Der junge Habermas - Roman Yos - E-Book

Der junge Habermas E-Book

Roman Yos

0,0
25,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Roman Yos' preisgekrönte Untersuchung über die Ursprünge eines der einflussreichsten Werke der jüngeren Geistesgeschichte zeigt auf originelle Weise, wie Jürgen Habermas seine bereits in jungen Jahren ausgeprägten philosophisch-politischen Denkmotive allmählich in die Bahnen eines tragfähigen Systems überführte. Diese Entwicklung lässt sich als ein Lernprozess begreifen, in dessen Verlauf konträre intellektuelle Einflüsse aufeinandertrafen und der aufwändigen Vermittlung bedurften. Yos rekonstruiert die spannungsreiche Entstehung von Habermas‘ Denken aus dem Zusammenhang frühester Schriften und gibt zugleich einen Einblick in deren zeit- und ideengeschichtliche Hintergründe.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 904

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



3Roman Yos

Der junge Habermas

Eine ideengeschichtliche Untersuchung seines frühen Denkens 1952-1962

Suhrkamp

Übersicht

Cover

Titel

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

Inhalt

Cover

Titel

Inhalt

Einleitung

I

. Denkmotive (1952-1956)

1. Studium zwischen Neubeginn und Restauration

1.1 Studieren im Wiederaufbau

1.2 Erste philosophische Anregungen

1.3 Jugend vor und nach »Fünfundvierzig«

1.4 Restaurative Tendenzen

1.5 Im Bonner Philosophischen Seminar

2. Genialität im Zwielicht: Benn – Heidegger – Gehlen

2.1 »Gottfried Benns neue Stimme«

2.2 In »vernehmender Haltung zu den Dingen«

2.3 Ein Gegenmotiv: »Montierte Sittlichkeit«

2.4 Entfremdung durch Technik

2.5 »Mit Heidegger gegen Heidegger denken«

3. Standortsuche zwischen Feuilleton und Wissenschaft

3.1 »Das Dilemma des Dritten Ortes«

3.2 Von der »Zwiespältigkeit« im Denken Schellings

3.3 »Größe und Verhängnis«: Karl Jaspers über Schelling

3.4 Industriearbeit und Bürokratie

3.5 Nachwuchs und »Comeback der deutschen Soziologie«

4. Moralische Hypotheken: Die Tradition auf dem Prüfstand

4.1 Die »gebrochene Haltung«

Exkurs über »Haltung«

4.2 Gedanken über Elitebildung und Masse

4.3 Ein politisches Bekenntnis: »Ohne mich«

4.4 Betrachtungen zum Zeitgeist: »Pathologie des nationalen Bewusstseins«

4.5 Kultur und Konsum

4.6 »Deutschland rehabilitiert Freud«

II

. Denkwege (1956-1962)

5. Weltbezüge des Handelns: Mensch und Geschichte

5.1 Kommunikative Wahrheit

5.2 Arbeit und Freizeit

5.3 Kritische Anthropologie

5.4 Marxismus als Kritik

6. Die »Idee der Demokratie«: Politik und Öffentlichkeit

6.1 (Hoch)Schule in der Demokratie

6.2 Politische Beteiligung

6.3 Rationalisierung der Politik durch Publizität

6.4 Strukturwandel der Öffentlichkeit

Schluss

Verzeichnis der Siglen und Archivbestände

Dank

Namenregister

Fußnoten

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

3

7

9

10

11

12

13

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

30

31

32

33

35

37

38

39

40

41

42

43

44

45

46

47

48

49

50

51

52

53

54

55

56

57

58

59

60

61

62

63

64

65

66

67

68

69

70

71

72

73

74

75

76

77

78

79

80

81

82

83

84

85

86

87

88

89

90

91

92

93

94

95

96

97

98

99

100

101

102

103

104

105

106

107

108

109

110

111

112

113

114

115

116

117

118

119

120

121

122

123

124

125

126

127

128

129

130

131

132

133

134

135

136

137

138

139

140

141

142

143

144

145

146

147

148

149

150

151

152

153

154

155

156

157

158

159

160

161

162

163

164

165

166

167

168

169

170

171

172

173

174

175

176

177

178

179

180

181

182

183

184

185

186

187

188

189

191

192

193

194

195

196

197

198

199

200

201

202

203

204

205

206

207

208

209

210

211

212

213

214

215

216

217

218

219

220

221

222

223

224

225

226

227

228

229

230

231

232

233

234

235

236

237

238

239

240

241

242

243

244

245

246

247

248

249

250

251

252

253

254

255

256

257

258

259

260

261

262

263

264

265

266

267

268

269

270

271

272

273

275

276

277

278

279

280

281

282

283

284

285

286

287

288

289

290

291

292

293

294

295

296

297

298

299

300

301

302

303

304

305

306

307

308

309

310

311

312

313

314

315

316

317

318

319

320

321

322

323

324

325

326

327

328

329

330

331

332

333

334

335

336

337

338

339

340

341

342

343

344

345

346

347

348

349

350

351

352

353

354

355

356

357

358

359

360

361

362

363

364

365

366

367

368

369

370

371

372

373

374

375

376

377

378

379

380

381

382

383

384

385

386

387

388

389

390

391

392

393

394

395

396

398

399

400

401

402

403

404

405

406

407

408

409

410

411

412

413

414

415

416

417

418

419

420

421

422

423

424

425

426

427

428

429

430

431

432

433

434

435

436

437

438

439

440

441

442

443

445

446

447

448

449

450

451

452

453

454

455

456

457

458

459

460

461

462

463

464

465

466

467

468

469

470

471

472

473

474

475

476

477

478

479

480

481

482

483

484

485

486

487

488

489

490

491

492

493

494

495

496

497

498

499

500

501

502

503

504

cellpage_504

cellpage_505

cellpage_506

cellpage_507

cellpage_508

cellpage_509

cellpage_510

511

512

513

514

515

516

517

518

519

520

521

7Meinen Eltern und meiner Frau

9Einleitung

Jürgen Habermas eilt der Ruf eines Klassikers voraus – und dies schon seit geraumer Zeit. Längst genießt sein Werk weltweite Anerkennung und wird – wie es sich für einen Klassiker gehört – in beinahe jedem seiner Wirkungsbereiche kritisch diskutiert. Klassisch dürfte indessen auch die Rolle sein, die Habermas als politischer Intellektueller quasi in persona verkörpert und in der er abseits des Katheders gern polemischere Töne anschlägt.[1] Als kritischer Beobachter und Kommentator des politischen Zeitgeschehens betätigt sich Habermas seit mehr als einem halben Jahrhundert mit anhaltender Regelmäßigkeit. Dabei hat er zumeist Themen aufgegriffen, die in irgendeiner Weise die Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik und des wiedervereinigten Deutschlands berühren. Wann immer es um den Zustand nationaler Befindlichkeiten oder um die Gegenwart und Zukunft Europas schlecht bestellt schien, durfte man mit seiner öffentlichkeitswirksamen Wortmeldung rechnen. Und kaum ein anderer aus der Generation der sogenannten »45er« hat dabei so sehr auf die Perspektive kritischer Distanz gesetzt.[2] Doch 10unabhängig davon, wie man sich zum Anliegen seiner jeweiligen Interventionen auch stellen mag: Der Ausdruck vom »avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen«, den Habermas im Rahmen seiner eigenen Betrachtungen zur Figur des Intellektuellen geprägt hat, vermag seine eigene Rolle durchaus treffsicher zu bezeichnen.[3] Dass es demokratischen Fortschritt nur unter der Bedingung öffentlich austragbarer Diskussionen über die Belange von Politik und Kultur geben könne, hat Habermas immer auch mit Tuchfühlung zur Tagespolitik geltend zu machen versucht. Dies gilt im Besonderen für die Auseinandersetzung um vergangenheitspolitische Themen. Dass Habermas sich mit der Forderung, derartige Kontroversen öffentlich zu führen, vor allem im nationalen Kontext nicht nur Freunde gemacht hat, ist kein Geheimnis. Im Rückblick auf die zahlreichen Stationen seines Engagements als streitbarer Intellektueller sind die jeweiligen Gegnerschaften nur zu gut belegbar: so im Zuge seiner frühen Heidegger-Kritik oder angesichts der skeptischen Haltung zur 68er-Studenten-Revolte, ebenso im Umfeld der konservativen »Tendenzwende«-Politik oder im Zuge des Historikerstreits sowie ferner im Streit um die NATO-Bombardierung Ex-Jugoslawiens oder um das Berliner Holocaust-Mahnmal, um hier nur einige wenige dieser Stationen kurz ins Gedächtnis zu rufen. Vieles spricht dafür, dass Habermas jenes Bild des politischen Intellektuellen, das nun im Kielwasser einer im Wandel begriffenen Medienlandschaft allmählich verblasst, in entscheidender Weise mitzuprägen vermocht hat.[4] So wäre es denn auch mehr als fahrläs11sig, den Rahmen einer Intellektuellen-Geschichte der Bundesrepublik abzustecken, ohne auf Habermas als einen ihrer maßgeblichen Akteure Bezug zu nehmen.[5]

Nimmt man demgegenüber Habermas’ vielschichtiges Werk und dessen in der Breite keineswegs leicht zu überblickende Rezeption in Augenschein,[6] so ergibt sich ein etwas anderes, für einen 12Klassiker vergleichsweise schwer zu entzifferndes Bild, das sich auch in der Wirkung seiner zentralen Bücher spiegelt. Während sich sein frühestes Buch Strukturwandel der Öffentlichkeit, das im Laufe der Jahrzehnte zu einem Klassiker der Sozialwissenschaften geworden ist, anhaltender Nachfrage erfreut, scheint es um die Tiefenwirkung der Theorie des kommunikativen Handelns weitaus schlechter bestellt zu sein, als der in den sozialwissenschaftlichen Sprachhaushalt eingegangene Titel vermuten lässt.[7] Schon weil eine disziplinäre Zuordnung des zweibändigen Hauptwerkes schwierig ist, da es weder allein Philosophie noch allein Soziologie oder aber bloße Strukturanalyse der Gesamtgesellschaft zu sein beansprucht, gilt es – selbst in Fachkreisen – als schwer zugänglich. Aber auch Habermas’ politische Theorie, die ihre reife Gestalt erst in den 1990er Jahren angenommen hat und vielerorts diskutiert wird, wird bevorzugt ohne den zuvor in der Theorie des kommunikativen Handelns und den Schriften zur Diskursethik entwickelten philosophischen und gesellschaftstheoretischen Unterbau rezipiert.[8] Im Ergebnis führt dies oftmals dazu, dass kritische Einwände, mitunter aber auch wohlmeinende Referate auf einem Niveau operieren, auf dem der kritisierte (oder auch nur referierte) Gegenstand kaum hinreichend transparent wird.

