliche und Verkommene.« Er setzte sich auf, kam langsam richtig in Fahrt. »Und weißt du, was das Komische daran ist? Weißt du, was passiert, wenn man vollkommen offen ist, so dass der andere erkennt, wie kaputt und degeneriert man eigentlich ist?«

Myron schüttelte den Kopf.

»Dieser Freund oder Partner liebt dich noch mehr als vorher. Allen anderen gegenüber setzt man diese Fassade auf, weil man den ganzen Mist dahinter verstecken will, damit die Leute einen mögen. Aber den wahren Freunden offenbart man diesen Mist – und die versuchen dann, sich um dich zu kümmern. Wenn man die Fassade fallen lässt, kommt man sich näher. Aber warum machen wir das dann nicht bei allen, Myron? Das frag ich dich.«

»Ich nehme an, du wirst mir das gleich sagen.«

»Ich hab keinen blassen Dunst.« Lex lehnte sich zurück, trank einen Schluck, legte den Kopf gedankenverloren auf die Seite. »Aber eins ist klar: Die Fassade ist naturgemäß eine Lüge. Das ist meistens völlig okay. Aber wenn man sich der Person gegenüber, die man am meisten liebt, nicht öffnet – wenn man seine Fehler nicht offenbart –, kann man keine echte Beziehung eingehen. Man versteckt seine Geheimnisse. Und irgendwann fangen diese Geheimnisse an zu eitern und zu schwären und zerstören die Beziehung.«

Wieder wurde die Tür geöffnet. Vier Frauen und zwei Männer stolperten kichernd und lächelnd mit dem unanständig teuren Champagner in der Hand herein.

»Und welche Geheimnisse hast du Suzze verschwiegen?«, fragte Myron.

Lex schüttelte nur den Kopf. »Das ist keine Einbahnstraße, Kumpel.«

»Und welche Geheimnisse verschweigt Suzze dir?«

Lex antwortete nicht. Er sah durch den Raum. Myron drehte sich um und folgte seinem Blick.

Und dann sah er sie.

Zumindest glaubte er, sie zu sehen. Nur einen kurzen Augenblick lang, im dämmrigen Kerzenschein auf der anderen Seite der VIP-Lounge. Myron hatte sie seit der verschneiten Nacht vor sechzehn Jahren nicht mehr gesehen, als ihr mit dickem Bauch und Tränen in den Augen das Blut durch die Finger sickerte. Er hatte nicht einmal darauf geachtet, wo sie gerade wohnten, sondern nur zufällig mitgekriegt, dass sie wohl gerade irgendwo in Südamerika lebten.

Dann begegneten sich ihre Blicke quer durch den Raum für höchstens eine Sekunde. Und so unwahrscheinlich es auch klang, plötzlich war Myron hundertprozentig sicher.

»Kitty?«

Seine Stimme wurde von der lauten Musik übertönt, aber Kitty zögerte keinen Moment. Ihre Augen weiteten sich kurz – vor Angst? –, dann drehte sie sich um. Sie rannte zur Tür. Myron versuchte aufzuspringen, kam jedoch aus dem weichen Sofa nicht so schnell hoch. Als er es endlich geschafft hatte, war Kitty Bolitar – Myrons Schwägerin, die Frau, die ihm so viel genommen hatte – durch die Tür der VIP-Lounge verschwunden.

5

Myron rannte ihr nach.

Am Ausgang der VIP-Lounge ging ihm ein Bild durch den Kopf: Myron war elf Jahre alt und sein lockiger Bruder Brad sechs, als sie in ihrem gemeinsamen Kinderzimmer mit dem Kinderbasketballset spielten. Das Brett bestand aus dünner Pappe und der Ball war im Prinzip ein fester, runder Schwamm. Der Korb war mit zwei orangefarbenen Saugnäpfen an der Schranktür befestigt, die man anlecken musste, damit sie haften blieben. Die beiden Brüder spielten schon seit Stunden, hatten sich Teams, Spieler und die zugehörigen Spitznamen ausgedacht. So gab es Shooting Sam, Jumping Jim und Leaping Lenny. Myron leitete das Rollenspiel, indem er ein imaginäres Universum mit fairen und unfairen Spielern erfand, hochdramatische Szenen und enge Spiele mit entscheidenden Körben in letzter Sekunde inszenierte. Im Endeffekt ließ er Brad meistens gewinnen. Nachts, wenn sie sich in ihr Etagenbett gelegt hatten – Myron oben, Brad unten –, fassten sie die Spiele wie Sportreporter bei der Spielanalyse zusammen.

