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In Lübeck wird bei der Sanierung der als Brüllbeton in Verruf geratenen Fahrbahndecke auf der Ostseeautobahn eine Leiche entdeckt. Es ist ein Drogenkurier, dem Dopingkapseln im Magen zum Verhängnis wurden. Schnell gerät „Beton-Müller“, der Chef der Baufirma, Verdacht. Doch wenig später findet man auch ihn tot auf, den Rachen gefüllt mit Dopingkapseln. Alles sieht nach einem Konkurrenzkampf unter Drogenbanden aus, bis Kriminalhauptkommissar Kroll etwas in Beton-Müllers Privatleben aufspürt, das dem Fall eine überraschende Wendung gibt …
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Seitenzahl: 246
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Dieter Bührig
Brüllbeton
Kriminalroman
Die Personen sowie die Handlung des Romans sind frei erfunden.
Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen wäre rein zufällig.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von:
© iStockphoto.com / Robert Cameron
ISBN 978-3-8392-4148-6
Diese verdammten Nadelstiche – Als ob man mir den Unterleib abtrennt – Die Schmerzen rauben mir den Atem, benebeln mich – Ich muss dagegen ankämpfen – Die Faust ballen, tief Luft holen – Es riecht nach feuchtem Moos – Die Wolken rücken näher – Ich reite ihnen entgegen.
Ich wollte endlich ein besseres Leben führen – Nach all den Jahren des Verzichts – Jetzt hat man mir den Unterleib aufgebohrt – Doch ich werde es schaffen – Ich werde wieder lernen, zu fliegen – Wie die Drachen, die ich als Kind am Ufer steigen ließ.
Nicht so nahe ans Wasser, der Wassermann könnte dich holen! – Ach Mutter, du hast mir mit deinen Geschichten oft Angst eingejagt – Du wolltest mich beschützen, aber du hast es nicht geschafft – Jetzt bin ich gestrandet – Liege in diesem verdammten Straßengraben und darf nicht um Hilfe rufen.
Denn dann würde herauskommen, was ich geschluckt habe – Dann wäre all die Mühe vergeblich gewesen – Dann würden sie mir den Lohn verweigern – Mich werden sie bestrafen, weil ich jetzt hier liege und das Zeugs nicht ordentlich abgeliefert habe.
Wieder so eine Welle – Die Schmerzen ziehen nach oben in die Brust, als würde jemand einen Reißverschluss in mir öffnen – Ich darf nicht daran denken – Ich muss jetzt versuchen, hochzukommen – Mist, die Beine spüre ich nicht mehr – Ich werde einen Drachen steigen lassen, der wird mich emporheben, mich den Wolken näher bringen – Hauptsache, der Wassermann findet mich nicht.
Mirja, Schwesterherz, warum kommst du nicht? Ich weiß, dass du in der Nähe bist – Hol mich hier raus – Ich verspreche dir, dass es die letzte Tour war – Du hast es schon lang geahnt, nicht wahr? – Du hast mit mir nie darüber gesprochen, du machtest mir nie Vorwürfe – Du wusstest, dass ich das Geld brauche.
Mirja – Du bist mir von allen die Liebste – Wie wir unter der Bettdecke verbotene Bücher lasen – Wie wir uns im Stall mit Stroh bewarfen – Wie wir uns gegenseitig die Jungs ausspannten.
Ilja, du Schurke – Die Nächte in Petersburg – Wild und grenzenlos in der Liebe – Warte, ich werde auch das hier überwinden – Ich komme bald wieder, und dann werden wir ein Paar.
Die Nadelstiche haben sich in ein Meer von Messerhieben verwandelt – Aber jetzt spüre ich sie nicht mehr – Die Schmerzen lassen plötzlich nach – Ich habe das Gefühl, als würde ich von der Schwere meines Körpers befreit werden – Der Drachen steigt auf – Die Wellen umringen mich – Es riecht nach Kirschblüten, wie in meiner Jugend, in den Ferien zusammen mit Mirja auf dem Bauernhof – Tief einatmen – Halte die Leine fest in der Faust – Eine riesige Welle kommt auf mich zu – Über den Schaumkronen glitzert ein Gesicht – Das Antlitz des Wassermanns – Er lächelt – Er macht mir keine Angst mehr – Seine himmelblauen Augen sind weit geöffnet und betörend schön.
*
Der Mann mit der Schiebermütze reichte einem seiner Kumpel ein Seziermesser. »Hier, habe ich mir aus dem Uniklinikum besorgt. Nimm das und schneid’ ihr den Bauch auf!«
»Aber Boss«, stotterte der andere verlegen. »Wir können doch nicht einfach einer Toten …«
»Quatsch nicht herum, tu, was ich dir sage. Warst doch noch nie zimperlich, wenn es einem an den Kragen ging.« Der Mützenmann spuckte verächtlich ins Gras, das rings um den Straßengraben wucherte, in dem die tote Frau lag.
