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Zwei Spiele, zwei große Themen der Weltliteratur werden von Brecht hier zu einem geschlossenen Kreis geführt: Das Spiel von Grusche Vachnadze, der Magd, die mit übermenschlichen Opfern - selbst dem Opfer ihrer Liebe zu dem Soldaten Simon Chachava - in Zeiten der Revolte das Kind der harten Gouverneursfrau rettet, und das Spiel vom Azdak, dem Arme-Leute-Richter, der, betrunken und korrupt, dennoch das Chaos zu einer »kurzen, goldenen Zeit beinah der Gerechtigkeit« macht.
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Seitenzahl: 171
Bertolt Brecht, geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg, starb am 14. August 1956 in Berlin.
Der kaukasische Kreidekreis ist 1944/45 in Santa Monica (USA) entstanden, wurde 1948 in den Vereinigten Staaten uraufgeführt und am 9. November 1954 im Berliner Theater am Schiffbauerdamm zum erstenmal in deutscher Sprache gegeben.
Zwei Spiele, zwei große Themen der Weltliteratur werden von Brecht hier zu einem geschlossenen Kreis geführt: Das Spiel von Grusche Vachnadze, der Magd, die mit übermenschlichen Opfern - selbst dem Opfer ihrer Liebe zu dem Soldaten Simon Chachava - in Zeiten der Revolte das Kind der harten Gouverneursfrau rettet, und das Spiel vom Azdak, dem Arme-Leute-Richter, der, betrunken und korrupt, dennoch das Chaos zu einer »kurzen, goldenen Zeit beinah der Gerechtigkeit« macht.
»Dieses Spiel fällt keinen Augenblick aus dem Rahmen der Poesie. Ob als verloren beklagt oder als vernünftig erhofft - die Paradiese, von denen der Mensch träumt, sind künstlich. Wer in ihnen lebte, hätte keinen Grund, sie zu dichten.« Siegfried Melchinger
Der kaukasische Kreidekreis
Suhrkamp
Der vorliegende Text folgt der Ausgabe:
Bertolt Brecht, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, herausgegeben von Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei und Klaus-Detlef Müller, Band 8: Stücke 8, bearbeitet von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1992, S. 93-185.
Textgrundlage des vorliegenden Bandes ist die dritte Fassung des Stücks Der kaukasische Kreidekreis von 1954, die erstmals im selben Jahr im Rahmen der Versuche Bertolt Brechts im Suhrkamp Verlag (Berlin [West]) erschien. Der 1. Akt (»Der Streit um das Tal«) der späteren Einzelausgabe in Band 31 der edition suhrkamp erscheint hier als »Vorspiel«, entsprechend verschiebt sich die Numerierung der anderen Akte. Weiterführende Informationen hierzu finden sich in der kommentierten Ausgabe der Suhrkamp BasisBibliothek, Band 42: Bertolt Brecht, Der kaukasische Kreidekreis, mit einem Kommentar von Ana Kugli, Suhrkamp Verlag: Frankfurt am Main 2003, S. 147 ff.
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2013
© Brecht-Erben/Suhrkamp Verlag Berlin 1954
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag: Willy Fleckhaus
eISBN 978-3-518-73975-4
www.suhrkamp.de
Mitarbeiter: Ruth Berlau
»Der kaukasische Kreidekreis« mag als 31. Versuch gelten. Der Stoff – der Streit zweier Frauen um ein Kind und die richterliche Maßnahme, die ihn klärt – ist dem alten chinesischen Stück »Der Kreidekreis« entnommen. In dem alten Stück ist es die leibliche Mutter, die darauf verzichtet, das Kind aus dem Kreise zu ziehen. Auch alles übrige ist in dem neuen Stück anders. – Paul Dessau hat eine Musik zum »Kaukasischen Kreidekreis« geschrieben.