Dazu kommt, dass im Windschatten schul- oder theoriepolitischer Auseinandersetzungen, wie sie bis zum heutigen Tage etwa 13im Gefolge jener Erbschaftsstreitigkeiten der Kritischen Theorie[9] zu finden sind, ein Rezeptionsklima entstanden ist, das nachgerade dazu einlädt, die Errungenschaften eines herausragenden Lebenswerkes, das sich im Laufe der Zeit über weite Strecken schneller gewandelt hat, als so mancher Interpret hat nachvollziehen können, voreilig abzuschreiben.[10] Wenn es demnach in den Jahrzehnten zwischen dem Kriegsende und dem Fall der Berliner Mauer tatsächlich so etwas wie eine verstärkte Nachfrage nach Theorie gegeben haben sollte, dann rangiert die Habermas’sche meilenweit hinter solch generationsverbindenden Theorie- und Leseerfahrungen, wie sie auch heute noch durch die Schriften Adornos oder Foucaults ausgelöst werden.[11] Selbst die im Jahr 2009 erschienene fünfbändige Studienausgabe Philosophische Texte, die wohl auch als eine Reaktion des Autors auf die geschilderte Rezeptionslage zu werten ist, konnte an dem Ruf eines schwer begehbaren Theoriegebäudes nur wenig ändern. Abgesehen von der Vielzahl einführender Darstellungen, die sich mit dem Gesamtwerk von Habermas beschäftigen und sich – ganz gleich, ob im deutsch- oder englischsprachigen Raum entstanden – überwiegend damit begnügen, hinlänglich Bekanntes erneut aufzufädeln, existieren auf dem Gebiet theoriegeschichtlicher Rekonstruktion kaum mehr als eine Handvoll Monographien, die im engeren Sinne als Forschungsbeiträge zu betrachten sind.[12] Schwerlich ließe sich angesichts dessen behaupten, es gäbe – wie bei Klassikern ansonsten üblich – eine gewisse Anzahl miteinander konkurrierender Deutungen über das Habermas’sche Werk (nicht einzelne seiner Aspekte). Gemessen an der schieren Menge der Veröffentlichungen, die sich mit dem facettenreichen Schrifttum von Habermas auseinandersetzen, mag dieser Befund gewiss erstaunen. Andererseits könnte die Übermenge und die damit einhergehende Unübersichtlichkeit gerade ein Grund dafür sein, dass eine Rezeption – auch nur der wichtigsten Studien – gar nicht umhinkommt, reduktionistisch zu verfahren. Im Falle von Habermas mag dieses allgemeine Problem nur besonders drastisch zu Buche schlagen. 15Setzt man jedoch – in gut hermeneutischer Tradition – einmal voraus, dass sich ein Besserverstehen systematischer Zusammenhänge durch die Einholung ihres historisch-genetischen Kontextes erreichen lässt, so weist der Befund eines fehlenden Hauptdiskurses – etwa über den Stellenwert des Habermas’schen Gesamtwerks – wohl darauf hin, dass die Theorie in ihrer Genese, das heißt auch in ihren vormaligen Gestalten und revidierten Entwürfen, noch nicht hinreichend durchdrungen wurde.[13]

Die vorliegende Untersuchung zum Denken des »jungen Habermas« möchte diesem Mangel entgegentreten und einen theoriegeschichtlichen Beitrag zur Situierung von Werk und Person leisten. Sie macht es sich zur Aufgabe, die formative Phase des Habermas’schen Denkens zu beleuchten und damit jene Lücke zu schließen, die im breiten Strom der Sekundärliteratur noch immer weit aufklafft. – Im Mittelpunkt der Untersuchung stehen somit jene Texte, die Jürgen Habermas im Zeitraum zwischen 1952 und 1962 verfasst hat, darunter die Bonner Dissertation über Schelling, die in den Jahren 1952 bis 1954 entstanden ist, sowie die Marburger Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit, die Ende 1961 zum Abschluss gebracht und im Jahr darauf – damals noch im Verlag Luchterhand – veröffentlicht wurde. Die im Untertitel meines Buches angegebenen Jahreszahlen markieren somit den im 16Fokus dieser textkritischen Untersuchung stehenden Teilabschnitt des Habermas’schen Denkens.

Aufbau und Methodik

Ursprünglich war die vorliegende Arbeit als eine Untersuchung der Vorgeschichte von Habermas’ Habilitationsschrift geplant. Dabei sollte der politisch-theoretische Hintergrund dieses sozialwissenschaftlichen Klassikers sichtbar gemacht werden, um so ein besseres Verständnis der Formationsbedingungen der Habermas’schen Theorie im Allgemeinen zu eröffnen. Dass der Strukturwandel jedoch auf einem ungleich weitläufigeren Fundament steht, als die im engeren Sinne politisch-theoretische Kernthematik zu erkennen gibt, ist eine Tatsache, die sich im näheren Hinblick auf den Zusammenhang jener frühen Texte kaum mehr ignorieren ließ. Allein der Umstand, dass Habermas dabei Wissensbestände aus den Bereichen Philosophie, Soziologie, Politologie und Staatsrechtslehre integrativ verarbeitete, leistete der Frage Vorschub, zu welchem Zweck und vor allem: unter welchen Bedingungen er sich diese Bestände vormals angeeignet hatte – eine Fragestellung, die bislang noch nicht hinreichend untersucht worden war.[14] Gerade die Feststellung eines diesbezüglich unsicheren Durchblicks führte schließlich zu dem Entschluss, den vormaligen Plan einer Rekonstruktion der Vorgeschichte der frühen politischen Theorie zugunsten einer thematisch 17sehr viel breiter angelegten Darstellung auszuweiten. Als maßgeblicher Beweggrund für diese Ausweitung der Untersuchungsperspektive ist in erster Linie die methodische Überzeugung geltend zu machen, dass sich die Darstellung – und sei es auch nur die des politischen Denkwegs – keineswegs bloß auf eine Inspektion der im engeren Sinne politisch-theoretischen Arbeiten von Habermas stützen kann.[15] Bestätigung findet diese Überzeugung – wie bereits erwähnt – vor allem im Hinblick auf den Gesamtzusammenhang jener frühen Schriften, aus dem die beiden wissenschaftlichen Qualifikationsarbeiten von 1954 und 1962 wie auch eine kleinere Anzahl in der Zwischenzeit veröffentlichter Texte, etwa der frühe Zeitungsartikel »Mit Heidegger gegen Heidegger denken« (1953e) oder der Aufsatz über »Die Dialektik der Rationalisierung« (1954b), aufgrund ihres allgemeinen Bekanntheitsgrades nur besonders hervorstechen.

Vor dem Hintergrund einer Vielzahl veröffentlichter, demzufolge also auch recht genau datierbarer und somit chronologisch anzuordnender Textquellen stellte sich das frühe Textkorpus insgesamt als ein erstaunlich dichter Zusammenhang dar.[16] Diese 18Feststellung hatte zum einen zur Folge, dass sich inhaltliche Bezugnahmen (etwa der Texte untereinander) freilegen ließen, welche bislang so nicht in den Blick gekommen waren, zum anderen zog dies bisweilen auch eine veränderte Lesart der vergleichsweise bekannteren Texte nach sich. Im fortwährenden Abgleich entlang des textlichen Entstehungszusammenhangs gelang es somit, Umbrüche in der Theoriebildung und – innerhalb ähnlich gelagerter Themenstellungen – einander abwechselnde Ideen- oder Theoriebestände zutage zu fördern, Verwerfungen also, die sich bis in die verwendete Terminologie hinein zurückverfolgen ließen. Im Zuge der Auswertung dieses dichten und spannungsreichen Textgewebes zeigte sich schließlich, dass der Bereich politischer Theoriebildung innerhalb der Rekonstruktion dieses Werkabschnitts nur einen Teil (im Ergebnis den des abschließenden Kapitels 6 der hier vorliegenden Untersuchung) ausmachen würde. Ein unter diesen veränderten Umständen als hinreichend zu qualifizierendes Verständnis dieser Denkentwicklung, welches die Untersuchung nunmehr zum erklärten Ziel hatte, erforderte deshalb nicht weniger als eine integrative Darstellung der philosophischen, soziologischen und – nicht zu vergessen – auch der journalistischen und biographischen Entwicklungsstränge zu einem Gesamtbild: dem eines intellektuellen Denkweges, in dem zentrale, aus zeitdiagnostischen Beweggründen erwachsende, unter Umständen sogar lebensgeschichtlich tragende Motive des Denkens sowie systematische Problemstellungen gleichermaßen sichtbar werden sollten.[17]

19Im Aufbau der vorliegenden Untersuchung spiegelt sich die Einholung motivationaler sowie problembezogener Aspekte der Habermas’schen Denkentwicklung in Form einer Zweiteilung: einem stärker zeithistorisch rückgebundenen ersten Teil, in dem es neben einer möglichst umfangreichen (aber keineswegs lückenlosen) Auswertung zum Teil wenig bekannter Texte um die Herausarbeitung verschiedentlich bis heute fortwirkender »Denkmotive« geht (Kapitel 2 bis 4), sowie einem eher an systematischen Problemen orientierten zweiten Teil, in dem sich die Rekonstruktion der wichtigsten »Denkwege« weniger entlang der inneren Diachronie des Textzusammenhangs als vielmehr innerhalb relevanter Problembereiche bewegt (Kapitel 5 und 6). Für beide Teile (den über weite Strecken chronologisch verfassten ersten wie auch den nach Problembereichen gegliederten zweiten Teil) der Untersuchung gilt jedoch in gleichem Maße, dass die kritische Diskussion des Textzusammenhanges als eine Art Leitfaden dient, an dem die Darstellung der einzelnen Kapitel ihren Halt findet. Wann immer also die Gefahr bestand, sich in Nebenschauplätzen – in der Sprache der Ideenhistoriographie: in Kontexten – zu verlieren, galt es, sich am Leitfaden jener Textgeschichte zu reorientieren.[18] Lediglich das erste Kapitel, das als eine zeit- und lebensgeschichtliche Hinführung zum eigentlichen Untersuchungsgang gelesen werden kann, entzieht sich diesem übergreifenden Muster.