»Die ist tot. Mausetot. Die wird das wohl kaum noch merken. Eigentlich schade um die Schlampe. Viel zu schön, um zu sterben. Als Lebendige hätte sie uns noch so manchen Spaß bereitet. Aber an Toten vergeht man sich nicht.« Wieder spuckte er ins Gras. »Man hat ja schließlich seine Berufsehre.«
Eine der beiden anderen Gestalten, die breitbeinig danebenstanden, lachte zynisch auf. »Na los, gib ihr Zucker, Bruder!«
»Aber vorsichtig, Mann«, mahnte der Boss. »Die heilen Päckchen dürfen nicht beschädigt werden. Das ist unser Kapital.« Er kramte aus seiner Manteltasche ein Bündel Plastikhandschuhe heraus, die Ärzte bei Operationen benutzen, und warf sie einem der drei Männer zu. »Hier, zieht das über, damit ihr keine Fingerabdrücke hinterlasst. Damit dürft ihr in den Eingeweiden herumwühlen, bis ihr auch das letzte heile Päckchen gefunden habt. Und achtet darauf, dass ihr auch die Wanze erwischt, die könnte uns verraten. Wenn ihr fertig seid, zieht der Schlampe alle Klamotten aus, Schmuck und Schuhe, alles, was auf ihre Herkunft schließen lässt.«
Er holte sein Handy hervor und stieg die Böschung hoch. »Ich organisiere jetzt den Abtransport. In einer halben Stunde bin ich wieder da, dann müsst ihr fertig sein. Und passt auf, dass euch niemand beobachtet! Wenn sich jemand nähert, dann tut so, als würdet ihr von einer Sauftour kommen.«
Der Mann mit dem Skalpell machte sich an die Arbeit. Es kostete ihn zwar Überwindung, den Bauch der Toten aufzuschlitzen, aber er war so hartgesotten, dass es ihn nicht ekelte. Auch er wusste genau, dass jedes heile Päckchen gutes Geld einbrachte.
Ein anderer half ihm, während der dritte Wache stehen musste. Nachdem sie etwa ein Dutzend blutverschmierter Plastikbehälter gesichert hatten, fanden sie die Wanze.
»Gute Idee vom Boss, die Kuriere einen GPS-Sender verschlucken zu lassen. Dann weiß er immer, wo die sich gerade aufhalten. Ohne das Ding hätten wir die Schlampe wohl nie gefunden.«
Als der Anführer nach einer halben Stunde mit einem Landrover zurückkehrte, waren die Burschen mit ihrem Job fertig. Er zählte die Päckchen. »Gute Arbeit, Leute. Es fehlt nur ein einziges. Das wird geplatzt sein und hat ihr den Rest gegeben. Werft sie jetzt auf die Pritsche. Die Kleidung verbrennt ihr irgendwo und den Rest schmeißt ihr in den Fluss.«
Er verstaute die Päckchen und den GPS-Sender in einem Rucksack und trieb die Männer zur Eile an. »Los, vorwärts. Die Kollegen auf der Baustelle warten schon.«
Mit einem zynischen Lacher fügte er hinzu: »Gratisbestattung und garantiert ohne Totenschein. Das erspart den Angehörigen viel Kohle und Behördenkram. Könnten uns dafür eigentlich dankbar sein!«
»Geht das schon wieder los!«, schimpfte der Nachbar lautstark und stieß den Spaten mit einem kräftigen Ruck in die Erde. Dass er dabei eine Wurzel einer seiner geliebten Baccara-Rosen durchtrennte, bemerkte er nicht.
Michael Kroll schreckte hoch. Hatte er schon wieder etwas falsch gemacht? Neulich hatte er mit seinem Nachbarn einen heftigen Wortwechsel über den Knöterich, der auf das Nachbargrundstück herübergewachsen war, gehabt. So etwas gehöre nicht in einen ordentlichen Garten, wurde er ermahnt. Basta.
Aber das Thema war es diesmal nicht. »Schon wieder dieser Krach!«, kam es von drüben.
Aha, er meint meine Musikanlage. Immer wenn Kroll in seinem kleinen Garten herumpusselte, hörte er zur Entspannung Musik. Eben hatte der MP3-Player von den ›Beatles‹ zu ›Led Zeppelin‹ gewechselt. Das war seine Lieblingsband.
Pflichtbewusst eilte er zur Musikanlage und drehte sie leiser. »’tschuldigung!«, rief er seinem Nachbarn betont freundlich winkend zu.
