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Bienvenue en Normandie.
In einem Tal bei Barfleur wird ein Mann erschossen. Philippe Lagarde übernimmt die Ermittlungen, doch er kommt nicht weiter. Niemand scheint etwas gesehen zu haben, auch die Nachforschungen im Umfeld des Opfers ergeben keine Hinweise. Dann stolpert Lagarde über einen anderen Todesfall im Wald von Fontainebleau. Auch dort wurde ein erschossener Mann aufgefunden. Zusammen mit seiner jungen Kollegin Nathalie Beaufort vergleicht Lagarde die beiden Fälle – und stößt auf einen Zusammenhang, der ihm den Atem stocken lässt ...
Monsieur le Commissaire Philippe Lagarde ermittelt in seinem mysteriösesten Fall – ein Kriminalroman voller französischem Charme.
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Seitenzahl: 271
Die junge Kommissarin Nathalie Beaufort hat es mit einem rätselhaften Fall zu tun: Im Wald von Fontainebleau wurde ein Toter aufgefunden, erschossen aus nächster Nähe. Doch ihre Ermittlungen verlaufen im Nichts. Das Opfer scheint sich keine Feinde gemacht zu haben. Oder täuscht dieser Eindruck? Erst als Nathalie einen Anruf von Philippe Lagarde erhält, dessen aktueller Fall erstaunliche Parallelen zu dem ihren aufweist, kommen die beiden einen Schritt weiter. Bald schon hat Lagarde einen ungeheuerlichen Verdacht, was am Tatort geschehen sein könnte …
Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in der Normandie.
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Maria Dries
Der Kommissar und die Toten im Tal von Barfleur
Philippe Lagarde ermittelt
Kriminalroman
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Widmung
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Im Tal der Saire
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Siebter Tag
Die Seerosen von Giverny
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Neunter Tag
Der rote Ring
Zehnter Tag
Der verborgene Ort
Am nächsten Abend
Barfleur
Einen Tag später
Impressum
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Eingenistet sich und eingebettet,
Schändliche, an die ich festgekettet
Wie der Sträfling an den Eisenring!
Wie der Spieler seiner tollen Sucht,
Wie der Trinker der Begierde Krallen,
Wie der Leichnam ist dem Wurm verfallen,
So verfiel ich dir, o sei verflucht!
Charles Baudelaire »Die Blumen des Bösen« (»Les Fleurs Du Mal«)
Im Herzen von Milly-la-Forêt erhob sich imposant das Château de la Bonde aus dem 13. Jahrhundert. Das mit einem Wappen und kunstvollen Bögen verzierte Gebäude wurde von zwei runden, rot gezahnten Türmen flankiert. Zum Haupteingang, einem gewaltigen zweiflügligen Portal aus Eichenholz, gelangte man über eine steinerne Brücke, die den Fluss überspannte. Ganz in der Nähe lag ein rotes Backsteinhaus in einem großen bewaldeten Garten, der von einem Jägerzaun umschlossen wurde. Dort lebte das Ehepaar Mireille und Charles Deray.
Monsieur Deray saß am Esszimmertisch und frühstückte. Er hatte Crêpes gebacken und sie mit Puderzucker bestäubt, dazu trank er einen Café au Lait aus einer schwarzen Bol, die ein goldener Eiffelturm zierte. Zu seinen Füßen schlief sein Hund Filicia, eine schwarz-weiß gefleckte französische Bulldogge mit einem sanften Gemüt.
Als der Mann mit der kräftigen Statur und den sympathischen Gesichtszügen seine Mahlzeit beendet hatte, blätterte er die regionale Tageszeitung durch und las aufmerksam einen Artikel über den Strukturwandel im ländlichen Raum, der ihn sehr erboste. In manchen Ortschaften gab es nicht einmal mehr einen Bäcker oder eine Bar-Tabac.
Schließlich räumte er den Tisch ab und stellte das Geschirr in die Spülmaschine. Sein Tagesablauf war immer derselbe. Um neun Uhr machte er einen langen Spaziergang mit Filicia, anschließend nahm er einen kleinen Imbiss zu sich, danach arbeitete er an seinem aktuellen Manuskript. Charles Deray war Buchautor, und seine Biographie über den Maler und Schriftsteller Jean Cocteau war ein großer Erfolg gewesen. Der Künstler hatte in den sechziger Jahren die Kapelle Saint-Blaise-des-Simples, ein historisches Bauwerk in Milly-la-Forêt, neu gestaltet. Monatelang hatte das Werk auf den Bestsellerlisten gestanden. Das neue Projekt von Deray befasste sich mit der ehemaligen Künstlerkolonie von Barbizon im Wald von Fontainebleau. Zahlreiche Kunstschaffende, die der impressionistischen Malerei vorangegangen waren, hatten dort gelebt und gearbeitet. Aufgrund ihres kreativen Enthusiasmus hatten sie auch Wände und Teile des Mobiliars bemalt. Charles Deray war fest davon überzeugt, dass auch dieses Buch einen großen Kreis von interessierten Lesern erreichen würde.
Er zog Wanderstiefel an, setzte einen breitkrempigen Hut auf und pfiff nach seinem Hund, der schwanzwedelnd und vor Freude kläffend zu Hintertür rannte.
