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Der Geiger Max Auerbach hat nach dem Scheitern seiner Ehe eine Anstellung beim Lübecker Stadtorchester unter Leitung des jungen Dirigenten Wilhelm Furtwängler gefunden. Als der glühende Verehrer Mahlers im Mai 1911 vom Tod des Wiener Meisters erfährt, verliert er jeden Halt: Auerbach entwickelt eine gefährliche Persönlichkeitsstörung. Er nimmt einen Doppelgänger wahr, der ihm aufträgt, in München die Orchesterpartitur von Mahlers „Lied von der Erde“ zu stehlen und den Dirigenten der Uraufführung, Bruno Walter, zu töten …
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Seitenzahl: 248
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Dieter Bührig
Der Klang der Erde
Ein historischer Roman nach Motiven aus dem ›Lied von der Erde‹ von Gustav Mahler
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© 2011 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2011
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung des Bildes »Der Geiger Bronislaw Hubermann« von Lesser Ury, Quelle: www.zeno.org
Druck: Fuldaer Verlagsanstalt, Fulda
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-3710-6
Ein Teil der Personen sowie die Handlung des Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig. Bei der Darstellung historisch belegter Personen wurde die Realität als dichterische Vorlage verwendet.
Um unerwünschte Assoziationen zu vermeiden, wurde der Name einiger Institutionen, Dienstbezeichnungen und politischer Funktionen leicht verändert.
Zitate aus historischen Quellen wurden der heutigen Rechtschreibung vorsichtig angepasst.
»Wir haben es geschafft, meine Damen!«, verkündete Ida Boy-Ed1, obwohl sie genau wusste, dass sich zwei Herren in ihrer Runde befanden. Aber das war jetzt für das emanzipierte Oberhaupt der Lübecker Kultursalons nicht wichtig. »Furtwängler ist zum neuen Kapellmeister gewählt. Das Jahr 1911 wird in der Geschichte unserer Stadt als kultureller Höhepunkt eingehen. Noch in hundert Jahren wird man sich an uns erinnern.«
Wie immer hatten sich die herausragenden Musikliebhaber und Mäzene Lübecks in Idas Heim in der Parkstraße getroffen, in der linken Hälfte eines villenähnlichen Doppelhauses, in dessen Giebel kunstvoll das Jahr 1901 in Holz graviert war. Darunter dominierte ein breiter Balkon die Fassade2. Eine dreiteilige Fensterfront, die von einem eleganten Jugendstil-Rankengeflecht umsäumt war, öffnete tagsüber den Blick in den gegenüber liegenden Stadtpark.
Unter dem Balkon befand sich der Erker, der das vordere Zentrum des Guten Salons markierte. Heute abend war dieser Raum hell, aber dennoch gemütlich erleuchtet, und man konnte von draußen die illustre Gesellschaft, die sich um einen riesigen Tisch gruppiert hatte, erkennen. Man reicht Muschelragout, Juliennesuppe, gebackene Seezungen, Kalbsbraten mit Rahmkartoffeln und Blumenkohl, Marasquino-Pudding und Pumpernickel mit Roquefort. Kaum hatte Ida zu Ende gesprochen, setzten die Damen vorsichtig ihre grazilen Mokkatassen ab, betupften sich mit den bereitliegenden Servietten die dezent geschminkten Lippen und applaudierten brav und distinguiert. Unsere Ida hatte sich mal wieder durchgesetzt. Alles, was recht ist, aber in künstlerischen Dingen trägt sie stets die Nase vorn. Das war schon so, als sie den jungen Lübecker Schriftsteller Thomas Mann hoffähig machte. Und auch beim letzten Kapellmeister, dem Hermann Abendroth, war sie es, die als Erste dessen Talent entdeckte.