Personen
Georgi Abaschwili, der Gouverneur · Seine Frau Natella · Der fette Fürst Kazbeki · Niko Mikadze und Mikha Loladze, zwei Ärzte · Der Adjutant · Der Sänger · Musiker · Simon Chachava, ein Soldat · Grusche Vachnadze, ein Küchenmädchen · Baumeister · Maro, eine Kinderfrau · Der Koch · Ein Stallknecht · Ein alter Mann · Zwei vornehme Damen · Der Wirt · Der Hausknecht · Der Gefreite · Ein Bauer und seine Frau · Drei Händler · Lavrenti Vachnadze, Grusches Bruder · Seine Frau Aniko · Eine Bäuerin, Grusches spätere Schwiegermutter · Deren Sohn Jussup · Der Mönch · Hochzeitsgäste · Michel, Sohn des Gouverneurs · Kinder · Der Dorfschreiber Azdak · Polizist Schauwa · Der Großfürst · Bizergan Kazbeki, Neffe des fetten Fürsten · Der Arzt · Der Invalide · Der Hinkende · Der Erpresser · Ludowika, Schwiegertochter des Wirts · Der Knecht · Drei Großbauern · Eine alte Bäuerin · Der Bandit · Die Köchin · Illo Schuboladze und Sandro Oboladze, zwei Anwälte · Ein sehr altes Ehepaar · Bettler und Bittsteller · Soldaten · Panzerreiter · Dienstboten · Personen des Vorspiels
Zwischen den Trümmern eines zerschossenen kaukasischen Dorfes sitzen im Kreis, weintrinkend und rauchend, Mitglieder zweier Kolchosdörfer, meist Frauen und ältere Männer; doch auch einige Soldaten. Bei ihnen ist ein Delegierter der staatlichen Wiederaufbaukommission aus der Hauptstadt.
EINE BÄUERIN LINKSzeigt: Dort in den Hügeln haben wir drei Nazitanks aufgehalten, aber die Apfelpflanzung war schon zerstört.
EIN ALTER BAUER RECHTS Unsere schöne Meierei: liegt auch in Trümmern!
EINE JUNGE TRAKTORISTIN Ich habe das Feuer an die Meierei gelegt, Genosse.
Pause.
DER DELEGIERTE Hört jetzt das Protokoll: Es erschienen in Nukha die Delegierten des Ziegenzuchtkolchos »Galinsk«. Auf Befehl der Behörden hat der Kolchos, als die Hitlerarmeen anrückten, seine Ziegenherden weiter nach Osten getrieben. Er erwägt jetzt die Rücksiedelung. Seine Delegierten haben Dorf und Gelände besichtigt und einen hohen Grad von Zerstörung festgestellt. Die Delegierten rechts nicken. Der benachbarte Obstbaukolchos »Rosa Luxemburg« nach rechts stellt den Antrag, daß das frühere Weideland des Kolchos »Galinsk«, ein Tal mit spärlichem Graswuchs, beim Wiederaufbau für Obst- und Weinbau verwertet wird. Als Delegierter der Wiederaufbaukommission ersuche ich die beiden Kolchosdörfer, sich selber darüber zu einigen, ob der Kolchos »Galinsk« hierher zurückkehren soll oder nicht.
DER ALTE BAUER RECHTS Zunächst möchte ich noch einmal gegen die Beschränkung der Redezeit protestieren. Wir vom Kolchos »Galinsk« sind drei Tage und drei Nächte auf dem Weg hierher gewesen, und jetzt soll es nur eine Diskussion von einem halben Tag sein!
EIN VERWUNDETER SOLDAT LINKS Genosse, wir haben nicht mehr so viele Dörfer und nicht mehr so viele Arbeitshände und nicht mehr soviel Zeit.
DIE JUNGE TRAKTORISTIN LINKS Alle Vergnügungen müssen rationiert werden, der Tabak ist rationiert und der Wein und die Diskussion auch.
DER ALTE RECHTSseufzend: Tod den Faschisten! So komme ich zur Sache und erkläre euch also, warum wir unser Tal zurückhaben wollen. Es gibt eine große Menge von Gründen, aber ich will mit einem der einfachsten anfangen. Makinä Abakidze, pack den Ziegenkäse aus.