Die beiden drehten jeden Morgen die gleiche Runde. Auf Forstwegen und Trampelpfaden, die durch das riesige Waldgebiet von Fontainebleau verliefen, gingen sie zunächst in nördlicher Richtung und schlugen nach einigen Kilometern einen Bogen nach Westen. Unter den Baumkronen war es noch kühl, Tautröpfchen bedeckten die zarten Blätter der Heidelbeersträucher. Es roch nach frisch gesägtem Holz und Fichtennadeln. Vögel zwitscherten.
Deray leinte seinen Hund nie an, so dass Filicia munter hin und her lief, an Baumstämmen schnupperte und in der Erde nach Mäusen wühlte. Der Forst war ein Paradies für Wanderer, Kletterer und Reiter; Tausende von bizarren Sandsteinformationen lagen in diesem Märchenwald verstreut auf feinem weißem Sand. Das Meer hatte vor Urzeiten das Pariser Becken geflutet und eine eindrucksvolle Landschaft aus Stein und Sand zurückgelassen.
Derays Ziel war der »Zyklop von Fontainebleau«, eine einzigartige, zweiundzwanzig Meter hohe Skulptur, die aus dreihundert Tonnen Stahl bestand und mit Tausenden von Spiegeln überzogen war, die das Licht reflektierten. Fünfundzwanzig Jahre lang hatten Künstler wie Niki de Saint Phalle und Jean Tinguely daran gearbeitet. Er thronte auf einer Lichtung zwischen Eichen, Fichten und Farnen. Wie die Gestalt aus der griechischen Mythologie hatte der Zyklop ein leuchtendes Einzelauge mitten auf der Stirn, das jeden Besucher anstarrte und ihn unwillkürlich in seinen Bann zog.
Monsieur Deray fand den Anblick magisch und war fasziniert von der Aura, die seiner Meinung nach positive Energie ausstrahlte.
Wie jeden Morgen bestieg er mit Filicia auf dem Arm das Kunstwerk. Er folgte einer Wendeltreppe, kletterte über Eisenstiegen vorbei an einem komplizierten Räderwerk und erreichte schließlich das Becken, das den Zyklop krönte und in dessen klarem Wasser sich das Blau des Himmels spiegelte. Daneben war in schwindelnder Höhe ein Eisenbahnwaggon installiert, zu dem man über einen Kettensteg gelangen konnte und der an die Opfer des Nationalsozialismus erinnern sollte.
Um diese Zeit waren in dem Waldgebiet nur wenige Menschen unterwegs. Nirgends war jemand zu sehen, der Derays Gedankenwelt stören könnte.
Er betrat den Waggon und setzte Filicia behutsam auf die Holzdielen. Aus einem kleinen Fenster blickte er auf den Wald, der sich, so weit das Auge reichte, unter einem hohen Himmel erstreckte. Die Morgensonne warf goldene Punkte auf die Bäume und ließ sie über das Laubwerk tanzen. Diese friedliche Landschaft schenkte Monsieur Deray Inspiration und Ruhe. Er dachte über den Einstieg in sein neues Werk nach und hatte tatsächlich eine zündende Idee.
So sehr war er in seine Überlegungen vertieft, dass er ein Knirschen und Knacken irgendwo unter ihm überhörte.
Erst als Filicia die Ohren spitzte und bedrohlich zu knurren begann, sah er sie erstaunt an. Was hatte sie nur? Ihre Nackenhaare sträubten sich. Dann hörte auch er ein Geräusch. Der Steg quietschte leise. Jemand ging ihn entlang.
Deray runzelte verärgert die Stirn. Da näherte sich offenbar ein weiterer Besucher, der ihn beim Nachdenken stören würde. Hoffentlich ginge er bald wieder. Er wollte allein sein. Aber weshalb war die Hündin so beunruhigt?
Plötzlich tauchte eine schwarz gekleidete Gestalt im Türrahmen auf, deren Füße in Springerstiefeln steckten, und verdunkelte das Innere des Waggons. Die Bedrohung, die von ihr ausging, war greifbar. Sie trug eine Sturmhaube und richtete eine Waffe auf ihn.
Deray erstarrte in der Bewegung und blickte in wasserblaue Augen, die ihn kalt fixierten. Er war vor Angst wie gelähmt. Verzweifelt versuchte er, um Hilfe zu rufen, doch kein Wort kam über seine Lippen.
Seine Hündin fletschte die Zähne, stürzte sich auf den Angreifer und packte ihn am Hosenbein. Brutal schüttelte er sie ab und schoss dreimal kurz hintereinander auf Deray.
Der Schriftsteller griff sich ans Herz, sein Gesicht wurde schneeweiß, und eisige Kälte durchströmte seinen Körper. Dann brach er zusammen. Reglos blieb er auf den Dielen liegen. Der Hund leckte über sein Gesicht und begann jämmerlich zu heulen.
Die schwarze Gestalt hastete über die Stiegen und Treppen nach unten, sah sich kurz um, rannte in den Wald und verschwand zwischen Baumstämmen.
Der Campingplatz »Les Trois Chênes« lag außerhalb von Milly-la-Forêt direkt am Fluss. Alte Weiden, deren Blätter in der Sonne silbrig glänzten, spendeten Schatten.