»Nee, das meine ich nicht«, antwortete dieser. »Obwohl – Krach ist das ja auch. Basta.« Er deutete mit seinem Spaten über den Zaun. »Ich meine diesen verflixten Baulärm dort drüben bei der Autobahn.«
Erst jetzt realisierte Kroll das dumpfe Dröhnen der Presslufthämmer oben beim Autobahndamm, keine 500 Meter entfernt. Am liebsten hätte er die Musik lauter gedreht, aber ein Blick zum Nachbarn überzeugte ihn, dass das jetzt nicht die geeignete Form des Protests wäre. Er legte das Stecheisen, mit dem er den Löwenzahn aus dem Rasen entfernt hatte, auf den Gartentisch. Löwenzahnzupfen war ohnehin nicht seine Stärke, aber er machte es, weil er in der Siedlung nicht mit einem ›verwilderten‹ Rasen auffallen wollte. Dann entledigte er sich seiner Gartenarbeitsschürze, die er ohnehin hasste, griff zur Rosenschere und wischte sich die andere Hand an den Jeans ab.
Seinem Nachbarn fiel das sofort auf. Dieser Kroll, wie der rumläuft! Ewig in Turnschuhen, verwaschenen Jeans und dem lächerlichen Sweatshirt mit dem Aufdruck I have a dream. Und wenn er morgens zur Arbeit fährt, dann trägt er einen zerknitterten grauen Mantel, den er sich offenbar vom Titelhelden der Fernsehserie Columbo abgeguckt hat. Und so einer ist Polizist? Kein Wunder, dass es in unserem Land mit der Disziplin bergab geht.
Der Nachbar konnte nicht ahnen, dass Kroll die Sendung in der Tat liebte, denn da wusste er gleich von Anfang an, wer der Mörder war, selbst wenn man den Vorspann mit dem Tathergang verpasst hatte. Kroll war aufgefallen, dass der Täter stets die Person war, die Columbo als Erste die Hand schüttelte. Schade, dass sein Job nicht auch so ablaufen konnte.
Kroll hatte kürzlich sein Fünfzigstes vollendet. Das einst hippielange Haupthaar hatte einer Dreiviertelglatze weichen müssen. Er war im Grunde genommen eher ein Romantiker als ein Mann der Tat. Und so hatten seine von buschigen Brauen verdeckten tief liegenden Augen mehr den weichen Glanz eines Träumers als den harten Strahl eines Fernsehserienpolizisten. Er machte seine Arbeit mehr mit dem Herzen, weniger mit dem Hirn.
Sein Blick war das Jugendlichste an ihm. Wenn er mit jemandem sprach, funkelten die Pupillen, als wäre er ein Maler, der in seinem Modell ein Motiv für ein Meisterwerk sucht. Er neigte dazu, beim Sprechen schnell hintereinander zu blinzeln. Gewöhnlich heftete er seinen Blick so lang auf seinen Gesprächspartner, bis dieser verlegen zur Seite schaute. Manche hatten den Eindruck, er könne bis tief in die Seele seines Gegenübers blicken.
Das spürte auch der Nachbar, als sich Kroll zu ihm an den Zaun gesellte und ihm direkt ins Gesicht erwiderte: »Sie sollten sich freuen, dass unser Bürgerbegehren gegen den Brüllbeton von Erfolg gekrönt ist.«
»Schon, aber so habe ich mir den Sieg nicht vorgestellt. Wollen die etwa eine neue Autobahn bauen? Womöglich gleich dreispurig – und das alles von unseren Steuergeldern.«
»Tja«, murmelte Kroll, »Fortschritt, Geschwindigkeit und Reisefreiheit haben eben ihren Preis.«
Sein Nachbar verstand offenbar Krolls Ironie nicht: »Was heißt hier Fortschritt? Unsere schöne Natur wird zerstört, und wir müssen Tag und Nacht die Fenster schließen, weil der Brüllbeton unsere Nerven kaputtmacht.«
Er rückte sich in eine selbstbewusste Positur und setzte die Kennermiene auf: »Wissen Sie was? Hier, einen halben Kilometer von der Autobahn entfernt, haben sie einen Schalldruckpegel von über 100 Dezibel gemessen. Zulässig sind nur 80! Nur weil die Leute mit über 150 an die Ostsee fahren müssen, und nur, weil man beim Bau der Autobahn gepfuscht hat.«
Kroll erinnerte sich, dass der Nachbar ein Wochenendhaus auf Usedom hatte und selber jedes Wochenende mit 150 km/h dorthin fuhr. Aber er sagte nichts, weil ihm der nachbarliche Friede wichtiger war.
Sein Gegenüber kam ihm kumpelhaft so nahe, dass Kroll den Kognakgeruch aus seinem Mund wahrnahm. »Sie sind doch bei der Polizei. Können Sie da nichts unternehmen? Oder sitzen Sie den ganzen Tag nur am Schreibtisch und bearbeiten die Knöllchen ehrsamer Bürger? Was machen Sie da eigentlich?«
»Nein, nein«, wehrte Kroll freundlich ab. »Ich bin bei der Mordkommission. Kapitalverbrechen. Tod durch Vergiftung, tödliche Schießereien und«, er spielte theatralisch mit der Klinge seiner Rosenschere, »letale Messerstechereien im Rotlichtmilieu«.
