Der Kommissar und die Toten von der Loire - Maria Dries - E-Book
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Maria Dries

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Beschreibung

Monsieur le Commissaire und der Mord aus dem Hinterhalt.

Nach einem Ritterturnier auf einem Schloss an der Loire machen die Gäste einen grausamen Fund: Ein Mann wurde von Pferden zu Tode getrampelt. Der vermeintliche Unfall entpuppt sich schnell als Mord, das Opfer wurde mit einem Pfeil erschossen. Die örtliche Polizei ist überfordert und holt sich Hilfe von Commissaire Philippe Lagarde. Kurz darauf ereignet sich auf dem Areal eines anderen Schlosses ein ähnlicher Fall. Zwischen den Opfern scheint es keine Verbindung zu geben, doch Lagarde hat einen Verdacht, der ihn an seine Grenzen bringt ...

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Über Maria Dries

Maria Dries wurde in Erlangen geboren und hat Sozialpädagogik und Betriebswirtschaftslehre studiert. Heute lebt sie mit ihrer Familie in der Fränkischen Schweiz. Schon seit vielen Jahren verbringt sie die Sommer in der Normandie. Im Aufbau Taschenbuch sind bisher ihre Krimis »Der Kommissar von Barfleur«, »Die schöne Tote von Barfleur«, »Der Kommissar und der Orden von Mont-Saint-Michel«, »Der Kommissar und der Mörder vom Cap de la Hague« zuletzt »Der Kommissar und der Tote von Gonneville«, »Der Kommissar und die Morde von Verdon«, »Der Kommissar und die verschwundenen Frauen von Barneville«, »Der Kommissar und das Rätsel von Biscarrosse« und »Der Kommissar und das Biest von Marcouf« erschienen.

Informationen zum Buch

Monsieur le Commissaire und der Mord aus dem Hinterhalt

Nach einem Ritterturnier auf einem Schloss an der Loire machen die Gäste einen grausamen Fund: Ein Mann wurde von Pferden zu Tode getrampelt. Doch der vermeintliche Unfall entpuppt sich schnell als Mord, das Opfer wurde mit einem Pfeil erschossen. Die örtliche Polizei ist überfordert und holt sich Hilfe von Commissaire Philippe Lagarde. Kurz darauf ereignet sich auf dem Areal eines anderen Schlosses ein ähnlicher Fall. Zwischen den Opfern scheint es keine Verbindung zu geben, doch Lagarde hat einen Verdacht, der ihn an seine Grenzen bringt.

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Maria Dries

Der Kommissar und die Toten von der Loire

Philippe Lagarde Ermittelt

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Über Maria Dries

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Das Unsühnbare

Prolog, Juli 2017

September 2017

Erster Tag

Die Ritterspiele von Chambord

Zweiter Tag

Das Steinkreuz am Brunnen

Barfleur

Dritter Tag

Gespenster

Vierter Tag

Château Saumur

Fünfter Tag

Château Chenonceau

Sechster Tag

Der Troubadour

Siebter Tag

Château Cheverny

Achter Tag

Bébé

Neunter Tag

Der Talisman

Einige Wochen später

Impressum

Für unsere Sonnenscheine

Nic, Lucy und Luc

Das Unsühnbare

Sag’s, Zauberin, wenn du den Trost gefunden,

O sag’s der Seele, angst- und qualbeschwert,

Dem Sterbenden, erdrückt von Todeswunden,

Auf den der Pferde Huf herniederfährt,

Sag’s, schöne Zaubrin, wenn du Trost gefunden;

Geliebte Zaubrin, liebst du die Verfluchten,

Kennst du der unsühnbaren Dinge Spiel,

Der Reue Pfeil, den giftigen, verruchten,

Dem unser Herz als Scheibe dient und Ziel?

Geliebte Zaubrin, liebst du die Verfluchten?

Charles Baudelaire»Die Blumen des Bösen«(»Les Fleurs du Mal«)

Prolog, Juli 2017

Der Schlosspark von Chambord, der größte Waldpark Europas, war in etwa so groß wie die Innenstadt von Paris und wurde von einer zweiunddreißig Kilometer langen Mauer begrenzt.

Der Treffpunkt war eine Lichtung, die sich im nordöstlichen Teil des Waldes befand und kreisförmig von Eichen umsäumt wurde. In der Mitte befand sich ein Steingebilde, das an einen Dolmen erinnerte und schwarz glänzte, als würde es von innen heraus leuchten.

Nach und nach traf ein, wer sich dort um Mitternacht verabredet hatte: Sylvie, Cyril, Alicia, Jean-Pascal, Emmanuelle und Laurent. Sie umarmten sich und begrüßten einander mit Wangenküsschen, dann versammelten sie sich um den steinernen Tisch und ließen sich auf Decken nieder, die sie über die nachtfeuchten Gräser gebreitet hatten. Cyril und Alicia entzündeten Teelichter und stellten sie an den Rand der glatten Oberfläche. Die gelben Flammen flackerten und ließen Schatten über Büsche und Baumstämme huschen. Der warme Wind brachte das Eichenlaub zum Flüstern und wehte den Duft von wildem Salbei heran, irgendwo schrie ein Käuzchen. Aus dem nahegelegenen Torfmoor erklang ein leises Glucksen. Der Mond tauchte die Lichtung in einen silbrigen Schein.

Sylvie breitete ein weißes Tischtuch aus Damast aus und holte aus einem Korb die Speisen für das Picknick, die sie vorbereitet hatte: gefüllte Wachteln, Gänseleberpastete, Fasanenterrine, Salat und Baguette. Laurent zauberte einige Flaschen Rotwein aus seinem Rucksack, entkorkte die erste und schenkte ein. Jetzt fehlte nur noch die musikalische Untermalung.

