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Seit den Anfängen der Massengesellschaft im 19. Jahrhundert ist sie nicht mehr aus der ›lyrischen‹ Produktion wegzudenken: die Stadt. Vervielfältigung wie Zerstörung menschlicher Beziehungen, Befreiung von (dörflicher) Naturbornierung und Zerstörung natürlicher Bedürfnisse, kurz: Faszination und Grauen sind die Pole dieses genuin ›modernen‹ Motivs. Seine raffiniertesten Versionen verschränken beides: entdecken die Trauer des Berauschenden großer Städte und die Faszination noch ihres Unmenschlichen. Auch Brechts Stadt-Gedichte sind, obwohl gewiß das Trostlose und Unmenschliche akzentuierend, nicht ohne eine solche dialektische Kehrseite. Denn ihre gesellschaftliche Hoffnung wie ihre didaktische Maxime ist, daß »die tiefste Verzweiflung die Bedingung für die Rettung« ist – so Franco Buono, der diese Auswahl zusammengestellt hat. Buonos Nachwort hebt das Besondere von Brechts Stadt-Gedichten hervor und skizziert die Geschichte des Stadt-Motivs in Brechts Werk.
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Seitenzahl: 109
Veröffentlichungsjahr: 2025
Bertolt Brecht
Gedichte für Städtebewohner
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Franco Buono
Suhrkamp
eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 4. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuchs 640.
© 1980, Suhrkamp Verlag AG, Berlin
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Umschlag: hißmann, heilmann, hamburg
eISBN 978-3-518-75269-2
www.suhrkamp.de
Vom armen B. B.
O Falladah, die du hangest!
Politische Betrachtungen
Bidis Ansicht über die großen Städte
Von der zermalmenden Wucht der Städte
Von den Resten älterer Zeiten
Immer noch, wenn schon der achte Autotyp
Komm mit mir nach Georgia
Mahagonnygesang Nr. 4
Über den Einzug der Menschheit in die großen Städte zu Beginn des dritten Jahrtausends
Lied einer Familie aus der Savannah
Achttausend arme Leute kommen vor die Stadt
Diese Babylonische Verwirrung
Letzte Hoffnung
Über den Ohm
Das Entsetzen, arm zu sein
Morgendliche Rede an den Baum Griehn
Lied am Schwarzen Samstag in der elften Stunde der Nacht vor Ostern
Über die Städte
Mahagonnygesang Nr. 1
Gott in Mahagonny
AUS EINEM LESEBUCH FÜR STÄDTEBEWOHNER
Verwisch die Spuren
Vom fünften Rad
An Chronos
Ich weiß, was ich brauche
Ich bin ein Dreck
Er ging die Straße hinunter
Reden Sie nichts von Gefahr
Laßt eure Träume fahren
Vier Aufforderungen an einen Mann von verschiedener Seite zu verschiedenen Zeiten
Wenn ich mit dir rede
ZUM LESEBUCH FÜR STÄDTEBEWOHNER GEHÖRIGE GEDICHTE
Die Städte sind für dich gebaut
Tritt an! Warum kommst du so spät?
Die Gäste, die du siehst
Früher dachte ich
Über die Städte (2)
Bericht anderswohin
Oft in der Nacht träume ich
Hätten Sie die Zeitungen aufmerksam gelesen
Setzen Sie sich!
Ich will nicht behaupten
Ich höre Sie sagen
Unbezahlbar ist
Ich habe ihm gesagt, er soll ausziehen
Es war leicht, ihn zu bekommen
Immer wieder, wenn ich diesen Mann ansehe
Behauptung
Du, der das Unentbehrliche
Über das Mißtrauen des Einzelnen
Warum esse ich Brot, das zu teuer ist?
Ich merke, ihr besteht darauf
Anleitung für die Oberen
Über die Städte (3)
Über die Städte (4)
Wenig würde genügen
Lied eines Mannes in San Francisco
Über das Frühjahr
Die drei Soldaten und der Klassenkampf
Der Traum der Johanna
Wohin zieht ihr?
Das Lied der Obdachlosen
Die Nachtlager
Gesang der Reiskahnschlepper
Der Bauer kümmert sich um seinen Acker
Verschollener Ruhm der Riesenstadt New York
Viele sind für die Ordnung
Warum sollten wir uns deiner schämen?