Wieder drohte die Erinnerung ihm das Herz zu brechen.

Als er an Esperanza vorbeilief, fragte sie: »Was ist los?«

»Kitty.«

»Was?«

Er hatte jedoch keine Zeit für Erklärungen, stieß die Tür auf und stürmte weiter. Jetzt war er wieder im Hauptsaal des Clubs mit der ohrenbetäubenden Musik. Der alte Mann in ihm fragte sich, wem es Spaß machte, Leute zu treffen, wenn man sich sowieso nicht verständigen konnte. Aber eigentlich konzentrierte er sich jetzt ganz darauf, Kitty zu erwischen.

Myron war groß, eins zweiundneunzig, und wenn er sich auf die Zehenspitzen stellte, konnte er über die meisten Leute im Club hinwegblicken. Nichts zu sehen von der vermeintlichen Kitty. Was hatte sie angehabt? Türkisfarbenes Top. Er suchte etwas Türkises.

Da. Mit dem Rücken zu ihm. Auf dem Weg zum Ausgang.

Myron musste vorankommen. Er entschuldigte sich unablässig und versuchte, sich zwischen den Körpern hindurchzuschlängeln, aber es war zu voll. Die Lightshow mit Stroboskopeffekten machte es nicht einfacher. Kitty. Was zum Teufel wollte Kitty hier? Auch sie war damals ein Tenniswunderkind gewesen, das gemeinsam mit Suzze trainiert hatte. So hatte er sie kennengelernt. Vielleicht hatte Kitty sich wieder bei ihrer alten Freundin gemeldet, das erklärte aber nicht, wieso Kitty heute Abend hier in diesem Club war. Und zwar ohne seinen Bruder.

Oder war Brad auch hier?

Er rannte schneller. Er versuchte, niemanden zur Seite zu stoßen, was natürlich unmöglich war. Er wurde mit bösen Blicken und erschreckten Schreien und »Mann, wo brennt’s denn«-Ausrufen bedacht, ignorierte das alles aber und schob sich weiter durch die Menschenmenge. Er kam sich fast wie in einem dieser Träume vor, in denen man die ganze Zeit rannte, ohne voranzukommen, dann aber plötzlich schwere Beine bekam und durch tiefen Schnee stapfte.

»Aua!«, kreischte ein Mädchen. »Du Blödmann bist mir auf den Zeh getreten.«

»Entschuldigung«, sagte Myron und versuchte, sich weiter durchzudrängeln.

Eine große Hand legte sich auf Myrons Schulter und riss ihn herum. Jemand gab ihm von hinten einen kräftigen Stoß, so dass er beinahe umgefallen wäre. Er konnte sich aber gerade noch auf den Beinen halten, fing sich dann wieder, worauf er einer Gruppe gegenüberstand, die aussah, als wäre sie zu einem Casting für die Sendung Jersey Shore: Zehn Jahre später angetreten: eine wilde Mischung aus Haargel, Selbstbräunerhauttönen, zurechtgezupften Augenbrauen, enthaarten Brüsten und aufgeblähten Muskeln. Alle hatten dieses höhnische Harter-Bursche-Grinsen im Gesicht, ein seltsamer Anblick bei Menschen, die jeden Quadratzentimeter ihres Körpers perfekt stylen. Ein Schlag ins Gesicht würde ihnen weh tun, doch wenn er ihnen die Frisur versaute, wäre der Schmerz viel größer und würde länger anhalten.

Sie waren zu viert, fünft oder sechst – die Gruppe verschwamm zu einer unangenehmen, schleimigen Masse, die unerträglich nach Axe Aftershave roch – und alle waren ganz begeistert von der Möglichkeit, ihre Männlichkeit unter Beweis stellen zu können, indem sie die verlorene Ehre des Zehs dieses Mädchens wiederherstellten.