Für die Entscheidung einer Unterteilung der Arbeit in »Denkmotive« und »Denkwege« spricht zudem der Status der untersuchten Texte, von denen einige recht leicht, viele jedoch eher schwer zugänglich sind. Innerhalb des text- wie lebensgeschichtlichen Zu20sammenhangs markiert das Jahr 1956, in dem Habermas aufgrund seiner Anstellung am remigrierten Institut für Sozialforschung von Bonn nach Frankfurt am Main übersiedelte, einen Umbruch. Legt man nämlich das zeitliche Umbruchsdatum imaginär vor den oben beschriebenen Textzusammenhang, so fällt auf, dass die ab 1956 veröffentlichten Arbeiten im Gegensatz zu den früheren in einem weit höheren Maße in spätere Sammelbände aufgenommen wurden. Die vor 1956 entstandenen Texte, zu denen viele journalistische Arbeiten gehören, wurden hingegen nur in seltenen Fällen erneut veröffentlicht.[19]

Biographische Fakten wurden für die hier vorliegende Darstellung hingegen nur insofern einbezogen, als diese den Entstehungsprozess der behandelten Texte zu illustrieren vermögen. Diese Einschränkung hat allerdings weniger damit zu tun, dass Motivbildung und Problembearbeitung als gänzlich unabhängig von der Person und ihrem Erfahrungshorizont zu betrachten wären, sondern sie ergab sich schlicht aus forschungspragmatischen Gesichtspunkten. Ein genauerer Überblick über die Verbindung von Biographie und Werk, der – zumindest in biographischer Hinsicht – mehr als das bislang über Habermas Bekannte würde einbringen können, hätte ein deutlich detaillierteres Studium des im Archivzentrum der Universität Frankfurt verwahrten Vorlasses von Habermas zur Voraussetzung gehabt, als ich es geleistet habe. Stattdessen habe ich den genannten Vorlass lediglich unter der oben bezeichneten Maßgabe einer Kontextualisierung der frühen und frühesten (aus den 1950er und frühen 1960er Jahren stammenden) Texte konsultiert. Ähnliches gilt für die Einbeziehung anderer archivalischer Bestände. So war zwar auch deren Konsultation in gewisser Weise relevant für die Rekonstruktion bestimmter Kontexte, allerdings blieb auch dabei von vornherein klar, dass sich auf deren alleiniger Grundlage kei21neswegs erschöpfend darstellen lassen würde, wodurch genau die jeweiligen Fortschritte in der Denkentwicklung durch andere als problemimmanent vorgegebene Entwicklungsmöglichkeiten bewirkt wurden.[20] Demzufolge ließ sich auch nur in seltenen Fällen beispielsweise eine terminologische Revision oder auch Präzisierung bestimmter Gedankengänge auf äußere Anlässe zurückführen.[21] Obgleich also die Beschäftigung mit den Texten sowie zum Teil auch die mit den in diesen Texten verarbeiteten Autorinnen und Autoren im Vordergrund steht, bezieht sich die Rekonstruktion der Textgeschichte auf theorie- oder ideengeschichtliche Fragestellungen. Denn in der Freilegung von Ideengehalten oder Problemstellungen, von ausgewiesenen oder gar verschwiegenen Rezeptionsbezügen sowie von Theoriegenese als solcher besteht schließlich ihr genuines Ansinnen.[22] Geht man – anders betrachtet – von Haber22mas’ Hauptbetätigungsfeldern aus, so könnte man meine Studie jedoch auch dem Genre der Intellektuellen- oder auch Philosophie-Geschichtsschreibung zuordnen.[23] Was ihren methodischen Status angeht, hält sich die Untersuchung jedoch bewusst im Vagen, vornehmlich aus Ermangelung eines verfügbaren Leitbildes. Ein gewisses Maß an Sicherheit bezieht sie allerdings aus dem Wissen um Probleme der Werkentwicklung wie auch aus deren Behandlung in der Sekundärliteratur.[24] Eine Untersuchung über den frühen Habermas hinge mithin im luftleeren Raum, wenn sie nicht auch jene Probleme mit einer gewissen Sorgfalt zu behandeln wüsste, die den späteren oder späten Habermas umtreiben. Denn nur das, was allenthalben schon vom reifen Ausarbeitungsstand der Theorie her bekannt ist, kann schließlich auch in seinen noch unausgegorenen oder möglicherweise sogar kühneren und überzeugenderen Vorformen erkannt werden.[25]

23Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Voranschreiten innerhalb der Werkentwicklung automatisch auch als ein Fortschritt hin zu überzeugenderen Konzeptionen des Denkens zu verstehen wäre. Dieser Vorbehalt gilt für Habermas so gut wie für jede(n) andere(n). Der historisierenden Darstellung der formativen Bedingungen des Habermas’schen Denkens unterliegt daher ein kritisches Motiv, mit anderen Worten: ein Erkenntnisinteresse, das der Vorstellung einer von Wertungsfragen gänzlich befreiten Historisierung ausdrücklich entgegensteht. So zeigt sich innerhalb der werkgeschichtlichen Betrachtung von Denkmotiven und deren Entwicklung im frühen Schrifttum von Habermas ganz generell die Möglichkeit kritischer Theoriegeschichte, bei der im Zuge der Historisierung auch übersprungene Stadien der Theoriebildung zu aktuelleren und früheren ins Verhältnis zu setzen sind. Die Erforschung personenbezogenen (das heißt auf eine Person oder eine bestimmte Personenkonstellation bezogenen) Denkens ist dann nicht mehr allein daraufhin angelegt, die einzelnen Synthesen dieses Denkens zur Darstellung zu bringen, sondern wäre auch – und darin liegt ihr kritisches Potenzial – auf mögliche Ambivalenzen in der Denkentfaltung hin ausgerichtet.[26] Damit sollen etwa ver24worfene Einflüsse, konkurrierende Denkmuster und Referenzen, späterhin verschwiegene Abhängigkeiten und dergleichen ans Licht treten. Die Geschichte eines Denkprozesses einzuholen heißt deshalb auch, dessen Dynamik – wo es nötig ist – als diejenige einer ambivalenten Lerngeschichte vor Augen zu führen und somit ebenso jene spannungsreichen Schnittstellen zu markieren, die im Scheinwerferlicht späterer Systematisierungen nicht mehr oder bestenfalls noch in unscheinbarer Gestalt anzutreffen sind. (Wie sollte dies vor dem Hintergrund historischer Umbrüche und wechselnder sozialwissenschaftlicher Moden auch anders sein.) Im Lichte dieses kritischen Darstellungsmotivs verbietet es sich, Habermas’ Denkentwicklung von vornherein starken Deutungstopoi zu unterwerfen (etwa »Liberalisierung«, »Verwestlichung«, »Westernisierung«), hinter denen etwa das Ringen um eine gelungene Systematisierung oder aber der rasche Austausch von Ideengehalten und Referenzautoren nur allzu leicht verdeckt wird.[27] Anstatt also die 25Darstellung mittels eines solchen Narrativs teleologisch auszurichten, habe ich insbesondere in den ersten Teil dieses Buches kürzere diskursgeschichtliche Abschnitte eingefügt, in denen vor allem die diskursive Verflechtung der Texte in die intellektuellen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit sichtbar werden soll.

Wie im einführenden Kapitel 1 eingehender argumentiert wird, ist dabei zum Beispiel auch jener innerhalb der Zeitgeschichtsforschung vielgescholtene Begriff der »Restauration« von Bedeutung, der in den 1950er Jahren oft als Bestandteil einer kritischen Zeitdiagnostik in Verwendung war, die mit den politischen Umständen der Adenauer-Ära scharf ins Gericht ging.[28] Demgegenüber hat der Begriff der »intellektuellen Gründung«, so wie er im Bereich der politischen Ideengeschichtsschreibung der Bundesrepublik in jener Fassung als »intellektuelle Gründung der Bundesrepublik« in 26Gebrauch ist, einen anderen Hintergrund.[29] Mit der Bezeichnung kann im Hinblick auf die intellektuellen Akteure jedoch kaum so etwas wie ein konstituierender Akt, eine Art Gründungsszene oder gar ein Gründungsdokument gemeint sein. Dass sich die ideelle Untermauerung der bundesdeutschen Demokratie exklusiv, das heißt innerhalb einer als federführend deklarierten Schule oder Denkkonstellation angebahnt oder in einem gegenüber konkurrierenden Ansätzen besonders hervorstechenden demokratischen Lernfortschritt ausgedrückt habe, gehört zu den impliziten Voraussetzungen dieser Gründungsterminologie, deren rhetorischer ihren analytischen Gehalt bei Weitem übersteigen dürfte. Wenn die Rede von der »intellektuellen Gründung« überhaupt einem historischen Korrelat entsprechen sollte, dann wäre etwa der von Beginn an politisch agierende Intellektuelle Habermas zusammen mit einer Vielzahl anderer Protagonisten in den weiteren Raum eines intellektuellen Gründungsdiskurses zu stellen, der sich über mehrere Jahre, wenn nicht Jahrzehnte bundesrepublikanischer Historie erstreckt.[30] Mit der Ausdeutung »intellektueller Gründung« in ebendiese Richtung eines diskursiven Prozesses stünde dann aber genaugenommen nicht die Ausbildung eines einzelnen (etwa in Frankfurt oder Münster) entstandenen Denkansatzes im Mittelpunkt, sondern vielmehr ein bestimmtes Themen- oder Problemspektrum, auf dem die miteinander konkurrierenden Auffassungen über Kultur, Politik und Demokratie aufeinandertrafen. Welche Themen sich hierbei besonders aufdrängten, wird sich im Durchgang durch die formative Phase des Habermas’schen Denkens zu erweisen haben.

