der kleine jesus - Stefan Müller - E-Book

der kleine jesus E-Book

Stefan Müller

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Beschreibung

Wer war Jesus von Nazareth wirklich? Und wenn ja, wie viele? Gewiss ist bloß: Der antike Wanderprediger versteht sich nicht nur auf mildtätige Wunder und bietet Stoff für die Bibel, sondern stellt Hierarchien auf den Kopf, prangert Herrschaft als Gewalt an, predigt Liebe und Gleichheit. Das ist neu, provokativ – und widersprüchlich. Am Ende steht eine der spektakulärsten Erzählungen der Weltgeschichte: die Auferstehung. Doch was ist Mythos? Was Wahrheit? Und wie konnte aus einem Handwerker der »Sohn Gottes« werden? Fragen, denen sich Stefan Müller mutig, unterhaltsam und abseits aller Klischees und Vorurteile annimmt. »der kleine jesus«: Ein kleines Wunder von einem Buch!

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Seitenzahl: 158

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Stefan Müller

der kleine jesus

„Ich bin nicht der Messias!“ „Ich sage, du bist es, Herr, und ich muss es wissen, denn ich bin schon einigen gefolgt.“

Aus „Das Leben des Brian“, 1979

Inhalt

Revoluzzer der Herzen

Heiler mit Charisma, Aussteiger, Wolkenschlossbauer. Aber auch: Umstrittener Provokateur, der Dynamit brachte. Wer war Jesus von Nazareth wirklich?

Mensch und Mythos

Jesus, ja. Aber welcher? Diese Frage war lange brandgefährlich. Wie schwer es war, den Nazarener vom Christus zu trennen und was die Fragerei überhaupt bringt

Ein Kind mit Macken

Keine Krippe, Nazareth statt Bethlehem, dafür böse Gerüchte über eine uneheliche Geburt: Seine Herkunft, seine Erziehung, seine Einflüsse

Die dunklen Jahre

Buddhist, Zauberer oder Kind des Lichts: Was Jesus vor seinem öffentlichen Auftreten wahrscheinlich tat und was nicht

Im Reich des Meisters

Jesus war Schüler eines Predigers, bevor er Satan besiegt sah und sich selbstständig machte: Mit einer Lehre, die den Zeitgenossen die Sandalen auszog

Oh Wunder!

Heiler, Exorzist – und Wundertäter? Wie Jesus mit den hohen Erwartungen an ihn umging und was das mit Monarchen und Fußballern zu tun hat

Das Geheimnis der Frauen

Der Heiland dachte auch weiblich. Frauen prägten seine Gemeinschaft und den Glauben. Bis ihre Rolle uminterpretiert wurde

Das Ende und eine Welterzählung

Propheten leben gefährlich, Rebellen sterben einsam. Wie die Römer mit Jesus kurzen Prozess machten – und für die Jünger damit etwas Neues begann

Siegeszug in seinem Namen

Was entscheidend für den Aufstieg der Kirche zur Weltmacht war und wie sie den Firmenpatron aus dem Rückspiegel verlor

Jesus lebt, oder?

Heute ist er DJ, trägt ein Toupet und inspiriert zum Digitalfasten. Wo Jesus weiter präsent ist, und was passierte, als er auf die Erde zurückkam

Anhang

Dank | Quellen | Team | Impressum

Revoluzzer der Herzen

Heiler mit Charisma, Aussteiger, Wolkenschlossbauer. Aber auch: Umstrittener Provokateur, der Dynamit brachte. Wer war Jesus von Nazareth? Sein Glaube veränderte die Welt

Im Anfang war das Wort, und ein Mann, der lange Zeit auffällig unauffällig lebte. Kein besonderer Name, kein besonderes Dorf. Nur eine verschlafene Region im hintersten Winkel des Römischen Reiches, Galiläa, wo das Leben hart und kurz war. Niemand weiß, wie er aussah, ob er Kinder hatte, worüber er lachte, worüber er weinte. Ob er sympathisch war, manchmal aufbrausend, oder ein Besserwisser. Er hinterließ keine Schriften. Niemand kennt seine Geschichte genau, und fast muss man sagen: Dieser Mann ist ein Phantom.