Jean-Pascal schaltete den CD-Player ein, und leise erklang mittelalterliche Cembalo-Musik. Feierlich hoben die Frauen und Männer die Gläser und stießen an.

»Auf uns und unsere Freundschaft«, sagten sie ernst. Nach dem Mahl richtete sich die Aufmerksamkeit aller auf Emmanuelle. Sie war heute Nacht an der Reihe, eine Geschichte aus dem unendlichen Fundus über die Loire-Schlösser zu erzählen. Die Augen der jungen Frau glänzten im Mondlicht, und sie lächelte, als sie zu erzählen begann.

»Im Jahre fünfzehnhundertsiebenundsiebzig veranstaltete Katharina von Medici ein extravagantes Bankett im Freien, bei dem die schönsten Hofdamen halbnackt bedienten. Der König trug eine Robe aus rosafarbenem und silbernem Damast, das Haar war violett gepudert und funkelte von Brillanten. Nach dem Mahl kamen hinter den Büschen leichtbekleidete Nymphen hervor, und bis zum Morgengrauen gaben sich alle den Freuden der Liebe hin.« Sie machte eine kurze Pause und sah in die Runde, ihre Freunde lauschten aufmerksam. Als sie fortfahren wollte, ertönte plötzlich ein Rascheln und Schnauben, dann tauchte zwischen den Zweigen eines Gestrüpps der gewaltige Kopf eines Keilers auf. Als er die Menschen wahrnahm, machte er kehrt und trampelte grunzend davon. Emmanuelle erzählte unbeirrt weiter.

September 2017

Erster Tag

Die Ritterspiele von Chambord

Das Schloss Chambord, erbaut aus weißem Kalktuffstein, wirkte geradezu atemberaubend, wenn es hinter der Biegung einer Waldstraße plötzlich auftauchte. Es entstand auf Wunsch König Franz’ I., der im Park Hirsche und Wildschweine jagte und prunkvolle Feste gab. Die ersten Pläne dafür hatte angeblich Leonardo da Vinci entworfen.

Die Terrassen des Schlosses waren einzigartig, da sie aufwendig mit Kuppeln, Giebeln, Luken, Spitzbögen, Glockentürmchen und zahlreichen Kaminen verziert waren.

In den Stallungen, die für zweihundert Pferde erbaut worden waren, und der dazugehörigen Arena organisierte man in der Sommersaison regelmäßig verschiedene Veranstaltungen für die Besucher des Schlosses, beispielsweise Ritterturniere oder Raubvogelvorführungen.

Gerade fanden dort Ritterspiele statt. Zwei Reiter galoppierten in Harnisch und Helm aufeinander zu, attackierten sich mit Lanzen und versuchten, sich gegenseitig vom Pferd zu stoßen. Als der Verlierer nach zähem Kampf auf den sandigen Boden stürzte und der Sieger seine Lanze stolz in den Himmel stieß, sprangen die Zuschauer von den Holzbänken der Tribüne auf und klatschten begeistert, dazu schmetterten Fanfaren.

Jean-Pascal Garot, ein hochgewachsener schlanker Mann mit markanten Gesichtszügen, schwarzen Haaren und aufmerksamen dunklen Augen, stand missmutig mit verschränkten Armen hinter der Absperrung und dachte darüber nach, ob er sich nicht eine andere Beschäftigung suchen solle. Er liebte die Arbeit mit den Pferden, aber diese ständigen Shows langweilten ihn, und er konnte nicht verstehen, warum man aus allem ein Event machen musste. Die Besucher konnten sich doch an der Schönheit des Schlosses und der Blumengärten erfreuen.

Nach der Raubvogelvorführung wurden als Höhepunkt und Schluss des Unterhaltungsprogramms zwei Reiterkunststücke aufgeführt, die die Touristen liebten und sie immer zu frenetischen Beifallsbekundungen hinrissen. Eine Frau in Samtkleid und Haube trabte im Damensitz auf einem rabenschwarzen Pferd über eine Rasenfläche, links und rechts auf ihren Schultern saßen zwei große Rabenvögel, die aufgeregt flatterten. In der ausgestreckten behandschuhten Hand hielt sie eine goldglänzende südafrikanische Kobra mit quadratischem Kopf, die sich aufgerichtet hatte und gereizt züngelte. Kinder kreischten vor wonnigem Grausen auf.

Als die mutige Reiterin unter tosendem Beifall den Platz verlassen hatte, folgte das letzte Kunststück. Eine Reiterin mit schwarzem Rock und Zylinder saß auf einem weißen Pferd, das über einen festlich gedeckten Tisch sprang, während die Frau dabei nach einem Glas Champagner griff, das ihr ein livrierter Lakai auf einem Tablett servierte. Kaum war sie auf der Wiese gelandet, wendete sie ihr Pferd und setzte erneut über das Hindernis, ohne dass ein Tropfen aus dem halbvollen Glas in ihrer Hand verschüttet wurde. Danach wandte sie sich zur Haupttribüne, verbeugte sich mit einem charmanten Lächeln und trank den Champagner in einem Zug aus. Die Zuschauermenge tobte, während die Dame vom Platz trabte.

Der Trainer der Artisten, ein Hüne mit flammend roten Haaren, der bei den Vorführungen immer einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine silberne Krawatte trug, lehnte an der Seitenwand der Tribüne und lächelte zufrieden. Heute hatten die Kunststücke auf Anhieb geklappt, das war nicht immer der Fall. Sie hatten ein Kunststück schon bis zu dreimal wiederholen müssen, wobei sich die Spannung im Publikum dabei mehr und mehr aufbaute und die Begeisterung bei Gelingen schier überschäumend war. Kaum einer der Zuschauer ahnte, wie viel Nerven, Disziplin, Training und vor allem Professionalität dafür notwendig waren.