Der andere starrte ihn an und überlegte, was er darauf erwidern sollte. Da klingelte Krolls Handy. Laut und verzerrt: Da – dä – dä – da – dä. Der Gitarrenriff von You really got me von den ›Kinks‹, die Kroll ebenso bewunderte wie ›Led Zeppelin‹.
Der Nachbar erschrak sichtlich und trat einen Schritt zurück. »Sagen Sie mal, kann Musik eigentlich auch töten?«
*
»Hopfinger hier. Chef, wir haben einen neuen Fall. Tote Frau unter der Betondecke. Ich habe den Spurendienst gerufen und dann die Arbeiter weitermachen lassen. Die stehen unter Termindruck, und da ja alles klar ist, habe ich …«
»Nun mal langsam, Hopfinger. Eines nach dem anderen. Erstens: Wo sind Sie? Und zweitens: Wieso können Sie eine Tote unter einer Betondecke sehen?«
»Ja also, das ist so: Wir sind hier auf der A 20 im Bereich der Wakenitz-Niederung. Das müsste ganz in der Nähe von Ihrem Haus sein. Da könnten Sie doch schnell mal vorbeikommen. Obwohl, ich denke, dass ich bereits alle notwendigen Maßnahmen getroffen habe. Aber vielleicht wollen Sie sich selber von meinen Schlussfolgerungen überzeugen.«
»Tut mir leid«, log Kriminalkommissar Kroll, »ich bin gerade unterwegs in Sachen Bahnhofsmord. Sie werden das schon allein schaffen. Aber erklären Sie mir doch bitte das mit der Betondecke.«
»Gern. Klarer Fall. Sie werden wissen, dass man die Betondecke der A 20 wieder hat aufreißen müssen wegen der Fahrbahngeräusche. Dabei hat ein Baggerfahrer eine weibliche Leiche im Sandbett unter der Fahrbahndecke entdeckt. Nackt, ohne Identitätsmerkmale und übel zugerichtet. Verwesungserscheinungen und aufgeschlitzter Bauch. Klarer Fall von Sexualverbrechen. Ich denke, den werden wir schnell gelöst haben. Ich werde im Büro die Dateien unserer Sado-Maso-Sextäter durchforsten. Eine kurze DNA-Analyse, und unser Kunde ist im Netz.«
»Nun mal langsam mit den jungen Pferden. Warten wir erst den Obduktionsbericht ab. Währenddessen können Sie gern das machen, was Sie vorhaben, Dateien durchsuchen und die Alibis der Sexualtriebtäter überprüfen. Aber darüber hinaus möchte ich Sie bitten, festzustellen, wann und von welcher Firma der Brüllbeton gelegt wurde. Ich erwarte Ihren Bericht übermorgen im Büro. Und noch eins: Lassen Sie von unserem Polizeizeichner ein einigermaßen menschenwürdiges Bild vom Gesicht der Toten anfertigen. Das wird uns bei der Fahndung mehr helfen als ein reales Foto von der Leiche.«
Kroll legte auf. Er war während des Gesprächs ins Wohnzimmer gegangen. Heute am Sonntag hatte er keine Lust, am Tatort vorbeizuschauen. Sein Assistent Hopfinger würde das Wesentliche schon allein hinbekommen. Außerdem graute es ihm vor dem Anblick der Leiche. Trotz seiner vielen Dienstjahre hatte er es immer noch nicht gelernt, seine Opfer mit der notwendigen nüchternen Distanz zu betrachten. Stets fühlte er sich wie jemand, der erfolglos gegen die Seekrankheit ankämpft.
Er ließ sich in seinem Sessel nieder, von wo aus er seinen Nachbarn im Garten hantieren sehen konnte. Kann Musik töten?, waren dessen letzte Worte gewesen. Blöde Frage, ging es Kroll durch den Kopf. Extremer Schalldruck würde nur das Gehör schädigen, nicht töten. Musik kann allenfalls psychisch Kranke zum Suizid motivieren.
Aber töten im Sinne von morden? Unmöglich.
*
Eine Woche später.
Kriminalhauptkommissar Kroll fand, dass der Tag viel zu schön war, um ihn in seinem muffigen Büro im Behördenhochhaus zu verbringen. So war er schon recht früh am Vormittag in die Innenstadt, genauer gesagt in die Wahmstraße geflüchtet, wo er ab und zu in einem Café sein zweites Frühstück zu sich nahm. Ein Durchgang zwischen zwei Dielenhäusern mit ihren charakteristischen Renaissance-Giebeln führte in einen beschaulichen Innenhof. Er hätte sich dort niederlassen können. Platz war genug. Nur ein junger Mann saß dort einsam an einem der Gartentische und schenkte ihm einen kurzen, scheuen Blick. Während der Dienstzeit wollte Kroll nicht öffentlich in Erscheinung treten, also stieg er im Hinterhaus die steile Holztreppe hinauf, wo sich im ersten Stock das eigentliche Café befand.