Mit seiner radikalen Aussteigersekte ist er grandios gescheitert. Trotzdem spricht die Welt noch über Jesus von Nazareth. Er zählt zu den einflussreichsten Männern der Geschichte, obwohl er das so nicht gewollt hätte. Macht, Besitz und Reichtum waren ihm zuwider. Er wollte keine Religion gründen und hielt sich nicht für den Messias. Er hat sich nie bekreuzigt, ging nie zur Beichte und hat nie Weihnachten gefeiert. Jesus wäre kein guter Katholik geworden, doch seinen Ruhm verdankt er dem Christentum und der katholischen Kirche mit dem Anspruch auf eh alles. Der Heiligenschein sitzt. Dieser allein vermag die Strahlkraft aber nicht zu erklären, die er immer noch besitzt. Was ist es dann?

Da wäre die sympathische Zeitlosigkeit einer Anti-Establishment-Bewegung, in deren Windschatten seine Verkündigung Realität wurde. In der Welt von Jesus gibt zwar Gott weiterhin den Ton an, doch aus dem fiesen Strafgott des Alten Testaments ist ein streichelsanfter Papa geworden, der ein Herz für Versehrte und Schwache hat. Denen, die nicht so viel wert waren, gab das neue Freiheiten. Jesus wollte, dass sie nicht mehr buckeln, sondern aufrecht gehen. Gottes Liebe wurde zur Basis zwischenmenschlicher Beziehungen. Und obwohl sein Metier die Religion war, die nicht greifbare Metaphysik, funkte Jesus direkt in das in jeder Gesellschaft auszuhandelnde Verhältnis zwischen Autorität und Freiheit hinein. Störsender Jesus. Am Ende wurde er ein Opfer der Verhältnisse, deren Aufhebung er propagierte: Nicht Gewalt mit Gewalt zu beantworten, Auge um Auge, sondern seine Feinde sogar zu lieben, um Gottes willen! Ohne es zu wollen und ohne ein Revolutionär zu sein, revolutionierte er mit entschlossener Gewaltlosigkeit die Revolution. Nicht umsonst ließen sich Gandhi und Martin Luther King von der Bergpredigt inspirieren.

Es geht beim Thema Jesus aber auch um menschliches Verhalten, um große Fragen der Menschheit: Wie wollen wir zusammenleben? Gibt es etwas, das wir sollen – moralisch gedacht – und etwas, das wir wollen? Wie können wir dem Tod und dem Nichts gegenübertreten? Welcher Reim ist überhaupt auf diese Welt zu machen? Wer von Gott redet, redet vom Menschen.

Da sind aber noch andere Dinge. Kennen Sie den Jesus, der in einem Film fröhlich trällernd am Kreuz hängt? Always look on the bright side of life. Unverdrossen streift der Mann aus Nazareth noch heute herum, zieht durch die Wüstentäler von Netflix, kämpft in Computerspielen gegen Bruce Lee und stirbt, immer wieder, den grausamen Leinwandtod. Jesus Christ Superstar: Er ist längst Teil der Popkultur. Sein Markenzeichen, das Kreuz – die Römer haben es ihm verliehen – baumelt von Promihälsen und Autorückspiegeln. Nur: Der Anblick des Folterwerkzeuges, an dem er qualvoll sein Leben ließ, schreckt nicht mehr. Der Geschundene ist zum Accessoire geworden, zu einem Abziehbild in multiplen Varianten. Seit die Kirche das Deutungsmonopol über ihren Heiland verloren hat, ist Jesus ein ikonisches Zitat, dessen Copyright abgelaufen ist.

Man kann den Mann so oder so sehen: Aber zu Jesus gehört Philosophie, eine Portion Utopie, sozialromantische Sektendynamik, ein Schuss Rebellion und im Hintergrund, bloß zur Diskursanregung, dudeln die Internationale und die Marseillaise. Sein Leben ist ein unglaublicher Plot. Es treten auf: Ein charismatischer Anführer, vaterlos. Hörige Jünger, besitzlos. Jüdische Priester, humorlos. Ein römischer Statthalter, ziemlich kompromisslos. In den Nebenrollen: Engel, Dämonen, Huren, Besessene und geheimnisvolle Frauen, die einflussreicher sind, als es der Kirche lieb ist. Küsse im Weihrauch, Verrat und Verdammnis: Sex, crime, and religion!