Eine Bäuerin rechts nimmt aus einem großen Korb einen riesigen, in ein Tuch geschlagenen Käselaib. Beifall und Lachen.
DER ALTE RECHTS Bedient euch, Genossen, greift zu.
EIN ALTER BAUER LINKSmißtrauisch: Ist der als Beeinflussung gedacht?
DER ALTE RECHTSunter Gelächter: Wie soll der als Beeinflussung gedacht sein, Surab, du Talräuber. Man weiß, daß du den Käse nehmen wirst und das Tal auch. Gelächter. Alles, was ich von dir verlange, ist eine ehrliche Antwort: Schmeckt dir dieser Käse?
DER ALTE LINKS Die Antwort ist: Ja.
DER ALTE RECHTS So. Bitter. Ich hätte es mir denken können, daß du nichts von Käse verstehst.
DER ALTE LINKS Warum nicht? Wenn ich dir sage, er schmeckt mir.
DER ALTE RECHTS Weil er dir nicht schmecken kann. Weil er nicht ist, was er war in den alten Tagen. Und warum ist er nicht mehr so? Weil unseren Ziegen das neue Gras nicht so schmeckt, wie ihnen das alte geschmeckt hat. Käse ist nicht Käse, weil Gras nicht Gras ist, das ist es. Bitte, das zu Protokoll zu nehmen.
DER ALTE LINKS Aber euer Käse ist ausgezeichnet.
DER ALTE RECHTS Er ist nicht ausgezeichnet, kaum mittelmäßig. Das neue Weideland ist nichts, was immer die Jungen sagen. Ich sage, man kann nicht leben dort. Es riecht nicht einmal richtig nach Morgen dort am Morgen.
Einige lachen.
DER DELEGIERTE Ärgere dich nicht, daß sie lachen, sie verstehen dich doch. Genossen, warum liebt man die Heimat? Deswegen: Das Brot schmeckt da besser, der Himmel ist höher, die Luft ist da würziger, die Stimmen schallen da kräftiger, der Boden begeht sich da leichter. Ist es nicht so?
DER ALTE RECHTS Das Tal hat uns seit jeher gehört.
DER SOLDAT LINKS Was heißt »seit jeher«? Niemandem gehört nichts seit jeher. Als du jung warst, hast du selber dir nicht gehört, sondern den Fürsten Kazbeki.
DER ALTE RECHTS Ist es etwa gleich, was für ein Baum neben dem Haus steht, wo man geboren ist? Oder was für Nachbarn man hat, ist das gleich? Wir wollen zurück, sogar, um euch neben unserm Kolchos zu haben, ihr Talräuber. Jetzt könnt ihr wieder lachen.
DER ALTE LINKSlacht: Warum hörst du dir dann nicht ruhig an, was deine »Nachbarin« Kato Wachtang, unsere Agronomin, über das Tal zu sagen hat?
EINE BÄUERIN RECHTS Wir haben noch lang nicht alles gesagt, was wir zu sagen haben über unser Tal. Von den Häusern sind nicht alle zerstört, von der Meierei steht zumindest noch die Grundmauer.
DER DELEGIERTE Ihr habt einen Anspruch auf Staatshilfe – hier und dort, das wißt ihr. Hier in meiner Tasche habe ich Vorschläge.
DIE BÄUERIN RECHTS Genosse Sachverständiger, das ist kein Handel hier. Ich kann dir nicht deine Mütze nehmen und dir eine andre hinhalten mit »die ist besser«. Die andere kann besser sein, aber die deine gefällt dir besser.
DIE JUNGE TRAKTORISTIN Mit einem Stück Land ist es nicht wie mit einer Mütze, nicht in unserm Land, Genossin.
DER DELEGIERTE Werdet nicht zornig. Es ist richtig, wir müssen ein Stück Land eher wie ein Werkzeug ansehen, mit dem man Nützliches herstellt, aber es ist auch richtig, daß wir die Liebe zu einem besonderen Stück Land anerkennen müssen. Was mich betrifft, würde ich gern genauer erfahren, was ihr zu denen links mit dem Tal anfangen wollt.