27Schule und Generation: Situierung im Forschungsfeld

Dass sich die eingangs getätigte Unterscheidung von Person und Werk nur unter bestimmten analytischen Gesichtspunkten aufrechterhalten lässt, wird offensichtlich, sobald man die enormen Wandlungsprozesse in den Blick nimmt, die das Habermas’sche Werk im Laufe seiner Entwicklung durchgemacht hat. Wer würde bestreiten, dass nicht auch die Art der Rollendifferenzierung, die Habermas für sich in Anspruch nimmt, ihren Hintergrund in der Theorie selbst haben könnte? Schließlich gehört es zu jenem speziellen normativ-gehaltvollen Typus dieser Theoriebildung, dass noch die Reflexion des eigenen Standpunktes, als Urheber der Theorie der Gesellschaft zugleich deren Adressat zu sein, Teil ebendieser Theorie ist. In gewisser Hinsicht ließe sich sogar sagen, dass genau dies – nämlich der selbstimplikative Zug der Theorie der Gesellschaft, die den Anspruch erhebt, die ihr eigenen Konstitutionsbedingungen im Modus ihrer Praxis einzuholen – auf eine zentrale Gemeinsamkeit kritischer Theoriebildung im Unterschied zu Theorie im traditionellen Sinne hinweist.[31] Denn um den objektivistischen Schein einer neutralen und in normativer Hinsicht abstinenten Theorie der Gesellschaft zu entlarven – ein Anliegen, das Habermas bis heute mit den älteren Frankfurtern verbindet –, muss diese kritische Theorie einen Standort beziehen, der zunächst einmal Distanz zum gesellschaftlichen Ganzen zu wahren imstande ist und vor deren Hintergrund überhaupt erst zu bestimmen sein mag, was als normativer Maßstab für eine gesellschaftliche Praxis veranschlagt werden kann. Wenn kritische Theorie also auf eine Veränderung der Wirklichkeit (im Großen wie im Kleinen) zielt, so nimmt sie diese Form des Distanzhaltens von vornherein in Anspruch, ganz gleich welcher Art dasjenige Potenzial auch sein mag, das sie dabei für den Fortschritt der Gattung zur Entfaltung bringen möchte.[32] Dass es demnach gemeinsame Schnittmengen zwischen 28der oftmals so bezeichneten ersten und zweiten Generation der »Kritischen Theorie« oder »Frankfurter Schule« gegeben hat, sagt jedoch nichts darüber, ob sich deshalb auch in begründeter Weise von einer Generationenfolge innerhalb dieses Denkansatzes sprechen lässt.[33] Eine Denkgeschichtsschreibung, die sich (wie meine) am Anspruch der Historisierung orientiert, kann schließlich nicht einfach denjenigen Maßstab zugrunde legen, der sich innerhalb der Rezeption nur als wirkmächtigster herausgeschält hat. Daher bewegt sie sich auch nicht im Fahrwasser jener Deutungen, die sich Habermas’ Denken über dessen intellektuelle Beziehung zur »ersten Generation« der Kritischen Theorie zurechtlegen.[34] Vielmehr muss sie die Rezeptionsgeschichte zunächst ausblenden, um ihre eigenen Antworten auf Fragen der intellektuellen Herkunft, theoriegenetischen Abhängigkeit oder Differenz zu finden. Dies tut sie in erster Linie im Dialog mit jenen zeitgeschichtlichen Kontroversen und Problemkonstellationen, die sich innerhalb des zu untersuchenden Quellenmaterials – den Habermas’schen Texten – spiegeln; und erst im Nachgang dessen prüft sie, inwieweit die Ergebnisse mit den in der Literatur vertretenen Positionen übereinstimmen oder aber 30mit diesen unvereinbar sind. Auch dies ist ein Aspekt kritischer Theoriegeschichtsschreibung.

Gilt es im Zuge dessen also auch festzustellen, was Habermas’ eigene, gegenüber der älteren Kritischen Theorie eigenständige Herangehensweise in der Theoriebildung ausgemacht hat und noch heute bestimmt, so würde man wohl sagen können, dass er von Beginn an (und sogar schon vor seinem Wechsel nach Frankfurt) eigene Problemstellungen verfolgte. Zudem ergaben sich diese aus einer Aneignung mehrerer zum Teil miteinander konkurrierender Denktraditionen.[35] Eine diese Differenzierung berücksichtigende Untersuchung des Habermas’schen Werkes unterscheidet sich von anderen, die das Rezeptionsargument der Schulzugehörigkeit zur älteren Kritischen Theorie für sich in Anspruch nehmen, und läuft in der Konsequenz auch auf eine Entschärfung der erwähnten Erbschaftsstreitigkeiten innerhalb des Traditionszusammenhangs hinaus.[36]

31Die Frage der Schulzugehörigkeit, die sich im Hinblick auf Habermas unweigerlich aufzudrängen scheint, berührt jedoch ebenso die nach der generationellen Zugehörigkeit. Wenngleich sich eine intellektuelle Generationenfolge innerhalb eines Denkansatzes oder einer Schule meines Erachtens nur um den Preis einer Verdeckung anderer Einflüsse behaupten lässt, so scheinen die Gemeinsamkeiten innerhalb einer Generation auf den ersten Blick größer zu sein, zumindest aus lebensgeschichtlicher Perspektive. So wurde vielfach darauf verwiesen, dass die Karriereverläufe aus der sogenannten Flakhelfer-Generation zumindest in der Bundesrepublik steil nach oben wiesen, während es aus den Reihen der stark dezimierten Generation der Kriegsteilnehmer vergleichsweise wenige Aufsteiger gegeben habe.[37] Die »45er«, wie die »Flakhelfer-Generation« mitt32lerweile auch bezeichnet wird, gelten heute als Gegenbeweis zu der noch zu Beginn der 1950er Jahre kursierenden These einer im Zuge des Wiederaufbaus »fehlenden Generation« und wenig später auch »skeptischen Generation« (Schelsky).

Im Selbstbild dieser Generation offenbart sich zwar zumeist die Erfahrung einer 1945 erlebten Zäsur. Darüber hinaus jedoch findet sich in der Reflexion auf die Frage, wie jene Zäsur verarbeitet wurde, ganz Unterschiedliches. Während es bei denjenigen, die in der Bundesrepublik zu philosophischen Wortführern wurden, so scheint, als habe für sie alle (man denke hier etwa an Karl-Otto Apel, Dieter Henrich, Hermann Lübbe, Odo Marquard, Otto Pöggeler, Hermann Schmitz, Robert Spaemann, Michael Theunissen) mehr oder weniger dieselbe durch die historischen Ereignisse geprägte Problemlage eine Rolle gespielt – und es demnach relativ unerheblich gewesen sein mochte, ob man nun in Bonn, Freiburg, Münster oder Heidelberg sein Studium aufnahm[38] –, ist es auf der anderen Seite jedoch keineswegs zufällig, dass beinahe jeder der Genannten eine entsprechende Auseinandersetzung mit dem Werk Heideggers hinter sich gebracht hatte, noch bevor sichtbar wurde, in welche Richtung sich deren genuine Anstrengungen innerhalb des Fachs bewegen würden. Als mindestens ebenso charakteristisch für die Entwicklung einer 1945 noch jungen Generation von Philosophen wäre schließlich auch jene Neigung zu veranschlagen, die in einer Neuaneignung der klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel bestand. Wie aber diese gemeinsamen Rahmenbedingungen, die sich für die Einheit eines Generationenprofils als konstitutiv erweisen, im jeweils konkreten Fall aufgenommen und verarbeitet wurden, erweist sich wiederum als kontingent.[39] Jür33gen Habermas war wohl der Erste, der unter den Philosophen eine tiefere Auseinandersetzung mit Marx anstrebte, wenngleich diese natürlich angeleitet war durch die stärker soziologisch orientierten Generationsgenossen, etwa durch Heinrich Popitz oder Ralf Dahrendorf. Zudem hob er sich unter den genannten damals noch jungen Philosophen dadurch hervor, dass er sich wie kein anderer der Mittel benachbarter Disziplinen bediente, so der Soziologie, der Psychologie, der älteren Staatsrechtslehre oder der neugegründeten Politikwissenschaft. Würde man deshalb fragen, was Habermas vor dem Hintergrund eines Generationsprofils der »45er« besonders auszeichnete, so ist es – abgesehen von seiner kritischen Sicht auf nationale Identitätsmuster – sicher die große Bandbreite an Interessen und Betätigungsfeldern wie auch der Wille, diese auf einen bestimmten Denkansatz hin zu synthetisieren.[40] Wo aber Habermas’ auf Systematisierung zielendes Denken seinen Anfang nahm, wo es im Laufe seiner formativen Phase vorbei- und zwischenzeitlich hinführte, ist von seinen Endpunkten und zahlreichen Abzweigungen her kaum zu erkennen. Die vorliegende Untersuchung begibt sich deshalb zurück an ebendiesen von Denkmotiven getragenen Anfang.

35I. Denkmotive (1952-1956)

»Die Erklärung intentionalen Handelns mag über Zwecke und Absichten zu Wünschen und Neigungen und schließlich zu Gefühlen und Stimmungen zurückführen, aber der Erklärungspfad endet bei Motiven, wie tief diese auch immer angesetzt werden; Motive sind, solange wir ein Verhalten als intentionales Handeln beschreiben, ein Letztes.«

Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, S. 319.