Und wer glaubt, es stecke keine Antike mehr im postmodernen Großstädter, nur weil er sich im Desinfektionsbad der Aufklärung getauft fühlt, der irrt: Vielmehr hat es den Anschein, alte Geister, die längst vergessen geglaubt, kehren zahlreich wieder, um in Gehirnen zu nisten, die in der Steinzeit gewickelt wurden. Gut und Böse, Esoterik und Verschwörungstheorien: Wunderheiler und Dämonen, anyone?

Jesus, seine Zeit und die Folgen

v. Chr.

63 →

Feldherr Pompeius erobert Palästina. Das israelische Gebiet wird Teil des Römischen Reiches.

4-7 →

Jesus wird in Nazareth geboren. In Rom herrscht Kaiser Augustus.

4 →

Herodes Antipas übernimmt die Herrschaft in Galiläa. Ein Aufstand wird niedergeschlagen.

n. Chr.

6 →

Gebiet von Jerusalem wird direkter römischer Verwaltung unterstellt. Bildung der Widerstandsgruppe der Zeloten nach Steuererhebung.

28-29→

Taufe von Jesus durch Johannes im Jordan. Er beginnt zu predigen.

30 →

Jesus wird wegen Aufruhr gekreuzigt. Gruppen von Anhängern beginnen, an seine Auferstehung zu glauben. In Rom herrscht Tiberius.

33-36→

Der Römer Paulus verkündet: Jesus war Messias und Sohn Gottes.

47-48 →

Erste christliche Missionsreise von Paulus nach Zypern und Südanatolien.

62 →

Jakobus, leiblicher Bruder von Jesus, wird gesteinigt.

66-70→

Zeloten zetteln Aufstand an: Römisch-Jüdischer Krieg. Fall Jerusalems, Zerstörung des Tempels, Jesus-Anhänger fliehen.

70-110→

Entstehung der vier Evangelien.

132-135→

Aufstand von Simon Bar Kochba: Jerusalem wird griechisch-römische Stadt. Kein Zutritt mehr für Juden. Viele verlassen Palästina.

313 →

Religionsfreiheit im Römischen Reich – Kaiser Konstantin wird ein Christ.

391 →

Kaiser Theodosius I. erklärt das Christentum zur Staatsreligion.

Alle kennen Jesus Christus, den mythischen Gottessohn, gezeugt in den vier Evangelien des Neuen Testaments, aber niemand hat ein Bild vom echten Mann im Kopf, um den es hier geht. Theologen der Leben-Jesu-Forschung, aber auch Wissenschaftler anderer Disziplinen haben ihn über die Jahrhunderte wie Profiler eingekreist und gezeigt: Eine Biografie ist möglich, selbst wenn es sich beim Ergebnis nur um eine Möglichkeit handeln kann. Mehr geben die Quellen nicht her. Der echte Jesus reitet für immer im Konjunktiv durch Jerusalem.

Aus Kindheit und Jugend ist so gut wie nichts bekannt, außer dass die Umstände seiner vorehelichen Geburt dubios waren, dass er gläubiger Jude war, sechs Geschwister hatte, einen Bruder, der gesteinigt wurde, einen Vater, der früh verschwand, und eine Mutter, die glaubte er sei verrückt, als er zu predigen begann. Das tat er mit ungefähr 30 Jahren, bevor er ein bis zwei Jahre später gekreuzigt wurde. Und was passierte in der Zeit davor? Zog er mit einer Karawane nach Kaschmir, in ein Kloster, um den Buddhismus zu studieren? Absolvierte er eine Ausbildung zum Zauberer in Ägypten?

Der Auftritt in der Öffentlichkeit war kurz, sehr kurz. Und doch bietet sein Leben alles, was eine überdimensionale Biografie braucht: Einen tiefgreifenden, persönlichen Wandel. Eine Lebenswirklichkeit, die eine Veränderung bewirkt. Größe, die sich dadurch ergibt, dass das Reale, das für uns allein die Wirklichkeit in der Welt ausmacht, zu einem Symbol für das Ganze wird.