Es roch verführerisch nach frischem Kaffee und selbstgebackenem Kuchen. Kroll setzte sich an einen der hinteren Tische, von wo er einen guten Blick auf den Hof hatte. Der junge Mann da unten kam ihm wie ein Schüler vor, der den Unterricht schwänzte. Er nippte nervös an einem Glas Cola und bewegte seinen Kopf unruhig hin und her, als warte er auf jemanden. Als er nach oben schaute, konnte Kroll für einen kurzen Moment seine Züge erkennen. Sein blasses, schmales Gesicht wurde von langen schwarzen Haaren umrahmt, die ihm bis zu den Schultern reichten und ihm die Ohren und fast die Augen verdeckten. Ab und zu strich er die Strähnen mit einer fahrigen Handbewegung zur Seite.
Höchstens 18 Jahre alt, vermutete Kroll. Was sucht der an einem Vormittag in einem gutbürgerlichen Café?
Die Serviererin unterbrach den Hauptkommissar in seinen Beobachtungen und brachte ihm einen Cappuccino und eine Schnitte Obstkuchen. Nach dem zweiten Bissen griff Kroll zum Handy und beorderte seinen Assistenten Hopfinger zu sich. »Und bringen Sie bitte alle Unterlagen zum Fall Brüllbeton mit.«
Kurz darauf erschien der junge Kriminalbeamte, der sich ein stilles Mineralwasser bestellte. »Ich bin Sportler», entschuldigte er sich bei der Bedienung. Er legte ein Bündel Akten auf den Tisch. Hauptkommissar Kroll griff zunächst zu der Bleistiftskizze, die der Polizeizeichner von dem Gesicht der Toten anhand der Beweisfotos angefertigt hatte.
»Muss eine schöne Frau gewesen sein. Eigentlich zu schade, um so jung zu sterben.«
»Genau«, fiel Hopfinger ihm ins Wort. »Und ich muss leider gestehen, dass ich meinen Anfangsverdacht, es handle sich um ein perverses Sexualdelikt, revidieren musste.«
Er reichte Kroll einen schmalen Aktenordner. »Hier, der Obduktionsbericht.« Hopfinger öffnete ihn und präsentierte seinem Chef die Fotos der entstellten Leiche.
»Danke«, wies ihn Kroll zurück. Er hatte schon immer Probleme mit den grausamen Polizeifotos. »Ich möchte keine Details hören. Es reicht, wenn Sie mir das Wesentliche zusammenfassen. Ich bin sicher, Sie werden mir den Kern der Sache darlegen.«
»Selbstverständlich«, ereiferte sich Hopfinger. »Sie können sich ganz auf mich verlassen.« Er klappte die Akte zu und fuhr selbstbewusst fort: »Hier handelt es sich eindeutig um ›Bodypacking‹ mit tödlichem Ausgang.«
Der Assistent schaute kurz zu seinem Vorgesetzten hinüber, um sich zu vergewissern, dass dieser ihm inhaltlich folgte. Kroll machte einen geistesabwesenden Eindruck. Er schaute zum Fenster hinaus. Ihn schien mehr zu interessieren, was sich draußen auf dem Hof abspielte.
Eine rothaarige Dame von elegant gepflegtem Äußeren hatte sich dem Tisch des vermeintlichen Schulschwänzers genähert. Ü 40, schätzte Kroll. Wohl seine Mutter. Oder gar seine Lehrerin? Doch die folgende Szene passte nicht dazu.
Der junge Mann sprang bei ihrem Anblick auf und umarmte sie stürmisch. Als hätten die beiden ihre Umwelt vergessen, küssten sie sich lang und leidenschaftlich. Dann setzten sie sich eng Seite an Seite und hielten sich die Hände unterm Tisch, was man von oben trotz der Entfernung deutlich sehen konnte.
Wie ein taufrisches Liebespaar, fand Kroll. Trotz des offensichtlichen Altersunterschieds. Aber warum nicht? Generationenübergreifende Liebe.
Hopfinger räusperte sich, weil er merkte, dass sein Vorgesetzter nicht so ganz bei der Sache war, und setzte die kleine Dienstversammlung in energischem Ton fort.
»Fassen wir zusammen, was wir bislang über den Fall wissen. Die Tote wurde nackt aufgefunden, was ihre Identifizierung erschwert. Alter etwa 30 bis 35 Jahre. Fundort im Kiesbett unter der Betondecke der A 20 im Bereich der Wakenitzüberquerung. Die Obduktion erbrachte folgendes Ergebnis. Todesursache: Überdosis des neuartigen Dopingstoffs AICAR. Mit hoher Wahrscheinlichkeit war die Tote ein Drogenkurier, der den Stoff in Beuteln verpackt geschluckt hatte.«
Hopfinger warf wieder einen kurzen Blick auf seinen Chef, um sicherzugehen, dass dieser ihm geistig folgte. Doch der schaute immer noch zum Fenster hinaus. Also betonte der Assistent: »Bodypacking nennt man das. Der Kurier muss das Zeugs in Plastikbeuteln verpackt schlucken. Wenn auch nur einer dieser Beutel im Magen aus welchen Gründen auch immer aufplatzt, endet das in der Regel tödlich«.