Der Nachbar
Ausschließlich wegen der zunehmenden Unordnung
Die Medea von Lodz
Die Hölle der Enttäuscher
Hier ist Öl! Öl ist hier!
Wieder zerfallen die Werke von Menschenhand
Untergang der Städte Sodom und Gomorrha
Der Orangenkauf
Naturgedichte
(Svendborg)
(Augsburg)
Alljährlich im September, wenn die Schulzeit beginnt
Die ärmeren Mitschüler aus den Vorstädten
Die große Decke
Über den Verfall der Liebe
Ballade von der »Judenhure« Marie Sanders
Der Pflaumenbaum
Inbesitznahme der großen Metro durch die Moskauer Arbeiterschaft am 27. April 1935
An die Nachgeborenen
Über Deutschland
Die wahre Geschichte vom Rattenfänger von Hameln
Nachdenkend über die Hölle
Die Landschaft des Exils
Angesichts der Zustände in dieser Stadt
Junger Mann auf der Rolltreppe
Hollywood
HOLLYWOOD-ELEGIEN
Das Dorf Hollywood ist entworfen
Am Meer stehen die Öltürme
Die Stadt ist nach den Engeln genannt
Unter den grünen Pfefferbäumen
Die Engel von Los Angeles
Über den vier Städten kreisen die Jagdflieger
Liefere die Ware!
Gezeichnete Geschlechter
Rückkehr
Bericht des Sohnes
Städtische Landschaft
E. P. Auswahl seines Grabsteins
Adresse des sterbenden Dichters an die Jugend
Grabschrift für Karl Liebknecht
Als unsere Städte in Schutt lagen
Die Pappel vom Karlsplatz
Nachkriegsliedchen
O Venezia!
Große Zeit, vertan
Bei der Lektüre eines spätgriechischen Dichters
Der Steinfischer
Oh, ihr Unglücklichen!
Epilog
Nachwort des Herausgebers
Quellennachweis
1
Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern.
Meine Mutter trug mich in die Städte hinein
Als ich in ihrem Leibe lag. Und die Kälte der Wälder
Wird in mir bis zu meinem Absterben sein.
2
In der Asphaltstadt bin ich daheim. Von allem Anfang
Versehen mit jedem Sterbsakrament:
Mit Zeitungen. Und Tabak. Und Branntwein.
Mißtrauisch und faul und zufrieden am End.
3
Ich bin zu den Leuten freundlich. Ich setze
Einen steifen Hut auf nach ihrem Brauch.
Ich sage: Es sind ganz besonders riechende Tiere
Und ich sage: Es macht nichts, ich bin es auch.
4
In meine leeren Schaukelstühle vormittags
Setze ich mir mitunter ein paar Frauen
Und ich betrachte sie sorglos und sage ihnen:
In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht bauen.
5
Gegen Abend versammle ich um mich Männer
Wir reden uns da mit »Gentlemen« an.
Sie haben ihre Füße auf meinen Tischen
Und sagen: Es wird besser mit uns. Und ich frage nicht: Wann?
6
Gegen Morgen in der grauen Frühe pissen die Tannen
Und ihr Ungeziefer, die Vögel, fängt an zu schrein.
Um die Stunde trink ich mein Glas in der Stadt aus und schmeiße
Den Tabakstummel weg und schlafe beunruhigt ein.
7
Wir sind gesessen, ein leichtes Geschlechte
In Häusern, die für unzerstörbare galten
(So haben wir gebaut die langen Gehäuse des Eilands Manhattan
Und die dünnen Antennen, die das Atlantische Meer unterhalten).
8
Von diesen Städten wird bleiben: der durch sie hindurchging, der Wind!
Fröhlich machet das Haus den Esser: er leert es.
Wir wissen, daß wir Vorläufige sind
Und nach uns wird kommen: nichts Nennenswertes.
9
Bei den Erdbeben, die kommen werden, werde ich hoffentlich
Meine Virginia nicht ausgehen lassen durch Bitterkeit
Ich, Bertolt Brecht, in die Asphaltstädte verschlagen
Aus den schwarzen Wäldern in meiner Mutter in früher Zeit.
Ich zog meine Fuhre trotz meiner Schwäche
Ich kam bis zur Frankfurter Allee.
Dort denke ich noch: O je!
Diese Schwäche! Wenn ich mich gehenlasse
Kann’s mir passieren, daß ich zusammenbreche.