ANDERE Ja, laßt Kato reden.
DER DELEGIERTE Genossin Agronomin!
KATOsteht auf, sie ist in militärischer Uniform: Genossen, im letzten Winter, als wir als Partisanen hier in den Hügeln kämpften, haben wir davon gesprochen, wie wir nach der Vertreibung der Deutschen unsere Obstkultur zehnmal so groß wiederaufbauen könnten. Ich habe das Projekt einer Bewässerungsanlage ausgearbeitet. Vermittels eines Staudamms an unserm Bergsee können dreihundert Hektar unfruchtbaren Bodens bewässert werden. Unser Kolchos könnte dann nicht nur mehr Obst, sondern auch Wein anbauen. Aber das Projekt lohnt sich nur, wenn man auch das strittige Tal des Kolchos »Galinsk« einbeziehen könnte. Hier sind die Berechnungen. Sie überreicht dem Delegierten eine Mappe.
DER ALTE RECHTS Schreiben Sie ins Protokoll, daß unser Kolchos beabsichtigt, eine neue Pferdezucht aufzumachen.
DIE JUNGE TRAKTORISTIN Genossen, das Projekt ist ausgedacht worden in den Tagen und Nächten, wo wir in den Bergen hausen mußten und oft keine Kugeln mehr für die paar Gewehre hatten. Selbst die Beschaffung des Bleistifts war schwierig.
Beifall von beiden Seiten.
DER ALTE RECHTS Unsern Dank den Genossen vom Kolchos »Rosa Luxemburg« und allen, die die Heimat verteidigt haben!
Sie schütteln einander die Hände und umarmen sich.
DIE BÄUERIN LINKS Unser Gedanke war dabei, daß unsere Soldaten, unsere und eure Männer, in eine noch fruchtbarere Heimat zurückkommen sollten.
DIE JUNGE TRAKTORISTIN Wie der Dichter Majakowski gesagt hat, »die Heimat des Sowjetvolkes soll auch die Heimat der Vernunft sein«!
Die Delegierten rechts sind, bis auf den Alten rechts, aufgestanden und studieren mit dem Delegierten die Zeichnungen der Agronomin. Ausrufe wie: »Wieso ist die Fallhöhe zweiundzwanzig Meter?« – »Der Felsen hier wird gesprengt!« – »Im Grund brauchen sie nur Zement und Dynamit!« – »Sie zwingen das Wasser, hier herunterzukommen, das ist schlau!«
EIN SEHR JUNGER ARBEITER RECHTSzum Alten rechts: Sie bewässern alle Felder zwischen den Hügeln, schau dir das an, Alleko.
DER ALTE RECHTS Ich werde es mir nicht anschauen. Ich wußte es, daß das Projekt gut sein würde. Ich lasse mir nicht die Pistole auf die Brust setzen.
DER DELEGIERTE Aber sie wollen dir nur den Bleistift auf die Brust setzen.
Gelächter.
DER ALTE RECHTSsteht düster auf und geht, sich die Zeichnungen zu betrachten: Diese Talräuber wissen leider zu genau, daß wir Maschinen und Projekten nicht widerstehen können hierzulande.
DIE BÄUERIN RECHTS Alleko Bereschwili, du bist selber der Schlimmste mit neuen Projekten, das ist bekannt.
DER DELEGIERTE Was ist mit meinem Protokoll? Kann ich schreiben, daß ihr bei eurem Kolchos die Abtretung eures alten Tals für dieses Projekt befürworten werdet?
DIE BÄUERIN RECHTS Ich werde sie befürworten. Wie ist es mit dir, Alleko?
DER ALTE RECHTSüber den Zeichnungen: Ich beantrage, daß ihr uns Kopien von den Zeichnungen mitgebt.
DIE BÄUERIN RECHTS Dann können wir zum Essen gehen. Wenn er erst einmal die Zeichnungen hat und darüber diskutieren kann, ist die Sache erledigt. Ich kenne ihn. Und so ist es mit den andern bei uns.
Die Delegierten umarmen sich wieder lachend.