Kroll schien sich mehr für das Liebespaar im Innenhof zu interessieren. Dort hatte sich eine lebhafter Diskussion entsponnen, die sich, wie es aussah, zu einem handfesten Streit zu entwickeln schien. »Ja, ja«, meldete sich Kroll aus seinen Betrachtungen zurück. »Bodypacking. Ich weiß. Schlimme Sache, so was, wenn’s schief läuft. Muss ein schmerzhafter Tod sein.«
»Genau«, bestätigte ihm sein Gegenüber. »Und in diesem Fall ist es sogar noch schlimmer. Man hat der Frau nach ihrem Tod den Bauch aufgeschlitzt, wahrscheinlich, um die intakten Beutel zu sichern.«
»Dann war es wohl kein perverses Sexualverbrechen, wie Sie anfangs am Telefon vermuteten?«
»Nein, Chef«, gestand Hopfinger kleinlaut. »Da war ich etwas voreilig.«
Er nippte an seinem Mineralwasser, rückte mit seinem Stuhl näher an den Hauptkommissar ran und offerierte ihm erneut die Bilder von der Leiche. »Aber möglich wär’s ja gewesen. Hier, wenn Sie sich die Fotos mal anschauen. Man hat wirklich den Eindruck, als handle es sich um eine sadistische Tat.«
Kroll hatte nach wie vor keine Lust, die Aufnahmen zu studieren. »Mag sein, aber im Moment interessieren mich eher die Tatsachen aus dem Obduktionsbericht, weniger Ihre Eindrücke. Also, was gibt es sonst noch?«
Dennoch riskierte Kroll einen kurzen Blick auf das Foto der Toten. Er stutzte. Merkwürdig, ihr Gesicht hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit dem der rothaarigen Frau dort unten am Gartentisch. Oder täuschte er sich?
»Sie hat Einstiche am Arm, die von Heroinspritzen kommen könnten und am linken Schulterblatt ein Tattoo«, plapperte Hopfinger in berufsmäßig sachlichem Ton weiter. »Ein Schmetterling mit gebrochenen Flügeln. Recht ungewöhnliches Motiv. Vielleicht hilft es uns bei der Identifizierung der Toten.«
Kroll machte sich über das nächste Stück Obstkuchen her. In der Tat, eine vage Ähnlichkeit zwischen der Frau dort unten und dem Foto konnte nicht geleugnet werden. Kroll überlegte, wie er unauffällig mit der Fremden in Kontakt treten konnte. Doch dafür war es zu spät. Er sah, wie die Frau ihre Hand von dem jungen Mann löste, in ihre Handtasche griff, einen Geldschein herausholte und ihn ihrem Freund mit einer erregten Geste auf den Tisch knallte. Dann erhob sie sich brüsk und ging eiligen Schritts fort, ohne sich um seine Reaktion zu kümmern. Der Jugendliche rückte auf seinem Stuhl hin und her, als fühlte er sich ziemlich unwohl. Dann steckte er das Geld ein und rief die Bedienung. Nach wenigen Minuten war auch er verschwunden.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte Kroll in geistesabwesendem Ton seinen Assistenten. Doch dann war er rasch wieder bei der Sache. »Ach ja, Tattoo, Identifizierung. Das wäre eine geeignete Aufgabe für Sie, lieber Hopfinger. Das werden Sie bestimmt schnell gelöst haben.«
Hopfinger blühte angesichts des unerwarteten Lobs förmlich auf. Er hatte schon erste Überlegungen in diese Richtung angestellt. Doch ehe er sie vor seinem Chef ausbreiten konnte, fuhr dieser fort: »Ich kümmere mich derweil ein wenig um den Fundort. Haben Sie inzwischen festgestellt, wer für die Betonarbeiten dort zuständig war?«
»Aber sicher doch«, antwortete Hopfinger, sichtbar stolz auf seine zuverlässige Recherchearbeit. »Sämtliche Bauarbeiten werden von der Hoch und Tief Müller GmbH durchgeführt. Firmensitz im Gewerbegebiet Roggenhorst in der Nähe der Autobahnausfahrt Lübeck-Moisling. Inhaber ein gewisser Verdinand B. Müller, der wegen seines Bs im zweiten Vornamen auch Beton-Müller genannt wird.«
»Gute Vorarbeit, Hopfinger. Aber eines müssen Sie mir noch erklären. Was ist AICAR? Ich bin sicher, Sie können das einem Laien wie mir mit wenigen Worten erklären.«
»Gern, Chef. Ich habe mich da schlaugemacht.« Hopfinger holte einen Zettel aus der Akte hervor und zitierte. »AICAR steht für Aminoimidazol-Carboxamid-Ribonukleosid. Eine Dopingsubstanz, die man seit den Olympischen Spielen in Peking 2008 kennt. Sie sorgt für eine erhöhte Glukoseaufnahme in der Zelle. Dadurch können vermehrt phasische Typ-II-Muskelfasern – die sogenannten ›fast twitch‹ – in tonische Typ-I-Fasern – also die ›slow twitch‹ – umgewandelt werden, was die Ausdauerleistung der Muskulatur fördert.«
»Alles klar. Ihr Fachwissen beeindruckt mich, mein lieber Hopfinger. Aber ginge es auch eine Stufe populärwissenschaftlicher?«
»Selbstverständlich. Wir haben es hier mit dem sogenannten Gen-Doping zu tun. Das ist, polulärwissenschaftlich ausgedrückt, so, als würde man ein minderwertiges Gen durch ein leistungsfähigeres ersetzen. Bislang lagen für AICAR nur tierexperimentelle Befunde vor. Demnach rannten die als Marathonmäuse berühmt gewordenen gedopten Versuchstiere auf Laufbändern 44 Prozent länger als eine Kontrollgruppe unbehandelter Tiere. Neu in unserem Zusammenhang ist, dass die Anwendung dieser Dopingmethode illegal auch auf Menschen angewendet wird, vor allem auf Sportler, bei denen es weniger um die Sprintleistung als um die Ausdauerleistung geht.«
»Also beispielsweise Langstreckenläufer, Fußballspieler und Radfahrer, würde ich sagen«, unterbrach Kroll.