Zehn Minuten später lagen nur noch meine Knochen auf der Straße.
Kaum war ich da nämlich zusammengebrochen
(Der Kutscher lief zum Telefon)
Da stürzten sich aus den Häusern schon
Hungrige Menschen, um ein Pfund Fleisch zu erben
Rissen mit Messern mir das Fleisch von den Knochen
Und ich lebte überhaupt noch und war gar nicht fertig mit dem Sterben.
Aber die kannte ich doch von früher, die Leute!
Die brachten mir Säcke gegen die Fliegen doch
Schenkten mir altes Brot und ermahnten noch
Meinen Kutscher, sanft mit mir umzugehen.
Einst mir so freundlich und mir so feindlich heute!
Plötzlich waren sie wie ausgewechselt! Ach, was war mit ihnen geschehen?
Da fragte ich mich: Was für eine Kälte
Muß über die Leute gekommen sein!
Wer schlägt da so auf sie ein
Daß sie jetzt so durch und durch erkaltet?
So helfet ihnen doch! Und tut es in Bälde!
Sonst passiert euch etwas, was ihr nicht für möglich haltet!
Auf dem Stadtweiher fahren sie stundenlang Kahn
Ich sehe das wirklich einfach mit Ekel an.
Kahn fahren, wenn man bis über den Hals verschuldet ist
In so einem Staatswesen, daß das überhaupt geduldet ist!
Ich rauche da nur und sehe auch nur so zu
Und denke mir meinen Teil, ich denke mir: nur so zu
Sie spielen auch Mundharmonika hierzulande
Mundharmonika spielen, und das Land seufzt unter der schwarzen Schande!
Ich denke da kalt, spielt nur weiter und fahrt nur weiter Kahn.
Ich spucke aus, ja, aber weiter geht’s mich nichts an.
Ich sehe nur so zu schon seit einigen Jahren
Ich sehe haarscharf, wohin wir da fahren.
Die Bewohner von Orkney, heißt’s in »Von Pol zu Pol«
Lebten davon, daß sie sich ihre Wäsche wuschen, jawohl
Nur so zu, nur so weiter gemacht noch einige Jahre
Die Assyrer und Babylonier sind ja auch Kahn gefahren.
1
Allenthalb sagt man es nackt:
Jetzt wachsen die Städte: zuhauf!
Und dieses Petrefakt
Hört nicht mehr auf.
2
Weil ich bekümmert bin
Daß dieser Menschheit abgeschmacktes
Gewäsch zu lang in
Den Antennen hackt
3
Sage ich mir: den Städten ist
Sicher ein Ende gesetzt
Nachdem sie der Wind auffrißt
Und zwar: jetzt.
4
Freilich es leuchtet noch her
Wie’s dein Papa noch sah
Doch das Gestirn Großer Bär
Selber ist nicht mehr da.
5
Also auch ist
Schon vergangen die Große Stadt
Was auch an ihr frißt
Es wird nicht mehr satt.
6
Sie steht nicht mehr lang da
Der Mond wird älter.
Du, der sie sah
Betrachte sie kälter.
Aber die Händelosen
Ohne Luft zwischen sich
Hatten Gewalt wie roher Äther.
In ihnen war beständig
Die Macht der Leere, welche die größte ist.
Sie hießen Mangel-an-Atem, Abwesenheit, Ohne-Gestalt
Und sie zermalmten wie Granitberge
Die aus der Luft fallen fortwährend.
Oh, ich sah Gesichter
Wie in schnell hinspülendem Wasser
Der abtrünnige Kies
Sehr einförmig. Viele gesammelt
Gaben ein Loch
Das sehr groß war.
Immer jetzt rede ich nur
Von der stärksten Rasse
Über die Mühen der ersten Zeit.
Plötzlich
Flohen einige in die Luft
Bauend nach oben; andere vom höchsten Hausdach
Warfen ihre Hüte hoch und schrien:
So hoch das nächste!
Aber die Nachfolgenden
Nach gewohnten Daches Verkauf fliehend vor Nachtfrost
Drangen nach und sehen mit Augen des Schellfischs
Die langen Gehäuse
Die nachfolgenden.
Denn zu jener Zeit in selbiger Wändefalt
Aßen in Hast
Vier Geschlechter zugleich
Hatten in ihrem Kindheitsjahr
Auf flacher Hand den Nagel im Wandstein
Niemals gesehn.