Nach der christlichen Umdeutung seines Scheiterns in einen Sieg über den Tod entspricht sein Leben der klassischen Heldenreise: Außenseiter vom Land verlässt sein Zuhause und entwickelt sich weiter, lässt sich taufen, folgt einem Prediger und wird dessen Schüler – bis er ein Erweckungserlebnis hat. Nun beginnt er selbst zu predigen, während sein Mentor geköpft wird. Er überwindet Hindernisse und gründet seinen eigenen Heilsladen. Dann gerät er ins Visier der Mächtigen und wird getötet beziehungsweise feiert als Auferstandener das größte Comeback aller Zeiten. Der Schlusspunkt der Heldenreise, die Rückkehr, soll laut Christentum noch folgen. Das ist Dramatik in ihrer Urform. Nicht umsonst ist das Christentum die einzige Weltreligion, in der ein Menschenschicksal zum Sinnbild und Mittelpunkt der gesamten Schöpfung geworden ist.

Doch Jesus war kein römischer Halbgott, sondern ein jüdischer Palästinenser. Klein und kräftig, mit Kräuselhaar und dunklem Teint, vermutlich. Ein Jesus of Color. Sein Platz wäre heute wahrscheinlich in Gaza, nicht in Jerusalem.

Wer sich dem historischen Jesus nähern will, muss den Kontext seiner Zeit beachten, was nicht leicht ist. Die antike Kosmologie ist wirklich schräge Science-Fiction. Sonne und Planeten sind Götter und drehen sich um die Erde. Der Luftraum wird von Engeln und Dämonen überwacht, nicht von der Flugsicherung. Wenn Unerklärliches passiert, stehen die Götter in Verdacht. Ihre Kräfte gelten als realitätsbestimmend. Für Erfolg und Gesundheit wirft man eine Kleinigkeit ins Herdfeuer, ein Salzkorn, einen Speiserest, oder legt kleine Gaben vor den Hausaltar. Die Griechen und Römer machen aus allem einen Gott. Jede Stadt hat ihren Kultkalender und die Herrschenden sorgen dafür, dass er eingehalten wird. Religion bedeutet, seine Pflicht zu erfüllen und gottbezogene Tätigkeiten zu verrichten, die Einzelpersonen mit den Allmächtigen und die Menschen untereinander verbinden. Sie ist der Kitt ganzer Gesellschaften und zugleich so selbstverständlich wie das Essen. Gegessen wird täglich, und erst wenn man länger nichts zu sich nimmt, fällt es negativ auf.

Eine Sonderrolle nehmen die Juden ein. Sie haben nur einen Gott. Während sich das Gute und das Böse ständige Kämpfe liefern, sitzt irgendwo dieser eine Schöpfer des Universums und hält die Fäden des Geschehens in der Hand, wie ein Regisseur. Die Geschichte verläuft linear auf einen bestimmten Punkt zu: das Endgericht. Wer keine Sünden begeht und die Heilige Schrift achtet, bleibt gesund und macht Gott keine Schande. Schwer zu erklären ist deshalb, wieso die frommen Juden nach langer Fremdherrschaft keinen eigenen Staat mehr haben, seit die Römer 63 vor Christus Israel unterwarfen. Niemals zuvor war ein Imperium so reich und mächtig. Da kommt Jesus als Prophet einer besseren Welt gerade recht. Einerseits. Denn andererseits ist das, was er sagt, für viele verstörend. Sie kritisieren ihn als Fresser und Weinsäufer, der mit dem Teufel im Bunde steht.

Statt weiterhin Tische, Möbel und Teile von Häusern anzufertigen, bringt der Bauhandwerker nun Weisheiten, Ethik und Endzeitszenarien unter die Leute. Ein wildes Sammelsurium an Zweideutigkeiten, präsentiert in provokanten Gleichnissen und Parabeln. Verbaler Pyrotechniker Jesus. Der Mann ist charismatisch und mitreißend, noch dazu praktiziert er, was er predigt: jeden Tag, glaubhaft konsequent. Er und seine Jünger haben ihre Familien hinter sich gelassen, Gott werde für sie sorgen. Sie ziehen herum, selbst Frauen sind dabei. Es wird nicht mehr nach Gender, Herkunft oder Status unterschieden. Bei diesen Herumtreibern gibt es keine Grenzen mehr.

Doktor Jesus, Naturbursche vom Land mit einem Grundmaß an religiöser Bildung, vermutlich Single, praktiziert als Dämonenaustreiber. Er hilft Kranken, durch ihren Glauben gesund zu werden, das macht ihn als Heiler bekannt. Er nimmt sich Verstoßener an und setzt sich mit Dirnen an einen Tisch. In sein Reich Gottes, das er verkündet, dürfen alle hinein. Reich Gottes?