371. Studium zwischen Neubeginn und Restauration

»Während meines Studiums, also zwischen 1949-1954, war das politisch Beherrschende für mich zum einen die moralisch stark besetzte Reaktion auf die Nazizeit, und zum anderen die Befürchtung, daß ein wirklicher Bruch nicht stattgefunden hatte.«[1]

1.1 Studieren im Wiederaufbau

Als Jürgen Habermas im Sommer 1949 sein Abitur ablegte, entschloss er sich umgehend zu einem Studium der Philosophie. In Göttingen, wo er kurze Zeit darauf zu studieren begann, hatte die Universität schon im September 1945 als eine der ersten nach dem Krieg den Lehrbetrieb wiederaufgenommen. Im Vergleich mit anderen Universitäten hatte sich die Situation an der »Georgia-Augusta« zum Ende der 1940er Jahre bereits etwas entspannt, obwohl sich die Studierenden auch hier – ähnlich wie an allen deutschen Universitäten – mit den Umständen eines fortdauernden Wiederaufbaus zu arrangieren hatten.[2] Noch zu Beginn der 1950er Jahre herrschte an beinahe jedem Studienort ein erheblicher Mangel an Wohn- und Arbeitsräumen. Bücher sowie andere Studienmateri38alien waren oft nur in spärlicher Zahl vorhanden. Und dort, wo es – anders als in Göttingen – während des Krieges zu größerer Zerstörung der Universitätsgebäude gekommen war, wurden die Studierenden im Laufe der ersten Semester zu regelmäßigen Bau- und Reparaturarbeiten herangezogen. Im Zuge ihres Wiederaufbaus standen die Universitäten jedoch vor weit größeren als nur jenen Herausforderungen, die durch die Beseitigung baulicher oder im weitesten Sinne organisatorischer Mängel zu bewältigen waren.

Dies betraf zum einen die Frage, ob die Institution als solche struktureller Veränderungen bedurfte, zum anderen aber auch die ungleich dringlichere Frage, wer nach zwölf Jahren nationalsozialistischer Diktatur, in deren politischen Gleichschaltungsprozess sich die Universitäten schon früh und ohne nennenswerten Widerstand eingegliedert hatten, Anspruch auf eine Lehrtätigkeit erheben durfte oder aber gegebenenfalls von dieser verantwortungsvollen Tätigkeit auszuschließen war. Obgleich in den ersten Jahren nach Kriegsende einige Debatten über Universitätsreformen stattgefunden hatten[3] und die Debatte um die »Schuldfrage« ein wichtiger Bestandteil der öffentlichen Auseinandersetzung war, hatten Initiativen, die etwa auf eine grundsätzliche Revision des organisatorischen Handlungsgefüges der Hochschulen abzielten, nur wenig Aussicht auf Erfolg. Weder in der Frage einer institutionellen Umgestaltung der Hochschulen noch in der ihrer Entnazifizierung ließ sich – wohlgemerkt in den westlichen Besatzungszonen – eine eindeutige Stoßrichtung erkennen, die auf einen spürbaren Willen zum gesellschaftlichen Wandel hindeutete. Wenn daher überhaupt so etwas wie Reformanstrengungen wahrzunehmen waren, so auf der Ebene unverbindlicher Diskussionen, in denen Themen vor allem sozial- oder wirtschaftspolitischer Natur zur Sprache kamen – etwa die Frage, ob und gegebenenfalls wie ein gleichwertiger Zugang aller sozialen Schichten zu universitärer Bildung gewährleistet werden könne oder worin die Bedeutung oder Zielsetzung von Hochschulbildung als solcher zu sehen sei.[4] Eine tiefergehende Re39flexion beispielweise darüber, inwiefern die Hochschulen innerhalb eines demokratischen Gemeinwesens politische oder auch moralische Verantwortung zu übernehmen hätten, kam darüber hinaus nicht in Gang. Von Einzelfällen abgesehen, wie der zu Beginn der 1950er Jahre angestrengten Neugründung der politischen Wissenschaft, die sich bewusstermaßen als »Demokratiewissenschaft« zu etablieren versuchte,[5] gingen greifbare Bemühungen in diese Richtung nur selten über abstrakte Bekenntnisse zur »demokratischen Erneuerung« der Hochschulen hinaus. Ein grundlegender Reflexi40onsprozess über das Verhältnis von Demokratie und Hochschule in der unmittelbaren Nachkriegszeit blieb somit in den Kinderschuhen stecken, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass es derartigen Anstrengungen in aller Regel an der notwendigen, unterschiedliche Interessengruppen verbindenden Bereitschaft zur Umsetzung rechtskräftiger Reformen fehlte.[6]

Das weitaus größere Augenmerk lag aber – wie bereits angedeutet – auf dem Problem der Entnazifizierung. Im Prozess der Wiedereröffnung standen zunächst ausnahmslos alle Hochschulen vor der Frage, welche Dozenten für eine zukünftige Lehrtätigkeit geeignet oder welche dauerhaft oder zumindest vorübergehend vom universitären Geschehen auszuschließen waren. Die Entnazifizierung der Hochschulen stellte sich vor allem deswegen als ein Problem größerer Dringlichkeit dar, weil es sich hierbei um die berufliche Zukunft einer nicht eben geringen Zahl ehemaliger Hochschuldozenten handelte, die sich ob ihrer politischen Vergangenheit zu verantworten hatten.[7] Wie tief die betreffenden Hochschullehrer im Einzelnen verstrickt waren, ließ sich im Nachhinein allerdings nur schwer ermitteln, zumal im Kontext allgemeiner Entlastungsbestrebungen zumeist alles andere als eine wahrheits41gemäße Aufklärung zu erwarten war. Wenn also nicht schon die übliche »Persilschein-Praxis« zur gewünschten Entlastung jener im Ermittlungsfokus stehenden Personen geführt hatte, so rückte eine entsprechende Revision etwaiger Lehrverbote spätestens mit den im ersten Bundestag beschlossenen »Richtlinien zum Abschluss der Entnazifizierung« in greifbare Nähe. Vielerorts jedoch – und so auch in Göttingen – sorgten universitätsinterne Ausschüsse zur politischen Überprüfung des Lehrkörpers bereits frühzeitig für eine zügige und reibungslose Wiedereingliederung des zuvor noch als belastet eingestuften Lehrpersonals.[8]

Weniger reibungslos, insgesamt aber doch symptomatisch für eine solche Praxis der Wiedereingliederung war auch der Fall Martin Heideggers.[9] Unmittelbar nach Kriegsende hatte eine vom Senat der Universität Freiburg einberufene »Reinigungskommission« für den ehemaligen Rektor zunächst eine »milde Lösung« – formelle Emeritierung samt fortbestehender Lehrbefugnis – vorgeschlagen. Doch nach Protesten verschiedener Universitätsangehöriger, einer Revision des ersten Kommissionsurteils sowie der Heranziehung mehrerer Gutachter (darunter auch Karl Jaspers, der sich – von Heid42egger selbst vorgeschlagen – negativ äußerte) verfügte ein von der französischen Militärregierung eingesetzter »Landesbereinigungsausschuss« nach längerem Hin und Her, dass Heidegger nicht nur von der Lehrtätigkeit, sondern auch insgesamt vom akademischen Leben auszuschließen sei. Ferner sollten laufende Pensionszahlungen bis Ende 1947 eingestellt werden, was allerdings nach kurzer Zeit wieder zurückgenommen wurde.[10] Im Zuge der allgemeinen Lockerung der Entnazifizierungspolitik, die in den westlichen Besatzungszonen vor allem mit der Einführung von Spruchkammern sowie der Aufhebung alliierter Überwachungsmaßnahmen bei der Durchführung des »Befreiungsgesetzes« Einzug hielt, wurde der Fall Heidegger jedoch erneut aufgerollt. In einem Spruchkammerverfahren war er inzwischen als »Mitläufer« eingestuft und damit von Sühnemaßnahmen freigesprochen worden.[11] Damit war der Weg für eine Initiative der Philosophischen Fakultät geebnet, die auf eine akademische Rehabilitierung Heideggers drängte. Nach abermaligem Hin und Her, diesmal innerhalb der Universitätsgremien, wurde im Sommer 1949 schließlich eine Lösung in die Wege geleitet, die das bestehende Lehrverbot aufhob und vorsah, Heidegger mit dem vollendeten 62. Lebensjahr – also im September 1951 – zu emeritieren. Ganz offiziell war er damit also rehabilitiert. Obgleich das langwierige Verfahren bei Heidegger – trotz des für ihn positiven Ausgangs – einen negativen Beigeschmack hinterließ, hatte dies seiner Popularität keinen Abbruch getan, ganz im Gegenteil: Als Vortragender auf verschiedenen Tagungen war Heidegger, der sowohl an den Universitäten als auch jenseits des akademischen Milieus auf eine treue Anhängerschaft zählen konnte, inzwischen wieder zu einem gern gesehenen Gast geworden, der Vorträge über moderne Lyrik, das Wesen der Technik und andere zeitgenössische Themen hielt.

Hinter denjenigen Fachgelehrten, die – wie Heidegger – von 43Haus aus eine größere Aufmerksamkeit genossen und für deren Verbleib sich überdies eine breitere Öffentlichkeit interessierte – hier ist in erster Linie auch an Carl Schmitt zu denken[12] –, konnten sich jedoch eine Reihe weiterer nicht minder belastete Persönlichkeiten wegducken, deren Engagement für den Nationalsozialismus zwar keineswegs niedriger zu bemessen, dafür aber in der Nachkriegszeit weniger bekannt gewesen war. Dies traf auch auf einen Teil jener Professoren zu, mit denen Habermas in seiner Zeit als Student unmittelbar zu tun hatte und denen er mitunter einige Fürsprache verdankte. Obwohl – oder vielleicht gerade weil – sie während des Nationalsozialismus lediglich »in zweiter Reihe« gestanden hatten, konnten auch jene beiden Bonner Philosophen Erich Rothacker und Oskar Becker, bei denen Habermas später im Wesentlichen studieren sollte und auf die ich deshalb noch zurückkommen werde, ihre Tätigkeit nach dem Krieg an alter Wirkungsstätte fortsetzen.