Caroline und Michel saßen auf einer Decke vor ihrem Zelt und frühstückten. Das Wasser für den Kaffee hatten sie auf einem Gaskocher erhitzt, Schoko-Éclairs, frisches Baguette, Käse und Obst hatten sie im kleinen Supermarkt gekauft. Während sie es sich schmecken ließen, beobachteten sie, wie eine Entenfamilie den Fluss durchquerte und im Schilf verschwand. Eine Gruppe von Kajakfahrern paddelte zügig an ihnen vorbei.
Das Pärchen – sie groß und schlank mit langen roten Haaren, er muskulös und dunkelhaarig – lebte und studierte in Paris. Sie hatten nach dem Prüfungsstress beschlossen, in ihren Semesterferien eine Woche in Fontainebleau zu verbringen und zu bouldern. Der Wald von Fontainebleau war das bekannteste Boulder-Gebiet der Welt mit einem Meer an unterschiedlich hohen Felsblöcken, von denen manche nach einem Tier benannt waren, zum Beispiel L’ Éléphant oder Le Cul de Chien. Vor drei Tagen waren sie angekommen und hatten bereits einige Parcours mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden gebouldert. Gestern hatte Caroline übermütig auf ihr Crashpad, eine dicke Matratze, verzichtet und war in etwa zwei Metern Höhe mit dem Fuß aus einer kleinen Höhlung gerutscht und abgestürzt. Unsanft war sie auf Steine und Wurzeln gefallen und hatte sich am linken Handgelenk eine Verletzung zugezogen.
Nach dem Frühstück versorgte Michel die Wunde und verband sie neu. Als er fertig war, drückte er einen sanften Kuss darauf.
»Lass uns heute eine Boulder-Pause machen«, schlug er vor. »Dein Handgelenk braucht Ruhe.«
Caroline nickte. »Einverstanden. Unternehmen wir etwas anderes.«
Er griff nach dem Reiseführer und begann zu blättern. »Wir können das Château de Fontainebleau besichtigen, was meinst du?«
»Vielleicht morgen oder übermorgen. Ich möchte lieber im Wald bleiben, es ist so schön hier.«
»Mal sehen. Machen wir doch eine Wanderung und bestaunen den Zyklop von Fontainebleau.«
»Den Zyklop?«
»Das ist eine gewaltige Skulptur, die mitten im Wald steht.«
»Das hört sich interessant an. Wir packen den Rucksack mit Leckereien voll und machen unterwegs ein Picknick.«
»Super Idee.«
Nachdem sie ihre Sachen im Zelt verstaut hatten, brachen sie auf. Caroline hatte ihre Haare mit einem bunten Tuch zurückgebunden und die Ohren mit Kreolen geschmückt. Die olivgrüne Cargohose, die auf den Hüften saß, stand ihr gut und betonte ihre Figur. Michel fand, dass sie wunderschön aussah. Er war sehr verliebt in sie.
Hand in Hand gingen sie durch den lichten Wald, bestaunten die Felsformationen und beurteilten ihre Schwierigkeitsgrade. Fasziniert sahen sie einem älteren durchtrainierten Mann zu, der eine Fußmatte auf den Boden legte und den Sand von seinen Kletterschuhen streifte, um den Felsen nicht glatt zu schleifen. Die Bleausards waren erfahrene Kletterer, die schon seit vielen Jahren nach Fontainebleau kamen. Sie benutzten keine Crashpads und meisterten die schwierigsten Boulder mit Leichtigkeit. Caroline staunte, als er in horizontaler Position elegant an Steinwellen kletterte, als klebte er wie ein Gecko am Fels.
»Das schaffe ich nie«, meinte sie.
»Aber sicher«, widersprach ihr Freund sofort. »Dir fehlt nur noch etwas Übung.«
Nachdem sie mehrere Kilometer hinter sich gebracht hatten, erreichten sie den Zyklop, der sich wie ein leuchtender Riese vor ihnen erhob. Das Pärchen war begeistert von der Skulptur, und Caroline machte mit ihrem Smartphone ein paar Schnappschüsse mit Michel im Vordergrund. Es war still auf der Lichtung, nur das Laub flüsterte in den Bäumen.
Doch plötzlich vernahm Caroline ein Geräusch. Es war eine Art Wimmern, das von der Spitze des Zyklopen zu kommen schien.
»Hör mal, Michel. Was ist das?«
Er lauschte. »Vielleicht ein Tier? Sehen wir nach.«
Sie kletterten hinauf und erreichten schließlich das Wasserbecken. Das Wimmern wurde lauter.
»Es kommt aus dem Eisenbahnwaggon«, stellte Caroline fest. Inzwischen empfand sie die Situation als unheimlich und zögerte einen Moment. Dann begann sie über den Steg zu balancieren und vermied es, in die Tiefe zu sehen. Michel folgte ihr.
Als sie in den Waggon traten, erstarrten sie vor Entsetzen. Auf dem Boden lag ein Mann zusammengekrümmt in einer Blutlache. Seine aufgerissenen Augen waren trübe, das Poloshirt blutbefleckt. Der Hut lag nicht weit von seinem Kopf. Neben ihm saß eine schwarz-weiß gefleckte Bulldogge, die jaulte und am ganzen Körper zitterte. Caroline, kalkweiß im Gesicht, näherte sich dem Mann, ging in die Hocke und legte behutsam zwei Finger auf seinen Hals, um den Puls zu fühlen.