Jean-Pascal atmete erleichtert auf, als das Spektakel endlich vorbei war, jetzt konnte er sich bald um die Pferde kümmern. Er schlenderte zu dem Unterstand, wo Helfer den Tieren die nachtblauen, mit Goldornamenten verzierten Decken und die Sättel abnahmen, ihnen mit lobenden Worten die feuchten Hälse tätschelten und sie schließlich über einen Trampelpfad zu einer Koppel führten. Jean-Pascal folgte ihnen. Das weitläufige Gehege befand sich in einem Wäldchen abseits der Wege, auf denen die Besucher spazieren gingen, dort war es still und friedlich. Thomas, ein kräftig gebauter junger Mann mit hellbraunen Locken und einem sanften Gemüt, verließ das Gatter als Letzter und verschloss sorgfältig das Tor, dabei winkte er Jean-Pascal kurz zu.

»Kommst du später auf ein Bier zur alten Brücke?« Dort, unter einer alten Linde mit spektakulärem Blick auf das Schloss, trafen sie sich häufig nach der Arbeit mit Kollegen.

Jean-Pascal winkte zurück. »Gern, aber es wird noch eine Weile dauern, bis ich so weit bin.«

»Bei mir auch, ich muss die Arena noch in Ordnung bringen und die Rasenfläche mähen. Dann bis später.«

»Bis später.«

Thomas entfernte sich rasch und verschwand zwischen einer Gruppe von Birken. Als Jean-Pascal allein mit den Pferden war, begann er die Tröge mit Wasser und Heu zu füllen. Nach den Vorführungen waren die Tiere immer aufgeregt und unruhig, der Aufenthalt in ihrer vertrauten Koppel, das Fressen und die sanften Worte ihres Pflegers beruhigten sie. Später würde er sie in ihre Boxen in die Stallungen bringen, sie striegeln und die Hufe säubern.

Lächelnd sah er zu, wie sie sich stärkten, einander anstupsten und sich entspannten. Die Nachmittagssonne stand inzwischen schon tief am Horizont und wärmte trotzdem noch seine bloßen Arme, es duftete nach frisch gemähtem Gras, durch die Bäume fuhr ein lauer Wind. Es war still, nur aus dem Café neben der Kapelle erklang leises Lachen. Als er auf der obersten Strebe des Zaunes saß und auf einem Grashalm herumkaute, hätte sich fast eine friedliche Stimmung über ihn gesenkt, doch plötzlich tauchte eine Erinnerung auf, die seine gute Laune trübte. Rasch schob er sie beiseite und versuchte, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Er sprang vom Zaun und wollte zu einem der Tröge gehen, um Heu nachzufüllen.

Plötzlich fuhr ein brennender Schmerz durch seine Brust, mit einem Stöhnen krümmte er sich und stürzte zu Boden. Ihm wurde schwarz vor Augen, Sternchen blitzten auf, und er verlor jegliches Orientierungsgefühl. Die Pferde wieherten unruhig, zogen sich an den Zaun zurück und drängten sich aneinander.

Als ein Stein Odin, den Leithengst, am Kopf traf und sein Auge um Haaresbreite verfehlte, brach die Hölle aus. Er bäumte sich auf und blähte die Nüstern, sein Wiehern klang wie verzweifeltes Schreien. Daraufhin wurden auch die anderen Pferde panisch, erhoben sich ebenfalls und galoppierten unkontrolliert los. Odin drehte sich um die eigene Achse, schlug mit den Hinterläufen aus und verfehlte Jean-Pascals Kopf um Haaresbreite, kurz tänzelte er, dann erhob er sich erneut, ließ seinen massigen Leib wieder fallen und traf dabei mit den Vorderläufen den Oberkörper des Pflegers. Außer sich vor Angst preschte er auf den Zaun zu und sprang darüber, wie vorhin über den gedeckten Tisch in der Arena. Dabei blieb er mit dem rechten Hinterlauf an einer Strebe hängen, die krachend abriss, geriet ins Straucheln, fing sich wieder und galoppierte mit wehender Mähne und aufgerissenen Augen auf den Wald zu, der ihn bald darauf verschluckte.

Einige Zeit später saßen Thomas und einige seiner Kollegen im Schatten der Linde an einem Wasserlauf, tranken im Bach gekühltes Bier aus der Flasche und unterhielten sich gutgelaunt. Die Schau war wieder super gelaufen, sie hatten ihre Arbeit gut gemacht, und ihr Chef René, der Stallmeister, hatte sich sogar zu einem Lob hinreißen lassen. Lyla, eine Pferdepflegerin, die reiten konnte wie John Wayne, hatte Schuhe und Strümpfe ausgezogen und planschte mit ihren Füßen im Wasser. Ihre pinkfarben lackierten Zehennägel glänzten. Das Piratenkopftuch, das sie um ihre dicken schwarzen Haare geschlungen hatte, ließ die Ohrläppchen frei, in denen winzige goldene Kreolen steckten.

»Ich habe Hunger«, sagte sie. »Was haltet ihr davon, wenn wir Steaks kaufen und bei mir im Garten grillen? Meine Tomatenpflanzen gedeihen prächtig, ich kann daraus einen leckeren Salat machen.«

Sie wohnte in einem Eisenbahnwaggon, der auf einer Wiese am Waldrand in der Nähe der Ortschaft Muides-sur-Loire stand.

»Prima Idee«, fand Thomas. »Ich frage mich nur, wo Jean-Pascal bleibt? Er müsste mit seiner Arbeit doch inzwischen fertig sein, bestimmt will er mit uns grillen.«

»Schau doch mal nach, wo er steckt«, schlug Lyla vor.

Thomas erhob sich und klopfte sich die Hosenbeine ab. »Ich bin gleich wieder da.« Er wusste, dass er seinen Kollegen nicht auf dem Handy erreichen konnte. René hatte angeordnet, dass die Geräte bei der Arbeit mit den Pferden immer ausgeschaltet sein mussten, da die Tiere durch die Klingeltöne erschreckt werden konnten.