»Ja, genau. Sie haben es erfasst, Chef. In China existiert bereits eine zugelassene Gentherapie. In Europa ist man politisch noch zu vorsichtig. Aber es ist zu befürchten, dass die Unterwelt der Doping-Szene in dieser Beziehung keine Skrupel kennt.«
Kroll genügte der Bericht seines Assistenten fürs Erste. Er leerte seine Tasse und rief zur Bedienung: »Bezahlen bitte! Alles zusammen auf meine Rechnung.« Dann wandte er sich seinem Gegenüber zu: »Wie gesagt, gute Arbeit, Hopfinger. Also, wir gehen folgendermaßen vor: Sie kümmern sich um die Identifizierung und informieren die Kollegen vom Drogendezernat Hamburg, vor allem, was dieses AICAR betrifft. Vielleicht können die uns weiterhelfen. Ich werde Beton-Müller einen Besuch abstatten. Mal sehen, was er dazu sagt, dass man ihm eine Leiche unter die Decke gejubelt hat.«
Hopfinger schien von dem Vorschlag nicht begeistert zu sein. »Muss das gleich sein, Chef?« Er druckste ein wenig herum, bevor er weitersprach. »Haben Sie vergessen, dass ich bereits vor vier Wochen einen Urlaub ab nächstem Montag angemeldet habe? Das kann ich nicht verschieben. Der Flug nach Mallorca ist gebucht, und das Radsporttraining unter professioneller Leitung habe ich dringend nötig. Das ist alles schon bezahlt.«
Kroll überlegte kurz, dann antwortete er: »Machen Sie mal. Ich habe nichts dagegen, und das passt ja auch ganz gut in unser aktuelles Programm. Da können Sie in der Radfahrerszene schon mal ein wenig in Bezug auf Dopingmittel herumschnüffeln. Ich werde inzwischen mit den Kollegen von der Droge Hamburg reden.«
Der Bauhof der Firma Hoch und Tief Müller GmbH war nur wenige Minuten von seinem Büro im Behördenhaus am Berliner Platz entfernt. Kroll parkte seinen englischgrünen Mini-Cooper, das traditionelle Modell Baujahr 2000, direkt vor einer riesigen Tandemwalze, die bei der Asphalt-Verdichtung eingesetzt wird. Allein deren stählerne Vorderwalze überragte sein Auto deutlich an Höhe. Was, wenn sich dieses Monster aus Versehen in Bewegung setzen würde, überlegte der Hauptkommissar. Sein Auto würde platt wie eine Briefmarke sein.
Kroll liebte seinen Mini mit der Holzarmatur, dem typischen weißen Doppelstreifen auf der Motorhaube und den großen Nebelscheinwerfern an der Stoßstange. Als einzigen ›neumodischen‹ Luxus hatte er sich einen CD-Player samt Powerboxen einbauen lassen. So konnte er ›in aller Ruhe‹ seine Led-Zeppelin-CDs anhören. Aber nur, wenn er die Musik lauter machte als den Auspufflärm.
Ein staubiges Hinweisschild zeigte ihm den Weg zum Büro. Gerade wollte er die Tür öffnen, da stürzte ein breitschultriger Mann mit einer Schiebermütze auf dem Kopf aus dem Büro heraus und hätte Kroll beinahe umgerannt. Ohne sich zu entschuldigen, eilte der Mann zu der Straßenwalze und kletterte auf den Fahrersitz.