Die Juden sagen, verkürzt gesprochen: Du wirst beim Endgericht gut wegkommen, wenn du brav lebst. Die Kirche wird später sagen: Du wirst in den Himmel kommen, wenn du brav lebst. Jesus hingegen behauptet: Der Teufel ist bereits besiegt, er hält die Erde nicht länger im Griff und Gott hat begonnen, sein Himmelreich auf die Erde auszudehnen. Die Heilszeit hat begonnen – und egal wer du bist, woher du kommst oder was du getan hast – du bist dabei, wenn du nur daran glaubst. Morgen ist schon heute! Das Endgericht käme dann noch. Gottes Türsteher Jesus. Er rollt seinem Herrn den roten Teppich aus. Furchtbar ernst, heilig ehrlich ist es dem theologischen Innovator mit seinem Reich.

Manche Religionsvorschriften legt er liberal aus, andere verschärft er, aber nie schreibt er den Menschen vor, wie sie leben sollen. Glaubt, habt Vertrauen, hört auf, alles zu planen. Die Außenseiter begeistert das. Die jüdische Elite stört das und die herrschenden Römer beunruhigt es, dass Jesus Menschen anzieht und von einem neuen Reich fabuliert. Ein Prophet lebt gefährlich, vor allem wenn manche den Messias in ihm sehen. Den, der den Staat Israel wiederherstellen will, um dann die Welt zu beherrschen. Muss ein Wunderknabe, der übers Wasser gehen kann, nicht zu Höherem berufen sein?

Solche „Wunder“ kümmern Jesus wenig. Er will das Paradies auf Erden schaffen und bekommt den Tod dafür. Seine verkündete Wahrheit ist eine Zumutung für die reale Welt. Die Römer löschen ihn aus, um das, wofür er steht, in alle Winde zu zerstreuen.

Es gab andere Propheten, andere Messiasse, doch warum ausgerechnet aus den zerstrittenen Christen eine Massenreligion werden sollte, die über Jahrhunderte das Geschick der Welt mitbestimmte, ist ein faszinierendes Phänomen. Dabei spielten auch Zufälle und religiöse Kaisermütter eine Rolle. Mit der Kreuzigung endete sein Leben, aber das war erst der Anfang: Das Narrativ der Auferstehung erschuf Jesus Christus, den Mythos. Der Nazarener war nicht länger vonnöten. Zugleich schuf der neue Glaube erst die Möglichkeit, einen Zugang zur historischen Person zu finden. Paradox eigentlich.

Erst mit der Aufklärung begann die protestantische Leben-Jesu-Forschung den Jesus der Evangelien zu hinterfragen. Sie löste die Bande, mit denen er jahrhundertelang an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben in die Figur kam. Schon sah sie den historischen Jesus auf sich zukommen, „aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück“, schrieb der Philosoph und Theologe Albert Schweitzer. Zumindest hat er dabei ein Spannungsfeld hinterlassen, das der Weltkirche vor Augen hielt, wie weit sie sich in ihren Siegeszügen von den Ideen ihrer Galionsfigur entfernt hatte. Jesus, wer bist du?

Exorzist, Heiler, Lehrer, Rabbi, Provokateur, Grenzgänger, Impulsgeber und Hoffnungsträger. Ein endzeitlicher Prophet, der zu den Juden sprach und sich an Israel richtete. Ein Laie, der auszog, Gott zu suchen, bis er nach seinem Tod plötzlich selbst als neuer Universalgott verehrt wurde. Ein Sünder mit Stärken und Schwächen. Ein Revoluzzer der Herzen. Am Ende kostete ihn seine Lebensidee das Leben. War er deshalb ein weltfremder Idiot, wie der Philosoph Friedrich Nietzsche meinte? Nein.

Jesus, Wolkenschlossbauer aus Nazareth, war zwar ein radikaler Gesinnungsethiker, der sich nicht um die möglichen Folgen seiner Lehre in der realen Welt kümmerte, doch als Utopist der Endzeit richtete er seinen Blick auf das Hier und Jetzt. Da ist viel Mut, Respektlosigkeit, aber auch Feingespür für politische Verhältnisse und Sinn für Symbolik. Jesus war, schrieb der Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin, gerade das Gegenteil eines weltfremden Schwärmers. Er wusste, was im Menschen war und knüpfte mit seiner Predigt gezielt an jüdische Traditionen an. Dazu gehörten Talent, Bildung und theologischer Sachverstand. Der Jesus-Forscher David Flusser attestiert ihm „religiöses Genie“. An der Ernsthaftigkeit seines Lebensentwurfs am Rand der Gesellschaft ist nicht zu zweifeln. Das Reich Gottes fiel nicht vom Himmel. Die Endzeit ist kein Ponyhof.