»Er ist tot«, bestätigte sie, was offensichtlich war. »Wir können nichts mehr für ihn tun.« Sie wechselte einen angsterfüllten Blick mit Michel.
Während ihr Freund einen Notruf absetzte, griff sie nach dem zitternden Bündel und nahm den Hund auf den Arm. Sie drückte ihn an ihre Brust und flüsterte beruhigende Worte in sein Ohr. Dabei konnte sie den Blick nicht von dem toten Mann abwenden. Was war hier geschehen?
Das Städtchen Fontainebleau lag südlich von Paris und hatte ungefähr fünfzehntausend Einwohner. Berühmt war es für sein prunkvolles Renaissance-Schloss Château de Fontainebleau, das König Franz I im sechzehnten Jahrhundert von italienischen Künstlern ausbauen und gestalten ließ. Vorher war es eine bescheidene Jagdresidenz gewesen.
Das Kommissariat war in einem dreistöckigen weiß verputzten Haus untergebracht. Auf dem Dach saßen ein breiter grauer Schornstein sowie zwei runde rote Abzüge. Die Fensterläden waren grün lackiert. Das Gebäude stand am Marktplatz, auf dem sich im Schatten der Platanen Stände reihten, an denen Obst, Gemüse, Käse und Wurstwaren angeboten wurden. An einem Imbiss stärkten sich die Besucher mit Mokka und Macarons. Genau in der Mitte des Platzes drehte sich ein mit Schimmeln bestücktes barockes Karussell zu fröhlichen Melodien.
Madame le Commissaire Nathalie Beaufort saß an ihrem Schreibtisch vor einem Computerbildschirm und lächelte verträumt vor sich hin. Dabei strich sie sich eine blonde Strähne aus der Stirn. Ihre himmelblauen Augen mit den langen dunklen Wimpern glänzten. Sie hatte sich verliebt. In René. Vor drei Wochen hatten sie sich beim Einkaufen auf dem Bauernmarkt kennengelernt und waren ins Gespräch gekommen. Daraufhin hatte der attraktive dunkelhaarige Mann sie zu einem Kaffee eingeladen. Er war vierundvierzig Jahre alt, neun Jahre älter als sie. Heute Abend waren sie im Restaurant Le Cygne verabredet. Sie freute sich sehr darauf und beschloss, das jadegrüne Kleid und dazu elegante Pumps anzuziehen, nicht wie sonst Jeans und Turnschuhe.
Plötzlich klingelte das Telefon und riss sie aus ihren Gedanken. Eine Gendarmin von der Wache in Milly-la-Forêt war am Apparat.
»Spaziergänger haben im Wald von Fontainebleau einen toten Mann gefunden. Er befindet sich im Eisenbahnwaggon des Zyklopen.«
Nathalie war irritiert. »Was? Im Zyklop?«
»Ja.«
»Okay! Ich bin schon unterwegs. Bitte warten Sie dort auf mich.«
»Wird gemacht, Madame le Commissaire.«
Nathalie wusste, wo das Kunstwerk stand. Sie beendete das Gespräch und informierte die Techniker der Spurensicherung sowie den Rechtsmediziner Docteur Jacques Marais, die ihr versicherten, sich sofort auf den Weg zu machen. Sie würde alleine in den Wald fahren.
Der Arbeitsplatz ihr gegenüber war verwaist. Ihr Kollege Claude hatte Urlaub und war mit seiner Familie nach Sanary-sur-Mer gefahren. Nathalie schlüpfte in ihre rehbraune Bikerjacke und machte sich auf den Weg.
Als sie die Lichtung, auf der sich die Skulptur erhob, erreichte, stellte sie den Dienstwagen direkt vor dem Eingang ab. Zwei Gendarmen standen schon dort und warteten auf sie. Sie begrüßten sich, und die Polizistin erklärte ihr die Situation.
»Der Mann liegt oben im Eisenbahnwaggon.«
Sie wies auf ein Pärchen, das mit ernstem Gesichtsausdruck auf einer Bank saß. Die junge Frau hatte einen Hund auf dem Schoß und streichelte ihn.
»Die beiden haben ihn gefunden.«
Nathalie Beaufort stellte sich dem Pärchen vor und zeigte ihren Dienstausweis.
»Bonjour, Madame et Monsieur. Ich muss mir zunächst den Fundort ansehen, aber bitte warten Sie hier auf mich, ich will danach mit Ihnen reden. In der Zwischenzeit wird der Gendarm Ihre Kontaktdaten aufnehmen.«
»Selbstverständlich« sagte der junge Mann.
Währenddessen waren das Team der Spurensicherung und der Rechtsmediziner eingetroffen. Die Kommissarin begrüßte sie und berichtete, was geschehen war. Hintereinander stiegen sie hinauf zum Eisenbahnwaggon. Die Gendarmin ging voraus. Docteur Marais bildete die Nachhut und atmete schwer. Er war ein netter älterer wohlbeleibter Herr kurz vor der Pensionierung. Nathalie mochte ihn und seine warmherzige umgängliche Art. Manchmal gingen sie zusammen Mittagessen, und samstags am späten Nachmittag spielten sie gemeinsam in einer Gruppe Boules.