Einen Augenblick glaubte Kroll, das letzte Stündchen für seinen Mini-Cooper hätte geschlagen. Der Arbeiter rangierte jedoch geschickt das Ungetüm um sein Winzlingsauto herum und dirigierte es in eine der Fahrzeughallen. Wahrscheinlich muss man als Fahrer athletisch gebaut sein, um solch einen Riesen im Griff zu haben, dachte Kroll.
Erleichtert, dass seinem Auto nichts passiert war, betrat Kroll das Büro. Besonders einladend sah es hier nicht aus. Gleich neben der Eingangstür lagerten ein paar verölte Motorenteile neben einem Stapel staubiger Zementsäcke. An der gegenüberliegenden Wand lehnte eine Stelltafel mit technischen Einzelheiten über einen sogenannten Faserbeton, von denen Kroll nicht das Geringste verstand.
Ein mit Werbeprospekten und Musterstücken überladener Tresen versperrte den Zugang zum eigentlichen Bürotrakt. Dort saß, mit dem Rücken zu ihm, eine rothaarige Sekretärin an einem der Schreibtische und war so mit ihrem Computer beschäftigt, dass sie den Besucher nicht bemerkte.
Kroll wartete ein wenig, bis er sich durchrang, bescheiden zu fragen: »Entschuldigen Sie bitte. Ich würde gern Herrn Verdinand B. Müller sprechen«.
Die Dame am Schreibtisch hielt es nicht für nötig, ihre Arbeit am Computer zu unterbrechen. Unwirsch antwortete sie: »Wenn Sie von der Baubehörde sind, dann kommen Sie zu spät. Die Sitzung war bereits vor einer Stunde.«
»Nein, nein«, antwortete Kroll, jetzt mit festerer Stimme. »Ich bin von der Polizei. Es geht um die tote Frau unter der …«
Das Stichwort Polizei wirkte schlagartig. Die Sekretärin erhob sich, drehte sich um und eilte zum Tresen.
Kroll stutzte, als er ihr Gesicht sah, aber er versuchte, sich seine Verblüffung nicht anmerken zu lassen. Vor ihm stand genau die Frau, die er neulich im Hof des Cafés in der Wahmstraße beobachtet hatte. Ü 40 zusammen mit ihrem Liebhaber U 20.
Der Beamte holte seinen Dienstausweis hervor. »Hauptkommissar Kroll von der Regionalen Kriminalbehörde». Den Begriff Mordkommission vermied er. »Wenn Sie nichts dagegen haben, Frau …«
»Brandinger, Mirja Brandinger. Ich bin die Sekretärin von Herrn Müller.« Sie machte einen fahrigen Eindruck. Ihr Blick wanderte unablässig hin und her. Mit hastigen Handgriffen schob sie die Werbeprospekte auf dem Tresen zur Seite, sodass einige herunterrutschen. Dann widmete sie sich dem Polizeibeamten, wobei sie es vermied, ihm für längere Zeit in die Augen zu schauen. »Herr Müller ist momentan in einer Sitzung. Vielleicht kann ich Ihnen weiterhelfen. Worum geht es, wenn ich fragen darf?«
»Um die Tote unter dem Brüllbeton«, antwortete Kroll ganz direkt. »Hat sich das in Ihrer Firma noch nicht herumgesprochen?«
Frau Brandinger fuhr sich nervös mit der Hand durchs Haar, um sich einige rote Locken aus der Stirn zu streichen. »Doch, schon. Aber der Chef, ich meine Herr Müller, hat uns angewiesen, den Fall als Betriebsgeheimnis zu behandeln. Er meinte, es würde der Firma schaden, wenn es in die Öffentlichkeit gelangt. Das könnte Arbeitsplätze kosten, so drückte er sich aus.«
»Sie können beruhigt sein, die Polizei hat nicht vor, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Jedenfalls im Moment nicht. Vielleicht gibt es ja auch andere Wege, um die Tote zu identifizieren. Vorerst würde ich allerdings gern von Ihrem Chef die näheren Umstände in Bezug auf den Fundort erfahren. Wenn Sie so nett wären, mich anzumelden?«
Kroll griff ein Bündel Werbeprospekte, in denen die Vorzüge des Faserbetons angepriesen wurden. Durch Beimischen von Stahl- oder Kunststofffasern sollten angeblich die Festbetoneigenschaften verbessert werden. Die Firma Hoch und Tief Müller GmbH bot sie in handelsüblichen Säcken an, die mit zwei gelben Querstrichen markiert waren. Kroll studierte ein Werbeblatt, aber die technischen Ausdrücke überforderten ihn. Dann legte er es mit den anderen zu einem exakten Stapel millimetergenau ausgerichtet parallel vor sich auf den Tresen. »Alles muss seine Ordnung haben«, fügte er hinzu, der Sekretärin unvermittelt in die Augen schauend. »Je eher und je umfassender, desto besser ist es für die Sicherheit der Arbeitsplätze in Ihrer Firma, verehrte Frau Brandinger.«