DER ALTE LINKS Es lebe der Kolchos »Galinsk«, und viel Glück zu eurer neuen Pferdezucht!
DIE BÄUERIN LINKS Genossen, es ist geplant, zu Ehren des Besuchs der Delegierten vom Kolchos »Galinsk« und des Sachverständigen ein Theaterstück unter Mitwirkung des Sängers Arkadi Tscheidse aufzuführen, das mit unserer Frage zu tun hat.
Beifall. Die junge Traktoristin ist weggelaufen, den Sänger zu holen.
DIE BÄUERIN RECHTS Genossen, euer Stück muß gut sein, wir bezahlen es mit einem Tal.
DIE BÄUERIN LINKS Arkadi Tscheidse kann einundzwanzigtausend Verse.
DER ALTE LINKS Wir haben das Stück unter seiner Leitung einstudiert. Man kann ihn übrigens nur sehr schwer bekommen. Ihr in der Plankommission solltet euch darum kümmern, daß man ihn öfter in den Norden heraufbekommt, Genosse.
DER DELEGIERTE Wir befassen uns eigentlich mehr mit Ökonomie.
DER ALTE LINKSlächelnd: Ihr bringt Ordnung in die Neuverteilung von Weinreben und Traktoren, warum nicht von Gesängen?
Von der jungen Traktoristin geführt, tritt der Sänger Arkadi Tscheidse, ein stämmiger Mann von einfachem Wesen, in den Kreis. Mit ihm sind vier Musiker mit ihren Instrumenten. Die Künstler werden mit Händeklatschen begrüßt.
DIE JUNGE TRAKTORISTIN Das ist der Genosse Sachverständige, Arkadi.
Der Sänger begrüßt die Umstehenden.
DIE BÄUERIN RECHTS Es ehrt mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen. Von Ihren Gesängen habe ich schon auf der Schulbank gehört.
DER SÄNGER Diesmal ist es ein Stück mit Gesängen, und fast der ganze Kolchos spielt mit. Wir haben die alten Masken mitgebracht.
DER ALTE RECHTS Wird es eine der alten Sagen sein?
DER SÄNGER Eine sehr alte. Sie heißt »Der Kreidekreis« und stammt aus dem Chinesischen. Wir tragen sie freilich in geänderter Form vor. Jura, zeig mal die Masken.
DER ALTE BAUER RECHTSeine der Masken erkennend: Ah, der Fürst Kazbeki!
DER SÄNGER Genossen, es ist eine Ehre für uns, euch nach einer schwierigen Debatte zu unterhalten. Wir hoffen, ihr werdet finden, daß die Stimme des alten Dichters auch im Schatten der Sowjettraktoren klingt. Verschiedene Weine zu mischen, mag falsch sein, aber alte und neue Weisheit mischen sich ausgezeichnet. Nun, ich hoffe, wir alle bekommen erst zu essen, bevor der Vortrag beginnt. Das hilft nämlich.
STIMMEN Gewiß. Kommt alle ins Klubhaus.
Während des Aufbruchs wendet sich der Delegierte an die junge Traktoristin.
DER DELEGIERTEzum Sänger: Wie lange wird die Geschichte dauern, Arkadi? Ich muß noch heute nacht zurück nach Tiflis.
DER SÄNGERbeiläufig: Es sind eigentlich zwei Geschichten. Ein paar Stunden.
DER DELEGIERTEsehr vertraulich: Könntet ihr es nicht kürzer machen?
DER SÄNGER Nein.
Alle gehen fröhlich zum Essen.
DER SÄNGERvor seinen Musikern auf dem Boden sitzend, einen schwarzen Umhang aus Schafsleder um die Schultern, blättert in einem abgegriffenen Textbüchlein mit Zetteln:
In alter Zeit, in blutiger Zeit
Herrschte in dieser Stadt, »die Verdammte« genannt
Ein Gouverneur mit Namen Georgi Abaschwili.
Er war reich wie der Krösus.
Er hatte eine Frau aus edlem Geschlecht.
Er hatte ein kerngesundes Kind.