1.2 Erste philosophische Anregungen

In Göttingen, wo Habermas sein Studium begann, lehrte seit Kriegsende Nicolai Hartmann. Neben Jaspers und Heidegger zählte der heute nur noch wenig beachtete Philosoph damals zu den herausragenden Gestalten deutschsprachiger Philosophie.[13] Hart44manns »kritische Ontologie«, die sich systematisch am »Sein des Seienden« orientierte, stand jedoch – wie viele andere philosophische Konzeptionen dieser Zeit – im Schatten der Existenzial- oder Fundamentalontologie Martin Heideggers, die der Frage nach dem »Sinn von Sein« eine primäre Stellung einräumte. Als namhafter Philosoph konnte Hartmann damals zwar längst auf ein umfangreiches Werk zurückschauen und mit einigem Recht beanspruchen, eine systematische Ausarbeitung philosophischer Welterkenntnis vorgelegt zu haben. Was ihm hingegen fehlte, war eine größere Anhänger- oder Schülerschaft, die seinem Werk eine bleibende Wirkung hätte sichern können.[14]

Auch der junge Habermas, der zu Beginn seines Studiums noch ganz im Bann von Heidegger stand, war von den Göttinger Vorlesungen und Seminaren Hartmanns wenig angetan. Dennoch ließ er sich von diesem in einem der frühen Studiensemester zu 45Rilke und Kant prüfen.[15] Nachhaltiger beeindruckt war Habermas hingegen von Hartmanns Assistenten Hermann Wein.[16] Von diesem erhielt der junge Student Anregungen zum Studium der damals gerade rege diskutierten Philosophischen Anthropologie[17] und wird auf die Schriften des im Krieg gefallenen Hans Lipps aufmerksam gemacht, die er mit Begeisterung liest und später – anlässlich einer Neuveröffentlichung gesammelter Aufsätze – für die Frankfurter Allgemeine Zeitung rezensieren wird.[18] Lipps’ phänomenologische Verbindung von Philosophischer Anthropologie und Sprachphilosophie ist damit wohl – neben der sogenannten inhaltlichen Sprachwissenschaft des Bonner Germanisten Leo Weisgerber – eine der frühesten Inspirationsquellen für die spätere, gemeinsam mit Karl-Otto Apel vollzogene Überschreitung des philosophisch-anthropologischen Problemkontextes in Richtung eines sprachhermeneutischen und sprachpragmatischen Universalismus.[19] Gleichwohl dürfte Habermas’ anfängliche Begeisterung 46für Lipps und die Philosophische Anthropologie, aber auch für die als »Existenzphilosophie« bezeichnete Denkströmung, zu der man damals so unterschiedliche Autoren wie Heidegger und Jaspers, Ortega Y Gasset, aber auch Sartre und Merleau-Ponty rechnete, aus einer unter jungen Philosophiestudenten verbreiteten Motivation herrühren, die in der Verbindung von geistiger Orientierung und politisch-kultureller Zeitdiagnose bestand.[20] Die dabei grundlegenden Probleme – so erinnert sich Habermas später – seien »in erster Linie moralisch-existenzieller Natur« gewesen, was eine Vergegenwärtigung in »großen anthropologischen Begriffen« einschloss.[21] Von all dem war bei Hartmann, der unter philosophischen Maßstäben als strenger Systematiker auftrat und sich in tagespolitischen Angelegenheiten bedeckt hielt, kaum etwas zu finden. Von zeitkritischen Fragestellungen zeigte sich dieser »abgeschiedene Geist« dem Zeugnis Wolfgang Harichs nach gänzlich unberührt.[22]

1.3 Jugend vor und nach »Fünfundvierzig«

Neben Philosophie studierte Habermas in Göttingen zunächst auch Geschichte, Psychologie, Literaturwissenschaft und Ökonomie. Schon während der nachzuholenden Schuljahre am Gummersbacher Gymnasium Moltkestraße – Ende der 1940er Jahre – interessierte er sich für moderne Kunst, Theater und Architektur, 47für zeitgenössische Philosophie und natürlich für die Literatur der Stunde: Sartres Dramen, Lyrik von Trakl, Rilke und Benn, Prosa von Andersch und Richter, später auch Böll. In der Summe war es eine nachholende »Rezeption der unterdrückten Moderne«, die zwar – wie Habermas Jahrzehnte später »mit einem gewissen Erstaunen« feststellte – eine neue Welt eröffnet habe, aber insgesamt doch »provinziell« und »deutsch« gewesen sei.[23] Die alltäglichen Widersprüche in dem vom Wiederaufbau geprägten Nachkriegsjahrzehnt, in dem sich die Einzelnen verstärkt aufs persönliche Fortkommen konzentrierten,[24] mochten dem damaligen Schüler nicht entgangen sein. Insbesondere im politisch-kulturellen Bereich, für den sich Habermas vorwiegend interessierte, war nach Jahren nationalsozialistischer »Kulturpolitik« eine Art Vakuum entstanden, das sich zum einen auf die Vertreibung und Ermordung der jüdischen Intelligenz zurückführen ließ, zum anderen aber auch auf eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der deutschen Geistestradition hindeutete. Wie konnte es gelingen, das kulturelle Erbe der Nation unter den gegebenen Bedingungen zu reanimieren? War es den Deutschen überhaupt möglich, eine kulturelle Tradition fortzusetzen, wo doch die jüngere Vergangenheit gezeigt hatte, in welch furchtbarer Weise man sich aus dem nationalen Geistesinventar bedienen konnte?[25] Solche oder ähnliche Fragen stellten sich nicht nur herausragende Denkerinnen und Denker wie Karl Jaspers, Georg Lukács, Theodor W. Adorno, Helmuth Plessner oder Hannah Arendt, sondern auch jene jungen Studentinnen und Stu48denten, denen ein Neuanfang oder zumindest ein grundlegender Wandel in kultureller und politischer Hinsicht am Herzen lag und die sich womöglich auch deshalb für ein geisteswissenschaftliches Studium entschieden. Einen vollständigen Bruch mit der deutschen Geistestradition hatte es – wie schon im Laufe der ersten Nachkriegsjahre zu verspüren war – nicht gegeben. Und angesichts der durch Verfolgung und Krieg stark dezimierten Generation von Intellektuellen, die die Weimarer Zeit bewusst erlebt und später aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflüchtet war, stand eine Totalrevision ohnehin nicht zur Debatte.[26] Woher, wenn nicht aus den Reihen jener vor und um 1900 geborenen Intellektuellen, die in der deutschen Geistestradition das Denken erlernt, sich später aber bewusst gegen den Nationalsozialismus gewendet hatten und nun im Nachgang des Geschehenen zur Reflexion ansetzten, war eine erfahrungsgesättigte Rekapitulation der kulturellen Traditionsbestände zu erwarten, die sich nicht in Totalverweigerung erging?

Aus diesem Zusammenhang zeitkritischer Fragestellungen stammt eines der frühesten und für Habermas’ spätere Denkentwicklung zugleich wichtigsten Denkmotive. Die intellektuelle Herausforderung, vor der Habermas zunächst stand, bestand darin, sich in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geistestradition simplen Entweder-Oder-Perspektiven zu entziehen, sich also weder auf deren bruchlose Fortschreibung einzulassen noch gänzlich von ihr abzusehen. Vielmehr verdankte sich diese durchaus repräsentative (und in der Habermas-Forschung in Ansätzen bereits reflektierte) Form der Orientierungssuche einer »gebrochenen« Aneignung der deutschen Geistestradition,[27] wie sie Habermas im Umfeld jener 49aus dem Exil zurückgekehrten oder dort verbliebenen jüdischen Denkerinnen und Denker vorfand, deren politisch-philosophische Ausbildung noch weitgehend in der Weimarer Zeit und im Kaiserreich stattgefunden hatte.[28]

An konkreten Herausforderungen für erste zeitdiagnostische Orientierungsversuche mangelte es Habermas schon während seiner Nachkriegsschuljahre nicht. In der Gummersbacher kommunistischen Buchhandlung besorgte er sich in Ostberlin gedruckte Broschüren mit Texten von Marx und Engels. Er nahm interessiert zur Kenntnis, was wenige Jahre zuvor noch als verpönt oder »entartet« galt, und hörte im Radio die Berichterstattung über die Nürnberger Prozesse. In einem der ersten Bücher über das Nationalsozialistische System – Eugen Kogons Der SS-Staat (1946) – und in den frühen Film-Dokumentationen über die nationalsozialistischen Vernichtungslager fand er eine ganz andere Welt vor als diejenige, die ihm bis Mai 1945 noch als »Normalität« erschienen war. »Schockartig« – so gibt es Habermas später mehrfach zu Protokoll – seien ihm damals die Verbrechen ins Bewusstsein getreten. So gehörte er – zu Kriegsende gerade einmal 15 Jahre alt – zu denjenigen, für die das Jahr 1945 eine lebensgeschichtliche Zäsur bedeutete, von der das spätere Denken nicht unbeeinflusst bleiben konnte. Damals seien, wie sich Habermas im Rahmen eines Interviews erinnert, »persönlicher Lebensrhythmus und historische Großereignisse zusammengetroffen«.[29] Der miterlebte Zusammenbruch des nationalsozialistischen Systems musste ihm – wie man daraus 50schließen kann – zugleich als ein Zusammenbruch der eigenen bis dato erworbenen Identität vorgekommen sein, denn schließlich war er in einem den Verhältnissen alles in allem angepassten Elternhaus aufgewachsen.