Ihnen wuchs ineinander
Das Erz und der Stein.
So kurz war die Zeit
Daß zwischen Morgen und Abend
Kein Mittag war
Und schon standen auf altem, gewöhnetem Boden
Gebirge Beton.
Fragment
Immer noch steht zum Beispiel der Mond
Über den Neubauten die Nächte her
Unter den Dingen aus Kupfer
Ist er
Der Unbrauchbarste. Schon
Erzählen die Mütter von Tieren
Die Wägen zogen, Pferde geheißen.
Freilich in den Gesprächen der Kontinente
Kommen sie nicht mehr vor mit ihrem Namen:
An den großen neuen Antennen
Ist von alter Zeit
Nichts mehr bekannt.
Immer noch
Wenn schon der achte Autotyp
Auf dem alten Eisen des Fabrikfriedhofs liegt (R. I. P.)
Stehen die Bauernkarren aus der Lutherzeit
Fahrbereit unter dem Moosdach.
Ohne Makel.
Immer noch, wo doch schon Ninive dahin ist
Sind seine äthiopischen Brüder sicherlich startbereit.
Immer neu blieb das Rad und das Fahrgestell
Ewig gedacht war die hölzerne Gabel.
Immer noch
Steht der äthiopische Bruder unter dem Moosdach
Aber wer
Fährt auf ihm?
Schon
Liegt der achte Autotyp
Oben auf dem alten Eisen
Aber
Den neunten fahren wir
Also haben wir uns entschieden
Auf immer neuen Wagen voll Makeln
Jederzeit zerstörbaren
Leichten, zerbrechlichen
Zahllosen
Ewig zu fahren.
Fragment
1
Sieh diese Stadt und sieh: sie ist alt
Erinnere dich, wie lieblich sie war!
Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt
Und sage: sie ist alt.
Komm mit mir nach Georgia
Dort bauen wir halt eine neue Stadt
Und wenn diese Stadt zu viele Steine hat
Dann bleiben wir nicht mehr da.
2
Sieh diese Frau und sieh: sie ist kalt
Erinnere dich, wie schön sie einst aussah!
Jetzt betrachte sie nicht mit dem Herzen, sondern kalt
Und sage: sie ist alt.
Komm mit mir nach Georgia
Dort laß uns schaun nach neuen Fraun
Und wenn diese Fraun wieder alt ausschaun
Dann bleiben wir nicht mehr da.
3
Sieh deine Ansichten und sieh: sie sind alt
Erinnere dich, wie gut sie einst waren!
Jetzt betrachte sie nicht mit deinem Herzen, sondern kalt
Und sage: sie sind alt.
Komm mit mir nach Georgia
Dort, wirst du sehn, gibt es neue Ideen
Und wenn die Ideen wieder alt aussehn
Dann bleiben wir nicht mehr da.
1
Ach, Johnny, hab nicht so
Viele Angst um deinen Kopf
Dann zerschlägst du Jack Dempsey
Wie einen alten Topf!
Sei ein Mann
Geh nur ran
Mein Sohn!
Und wenn du über die Runden kommst
Dann komm nach Mahagoni
Und sitzt du einmal bei den
Mahagonnyleuten
Nun, dann rauchst du auch
Und aus euren gelben Häuten
Steigt Rauch.
Himmel wie Pergament
Goldener Tabak
Wenn San Francisco brennt
Was ihr dran Gutes nennt
Sehet, das geht am End
In einen Sack.
2
Ach, Johnny, wenn du mal
Deinen Wolkenkratzer hast
Dann ist es höchste Eisenbahn
Daß du ihn fahren laßt!
Sei ein Mann
Kleb nicht dran
Mein Sohn!
Schau, daß du wieder runter kommst
Und komm nach Mahagon!
Und sitzt du einmal bei den
Mahagonnyleuten
Nun, dann rauchst du auch
Und aus euren gelben Häuten
Steigt Rauch.
Himmel wie Pergament
Goldener Tabak
Wenn San Francisco brennt
Was ihr dran Gutes nennt
Sehet, das geht am End
In einen Sack.
Viele sagen, die Zeit sei alt
Aber ich habe immer gewußt, es sei eine neue Zeit
Ich sage euch: nicht von selber
Wachsen seit zwanzig Jahren Häuser wie Gebirge aus Erz