Die Gendarmin betrat den Waggon als Erste und ließ dann Nathalie den Vortritt. Langsam näherte sie sich dem Toten und erfasste dabei die gesamte Szenerie. Sie ging in die Hocke und betrachtete ihn aufmerksam. Sein Gesicht war blutleer, die Lippen blau und die hellen Augen mit einem Schleier überzogen. Um das Herz hatte sich sein Hemd rot verfärbt. Als sie sich erhob, betrat Docteur Marais den Waggon und verschnaufte einen Moment. Sein Blick fiel auf den Toten, und er runzelte die Stirn. »Was für ein spektakulärer Ort für einen Leichenfund.«
Nathalie nickte. »Das kann man wohl sagen.«
Als Marais wieder Luft bekam, ging er zu dem Leichnam, zog Einmalhandschuhe über und begann ihn zu untersuchen.
»Sehen wir mal, was wir da haben.«
Mit einer sterilen Schere schnitt er das Hemd auf und deutete auf drei Einschüsse.
»Er ist erschossen worden«, verkündete er. »Zwei Projektile drangen knapp neben dem Herzen in den Brustkorb ein, eine Kugel traf vermutlich direkt in eine der Herzkammern. Er muss sofort tot gewesen sein, noch bevor er auf dem Boden aufschlug. Die Obduktion wird uns den genauen Sachverhalt liefern.«
»Gibt es Schmauchspuren?«, fragte Nathalie.
»Kaum, der Täter muss aus einigen Metern Entfernung geschossen haben.«
Sie sah sich um. »Er könnte an der Tür gestanden und sofort abgedrückt haben, so dass das Opfer keine Gelegenheit hatte zu reagieren und sich zu wehren«, versuchte sie, sich den Tathergang vorzustellen. »Das Opfer bricht zusammen und fällt auf den Holzboden.«
Marais nickte. »So könnte es gewesen sein.«
»Das würde bedeuten, dass der Täter nach dem Opfer in den Waggon kam. Der Tote war vor ihm da. Woher wusste der Angreifer, dass der Mann sich hier aufhalten würde?«
»Vermutlich ist er ihm gefolgt.«
Nachdenklich stimmte sie ihm zu. »Ja, oder er hatte die entsprechende Information. Wissen wir schon, um wen es sich bei dem Mann handelt?«
Die Gendarmin meldete sich zu Wort. »Das ist Charles Deray aus Milly-la-Forêt, ein bekannter Schriftsteller. Wir kennen uns vom Sehen, ich wohne auch dort.«
»Hat er Angehörige?«, erkundigte sich die Kommissarin.
»Eine Ehefrau, sie heißt Mireille.«
»Besaß er einen Hund?«
»Ich glaube, ja.«
»Merci.« Sie wandte sich erneut an den Arzt. »Ist der Fundort der Tatort?«
»Ganz sicher. Sieh, das viele Blut auf den Holzdielen.«
»Vermutlich ist es für eine Person außerdem unmöglich, eine Leiche über diese steilen Eisenstiegen und den schwankenden Kettensteg hier heraufzutragen.«
»Da kann ich dir nur zustimmen.«
»Wie lange ist er schon tot, Doc?«
»Ein bis zwei Stunden, eher zwei.«
»Der Notruf ging um zehn Uhr sechzehn auf der Wache ein«, berichtete die Gendarmin.
Nathalie sah auf ihre Armbanduhr. »Jetzt ist es kurz nach halb zwölf. Demnach wurde Charles Deray zwischen etwa neun Uhr dreißig und zehn Uhr zehn erschossen.«
»Wenn die beiden jungen Leute, die ihn gefunden haben, etwas früher gekommen wären, wären sie dem Täter womöglich begegnet.«
»Ja, es gibt nur einen Ausgang.« Nathalie wandte sich an das Team der Spurensicherung. »Ihr könnt jetzt anfangen. Der Bestatter wird in Kürze eintreffen. Seid bitte vorsichtig, wenn ihr den Leichnam hinunter transportiert.«
Ein Techniker begann durchnummerierte Schilder aufzustellen, eine Kollegin nahm ihre Kamera aus der Tasche. Die Kommissarin wartete, bis Marais sein Lederköfferchen eingeräumt und sich aufgerappelt hatte. Dann machten sich die beiden an den Abstieg.
»Gib mir deine Tasche, Jacques«, forderte sie ihn auf.
»Merci, Nathalie.«
Sie verabschiedeten sich am Fuß des Zyklopen, und der Rechtsmediziner fuhr mit seinem klapprigen Citroën davon. Sie hatten vereinbart, dass er sie anrufen würde, wenn er mit der Obduktion fertig wäre.
Die Kommissarin setzte sich zu dem Pärchen auf die Bank. »Danke, dass Sie gewartet haben.«
»Was ist dem Mann zugestoßen?«, wollte Caroline wissen.
Beaufort entschloss sich, es ihr zu erzählen. Spätestens morgen würde sich die Presse auf den Mordfall stürzen.
»Er ist erschossen worden.«
Die junge Frau erbleichte. »Das ist schrecklich.«
»Ja, die police judiciaire in Fontainebleau übernimmt die Ermittlungen. Ich habe ein paar Fragen an Sie. Sind Sie hier aus der Gegend?«
»Nein, wir kommen aus Paris und machen Urlaub in Fontainebleau. Wir bouldern.«
Die Kommissarin lächelte kurz. Sie liebte diesen Sport, der so viel Geschicklichkeit und Phantasie erforderte. Leider kam sie nur sehr selten dazu.