Beim Neuen, dem Wilhelm Furtwängler, wird das nicht anders sein, das ahnten sie. Hoffentlich bleibt der junge Mann uns länger erhalten. Hoffentlich betrachtet er diese Stelle nicht auch nur als ein Sprungbrett für seine weitere Karriere, so wie es beim Abendroth der Fall war.
Ida tat die Zustimmung ihrer Freunde gut. Sie strich sich mit einer energischen Bewegung eine Locke aus der Stirn, die sich aus ihrem streng nach hinten gebundenen Haarschopf gelöst hatte. Wer Ida nicht kannte, hätte sie mit ihrem sachlich kritischen Gesichtsausdruck – besonders dem breiten Mund mit den fest zusammengepressten Lippen – und ihrer aufrecht stolzen Haltung leicht für eine spartanische Oberlehrerin halten können. In Wirklichkeit war sie aber eine herzensgute Frau, die sich vorurteilslos künstlerischen Neuerungen gegenüber aufgeschlossen zeigte. Mit fast fünfzig Jahren hatte sie längst ihre wild-emanzipatorische Hülle abgestreift und sich zu einer liberalen Frau von weltmännischem Geschmack entwickelt. Was sie betont nach außen kehrte. Leider war es ihr bisher nicht gelungen, zu diesem Adjektiv eine feminine Alternative zu finden. ›Weltfräulich‹ – das klingt doch unmöglich, geradezu obszön.
Zufrieden schaute Ida in die Runde. Zu ihrer Rechten saß ihre wichtigste Mitstreiterin, Frau Konsulin Lilli Dieckmann3. Sie wohnte in der gleichen Straße4, ein paar Häuser weiter oben. Daneben hockte bescheiden auf seinem Stuhl eingeklemmt der Tenor Karl Erb, der Lübeck eine Reihe schöner Konzerte beschert hatte5. Neben ihm zog die zierliche und charmante Schauspielerin Gertrud Botz, beliebt für ihre Rollen als ›muntere Liebhaberin‹, die Augen insbesonders der beiden Herren auf sich.
Es folgten Frau Benda und Frau Görtz, die Anwaltsgattinnen, Frau Behn und Frau Boye als Vertreterinnen der Kaufmannschaft und Herr Wilhelm Stahl6, die unvermeidliche Pfeife im Mund. Sein Steckenpferd war die musikalische Pilgerreise Johann Sebastian Bachs im Jahre 1705 nach Lübeck, als der junge Barockkomponist in der Marienkirche dem, von ihm verehrten, greisen Orgelvirtuosen Dietrich Buxtehude lauschen wollte.
»Ach, wenn bald mal wieder ein Bach nach Sankt Marien käme …«, pflegte Stahl bei jeder Gelegenheit ins Gespräch einzustreuen. Die anderen kannten das, und weil sie fürchteten, in einen Monolog über Bach und Lübeck hineingezogen zu werden, hatten sie es sich angewöhnt, schnell das Gesprächsthema zu wechseln. Aber immerhin war er ein anerkannter Musikwissenschaftler, dessen fundierte Fachmeinung – wenn er sie denn mal äußerte – durchaus ernst genommen wurde.
Er wohnte in der Catharinenstraße7 23b direkt gegenüber der Altstadtfront an der Untertrave, einem Haus, in dem Musiker gerne gesehen waren. Im oberen Stockwerk lebte Frau Fischer, die Witwe des ehemaligen Musiklehrers am Katharineum, der ehrwürdigen Lateinschule, zusammen mit ihrer Tochter Sarah. Nach dem Tode ihres Mannes vermietete Frau Fischer gerne ein paar Räume zur Untermiete an Musiker.
Als letzte in der Kaffeerunde kam Sarah, die Ida direkt links neben sich beordert hatte. Ihr gefiel das ›Fräulein‹, das recht passabel Klavier spielen konnte und das wegen seiner sensiblen und intelligenten Spielweise gerne als Kammermusikbegleiterin bei Hauskonzerten eingeladen wurde. In ihren eigenen vier Wänden spielte Sarah am liebsten Chopin.