Der deutsche Theologe Gerd Lüdemann sieht eine sympathische, naturwüchsige Gestalt, über die er manchmal schmunzelt. Doch bei der Gesetzesauslegung, wenn etwa begehrende Blicke bereits Ehebruch bedeuten, wird ihm Jesus zu ernsthaft, in seinem vertrauten Umgang mit Gott wirke er geradezu lächerlich: „Denn damit teilt er einen Fehler vieler religiöser Menschen: sich selbst im Mittelpunkt der Welt zu sehen. Als ganze Person bleibt Jesus daher ein Problem, und von einem Problem können wir nicht Antworten auf die uns bedrängenden Fragen erwarten.“

Trotzdem kann der Blick auf Jesus bereichernd sein, bestimmt aber zum Denken anregen. Eine Gesellschaft ohne Geschichte ist wie ein Auto ohne Rückspiegel – das macht die Fahrt erst gefährlich, besonders im religiösen Kontext. Der historische Blick auf Jesus soll nicht engen, sondern weiten. Eine gute Welt braucht Wissen und freie Intelligenz, der Glaube steht dazu nicht in einem Widerspruch.

Der Kirchenkritiker Adolf Holl hat die zeitlose Relevanz des Mannes so begründet: Solange sich Menschen gegen das Ende wehren, hat Jesus ein Wort mitzureden. Solange Liebe sich gegen das Ende wehrt, indem sie ihren Gegenstand mit besitzanzeigenden Fürwörtern benennt, darf Jesus korrigierend eingreifen. Solange es Krieg gibt, in dem plötzlich zerstört werden darf, behält Jesus seine Lizenz als Heiland. Solange das Geschäft des Lebens und Sterbens dilettantisch betrieben wird, mögen die Kruzifixe hängen bleiben.

Man könnte anfügen: Solange wir ein Leben auf Kosten anderer führen, hat er ein Wörtchen mitzureden, solange wir unreflektiert eine Lebensauffassung vertreten, die unter dem Credo steht: Alles für mich und hinter mir die Sintflut. Der Mensch ist längst sein eigener Untergangsgott. Vielleicht ist das der Sickerwitz an Jesus ohne Pointe: Seine Systemkritik besitzt immer noch Aktualität, und wir sind kapitalistische Clowns, denen das Interesse und der Humor ausgegangen ist.

Was wir sicher wissen

Die vier Evangelien sind keine Tatsachenberichte. Genau genommen gibt es nur drei gesicherte Eckdaten zur Biografie der historischen Figur

1. Geburt

Jesus kommt vor dem Tod Herodes I. (4 v. Chr.) zur Welt. Der Nazarener wird auch in nichtchristlichen Quellen erwähnt.

2. Taufe

Jesus von Nazareth wird vom Endzeitprediger Johannes im Jordan getauft, zu einem Zeitpunkt ab 26 n. Chr., als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa ist.

3. Tod

Jüdische Geistliche sind über seine Lehre nicht erfreut, Pilatus fackelt nicht lange: Er verurteilt Jesus wegen Aufruhr zum Tod am Kreuz. Wahrscheinlich stirbt er 30 n. Chr.

Mensch und Mythos

Jesus, ja. Aber welcher? Diese Frage war lange brandgefährlich. Wie schwer es war, den Nazarener vom Christus zu trennen und was die Fragerei überhaupt bringt

Das zweite Jahrhundert nach Christus. Die frühchristlichen Gemeinden streiten um das Erbe von Jesus. Rivalisierende Gruppen reklamieren seine wahre Lehre für sich und beschuldigen die anderen des Betrugs. Nach Ansicht der Gnostiker führt der Weg zu Gott über innere Erkenntnis, nicht über Vermittlung von Priestern und Bischöfen. In ihren Schriften behaupten sie unglaubliche Dinge. Jesus, so steht es in den Akten des Johannes