»Heute haben Sie sich entschlossen, die Skulptur zu besichtigen?«
»Ja«, antwortete Michel. »Meine Freundin hat sich beim Klettern verletzt, deshalb wollten wir heute nicht bouldern und uns stattdessen den Zyklop ansehen.«
»Sie sind hinaufgestiegen?«
»Wir haben ein Wimmern gehört.« Er wies mit dem Kopf auf die Bulldogge. »Im Eisenbahnwaggon haben wir den Mann gefunden, wahrscheinlich ist das hier sein Hund.«
»Es sieht so aus.«
»Ich habe sofort die Polizei alarmiert.«
»Sehr gut. Ist Ihnen auf dem Weg hierher oder im näheren Umkreis der Skulptur etwas aufgefallen?«
Er zog die Stirn kraus. »Nein.«
»Haben Sie andere Personen gesehen?«
»Ja, sicher, eine Gruppe Kletterer, die zum Felsen L’ Éléphant wollte, einen Bleausard an den Steinwellen und zwei Reiter, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs waren.«
»Ist Ihnen dabei etwas Seltsames aufgefallen?«
»Ganz und gar nicht. Es waren Naturliebhaber, so wie wir.«
Caroline meldete sich zu Wort. »Ich kann mich an ein Fahrzeug erinnern, das auf einem Waldparkplatz stand. Du hast es doch bestimmt auch gesehen, Michel?«
»Das stimmt, jetzt, wo du es sagst.«
»Wo befindet sich dieser Parkplatz?«, wollte Beaufort wissen.
»Ungefähr zehn Gehminuten von hier, Richtung Osten«, berichtete Caroline.
»Wissen Sie, um welche Marke es sich handelte?«
»Ich glaube, es war ein Peugeot, ein kleines Modell.«
»Sie hat recht«, bekräftigte Michel.
»Welche Farbe hatte das Auto?«
»Es war dunkelblau.«
»Können Sie sich an das Kennzeichen erinnern?«
»Darauf habe ich nicht geachtet.«
Caroline schien sich an etwas zu erinnern. »Man konnte es gar nicht erkennen, weil es stark verschmutzt war. Deshalb ist mir das Fahrzeug überhaupt aufgefallen.«
»Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen?«
»Leider nein.«
»Das war es vorerst von meiner Seite. Ich gebe Ihnen meine Visitenkarte. Bitte melden Sie sich jederzeit, wenn Ihnen noch etwas einfällt, auch wenn es noch so unwichtig erscheinen mag.«
»Alles klar«, sagte Michel.
»Was wird aus dem Hund?«, fragte Caroline.
»Ich nehme ihn mit und bringe ihn zu seiner Besitzerin.«
Nathalie nahm das verstörte Tier auf den Arm, und sie verabschiedeten sich.
Nathalie Beaufort fuhr über Waldwege, bis sie die Landstraße erreichte, die nach Milly-la-Forêt führte. Sie parkte vor dem roten Backsteinhaus Au Parc du Château 4. Die Hündin hatte sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt und keinen Ton mehr von sich gegeben. Ihre Augen waren geschlossen. Nathalie nahm an, dass sie eingeschlafen war.
Sie ging um das Fahrzeug herum, hob sie vom Sitz und nahm sie auf den Arm. Die Bulldogge winselte kläglich.
Kurz nachdem Nathalie an der Haustür geklingelt hatte, wurde diese von einer Frau in einem schicken zartrosa Kostüm geöffnet, die die aschblonden Haare modisch kurz geschnitten trug. Die Perlenkette und die dazu passenden Ohrringe unterstützten den eleganten Eindruck. Sie sah Nathalie freundlich an. Dann fiel ihr Blick auf die Bulldogge.
»Das ist doch Filicia! Ist sie Ihnen zugelaufen?«
»Können Sie sie bitte nehmen?« Sie wich der Frage aus und reichte der Frau das Tier. Dann zeigte sie ihr den Dienstausweis und stellte sich vor.
»Sind Sie Mireille Deray?«
»Ja.« Jetzt wirkte sie erschrocken. Das schmale Gesicht mit den Fältchen, die sich wie feine Linien über Wangen und Stirn zogen, wurde blass. »Ist etwas passiert? Wo ist mein Mann? Geht es ihm gut?«
»Darf ich hereinkommen? Ich muss mit Ihnen reden.«
»Selbstverständlich. Kommen Sie bitte.«
Die Frau, die Nathalie auf Mitte fünfzig schätzte, führte sie durch eine Diele auf die Terrasse. Dort wies sie auf eine Sitzecke mit Korbmöbeln, auf denen dicke farbenfrohe Polster lagen, die sich um einen Tisch gruppierten.
»Nehmen Sie bitte Platz. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten oder eine Limonade?«
»Nein, vielen Dank.«
Nachdem sie den Hund in sein Körbchen gelegt hatte, setzte Madame Deray sich verkrampft auf den Rand eines Sessels und sah sie mit großen Augen an. Nervös rieb sie ihre Hände.