Sie war mit ihren knapp achtzehn Jahren das Küken unter den gestandenen Damen. Entsprechend hielt sie sich bescheiden zurück, was durchaus ihrem in sich gekehrten Charakter entgegenkam. Sie fühlte sich in diesem Kreise sehr unsicher, weil sie genau wusste, dass es ihr an Lebenserfahrung noch mangelte. Ihre Eltern hatten sie zwar in musikalischen Dingen in jeder Hinsicht unterstützt und bei guten Lehrern ausbilden lassen. Aber an den gehobenen Konversationsstil und an die gesellschaftlichen Umgangsformen der Lübecker Salons hatte sie sich nicht gewöhnen können, obwohl sie fast immer eingeladen wurde.
Nur selten war sie über die Mauern der Hansestadt hinausgekommen, nur wenn die Eltern sie zu einem Badetag in das aufblühende Ostseebad Travemünde mitnahmen, oder wenn sie dabei sein durfte, wenn Lilli Dieckmann zusammen mit dem einen oder anderen bekannten Musiker nach Hamburg fuhr, um den Konzerten des großartigen Dirigenten Artur Nikisch beizuwohnen.
Sarah war vom Äußeren her nicht unbedingt eine Schönheit. Mit dem reizenden Gesicht und den erotischen Körperformen der Gertrud Botz konnte sie keinesfalls mithalten. Eigentlich gab sie eine recht unauffällige Figur ab. Nichts an ihrem Gesicht oder ihren Haaren schien es wert zu sein, bemerkt zu werden. Wenn da nicht dieses unübersehbare, handflächengroße Muttermal auf der linken Gesichtshälfte wäre, das sich von der Wange bis hinunter zum Hals zog. Fremde deuteten es als Brandwunde, und manche waren so unsensibel, sie, einen Bericht über einen tragischen Unfall erwartend, daraufhin anzusprechen: »Wo haben Sie sich das denn zugezogen?«
Das Muttermal flammte dann sofort tiefrot auf. In solchen Situationen wäre sie am liebsten in den Boden versunken. Als Kind hatte sie noch wütend protestiert, aber jetzt pflegte sie die Angelegenheit einfach abzutun mit der Bemerkung: »Nichts Schlimmes, nur etwas aus meiner frühesten Kindheit«, und fügte sarkastisch hinzu: »Und nicht ansteckend. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«
Diese, wenn auch geringe Selbstbehauptung hatte sie von Ida Boy-Ed gelernt. Sie himmelte die Ältere an. Sie kannte deren Lebensgeschichte, ihre Flucht aus den engen bürgerlichen Gassen Lübecks, ihr Bohèmeleben in Berlin. Und sie beneidete Ida dafür, dass es ihr gelungen war, sich in einer konservativen Männerwelt mit ihren Träumen durchzusetzen.
Das war genau das, wovon auch sie träumte. – Doch es für sich selber zu realisieren, dafür hielt sie sich noch nicht reif genug.
Das Schönste an ihr waren ihre Augen. Sie waren nicht besonders groß, von weich brauner Farbe. Sie strahlten eine geheimnisvolle Wärme aus, eine Innigkeit und weibliche Anziehungskraft, sodass es nicht ausblieb, dass ihr die jungen Burschen in der Stadt hin und wieder den Hof machten. Davor hatte sie eine gewisse Scheu.