»Lass dir Zeit«, grinste Gérard. »In der Zwischenzeit trinken wir noch ein Bier.« Er fischte eine Flasche aus dem moosgrünen Bachbett und betrachtete dabei die Füße von Lyla. Sie waren so klein und zart.

Thomas überquerte die steinerne Brücke und wich einer Gruppe japanischer Touristen aus, die elegant gekleidet waren. Die Männer trugen schwarze Anzüge, die Frauen bonbonrosafarbene Kleider und derart hochhackige Schuhe, dass sich der Pferdepfleger fragte, wie man darin laufen konnte, ohne sich den Knöchel zu brechen. Ein Mann hielt eine Kamera mit einem gewaltigen Objektiv vor sich, rief etwas und fotografierte schließlich ein Brautpaar, das glücklich in die Linse strahlte. Im Hintergrund erhob sich majestätisch Chambord. Die Schlösser der Loire standen neben dem Eiffelturm ganz oben auf der Liste von Frankreichs atemberaubenden Motiven.

Thomas umrundete das Schloss und ging zu den Stallungen. Dort stellte er fest, dass die Boxen der Tiere, die Jean-Pascal betreute, leer waren. War er noch immer mit ihnen im Freilauf? Sie müssten doch schon längst hier sein. Er sah sich um und entdeckte einen Jungen, der den Boden fegte.

»Hast du Jean-Pascal gesehen?«, fragte er ihn.

Der Junge sah kurz auf. »Nein, keine Ahnung, wo er ist.«

Thomas verließ die Stallungen und machte sich auf den Weg zur Koppel. Als er durch das Birkenwäldchen lief, empfand er die Stille aus irgendeinem Grund als bedrohlich, ein ungutes Gefühl beschlich ihn, irgendetwas war nicht in Ordnung. Er hörte zwar das Rauschen der zartgrünen Blätter, aber die Vögel waren verstummt. Die Pferde standen am hinteren Zaun und rührten sich nicht, ihre Muskeln unter der Haut waren angespannt. Sofort stellte er fest, dass Odin fehlte. Wo war der stolze Hengst? Jean-Pascal konnte er nirgends entdecken, dabei war es ausgeschlossen, dass er die Pferde sich selbst überlassen hatte.

Mit zitternden Händen öffnete er das Tor und ging zögerlich über den sandigen Boden. Paloma wieherte nervös, und Diego fixierte ihn mit flackernden Augen. Langsam hob er seine Arme und zeigte ihnen die Handflächen. »Ganz ruhig, ich bin es doch nur.«

Als er die Beine sah, die hinter einem Wassertrog hervorragten, fuhr er erschrocken zusammen und rannte zu der Stelle. Sofort erkannte er die Stiefel von Jean-Pascal. Er lag auf dem Rücken, die leblosen Augen starrten in den Himmel, sein Oberkörper war blutüberströmt. In seiner Brust steckte ein Pfeil. Thomas’ Gehirn registrierte, dass dessen Befiederung rot war, rot wie das Blut auf dem Körper seines Kollegen. Er starrte entsetzt auf den Toten und fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Langsam, Schritt für Schritt, bewegte er sich rückwärts auf das Tor zu und ließ dabei die Tiere nicht aus den Augen.

»Alles ist gut«, sagte er und versuchte, seine Stimme ruhig klingen zu lassen. »Alles gut, ruhig, Paloma.«

Schließlich trat er aus der Umzäunung, verriegelte das Gattertor und rannte los. Er musste René finden und ihm von dem Unglück berichten. Konfus, wie er war, stolperte er über eine Wurzel und schlug der Länge nach auf den Boden, keuchend rappelte er sich auf und stürmte auf die Stallungen zu. Dabei bemerkte er nicht, dass ihm Blut aus einer Schramme an der Stirn über die Wange lief. Um Atem ringend stürzte er in das Gebäude und rief nach seinem Chef. Er fand ihn in der kleinen Kaffeestube neben den Boxen, wo er einen Mokka trank und eine Zigarette rauchte. »Ein Unglück ist geschehen, Jean-Pascal ist tot! Er liegt in der Koppel, du musst sofort mitkommen.« Mühsam rang er nach Luft. »Und Odin ist verschwunden.«

Der Rittmeister sah ihn entsetzt an. »Was sagst du da?«

»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe, es ist so entsetzlich.« Thomas fuhr sich aufgeregt durch die Locken. »Jetzt komm schon!«

René sprang auf und drückte hastig die Zigarette im Aschenbecher aus. Gemeinsam rannten die Männer aus dem Stall und folgten dem Weg zur Koppel. Sie gingen am Zaun entlang, bis sie zu der Stelle kamen, wo Jean-Pascal neben dem Futtertrog lag.

Fassungslos nahm der Rittmeister das Bild auf, das sich ihm bot, dann löste sich seine Starre, und er kletterte über den Zaun. Eine Stute zitterte und scheute vor ihnen zurück. René suchte ihren Blick. »Ruhig, mein Mädchen«, befahl er mit sanfter, aber fester Stimme. Sie gehorchte und suchte die Nähe eines anderen Pferdes.

René ging in die Hocke und legte seine Fingerkuppen auf den Hals von Jean-Pascal. »Er hat keinen Puls mehr«, stellte er fest. Bei dem körperlichen Zustand des Pferdepflegers und seinen verschleierten Augen hatte er auch nichts anderes erwartet. Erschüttert erhob er sich, holte sein Smartphone aus der Hemdtasche und schaltete es ein. Schnell wählte er den Notruf, erklärte, was geschehen war und wo sie sich befanden, während er die nervöse Stute mit klaren Gesten zu beruhigen versuchte. Die Stimme am anderen Ende der Leitung versicherte, dass sich ein Notarzt sofort auf den Weg machen werde und dass man die zuständige Gendarmerie in Mer informieren werde.