Kein andrer Gouverneur in Grusinien hatte
So viele Pferde an seiner Krippe
Und so viele Bettler an seiner Schwelle
So viele Soldaten in seinem Dienste
Und so viele Bittsteller in seinem Hofe.
Wie soll ich euch einen Georgi Abaschwili beschreiben?
Er genoß sein Leben.
An einem Ostersonntagmorgen
Begab sich der Gouverneur mit seiner Familie
In die Kirche.
Aus dem Torbogen eines Palastes quellen Bettler und Bittsteller, magere Kinder, Krücken, Bittschriften hochhaltend. Hinter ihnen zwei Panzersoldaten, dann in kostbarer Tracht die Gouverneursfamilie.
DIE BETTLER UND BITTSTELLER Gnade, Euer Gnaden, die Steuer ist unerschwinglich. – Ich habe mein Bein im Persischen Krieg eingebüßt, wo kriege ich … – Mein Bruder ist unschuldig, Euer Gnaden, ein Mißverständnis. – Er stirbt mir vor Hunger. – Bitte um Befreiung unsres letzten Sohnes aus dem Militärdienst. – Bitte, Euer Gnaden, der Wasserinspektor ist bestochen.
Ein Diener sammelt die Bittschriften, ein andrer teilt Münzen aus einem Beutel aus. Die Soldaten drängen die Menge zurück, mit schweren Lederpeitschen auf sie einschlagend.
SOLDAT Zurück. Das Kirchentor freimachen.
Hinter dem Gouverneurspaar und dem Adjutanten wird aus dem Torbogen das Kind des Gouverneurs in einem prunkvollen Wägelchen gefahren. Die Menge drängt wieder vor, es zu sehen.
DER SÄNGERwährend die Menge zurückgepeitscht wird:
Zum erstenmal an diesen Ostern sah das Volk den Erben.
Zwei Doktoren gingen keinen Schritt von dem Hohen Kind
Augapfel des Gouverneurs.
Rufe aus der Menge: »Das Kind!« – »Ich kann es nicht sehen, drängt nicht so.« – »Gottes Segen, Euer Gnaden.«
DER SÄNGER
Selbst der mächtige Fürst Kazbeki
Erwies ihm vor der Kirchentür seine Reverenz.
Ein fetter Fürst tritt herzu und begrüßt die Familie.
DER FETTE FÜRST Fröhliche Ostern, Natella Abaschwili.
Man hört einen Befehl. Ein Reiter sprengt heran, hält dem Gouverneur eine Rolle mit Papieren entgegen. Auf einen Wink des Gouverneurs begibt sich der Adjutant, ein schöner junger Mann, zu dem Reiter und hält ihn zurück. Es entsteht eine kurze Pause, während der fette Fürst den Reiter mißtrauisch mustert.
DER FETTE FÜRST Was für ein Tag! Als es gestern nacht regnete, dachte ich schon: trübe Feiertage. Aber heute morgen: ein heiterer Himmel. Ich liebe heitere Himmel, Natella Abaschwili, ein simples Herz. Und der kleine Michel, ein ganzer Gouverneur, tititi. Er kitzelt das Kind. Fröhliche Ostern, kleiner Michel, tititi.
DIE GOUVERNEURSFRAU Was sagen Sie, Arsen, Georgi hat sich endlich entschlossen, mit dem Bau des neuen Flügels an der Ostseite zu beginnen. Die ganze Vorstadt mit den elenden Baracken wird abgerissen für den Garten.
DER FETTE FÜRST Das ist eine gute Nachricht nach so vielen schlechten. Was hört man vom Krieg, Bruder Georgi? Auf die abwinkende Geste des Gouverneurs. Ein strategischer Rückzug, höre ich? Nun, das sind kleine Rückschläge, die es immer gibt. Einmal steht es besser, einmal schlechter. Kriegsglück. Es hat wenig Bedeutung, wie?
DIE GOUVERNEURSFRAU Er hustet! Georgi, hast du gehört? Scharf zu den beiden Ärzten, zwei würdevollen Männern, die dicht hinter dem Wägelchen stehen: Er hustet.