Dieser Max Auerbach zum Beispiel, ihr Nachbar, der Geiger im Städtischen Orchester, schien ernsthafte Absichten zu haben. Aber immer, auch bei ihm, hatte sie das Gefühl, als würden die Männer sie dominieren wollen. Sarah wollte nicht so wie ihre Mutter werden, die sich im Laufe ihrer Ehe ganz und gar in den Schatten ihres Mannes, dem hochverdienten Schulmeister, gestellt hatte. Sie wollte sich nicht so einfach aufgeben. Dazu spürte sie zu viel Talent in sich schlummern, auch wenn es ihr nach außen hin noch an einer gehörigen Portion Selbstachtung fehlte. Aber sie war stolz darauf, mit einer Frau wie Ida zu verkehren, die genau diesen Schritt der Selbstbestimmung erfolgreich geschafft hatte. Sarah spielte recht gut Klavier, und sie komponierte Lieder und Klavierstücke, die sie unter fremden Namen hin und wieder in den Lübecker Salons zu Gehör brachte, und die immerhin wohlwollend aufgenommen wurden.
»Wir wollen nicht wissen, was die Leute in hundert Jahren sagen«, legte sich Lilli ins Zeug. »Berichte uns vom Probedirigat. – Wie war’s? Wie hat das Orchester reagiert? Was hat der Wahlausschuss vom Verein der Lübecker Musikfreunde gesagt?«
»Na ja, Wahlausschuss«, unterbrach sie Frau Boye, die sich eine Tasse Mokka nachschenkte. »Ausgerechnet August Schulz als Wahlleiter! Was kann da schon herauskommen? Er ist ein guter Weinhändler und Liebhaber des Rotspons – aber in Sachen Kunst doch wohl eher ein unbeschriebenes Blatt.«
Die attraktive Schauspielerin Gertrud Botz interessierte sich ebenfalls für den Fall: »Wie sieht er denn aus, der Neue? Ist er wenigstens eine ansehnliche Erscheinung?« Sie nahm den Tortenheber und angelte sich kunstvoll eine Ecke von der Schwarzwälderkirschtorte. Als sie sie auf ihren Teller legte, kippte der köstliche Sahneturm leider auf die Seite. Macht nichts, dachte sie, schmeckt auch so.
Und Herr Stahl wollte wissen: »Was hat er dirigiert? Bach hoffentlich. – Ach, wenn bald mal wieder ein Bach nach Sankt Marien käme …«
»Bitte nicht alle auf einmal!«, unterbrach ihn Ida, die befürchtete, dass das Gespräch vom Thema abkommen würde. »Wie Sie wissen, war es schon eine Herausforderung, den jungen Furtwängler überhaupt auf die Kandidatenliste zu bringen. Immerhin als Ersatz für Paul Scheinpflug, der ja seine Kandidatur zurückgezogen hatte.«
Ida stand auf und nahm sich vom Beistelltisch eine Flasche Cognac. Endlich geht’s los, dachte sich Frau Benda, rückte ihren Kuchenteller zur Seite und stellte erwartungsvoll ihr Cocktailglas in die Mitte ihres Horizonts.
Ida schenkte sich ein und ließ die Flasche die Runde gehen. »Nun, die Chorprobe am Anfang schien fast in einem Disaster zu enden. Stellen Sie sich vor: Ein blond gelockter, gut aussehender Jüngling vor all den gewichtigen Damen, die seit über vierzig Jahren den Sopran in selbstsicherer Haltung und zweifelhaftem Gesang beherrschen! Der junge Mann war völlig irritiert und wollte schon nach München zurückreisen.« Ida nutzte eine kleine Atempause, um sich einen gehörigen Schluck Cognac zu genehmigen. »Ich musste all meinen Charme ausspielen, um ihn daran zu hindern.«
Sie griff zu einer der auf der unteren Ebene des Beistelltisches bereitliegenden Havannazigarren, beschnitt sie mit geübtem Griff und zündete sie genüsslich an. Blauer Dunst legte sich über das Kaffeekränzchen. Ihre Aufforderung: »Bedienen Sie sich doch auch«, fand regen Zuspruch. Bald konnte man das gediegene Konversationszimmer nicht mehr von einem Wiener Kaffeesalon unterscheiden.