Als das erledigt war, wandte René sich an Thomas, der sich kreidebleich an den Zaun klammerte. »Wir müssen die Pferde hier wegbringen. Wenn sie die Sirene des Krankenwagens hören und fremde Menschen hier auftauchen, drehen sie komplett durch, sie sind sowieso schon in Panik.«

»Meinst du, ich kann in die Koppel? Mich kennen sie nicht so gut.« Thomas war verunsichert wegen der unruhigen Tiere.

»Du brauchst nicht in die Koppel, keine Angst, mach einfach nur das hintere Gattertor auf.«

»Dann werden sie abhauen, so wie Odin.«

»Nein, das werden sie nicht.«

Während Thomas das Gatter umrundete und sich am Tor zu schaffen machte, ging René auf ein Pferd zu, sprach es an und griff vorsichtig nach seinem Halfter. Er spürte, wie das Tier vor Anspannung vibrierte. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr, und der Hengst setzte sich tatsächlich in Bewegung, jetzt griff er nach dem Zaumzeug der unruhigen Stute. »Komm, mein Mädchen.« Zunächst wieherte sie widerwillig, dann ging auch sie los. Sie ließen sich problemlos durch das Tor führen, die anderen Tiere folgten nach. Thomas traute seinen Augen nicht. Wie eine Karawane trotteten sie über die Wiese zum hinteren Gatter. Die Bewunderung für seinen Chef war grenzenlos, er war tatsächlich ein Pferdeflüsterer, wie es seine Kollegen immer behaupteten.

In der Zwischenzeit hatte sich Lyla auf den Weg gemacht, um Thomas zu suchen. Sie hatten alle Hunger und wollten endlich zum Grillen in ihren Garten fahren. Als sie aus dem Birkenwäldchen trat, betrachtete sie überrascht die Szenerie auf der Wiese. »Was machen die denn da?«, fragte sie sich laut. Sie beschirmte ihre Stirn, um besser sehen zu können, und schüttelte verblüfft den Kopf.

Endlich erreichte René das Gehege und führte die Pferde in aller Ruhe hinein, lobte sie und schloss das Tor.

»Geschafft«, sagte er und atmete auf, diese Aktion war nervenaufreibend gewesen. Als Thomas und er zurückgingen, bemerkten sie Lyla, die sich auf das erste Gatter zubewegte. René rannte los, um sie zu stoppen, aber es war zu spät. Sie sah den Toten, starrte ihn schockiert an und brach dann in Tränen aus. In der Ferne waren Sirenen zu hören.

Das Polizeigebäude von Blois befand sich in der Rue des Violettes, einer gewundenen Gasse aus Kopfsteinpflaster, zwischen dem Tourismusbüro und einem Antiquitätenladen. Hauptkommissarin Yvonne Martel saß in ihrem Büro im ersten Stock am Schreibtisch und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Von dort aus hatte man einen schönen Blick auf die östliche Fassade des Schlosses von Blois und den Schlossplatz. Ludwig XII. und seine Gemahlin Anne de Bretagne hatten Blois zum Versailles der Renaissance gemacht. Inmitten des Schlossplatzes gab es Beete mit blühenden Blumen, gesäumt von schlanken Pappeln, die an diesem heißen Tag Schatten spendeten. Kinder mit Eistüten in der Hand liefen lachend über den Platz, wahrscheinlich wollten sie zum Haus der Magie.

Die Kommissarin war achtundvierzig Jahre alt und schlank. Ihr kurzes rötlichblondes Haar umrahmte ihr schmales Gesicht mit den kaum sichtbaren Sommersprossen. Der hellrot geschminkte Mund brachte ihre jadegrünen Augen zur Geltung. Sie trug zu ihrem weiß-blau gemusterten Kleid und dem dunkelblauen Blazer Pumps. Während sie gedankenverloren mit ihrer Perlenkette spielte, nahm sie die schöne Aussicht gar nicht wahr. Sie dachte an ihren Mann Julien, der in letzter Zeit etwas einsilbig und unaufmerksam ihr gegenüber geworden war, und sie fragte sich, was wohl der Grund dafür sein könnte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er eine Geliebte hatte, dafür war er viel zu bequem. Oder verhielt er sich nur ihr gegenüber so? Energisch vertrieb sie diese beunruhigenden Gedanken und versuchte, sie durch einen positiven Impuls zu ersetzen. Vielleicht wäre es eine gute Idee, ihn zu überraschen. Ja, sie würde ihn von der Arbeit abholen und zum Abendessen in ein neueröffnetes Restaurant einladen. Es hieß Anne de Bretagne, war in einem wunderschönen Fachwerkhaus untergebracht, und die Sommerterrasse schwebte über der Loire.

Rasch sah sie auf ihre Armbanduhr. Es war kurz vor neunzehn Uhr, die perfekte Zeit für einen Aperitif und anschließend ein Dîner. Mit ihrem heutigen Arbeitspensum war sie auch fertig, obwohl in den letzten Tagen einiges vorgefallen war. Vor drei Tagen war eine alte Dame tot in ihrer Villa aufgefunden worden, ein Verbrechen war nicht auszuschließen, Martel musste jedoch noch den Bericht der Rechtsmedizin abwarten. Und gestern hatte es in einem Vorort eine tödliche Messerstecherei gegeben.

Sie schob den Gedanken beiseite, zog sich voller Vorfreude die Lippen nach und stäubte sich Parfüm auf den Hals, doch gerade als sie ihr Büro verlassen wollte, klingelte das Telefon. Kurz überlegte sie, nicht ranzugehen, ihr Pflichtbewusstsein siegte jedoch, und sie nahm den Anruf entgegen. Ein Gendarm von der Wache in Mer teilte ihr mit, dass im Park von Chambord ein Toter gefunden worden war, er sei mit einer Kollegin bereits vor Ort. Martel überlegte kurz und seufzte.