Die Mutter Grete Habermas, geb. Köttgen (1894-1983), war Tochter eines Düsseldorfer Brauereibesitzers und hatte im Ersten Weltkrieg als Krankenschwester in einem Lazarett gedient. Ihre Fürsorge ließ sie später nicht zuletzt dem mit einer Gaumenspalte geborenen und in frühester Kindheit deshalb mehrfach operierten zweiten Sohn Jürgen zukommen.[30] Der Vater Ernst Habermas (1891-1972) war Sohn eines Pfarrers und arbeitete als Syndikus des Oberbergischen Arbeitgeberkartells sowie als Leiter der Gummersbacher Industrie- und Handelskammer. Zur Zeit der Weimarer Republik war er nationalkonservativ eingestellt und trat bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in die NSDAP ein. Während des Krieges war Ernst Habermas Major und Wehrmachtskommandeur, eingesetzt unter anderem in der französischen Hafenstadt Brest. Erst 1948 sollte er aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurückkehren und fortan der CDU nahestehen.

Während seiner Kindheit erlebte Habermas am eigenen Leib, was es heißt, mit Kränkungen umzugehen.[31] Im Elternhaus wuchs er zwar wohlbehütet auf, war jedoch wegen seiner – durch die angeborene Gaumenspalte verursachten – Beeinträchtigungen beim Sprechen außerhalb des familiären Schutzraumes häufig Diskriminierungen ausgesetzt. Dass er sich bei der Hitlerjugend zum Sanitätsdienst meldete und früh den Wunsch hegte, Arzt zu werden, hing wohl auch mit diesen prägenden Erfahrungen zusammen. Kurz vor Kriegsende – im Herbst 1944 – musste Habermas als Fronthelfer zum »Westwall«. Im Februar 1945 konnte er sich durch glückliche Umstände einem Gestellungsbefehl der Wehrmacht entziehen, bevor Gummersbach wenig später von den Amerikanern 51befreit wurde. In dieser ereignisreichen Umbruchszeit wie auch in den ersten Nachkriegsjahren pflegte Habermas regelmäßigen Kontakt zu seinem Onkel Peter Wingender, dessen skeptische Haltung in Bezug auf die Nazipropaganda bei dem Heranwachsenden vermutlich einen bleibenden Eindruck hinterließ. Bis ins Studium hinein sollte ihn der Onkel als ein geistiger Mentor begleiten. Er ermutigte Habermas, sich der Philosophie zuzuwenden, und gab Hinweise für die erste noch etwas unsichere Kant-Lektüre: Prolegomena und Kritik der reinen Vernunft.[32]

1.4 Restaurative Tendenzen

Das Jahr, in dem Habermas sein Studium aufnahm, brachte in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht einige einschneidende Veränderungen mit sich.[33] Am 8. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verabschiedet und trat wenige Tage später, am 23. Mai, mit der Gründung der Bundesrepublik in Kraft. Im darauffolgenden August fanden die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag statt. Nach damaligem Wahlrecht war Habermas im Alter von 20 Jahren noch nicht wahlberechtigt, die politischen Ereignisse verfolgte er jedoch mit größtem Interesse, ohne sich aber für eine der zur Wahl angetretenen Parteien wirklich begeistern zu können. Dabei hoffte er vor allem darauf, dass die Kontinuitäten der Nazizeit ein baldiges Ende haben würden. In einem Interview aus dem Jahr 1979 erinnert er sich, dass er mit Kriegsende das Bedürfnis nach einem wirklichen Neuanfang gehabt habe und dafür im entstehenden westdeutschen Staat »eine wirkliche Chance« sah.[34] Bald nach der ersten Bundestagswahl aber stellten sich aus der Sicht des jungen Studenten erste Enttäuschungen ein. Anstelle der einstigen Hoffnungen auf einen Neubeginn trat bald Ernüchterung – vor allem angesichts der Politik Konrad Adenauers, dessen Führungsstil als Bundeskanzler in vielerlei Hinsicht autoritäre Züge trug und den Anschein unvermittelter Alleingänge erweckte. Dass sich vor diesem Hintergrund – nicht nur bei 52Habermas – ein skeptisches Bewusstsein auszubreiten begann, das die politisch-kulturelle Dynamik dieser Zeit als restaurativ empfand, gehört zu jenen Tatbeständen, die eine ideengeschichtliche Untersuchung und Beurteilung der frühen Bundesrepublik nicht außer Acht lassen darf.[35]

Zu den dringlichsten Aufgaben bundesdeutscher Politik ab 1949 gehörte neben der zügigen Wiedererlangung wirtschaftlicher auch diejenige innenpolitischer Souveränität. Hierzu zählte ganz offenkundig ein selbstbewusster Umgang mit der eigenen nationalen Vergangenheit. Parlamentarischen Ausdruck fand diese politische Beschäftigung mit dem zumeist als »katastrophisch« etikettierten Zeitabschnitt deutscher Geschichte in einigen der frühesten Bonner Gesetzesinitiativen, die in ihrem Kerngehalt auf eine Revision der (ohnehin bereits gelockerten) Entnazifizierungspraxis abzielten.[36] Den damaligen Kritikern dieser vergangenheitspolitischen Entwicklung musste sich angesichts dessen der unmittelbare Verdacht aufdrängen, dass sich die neuformierende bürokratische Selbstverwaltung auf bundespolitischer Ebene in steigendem Maße aus ehemaligen Parteigenossen rekrutieren würde. Und in der Tat finden sich in der Frühgeschichte der Bundesrepublik zahlreiche mehr oder minder drastische Fälle, die jene für damalige Verhältnisse kei53neswegs abwegige Befürchtung im Nachhinein unterstreichen. Den Zeitgenossen konnte diese Entwicklung schwerlich verborgen geblieben sein, zumal schon im Zuge der Regierungsbildung von 1949 mit Hans-Christoph Seebohm ein ehemaliger Nazionalsozialist auf einen Ministerposten vorrückte. Vier Jahre später stand mit Theodor Oberländer ein weiterer Minister mit brauner Vergangenheit im wiedergewählten Kabinett Adenauers. Und auch hinter den Kulissen sah es keineswegs besser aus. So saßen etwa im Beraterstab des damaligen Bundeskanzlers mit Hans Globke (Ministerialdirektor und späterer Staatssekretär im Bundeskanzleramt) sowie Herbert Blankenhorn (außenpolitischer Berater des Bundeskanzlers) zwei weitere Männer an den Schaltstellen politischer Macht, die ihre administrativen Dienste noch wenige Jahre zuvor dem NS-Regime zur Verfügung gestellt hatten.[37] Aber auch dies war freilich nur die Spitze des Eisbergs, da sich die Beamtenschaft der Bundesverwaltung aufs Ganze gesehen zu einem beträchtlichen Anteil aus ehemaligen Parteigenossen zusammensetzte.[38] Es waren vor allem diese 54personellen Kontinuitäten im Bereich der gesellschaftlichen Funktionseliten, die aus Sicht der jüngeren, zum Teil selbst noch mit Kriegserfahrung ausgestatteten Jahrgänge den Eindruck erweckten, dass ein tatsächlicher Neubeginn nicht stattgefunden hatte. Zum Ausdruck kam eine derartige Sichtweise etwa bei Hans Paul Bahrdt, einem jungen Soziologen, der seine Enttäuschung über die Entwicklung der noch jungen Bundesrepublik aus der Perspektive des akademischen Nachwuchses schilderte:

Will man die heranwachsende Akademikerschicht begreifen, so lautet die Frage nicht: Was ist inzwischen geschehen? Sondern: Was ist nicht geschehen? Was wurde versäumt? Dies ist natürlich überspitzt formuliert. Es hat 1945 schon etwas stattgefunden und viele haben es für einen neuen Anfang gehalten. Es war aber nur eine Restauration.[39]

55Anfang der 1950er Jahre firmierte der Begriff »Restauration« als eine Art politisches Schlagwort.[40] Insbesondere nachdem er von den Herausgebern der Frankfurter Hefte, Eugen Kogon und Walter Dirks, inhaltlich unterfüttert wurde, gehörte der Begriff bald zum Standardrepertoire jener zeitkritischen Publizistik, die sich links von der CDU Adenauers verortete. In einem Artikel mit dem Titel »Der restaurative Charakter der Epoche« hatte Walter Dirks den Restaurationsbegriff gegen eine bis dato recht undifferenzierte Verwendung im Rahmen politischer Auseinandersetzungen zu präzisieren versucht.[41] Als »restaurativ« bezeichnete Dirks dabei keineswegs nur politische Phänomene. Im Hinblick auf das aktuelle Zeitgeschehen seien gerade auch in Literatur, Philosophie und Theologie entsprechende Tendenzen erkennbar. Als kulturelles Symbol solch restaurativer Bestrebungen hatte Dirks vor allem das wiederaufgebaute Goethe-Haus in Frankfurt auserkoren. Ähnlich wie Karl Jaspers, der in seiner vielbeachteten Goethe-Preisrede von 1947 davor gewarnt hatte, den menschheitsgeschichtlichen Abstand zum Zeitalter Goethes zu unterschlagen,[42] hielt Dirks nichts von 56einer kultischen Verehrung des großen Klassikers, was er allerdings – im Unterschied zu Jaspers – sehr viel drastischer zum Ausdruck brachte. Noch nach erfolgter Fertigstellung des Goethe-Hauses stellte Dirks zum wiederholten Male fest, was er schon 1947 vertreten hatte: »Es gibt aber keine hartnäckigeren Bekenntnisse zum Gewesenen als die Restaurationen.«[43]