Nathalie gab sich einen Ruck. Einem Angehörigen eine Todesnachricht zu überbringen, war für sie die schwerste Aufgabe in ihrem Beruf. Es war ihr klar, dass dadurch das Leben einer Familie mit einem Schlag komplett auf den Kopf gestellt wurde und es nie mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
»Ihr Mann Charles Deray wurde heute Morgen im Zyklop von Fontainebleau tot aufgefunden. Wir gehen von einem Gewaltverbrechen aus. Deshalb hat die police judiciaire Fontainebleau die Ermittlungen aufgenommen. Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen, Madame Deray. Es tut mir sehr leid.«
Die Frau klammerte sich mit den Händen an den Sessellehnen fest, so dass die Adern hervortraten. In stummer Verzweiflung schüttelte sie den Kopf. Dann brach der Kummer aus ihr heraus.
»Das kann nicht sein! Nicht mein Charles. Nein …«
»Eine Gendarmin, die hier im Ort wohnt, hat ihn identifiziert.«
»Was ist geschehen?«
»Auf ihn wurden drei Schüsse abgegeben. Mindestens einer davon war tödlich.«
»Er ist erschossen worden? Im Zyklop?«
»Oui, Madame. Im Eisenbahnwaggon. Wir wissen noch nicht, was genau dort vorgefallen ist. Vom Täter fehlt bisher jede Spur.«
Madame Deray blickte ins Leere, ihr Kinn begann zu zittern.
Besorgt sah Nathalie sie an.
»Madame? Geht es einigermaßen? Soll ich Ihnen ein Glas Wasser holen?«
»Nein, danke. Ich kann es einfach nicht fassen.«
»Darf ich Ihnen einige Fragen stellen, oder soll ich später wiederkommen?«
»Fragen Sie nur.«
»In Ordnung. Was hat Ihr Mann im Wald von Fontainebleau gemacht?«
»Er brach jeden Morgen gegen neun Uhr zu einem Spaziergang mit Filicia auf. Sein Ziel war die Skulptur, er stieg hinauf und genoss die Aussicht. Dieser Ort inspiriere ihn, sagte er immer. Das war eine Art Ritual. Mein Mann ist …«, sie brach ab und biss sich auf die Lippe, »war Schriftsteller.«
»Und anschließend?«
»Anschließend lief er zurück. Gegen elf Uhr war er meistens wieder da.«
Nathalie machte sich gedanklich eine Notiz. Wenn Deray für die halbe Strecke eine knappe Stunde brauchte und er um neun Uhr aufgebrochen war, musste er zwischen circa zehn und zehn Uhr zehn erschossen worden sein.
»Haben Sie eine Vorstellung, wer ihm das angetan haben könnte?«
»Nein, mein Mann war bei allen Leuten sehr beliebt. Er war klug, unterhaltsam, charmant, lebensfroh. Für ihn war das Glas immer halb voll.«
»Hatte er Streit, beispielsweise mit den Nachbarn?«
»Wir haben uns immer gut verstanden, es gab nie ein böses Wort.«
»Feinde?«
»Aber nein, mein Mann hat Sachbücher geschrieben! Wie sollte man sich damit Feinde machen?«
»Wirklich nicht? Denken Sie bitte nach.«
Madame Derays Blick ging ins Leere, dann runzelte sie die Stirn.
»Doch, mir fällt etwas ein. Durch den Schock habe ich nicht gleich daran gedacht. Er hatte Ärger mit einer Frau. Mein Mann hat eine Biographie über Jean Cocteau geschrieben. Diese Frau behauptet, die Enkelin dieses Künstlers zu sein, und fordert fünfzig Prozent der Buchtantiemen, ansonsten würde sie ihn verklagen.«
»Weshalb?«
»Es geht um die Verletzung von Urheberrechten und darum, dass mein Mann für dieses Projekt keine Einwilligung von ihr eingeholt hat. Sie stellt die Herkunft von Quellentexten infrage und kritisiert die Verletzung der Privatsphäre. Mein Mann war dadurch sehr irritiert.«
»Wie ist der neueste Stand?«
»Charles hat einen Rechtsanwalt engagiert, der sich um die Angelegenheit kümmert. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen. Ich habe mich weitgehend aus der Sache herausgehalten.«
»Haben Sie dennoch eine Einschätzung?«
»Charles hielt sie für eine Hochstaplerin.«
»Wie war sein Verhalten in letzter Zeit?«
»Wie immer, mir ist nichts Ungewöhnliches aufgefallen. Er freute sich auf sein neues Buchprojekt, es sollte von der ehemaligen Künstlerkolonie von Barbizon handeln.«
»Wurde er bedroht oder geschahen seltsame Dinge?«
Wieder schien Madame Deray in sich zu gehen, dann blickte sie Nathalie direkt an.
»Ja, doch. Vor drei Tagen haben wir im Garten einen Giftköder gefunden. Wir befürchteten, dass jemand Filicia vergiften wollte.«
»Wer könnte das gewesen sein?«
»Wir haben uns den Kopf zerbrochen, aber uns ist niemand eingefallen. Sie ist ein liebes Hündchen und tut keinem Menschen etwas.«
Die Bulldogge hob den Kopf und sah sie an. Offenbar spürte sie, dass über sie gesprochen wurde.
»Wie würden Sie Ihre Ehe beschreiben, Madame Deray?«
»Ich verstehe nicht, was diese Frage mit Ihrer Ermittlungsarbeit zu tun hat.«
»Bei einem Tötungsdelikt kann alles wichtig sein.«
Die elegante Frau überlegte einen Moment.