»Ich bin in spätestens einer halben Stunde da.«

»In Ordnung, wir sperren inzwischen den Tatort ab.«

»Merci, bis gleich.«

Nachdem sie das Telefonat beendet hatte, versuchte sie, den Rechtsmediziner Christian Keravel auf seinem Handy zu erreichen. Sie hatte Glück, schon beim dritten Klingelton ging er ran. »Keravel.«

»Hier ist Yvonne, bonjour Christian. Wir haben einen Toten im Park von Chambord, soll ich dich mitnehmen?«

»Das wäre großartig, mein Auto ist in der Werkstatt.«

»Gib mir fünf Minuten.«

Nachdem sie auch die Spurensicherung und einen Bestatter informiert hatte, sperrte sie ihr Büro ab, lief über die hintere Treppe ins Erdgeschoss und verließ das Haus. Rasch stieg sie in ihren Dienstwagen, einen schwarzen Renault, und fuhr durch dichten Verkehr über die Rue Denis Papin zu dem Kreisel an der Uferstraße. Sie wollte rechts abbiegen, doch ein junger rasanter Fahrer dachte nicht daran, sie die Spur wechseln zu lassen. Sie hupte verärgert und drängelte sich kurzerhand vor sein Fahrzeug. Bremsen quietschten, dann drückte auch er auf die Hupe. Sie grinste zufrieden. Na also, es ging doch.

Keravel wartete bereits mit seiner Ledertasche vor dem schlichten weißen Haus, in dem das rechtsmedizinische Institut von Blois untergebracht war. Die Kommissarin parkte in der zweiten Reihe, und der Arzt stieg ein. Charmant lächelte er sie an.

»Salut Yvonne.«

»Salut Christian.«

Er war dreiunddreißig Jahre alt, verheiratet und hatte zwei kleine Kinder, Lara und Louis. Sein Studium hatte er mit Auszeichnung abgeschlossen, danach hatte er einige Jahre in Lille gearbeitet und sich schließlich auf die freie Stelle in Blois beworben, wo er das Haus seiner Großtante geerbt hatte. Er war sehr ehrgeizig, arbeitete äußerst sorgfältig, geradezu akribisch, und hatte sich darüber hinaus seinen jugendlichen Charme bewahrt. Außerdem sah er großartig aus, mit bernsteinfarbenen Augen unter langen Wimpern in einem attraktiven Gesicht. Sein Bart war elegant gestutzt und erinnerte an Brad Pitt zu seinen besten Zeiten. Die dunklen Haare fielen ihm fast bis auf die Schultern, und er trug eine Nickelbrille, die ihn wie einen Studenten aussehen ließ. Heute hatte er eine schwarze Jeans und ein weißes Polohemd an, das seine ansehnlichen Unterarme frei ließ.

Die Hauptkommissarin wendete und fuhr über den Pont Jacques Gabriel, eine mittelalterliche Steinbrücke, über die Loire, die träge dahinfloss und in der untergehenden Sonne messingfarben glänzte. Ein Segelschiff glitt in Richtung des Mündungsdeltas. Der Fluss wirkte ruhig und harmlos, dabei war er unberechenbar, seine Sandbänke und Untiefen veränderten sich ständig, und es gab gefährliche unterirdische Strömungen. Auf der Nationalstraße fuhren sie in östlicher Richtung.

»Was ist das für ein Toter?«, fragte der Rechtsmediziner.

»Er liegt im Park von Chambord hinter den Stallungen, sein Oberkörper ist voller Blut, und aus seiner Brust ragt ein Pfeil, mehr Infos habe ich nicht.«

Er wirkte erstaunt. »Ein Pfeil?«

»Ja, ein Gendarm aus Mer ist mit einer Kollegin vor Ort, sie warten dort auf uns.«

Ungläubig schüttelte Keravel den Kopf. »Wenn der Mann durch einen Pfeilschuss getötet worden ist, wundere ich mich über das viele Blut, aber warten wir ab, bis wir vor Ort sind. Ach übrigens, einiges deutet darauf hin, dass die Dame, die tot in ihrer Villa aufgefunden wurde, vergiftet wurde. Ich muss noch einige Tests abwarten.«

»Vergiftet? Mon Dieu, was ist das für eine Welt?«

»Ja, ich weiß.«

»Wann bekommst du die Ergebnisse?«

»Ich hoffe, morgen.«

»Wenn du recht hast, habe ich drei Tötungsdelikte auf dem Tisch, und mein Kollege wandert in aller Ruhe ohne Handy auf dem Ignatius-Weg irgendwo zwischen Bilbao und Barcelona, na großartig.«

Durch die westliche Pforte gelangten sie in den Park und folgten der schmalen Straße durch dichten Mischwald. Auf einer Lichtung ästen drei Rehe, und hinter einer Kurve tauchte auf einmal das Schloss auf.

»Es ist immer wieder ein erhebender Anblick«, stellte Keravel fest.

»Ja, ich liebe ihn. Sag mal, weißt du, wo die Stallungen sind?«

»Ich war da schon mal mit meinen Kindern, dort gibt es auch einen Streichelzoo.« Er lachte. »Louis wollte unbedingt ein Lämmchen mit nach Hause nehmen, wir konnten ihn nur noch mit einem Eis beruhigen.«

Sie fuhren durch das Dorf Chambord, dann lotste Keravel sie über einen Hauptweg, der direkt auf das Schloss zuführte und für Pkws gesperrt war. Ein Tourist kam auf sie zu und winkte empört ab, woraufhin sie kurz anhielt und ihm durch das offene Fenster ihren Dienstausweis zeigte. »Treten Sie bitte zur Seite, Monsieur, wir haben es eilig.« Der Mann starrte dem Fahrzeug neugierig hinterher. Kurz vor dem Prachtbau sollte sie rechts abbiegen und an der Arena vorbeifahren, und nach wenigen hundert Metern über einen holprigen Weg gelangten sie an das Gatter.