War der Begriff der Restauration auch über die intellektuelle Szenerie hinaus bereits als eine Art kulturkritischer Leitbegriff in Verwendung, so waren es doch vor allem die Wortführer der Frankfurter Hefte, die ihn vehement mit der konkreten Politik Adenauers in Verbindung brachten. Während dessen erster Regierungsperiode, die in der Zeitschrift immer wieder kritisch kommentiert wurde, erfuhr er binnen kurzer Zeit einen Bedeutungswandel. Ausgehend von einem zunächst hauptsächlich für kulturelle Erscheinungen reservierten Begriff wurde er dabei zunehmend zum politischen Schlagwort.[44] Von »Restauration« sprach nunmehr, wer eine bestimmte Oppositionshaltung zum politischen Zeitgesche57hen einnahm und sich darüber hinaus von der politischen Agenda Adenauers abgrenzen wollte. Wenige Wochen vor der ersten Bundestagswahl war die kritische Berichterstattung der Frankfurter Hefte noch sehr zurückhaltend gewesen, wie ein Artikel von Eugen Kogon zeigt, in dem dieser feststellte, dass die Wege Deutschlands wie Europas insgesamt »noch offen für den einen wie für den anderen Weg [seien], so verschlungen ihre Anfänge im Augenblick auch sein mögen«.[45] Lediglich die bisherige »wirtschaftliche Erholung Deutschlands« mochte Kogon bis dahin als ein »in mannigfacher Hinsicht […] recht zweifelhafte[r] Vorgang« erscheinen: als eine Art »Torten-Konjunktur mit viel Fassadenluxus in einer Fülle neugebauter oder restaurierter Geschäftslokale«, durch die die Wahrheit überblendet werde.[46] Was jedoch den »geistigen Zustand« des deutschen Volkes anbelange, so betonte Kogon, seien »die eigentlichen Entscheidungen noch nicht gefallen«.[47] Selbst im März 1950, also gut ein halbes Jahr nach der Regierungsbildung, formulierte Kogon seine Lagebeurteilung noch im Modus fragender Zurückhaltung, obgleich sich die zuvorige Offenheit darin bereits zu verflüchtigen begann:

Wohin wird sich die junge westdeutsche Republik unter seiner – wie schwer fällt mir hier das Wort! – christlichen, autoritären Restaurationsregierung entwickeln? Noch gibt es einige Möglichkeiten, daß es anders kommt. Sie sind nicht reif genug, schon dargestellt zu werden. Wenn die Wendung nach ganz anderer Seite nicht sehr bald eintritt, wird es zu spät sein.[48]

Einige Monate später jedoch trat an die Stelle dieser im Duktus noch zukunftsoffenen Diagnose eine fatalistische Kritik, die sich allein schon in einer bestimmteren Wortwahl ausdrückte: »Wir halten Herrn Dr. Adenauer für einen Mann der Restauration.«[49]

58Auch wenn sich der Restaurationsdiskurs gewiss nicht einer einzigen Quelle zuordnen lässt: die Frankfurter Hefte waren zweifellos ein Kristallisationspunkt für eine ganz bestimmte zeitkritische Gegenwartssicht.[50] Beide Herausgeber, Dirks wie Kogon, hatten auf einen demokratischen Neuanfang gedrängt, der jenseits der Entgegensetzung von bedingungsloser »Westbindung« auf der einen und »Bolschewismus« auf der anderen Seite lag. Indem sie das aktuelle Zeitgeschehen scharfzüngig kommentierte und dabei Themen behandelte, die quer zum antikommunistischen Leitdiskurs der Adenauer-Regierung lagen, sprach diese kritische Publizistik der frühen Bundesrepublik, die auf einem katholischen und zugleich unorthodox-marxistischen Hintergrund erwachsen war, vor allem junge Menschen mit einem zeitdiagnostischen Bedürfnis an.[51]

59Dennoch gab es unter den damaligen Zeitgenossen durchaus keinen Konsens darüber, worauf sich das Schlagwort »Restauration« genau beziehen sollte. Seine Verwendung war demnach keineswegs so festgelegt, wie dies im geschichtswissenschaftlichen Diskurs der 1970er und 1980er Jahre zuweilen den Anschein hatte.[52] Denn während mit »Restauration« sowohl die Adenauer-Politik im Ganzen gemeint sein konnte als auch die im Besonderen seit Regierungsbeginn verstärkte Rehabilitierung und Wiedereinsetzung ehemaliger NS-Eliten, gab es auch Stimmen, die mit dem Restaurationsbegriff die Wiedereinsetzung Weimarer Leitbilder verbanden und damit (freilich in Verdrängung ganz anderer historischer Ereignisse) das Augenmerk auf Ursachen demokratischen Versagens lenkten, die in der politischen Situation Weimars zu finden sein sollten.[53] Wie hieran deutlich wird, hatte der anhand des Restaurationsbegriffs geführte Diskurs den Charakter einer ideenpolitischen Kontroverse, in der sich nicht bloß eine einzelne politische Richtung hervortat, sondern sich vielmehr ganz unterschiedliche Interessen artikulierten.

Teil dieser Kontroverse war auch Helmut Schelskys zeitkritische Behauptung einer »Restauration der Zwanziger«. In einem 1955 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlichten Artikel »Über das Restaurative in unserer Zeit« versuchte Schelsky den Spieß (der zeitkritischen Restaurationskritik) umzudrehen, indem er die »Demokratisierungspolitik der Besatzungsmächte« als »Restaurierung der zwanziger Jahre« interpretierte.[54] Im Empfinden »restaurativer 60Tendenzen«, so konzedierte Schelsky hierbei zunächst, drücke sich das »beherrschende soziale Zeitgefühl unserer westdeutschen Situation« aus, um jedoch sogleich hinzuzufügen, worin sich für ihn das Restaurative der Zeit ausdrückte, nämlich in der »Wiederherstellung der Grundlagen der Demokratie im Sinne der zwanziger Jahre« samt einiger dazugehöriger Erscheinungen: »Kapitalisten und Proletarier, die freie Konkurrenz und der Klassenkampf.«[55] In jenem Jahrzehnt, so eine scheinbar beiläufige Bemerkung Schelskys, die die Ursachen des Nationalsozialismus noch ganz offen dem Weimarer Werte- und Verfassungssystem zuschob, lagen nämlich – seiner Ansicht zufolge – die »Keime des totalitären Systems«.[56]

Eingebettet war diese offensichtlich auf Neutralisierung ausgerichtete Deutung des Restaurativen freilich in eine Institutionentheorie, der an einer Reaktivierung sozialer Leitbilder (gleich welcher Couleur) nur gelegen sein konnte, sofern diese nicht einer grundsätzlichen Reideologisierung Vorschub leistete, sondern stattdessen einem als naturgegeben geltenden Sicherheitsbedürfnis der Menschen entgegenkomme. Gründend auf der Vorstellung, dass das Restaurative eine »Gefährdung des Menschen« anzeige und der Sehnsucht nach dem entspringe, was ihm zufolge »Fundamente des Daseins enthielt, auf die wir allzu unwissend oder leichtfertig verzichtet haben«,[57] sprach sich Schelsky für jene Stabilisierungsmechanismen aus, die mit den gegenwärtigen Formen sozialen Zusammenhalts (den »großorganisatorischen Superstrukturen«) ohnehin Einzug hielten. Die »Verabschiedung der Utopie« sei dem61nach als eine Begrüßung des »Mit-sich-eins-Wissen[s] einer fertig gewordenen Welt« anzusehen.[58]

Eine entsprechende Reaktion auf Schelskys ideenpolitischen Vorstoß ließ nicht lange auf sich warten. So nahm Otto Stammer, seines Zeichens Mitherausgeber der SPD-nahen Zeitschrift Die Neue Gesellschaft, jenen Artikel zum Anlass, um vor der Gefahr eines »sozialen Defaitismus« zu warnen, wie er ihn auch in Schelskys dortiger Analyse wahrnahm. Indem Schelsky nämlich Formen gesellschaftspolitischer Zusammenschlüsse als Ausdruck der restaurativen Tendenz deute, so ließ Stammer wissen, betreibe er eine »Rechtfertigung der Restauration in der Bundesrepublik«.[59] Im Zuge seines eigenen Artikels bemühte sich Stammer demgegenüber um eine Verteidigung des bundesrepublikanischen Parteien- und Verbandspluralismus, der sich von den Massenverbänden der 1920er Jahre grundsätzlich unterscheide. Ferner betonte er die Chancen, die seiner Ansicht nach in der »Organisationswirklichkeit der Verbände« für den Prozess der Demokratisierung insgesamt lagen.[60]

Darüber hinaus hatte Stammer jedoch eine weitere – allerdings weniger offensichtliche – Antwort auf Schelsky gegeben, die vermutlich seiner Rolle als Mitherausgeber der Zeitschrift zuzuschreiben ist. So erschien im gleichen Heft seiner Entgegnung auch ein Artikel, der unmissverständlich zum Ausdruck brachte, worüber sich ein Großteil der damals gegenwärtigen Restaurationskritik tatsächlich entrüstete. Unter dem Titel »Das Regime der Mitläufer« stand darin zu lesen, dass der »stärkste Motor der Restauration« in dem Phänomen der »Renazifizierung« zu suchen sei.[61] Unter »Renazifizierung« verstand Kurt Nemitz, der damals 30-jähri62ge Sohn des jüdischen, in Theresienstadt umgekommenen SPD-Reichstagsabgeordneten Julius Moses, Folgendes:

Der Begriff der Renazifizierung wird als Umschreibung eines politischen [und] soziologischen Umschichtungsprozesses verwandt, der sich im Laufe der Eingliederung der Funktionäre und Träger des nationalsozialistischen Systems in das öffentliche Leben der Bundesrepublik vollzieht.[62]

In Anlehnung an den Begriff der Entnazifizierung, so Nemitz weiter, sei unter »Renazifizierung« ein gesellschaftlicher Prozess zu verstehen, der die »erneute Einflussnahme ehemaliger Funktionäre des nationalsozialistischen Regimes« zur Folge habe und der – begünstigt durch das politische Klima des Kalten Krieges, in dem die Praxis eines militanten Antikommunismus zu neuen Ehren gelange – eine »gefährliche Nuancierung« erhalte.[63] Dabei sprach sich Nemitz keineswegs für eine absolute Fernhaltung belasteter Personen von gesellschaftlichen Schlüsselpositionen aus, sondern unterschied sorgfältig zwischen einer »wünschenswerten Absorbierung der großen Masse der nur »formal« Belasteten und der Renazifizierung im engeren Sinne.«[64]