»Wir führten eine gute Ehe, geprägt von Zuneigung und gegenseitigem Respekt. Als Charles und ich uns kennenlernten, habe ich Medizin studiert, und er war ein aufstrebender Schriftsteller. Einer von uns musste den Lebensunterhalt verdienen, deshalb habe ich mein Studium abgebrochen und als Krankenschwester gearbeitet. Ich war seine Muse, das war eine wunderbare Zeit. Nur unser Kinderwunsch erfüllte sich leider nie.«
»Ich muss Sie das jetzt fragen. Wo waren Sie heute Morgen zwischen neun und zehn Uhr zehn?«
Madame Deray sah sie entsetzt an. »Sie verdächtigen mich?«
»Das ist eine reine Routinefrage.«
»Ich war um acht Uhr mit meiner Freundin Mariette Dupont im Café Fontainebleau verabredet. Wir haben dort zusammen gefrühstückt.«
»Sie haben nicht mit Ihrem Mann gefrühstückt?«
»Nein.«
»Ich werde das überprüfen müssen.«
»Tun Sie das.« Der Ton war kühler geworden.
»Im Moment habe ich keine weiteren Fragen mehr. Haben Sie jemanden, der sich um Sie kümmert? Sie sollten jetzt nicht alleine sein.«
»Ich kann Mariette jederzeit anrufen. Aber ich möchte lieber für mich sein.«
»Wie Sie meinen.« Nathalie legte eine Visitenkarte auf den Tisch. »Bitte rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch etwas einfällt.«
»Selbstverständlich. Ich begleite Sie zur Tür.«
Als die Kommissarin weg fuhr, sah Madame Deray ihr noch lange nach. Ihre Augen waren feucht. Der Gedanke, dass sie Charles verloren hatte, war unerträglich. Wie sollte sie ohne ihn weiterleben? Schließlich schloss sie die Tür und zog sich ins Haus zurück.
Nathalie Beaufort fuhr zurück nach Fontainebleau und beschloss, das Café Fontainebleau aufzusuchen. Sie kannte es, da sie dort selbst hin und wieder frühstückte und die Tageszeitung las, bevor ihr Dienst im Kommissariat begann.
Das Café lag in einer Seitengasse in der Nähe der Markthalle, eingeklemmt zwischen einem Antiquitätengeschäft und einer Buchhandlung. Die Fassade war frisch renoviert. Über der Eingangstür hing ein altes Wirtshausschild, das ein Schloss zeigte und im Wind pendelte.
Nathalie setzte sich an einen freien Bistrotisch, den eine gestreifte Markise beschattete. Am Nachbartisch saß eine attraktive schwangere Frau und aß Torte. Kurz darauf kam Claudie, die junge Bedienung mit den rosa Strähnchen und dem Piercing in der Nase, und begrüßte sie.
»Bonjour, Madame le Commissaire. Ist das nicht ein schöner Tag heute?«
»Bonjour, Claudie. Ja, es ist schon sehr warm für Mai.«
»Was darf ich Ihnen bringen?«
»Ich möchte eine Kleinigkeit essen, was können Sie empfehlen?«
»Als Tagesgericht gibt es Galette, gefüllt mit Schinken und Käse, dazu Lauchgemüse.«
»Das hört sich gut an, und ein großes Mineralwasser bitte.«
»Sehr gerne.«
Claudie verschwand im Café und servierte kurz darauf das Mineralwasser und ein Schälchen mit Pistazien. Nathalie trank durstig. Anschließend holte sie ihren Notizblock und einen Stift aus der Tasche und las konzentriert die Aufzeichnungen, die sie am Tatort gemacht hatte. Hin und wieder ergänzte sie die knappen Notizen. Jedes Detail war wichtig, keine Information durfte verlorengehen. Dabei versuchte sie, sich den Tathergang vorzustellen. Ein Ort mitten im Wald, nicht völlig einsam, aber auch nicht überlaufen. Ein Schütze, der leise auf die Skulptur geklettert war und offenbar vom Eingang des Waggons aus geschossen hatte. Dabei hatte er das Herz des Opfers getroffen. Zufall oder Können? Charles Deray hatte einen gefalteten Zwanzig-Euro-Schein in der Hosentasche gehabt, um das Handgelenk hatte er eine wertvolle Herrenuhr von Charriol getragen, die mindestens dreitausend Euro wert sein musste. Geld und Schmuck hatten den Täter nicht interessiert. Es musste also ein anderes Motiv geben. War es persönlicher Natur? Hatten sich die beiden gekannt? Der Tatort war ein Eisenbahnwaggon, der an die Opfer des Naziregimes erinnern sollte. Hatte das Verbrechen etwas damit zu tun?
Nathalie schüttelte den Kopf und legte den Stift weg. Es war zu früh für solche Vermutungen und Spekulationen, sie benötigte dringend mehr Hintergrundinformationen. Als sie ihr Notizheft zuklappte, kam Claudie mit dem Mittagessen und stellte den Teller sowie ein Körbchen mit krossen Baguettescheiben auf den Tisch.
»Bon appétit, Madame le Commissaire.«
»Merci.«
Sie ließ sich die Galette schmecken und war überrascht, wie gut das Lauchgemüse dazu passte. Dabei grübelte sie weiter über den Fall nach. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Jacques hatte sich noch nicht gemeldet.