Davor flatterte ein weißrotes Absperrband zwischen zwei Bäumen. Sie stiegen aus und wurden von zwei Gendarmen begrüßt.

Die Kollegin ergriff das Wort: »Dort drüben sind die Zeugen, die den toten Mann gefunden haben.« Sie deutete auf eine Bank, auf der Lyla, Thomas und René saßen und zu ihnen herüberschauten.

»Das heißt, der junge Mann in der Mitte, ein Pferdepfleger, hat ihn gefunden und daraufhin den Stallmeister geholt. Dieser hat den Notruf abgesetzt und die Pferde aus dem Gatter geführt und auf einer anderen Koppel untergebracht. Sie waren durch die Ereignisse schon panisch genug.«

Martel nickte, die Polizistin fuhr fort: »Als die Männer zurückkamen, trafen sie die junge Frau bei dem Toten.«

»Wo bleibt eigentlich der Notarzt?«, fragte Keravel sie.

»Der ist schon wieder weg, ein Tourist hatte in der Schlosskapelle einen Herzinfarkt, konnte aber gerettet werden. Bei dem Mann im Gatter kam jede Hilfe zu spät, der Arzt konnte nur noch seinen Tod feststellen.«

»Weiß man, um wen es sich handelt?«

»Ja, es ist Jean-Pascal Garot, er arbeitete hier als Pferdepfleger.«

»Nehmen Sie bitte die Kontaktdaten der Zeugen auf«, bat Martel die Kollegen. »Wir sehen uns jetzt den Toten an.«

Gemeinsam mit Keravel betrat sie die Koppel und ging über den sandigen Boden zu dem Trog, hinter dem Jean-Pascal lag. Die Kommissarin hatte schon viel Schlimmes gesehen, aber dieser Anblick war grauenhaft. Die Beine und der Kopf schienen zumindest auf den ersten Blick unversehrt, aber das karierte Hemd, dessen Stoff an einigen Stellen zerfetzt war, war getränkt mit Blut, auch auf der Erde rings um den Toten waren blutige Flecken erkennbar. Im Brustbereich ragte ein Pfeil aus dem Köper, der glänzend schwarz war und am Schaft rote Federn hatte. Seine Spitze war tief in den Körper eingedrungen.

Keravel öffnete seine Tasche und zog sich Handschuhe über, dann ging er in die Hocke und tastete behutsam den Brustkorb ab. »Einige Rippen sind gebrochen«, informierte er die Kommissarin. Er griff nach einer Pinzette und hob ein verklebtes Stoffstück an, dann schüttelte er den Kopf. »Das Bauchgewebe ist völlig zerstört.«

»Solche Verletzungen können doch nicht durch den Pfeil verursacht worden sein, oder?«

»Ich vermute, dass Pferdehufe auf seinem Brustkorb herumgetrampelt sind.«

»Du meinst, ein Pferd hat das angerichtet?«

»Es sieht so aus, hinter diesen Verletzungen steckt eine ungeheure Kraft, und sie gehen häufig tödlich aus, je nachdem, wo die Hufe den Körper treffen.«

»Ein tödlicher Unfall mit einem Pferd? Und was ist mit dem Pfeil?«

Keravel untersuchte die Eintrittsstelle. »Er hat das Herz getroffen, der Mann muss innerhalb von Sekunden tot gewesen sein.«

Martel blinzelte irritiert. »Ein Pferd hat ihn totgetrampelt, und ein Pfeil ist in sein Herz eingedrungen?«

»So könnte es gewesen sein.«

»Das ergibt doch keinen Sinn.«

»Auf den ersten Blick nicht, aber er wird sich uns schon noch erschließen.« Er stand auf und klopfte sich die Hosenbeine ab. »Lassen wir ihn ins Institut bringen, wenn die Spurensicherung ihre Arbeit getan hat. Es ist nicht gut, wenn er noch länger hier in der Wärme liegt. Nach der Obduktion kann ich bestimmt mehr sagen. Schau, der Bestatter kommt gerade. Ich sage ihm Bescheid, wann der Leichnam abtransportiert werden kann.«

Martel ließ ihre Blicke aufmerksam über die Koppel und die Umgebung schweifen. »Was hat sich hier bloß zugetragen?«, murmelte sie.

Während Keravel mit dem Bestatter sprach, ging sie zu den Zeugen und äußerte ihre erste Vermutung. »Wir gehen davon aus, dass ein Teil der tödlichen Verletzungen von Pferdehufen stammt.«

»Das ist durchaus möglich«, erwiderte der Rittmeister mit bestürzter Miene. »Als Thomas und ich zur Koppel kamen, waren die Pferde verängstigt und panisch, irgendetwas muss sie verstört haben. Kein Pferd verletzt seinen Pfleger ohne Grund. Und es fehlt ein Pferd, Odin, der Leithengst. Ich vermute, dass er es war, bisher haben wir ihn nicht gefunden.«

»Wie konnte Odin aus der Koppel verschwinden, die Tore waren doch sicher verschlossen?«

»Als wir kamen, ja. Aber vielleicht hat jemand Odin herausgelassen, oder er ist in seiner Panik über den Zaun gesprungen, das halte ich für wahrscheinlicher. Wer macht einem panischen Pferd schon das Tor auf?«

»Wäre es möglich, dass Odin über ein so hohes Gatter gesprungen ist?«

»Durchaus, zum einen ist er ein guter Springer, zum anderen haben Pferde einen starken Fluchtinstinkt und können erstaunliche Hürden überwinden, wenn sie Angst haben.«