»Wie gesagt, mir gelang es, unseren jungen Helden umzustimmen. Das war ich schließlich seiner Mutter schuldig, die mich so innig bat, ihrem talentierten Sprössling endlich einmal eine richtige Chance zu geben.«
»Vielleicht haben es ihm ja auch die schönen Damen unseres Soprans angetan,« warf Gertrud Botz mit Kennermiene ein.
»Wie auch immer, bei der Orchesterprobe am nächsten Morgen war Furtwängler wie ausgewechselt. Man spürte, dass er es jetzt nur noch mit Musikern, mit seinesgleichen zu tun hatte. Und da war er in seinem Element. Souverän, selbstsicher und voller Leidenschaft führte er das Orchester. Man kann ihm ein gewisses Charisma nicht absprechen. Nach wenigen Minuten hatte er alle Orchestermitglieder auf seiner Seite. Auch wenn man mit seinem Taktschlagen noch nicht so richtig klarkam, nach der Probe riefen alle: ›Hurra! Bravo, Furtwängler!‹ – Sie können sich denken, meine Damen,« – die Herren fühlten sich inzwischen ebenfalls als vollwertiges Mitglied der Runde angesprochen – »dass der Vorstand nicht anders konnte, als dem Votum der Musiker nachzugeben.«
Frau Boye musste, sich Cognac nachschenkend, mit professionellem Blick einflechten: »Wie hätte denn der August Schulz als Weinhändler da auch widersprechen können!«
»Schulz hin oder her, Wein oder Cognac«, entgegnete Ida, »jedenfalls ist dieses junge Talent unser sicher, und wir können uns auf weitere schöne Konzerte in unserer Heimatstadt freuen.«
Sie legte eine kleine Pause ein und streifte die Asche von ihrer Zigarre und blickte musternd in die Runde. »Aber eines müssen wir noch klären. Wo können wir denn unseren jungen Schützling fürs Erste unterbringen? Bei mir in meiner bescheidenen Hütte wäre nur wenig Platz. Liebe Lilli, hättest du noch eine Etage frei?«
Frau Konsulin Dieckmann musste ebenfalls abwinken. Auch die Damen Benda, Görtz, Behn und Boye hatten gerade keine Vakanz. Nur Gertrud Botz bot sich an: »Für einen blond gelockten, gut aussehenden Jüngling wäre bei mir immer ein Bett frei.«
Gott sei Dank fiel Wilhelm Stahl eine ehrenvollere Lösung ein: »In meinem Hause wohnt oben die Witwe Fischer. Ich weiß, dass sie mal wieder gerne jemanden zur Untermiete nehmen würde. Und dort wäre auch ein Klavier, das würde unser zukünftiger Kapellmeister gut gebrauchen können.«
»Und dort wäre auch die schöne Witwentochter Sarah, die der blond gelockte Jüngling ebenfalls gut gebrauchen könnte!«, echauffierte sich die eifersüchtige Gertrud Botz.
Sarah errötete. »Aber, ich bin doch bereits in festen Händen!«, konterte sie. Sie dachte dabei an Max Auerbach, obwohl sie genau wusste, dass sich da überhaupt noch nichts Ernstes angebahnt hatte. Vielleicht wollte sie einfach nur vor den gestandenen Damen, besonders gegenüber der in Liebesrollen erfahrenen Schauspielerin Gertrud Botz ein wenig angeben.
Diese Neuigkeit löste in der Kaffeerunde fast mehr Aufregung aus als die Nachricht von Furtwänglers Wahl. »Hört, hört!« – »Das wüsste man doch!« – »Wer ist es denn?« – »Wann ist denn Verlobung?« – »Wird ja auch Zeit!« Einige der Damen waren, als sie in Sarahs Alter kamen, bereits verheiratet und hatten schon Kinder.
Ida spürte, dass sie ihrem Schützling beistehen musste. »Aber, meine Damen! Bitte dringen Sie nicht unnötig in das Intimleben einer jungen Frau ein. Sarah wird schon wissen, was sie will.« Sie klingelte nach der Bedienung und ließ abräumen.