ERSTER ARZTzum zweiten: Darf ich Sie daran erinnern, Niko Mikadze, daß ich gegen das laue Bad war? Ein kleines Versehen bei der Temperierung des Badewassers, Euer Gnaden.
ZWEITER ARZTebenfalls sehr höflich: Ich kann Ihnen unmöglich beistimmen, Mikha Loladze, die Badewassertemperatur ist die von unserm geliebten großen Mishiko Oboladze angegebene. Eher Zugluft in der Nacht, Euer Gnaden.
DIE GOUVERNEURSFRAU Aber so sehen Sie doch nach ihm. Er sieht fiebrig aus, Georgi.
ERSTER ARZTüber dem Kind: Kein Grund zur Beunruhigung, Euer Gnaden. Das Badewasser ein bißchen wärmer, und es kommt nicht mehr vor.
ZWEITER ARZTmit giftigem Blick auf ihn: Ich werde es nicht vergessen, lieber Mikha Loladze. Kein Grund zur Besorgnis, Euer Gnaden.
DER FETTE FÜRST Ai, ai, ai, ai! Ich sage immer, meine Leber sticht, dem Doktor fünfzig auf die Fußsohlen. Und das auch nur, weil wir in einem verweichlichten Zeitalter leben; früher hieß es einfach: Kopf ab!
DIE GOUVERNEURSFRAU Gehen wir in die Kirche, wahrscheinlich ist es die Zugluft hier.
Der Zug, bestehend aus der Familie und dem Dienstpersonal, biegt in das Portal einer Kirche ein. Der fette Fürst folgt. Der Adjutant tritt aus dem Zug und zeigt auf den Reiter.
DER GOUVERNEUR Nicht vor dem Gottesdienst, Shalva.
DER ADJUTANTzum Reiter: Der Gouverneur wünscht nicht, vor dem Gottesdienst mit Berichten behelligt zu werden, besonders wenn sie, wie ich annehme, deprimierender Natur sind. Laß dir in der Küche etwas zu essen geben, Freund.
Der Adjutant schließt sich dem Zug an, während der Reiter mit einem Fluch in das Palasttor geht. Ein Soldat kommt aus dem Palast und bleibt im Torbogen stehen.
DER SÄNGER
Die Stadt ist stille.
Auf dem Kirchplatz stolzieren die Tauben.
Ein Soldat der Palastwache
Scherzt mit einem Küchenmädchen
Das vom Fluß herauf mit einem Bündel kommt.
In den Torbogen will eine Magd, unterm Arm ein Bündel aus großen grünen Blättern.
DER SOLDAT Was, das Fräulein ist nicht in der Kirche, schwänzt den Gottesdienst?
GRUSCHE Ich war schon angezogen, da hat für das Osteressen eine Gans gefehlt, und sie haben mich gebeten, daß ich sie hol, ich versteh was von Gänsen.
DER SOLDAT Eine Gans? Mit gespieltem Mißtrauen. Die müßt ich erst sehen, diese Gans.
Grusche versteht nicht.
DER SOLDAT Man muß vorsichtig sein mit den Frauenzimmern. Da heißt es: »Ich hab nur eine Gans geholt«, und dann war es etwas ganz anderes.
GRUSCHEgeht resolut auf ihn zu und zeigt ihm die Gans: Da ist sie. Und wenn es keine Fünfzehnpfund-Gans ist und sie haben sie nicht mit Mais geschoppt, eß ich die Federn.
DER SOLDAT Eine Königin von einer Gans! Die wird vom Gouverneur selber verspeist werden. Und das Fräulein war also wieder einmal am Fluß?
GRUSCHE Ja, beim Geflügelhof.
DER SOLDAT Ach so, beim Geflügelhof, unten am Fluß, nicht etwa oben bei den gewissen Weiden?
GRUSCHE Bei den Weiden bin ich doch nur, wenn ich das Linnen wasche.
DER SOLDATbedeutungsvoll: Eben.
GRUSCHE Eben was?
DER SOLDATzwinkernd: Eben das.
GRUSCHE