Trotzdem war Myron absolut diplomatisch. »Tut mir echt leid«, sagte er, »aber das ist ein Notfall.«

Einer der Deppen sagte: »Hey, wo brennt’s denn? Hast du irgendwo ein Feuer gesehen, Vinny?«

Vinny: »Ja, wo brennt’s denn? Ich seh nämlich kein Feuer. Siehst du was, Slap?«

Bevor Slap antworten konnte, unterbrach Myron sie: »Ja, ich hab’s begriffen. Kein Feuer. Dann guckt nochmal genauer nach. Tut mir wirklich leid, aber ich hab’s eilig.«

Slap musste trotzdem noch etwas dazu sagen: »Nee, ich seh auch kein Feuer.«

Dafür hatte er keine Zeit. Myron wollte weiterlaufen – Mist, Kitty war nicht mehr zu sehen –, doch die Männer rückten zusammen. Volldepp, dessen Hand immer noch auf Myrons Schulter lag, drückte die Hand so fest er konnte zusammen. »Entschuldige dich bei Sandra.«

»Äh, welchen Teil von ›tut mir wirklich leid‹ habt ihr jetzt nicht verstanden?«

»Bei Sandra«, wiederholte er.

Myron wandte sich dem Mädchen zu, das, wenn man das an ihrem Kleid und ihrer Gesellschaft festmachen konnte, von Daddy nie genug Aufmerksamkeit erhalten hatte. Er zuckte mit der Schulter, um die lästige Hand loszuwerden. »Tut mir wirklich leid, Sandra.«

Er sagte das, weil es am vernünftigsten war, sich so zu verhalten. Er wollte Frieden schließen und Kitty dann weiter folgen. Aber Myron merkte es. Er sah es an den roten Gesichtern und den feuchten Augen. Die Hormone waren in Wallung geraten. Als er sich also wieder zu dem Mann umdrehte, der ihm anfangs den Stoß versetzt hatte, war Myron nicht überrascht, eine Faust auf sein Gesicht zukommen zu sehen.

Die meisten Kämpfe entschieden sich innerhalb weniger Sekunden  – und diese Sekunden waren vollgestopft mit drei Dingen: Verwirrung, Chaos und Panik. Wenn Leute also eine Faust auf sich zukommen sahen, reagierten sie normalerweise zu heftig. Sie versuchten, sich tief wegzuducken oder weit nach hinten auszuweichen. Das war ein Fehler. Wenn man aus dem Gleichgewicht kam oder den Gegner aus den Augen verlor, brachte einen das automatisch in noch größere Gefahr. Gute Kämpfer führten Schläge oft nur aus diesem Grund – gar nicht um den Gegner zu treffen, sondern um ihn in eine noch ungünstigere Position zu bringen.

Also wich Myron nur leicht zurück – gut zehn Zentimeter reichten schon. Dabei hatte er die rechte Hand schon oben. Und auch zur Abwehr brauchte man die ankommende Faust nicht mit irgendeinem tollen Karatehieb zur Seite zu schlagen. Man musste sie nur leicht ablenken. Das tat Myron.

Myrons Plan war sehr einfach: Er wollte den Kerl ausschalten, ohne großes Aufsehen zu erregen oder ihn zu verletzen. Er lenkte die Faust ab, legte Zeige- und Mittelfinger der schon erhobenen Hand zusammen und stieß sie seinem Angreifer pfeilschnell in den weichen Hohlraum unterhalb der Kehle. Der Schlag traf punktgenau. Jerzie Boy stieß ein Gurgeln hervor. Instinktiv griff er mit beiden Händen zur Kehle, so dass er vollkommen ungedeckt dastand. In einem normalen Kampf, wenn es denn so etwas gab, hätte Myron ihn daraufhin endgültig ausgeschaltet. Aber das wollte er in diesem Moment nicht. Er wollte weiter.

Myron dachte also nicht länger über seinen nächsten Schlag nach, sondern versuchte, sich an dem Kerl vorbeizuschieben und den Kampfplatz so schnell wie möglich hinter sich zu lassen. Inzwischen waren jedoch sämtliche Fluchtwege blockiert. Die Gäste des überfüllten Clubs waren näher herangerückt, angelockt vom Kampfgeruch und dem ewigen Verlangen der Menschen zu sehen, wie ein Mitmensch verletzt oder verstümmelt wurde.