»Und nun, zum Höhepunkt und gleichzeitig zum würdigen Ausklang dieses herrlichen Tages, wird uns Sarah ein Nocturne von Frederick Chopin vorspielen. Bitte folgen Sie mir ins Musikzimmer.«
Der Musiksalon war ganz im ›Makart-Stil‹ der Zeit eingerichtet. Papiertapeten mit aufgemalten mythologischen Szenen vermittelten den Bildungsstand der Hausherrin. Die hohen Fenster wurden durch schwere, im unteren Drittel zusammengebundene Portieren eingerahmt. Auffällige Supraporten, die mit exotischen Figuren aus der Vogelwelt verziert waren, krönten die Türen. Überall standen zierliche Tischchen, die unter der Last der Nippes zusammenzubrechen schienen. In der Ecke hatte man einen Makartstrauß plaziert, ein Gebinde aus Trockenblumen und Palmwedeln. Um den Flügel herum gruppierten sich luxuriöse Neurenaissance-Möbel, man nahm Platz in plüschigen Sesseln und streckte seine Füße auf den weichen Orientteppichen aus.
Die junge Pianistin öffnete den Flügeldeckel, setzte sich auf den Klavierhocker und strich sanft mit dem Ringfinger über die Tastatur. Für den Bruchteil einer Sekunde erinnerte sie sich, dass sie hier vor ein paar Wochen ein wunderschönes Konzert mit Max Auerbach erlebte hatte. Beide spielten anlässlich einer Damen-Soirée die Frühlingssonate von Ludwig van Beethoven, Max an der Violine und sie am Klavier – ausgerechnet dieses Werk, das so voll erotischer Klänge steckt.
Sarah war überrascht gewesen, wie gefühlvoll Max seinen Part realisierte. Es war fast eine Liebeserklärung, so sehr verschmolz sein Geigenton mit dem des Klaviers. Die junge Frau hatte das Gefühl gehabt, sich in einen sinnlichen Abgrund zu verlieren.
Aber sie hatte auch die sanfte Gewalt gespürt, die in Max’ Geigenton lag. Er machte ihr Angst mit seinen drängenden Annäherungen. Gelegentlich geriet die musikalische Liebeserklärung in eine dämonische, emotional unkontrollierte Unterdrückung ihrer eigenen Persönlichkeit. Das entfremdete sie zunehmend von dem rätselhaften, undurchschaubaren jugendlichen Mann.
Dennoch war das gemeinsame Musizieren ein unvergessliches Erlebnis.
Sarah gab sich innerlich einen Ruck, konzentrierte sich auf die Gegenwart und zelebrierte ihr Chopin-Nocturne vor den Damen – Verzeihung: Damen und Herren – in züchtiger Biedermeierart, sodass die Anwesenden glücklich und voller Vorfreude auf die kommenden Sinfoniekonzerte unter Leitung des Neuen nach Hause gingen.
»Dieser Furtwängler ist wirklich ein Talent. Lübeck kann nichts Besseres widerfahren«, musste Wilhelm Stahl abschließend kommentieren, als er durch die im Jugendstil verzierte hölzerne Haustür der Gastgeberin schritt. Da sein Fachurteil zählte, schlossen sich die Damen der Runde, die ihm im allgemeinen Aufbruch folgten, vorbehaltslos an.
Gustav Mahler ist tot.
Max Auerbach8 war, als würden die wenigen Buchstaben der kurzen Schlagzeile im Lübecker General-Anzeiger vom Sonnabend, den 20. Mai 1911 verschwimmen. Hatte er Tränen in den Augen oder lag es an der ohnehin schummrigen Beleuchtung der Bahnhofshalle, die alle halbe Stunde mit dem ätzenden Qualm einer Dampflokomotive gesättigt wurde?
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