»Haben Sie eine Erklärung für den Pfeil?«

»Nein, das verstehe ich überhaupt nicht. Ich zermartere mir schon die ganze Zeit den Kopf, was hier passiert sein könnte.« Mit einem Taschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn. »Ich habe Jean-Pascal gemocht, er war ein feiner Kerl, zuverlässig, hilfsbereit, und er hatte immer einen Scherz auf den Lippen. Es ist so schrecklich.«

»Findet hier in der Nähe Bogenschießen statt? Vielleicht hat ein Pfeil sich verirrt.«

Thomas schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist unmöglich, das wäre viel zu gefährlich bei den vielen Touristen, die sich hier aufhalten. Die Artisten, die die Ritter spielen, trainieren morgens in der Arena.«

»Es gibt also Pfeile und Bogen hier auf dem Gelände?«

»O ja, jede Menge.«

»Wir müssen überprüfen, ob einer fehlt. An wen wende ich mich da?«

»Da fragen Sie am besten den Requisitenmeister, Sie finden ihn in dem flachen, sandfarbenen Gebäude neben den Ställen.«

»Danke.« Martel sah in die Runde. Die junge Frau wirkte völlig verzweifelt, ihre Augen waren gerötet.

»Haben Sie jemanden gesehen, der Ihnen verdächtig vorkam?«

Alle drei schüttelten den Kopf, Lyla ergriff das Wort: »Die Koppel liegt ein ganzes Stück abseits der Hauptwege. Touristen verirren sich nur selten hierher. Als ich kam, um Thomas zu suchen, war außer ihm und René keine Menschenseele hier.« Eine Träne lief über ihre Wange. »Ich war mit Jean-Pascal befreundet, es tut mir so leid, was mit ihm passiert ist. Ich verstehe das überhaupt nicht, seine Pferde haben ihn geliebt, sie hätten ihn doch nie verletzt.«

Die Kommissarin nickte verständnisvoll. »Wenn Ihnen noch etwas einfällt, rufen Sie mich bitte an. Und sagen Sie Ihren Kollegen Bescheid, sie sollen sich ebenfalls an mich wenden, wenn ihnen etwas aufgefallen ist.« Sie reichte ihnen ihre Visitenkarte.

Mittlerweile hatten sich auf dem Gelände Techniker der Spurensicherung, bekleidet mit weißen Overalls, verteilt und suchten nach Hinweisen. Einer hatte anscheinend etwas gefunden und winkte Martel zu. Sie ging ihm entgegen.

»Ich habe auf der Koppel einen Stein gefunden, und das Merkwürdige ist, dass es dort ansonsten überhaupt keine Steine gibt, nur Sand und Gras, sie ist sehr gepflegt.« Er hielt ihr einen Beweismittelbeutel hin. »Sieh dir das an.«

Der Stein war kantig und etwas größer als ein Tennisball. Auf dieser Spitze befand sich ein winziger Fleck. »Was ist das?«, fragte sie.

»Es könnte Blut sein, ich gebe ihn ins Labor.«

Sie hatte Mühe, sich vorzustellen, dass jemand Jean-Pascal auch noch mit einem Stein verletzen wollte.

»Warten wir die Untersuchung ab.«

»Ja, gute Arbeit, merci.«

»Ach noch etwas, an der Westseite der Koppel wurde aus der Umzäunung eine Latte herausgerissen.«

»Aus dem oberen Lauf?«

»Ja.«

»Fotografiert die Stelle bitte auch, und überprüft, ob die Latte in die Lücke passt. Es kann sein, dass ein Pferd über den Zaun gesprungen ist und ihn beschädigt hat.«

»Wird gemacht.«

Die Kommissarin ging das Gatter ab und sah sich um. Von wo aus konnte der Schütze den Pfeil abgeschossen haben? Der Tote könnte sich im Fallen gedreht haben, sie würden die Obduktion abwarten müssen. In südlicher Richtung war eine freie Fläche, die keine Deckung bot. Daran schloss ein lichter Birkenwald, der fast bis an die Koppel heranreichte. Sie ging darauf zu und lief langsam zwischen den Bäumen durch. Auf einem kleinen steinigen Hügel war ein Techniker bei der Arbeit. Als er sie sah, rief er ihr zu: »Kommst du mal, Yvonne? Ich habe etwas gefunden.«

Sie stieg auf die Anhöhe und stieß einen stummen Fluch aus, weil sich ihre Pumps immer wieder zwischen den Steinen verhakten. Endlich oben angelangt, sah sie, dass der Kollege neben einem alten Kreuz stand, in dessen Stein eine Inschrift eingraviert war:

Babette Duchamps

1874–1903

In Erfüllung ihrer Pflichten vom Blitzschlag getroffen

In Liebe, ihre untröstlichen Eltern

Neben dem Kreuz plätscherte ein Brunnen, dessen steinernes Becken von Moos überzogen war. Martel wusste nicht genau, warum, aber diese Inschrift stimmte sie traurig. Der Gendarm riss sie aus ihren Gedanken. »Neben dem Brunnen liegt ein zerbrochener Zweig, und das Efeu ist flach getreten. Da könnte jemand gestanden haben.«

Sie bückte sich und sah sich die Stelle an. »Das könnte sein.« Ihr fiel auf, dass auch an dieser Stelle etliche weiße, kantige Steine lagen. Dann stand sie auf und drehte sich in die Richtung, in der die Koppel lag. Man konnte sie gut von hier aus sehen, ohne selbst gesehen zu werden, die Luftlinie betrug etwa fünfzehn Meter.

»Könnte man von hier aus einen Menschen im Gatter mit Pfeil und Bogen töten?«

Der Mann sah in die gleiche Richtung wie sie. »Ohne Probleme. Ich bin Mitglied in einem Bogenschützenverein und kann das beurteilen. Da müsste jemand schon ein lausiger Schütze sein, um dieses Ziel zu verfehlen. Ich könnte einen Menschen mitten in sein Herz treffen.«