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In "Der König der dunklen Kammer" entfaltet Rabindranath Tagore ein tiefgründiges Drama, das die Themen von Licht und Dunkelheit, Illusion und Erkenntnis untersucht. Das Werk spielt in einer schlichten, aber symbolisch aufgeladenen Umgebung, in der der Protagonist, ein blinder König, seine inneren Rebellionen und Sehnsüchte konfrontiert. Tagores poetischer Stil, geprägt von lyrischer Kraft und philosophischem Tiefgang, lädt den Leser ein, die feinen Nuancen menschlicher Erfahrung und Empfindungen nachzuvollziehen, während die einfühlsame Charakterentwicklung das Geflecht von Emotionen, Einsamkeit und transzendenter Liebe beleuchtet. Rabindranath Tagore (1861-1941), der erste asiatische Nobelpreisträger für Literatur, war ein großer Humanist, Dichter und Philosoph, der stark von der indischen Kultur, Mystik und der westlichen Moderne beeinflusst wurde. Seine Erfahrungen als Reisender und Bildungsreformer prägten sein Schaffen, das oft das Streben nach Freiheit und Selbstverwirklichung thematisiert. In "Der König der dunklen Kammer" spiegelt sich Tagores tiefes Verständnis für die Komplexität des menschlichen Geistes sowie seine Reflexion über die Bedingungen des Lebens und die Suche nach wahrer Erkenntnis. Dieses außergewöhnliche Werk ist nicht nur für Liebhaber der klassischen Literatur und indischen Dramatik von Bedeutung, sondern auch für alle, die nach einer existenziellen Auseinandersetzung mit den Fragen des Lebens streben. Tagores meisterhafte Erzählkunst und philosophische Tiefe werden den Leser fesseln und seine Sicht auf die menschliche Natur erweitern.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
Eine Straße.
Etliche Reisende und ein Stadtwächter.
Erster Mann
He, Mann!
Stadtwächter
Was wollt ihr?
Zweiter Mann
Welchen Weg haben wir zu gehn? Wir sind hier fremd. Bitte, sage uns, welches die rechte Straße ist.
Stadtwächter
Wohin wollt ihr gehn?
Dritter Mann
Wo dieses große Fest stattfinden soll, weißt du. Welchen Weg gehen wir?
Stadtwächter
Eine Straße ist hier genau so gut wie die andre. Jede Straße wird euch hinführen. Geht geradeaus, und ihr könnt den Ort nicht verfehlen.
Ab.
Erster Mann
Hört nur, was der Narr sagt: „Jede Straße wird euch hinführen!” Was hätte das dann für einen Sinn, so viele Straßen zu haben?
Zweiter Mann
Du brauchst darüber nicht so außer dir zu sein, mein Lieber. Es steht einem Land frei, seine Sachen auf seine eigne Art einzurichten. Was Straßen betrifft in unserm Land — nun, so sind so gut wie keine vorhanden; enge, krumme Gäßchen, ein Labyrinth von Wagen- und Fußspuren. Unser König glaubt nicht an freie Fahrstraßen; er meint, so viele Straßen im Land, so viele Ausgänge für seine Untertanen, seinem Königreich zu entfliehen. Hier ist es gerade das Umgekehrte; niemand steht einem im Weg, niemand hat etwas dagegen, daß man anderswohin geht, wenn man Lust hat; und doch denken die Leute nicht daran, dieses Reich zu verlassen. Bei solchen Straßen wäre unser Land sicher in kürzester Frist entvölkert.
Erster Mann
Mein lieber Janardan, ich habe immer bemerkt, daß das ein großer Fehler an deinem Charakter ist.
Janardan
Was denn?
Erster Mann
Daß du immer auf dein Land sticheln mußt. Wie kannst du glauben, freie Landstraßen könnten für ein Land gut sein? Sieh einmal, Kaundilya, da ist ein Mann, der tatsächlich glaubt, freie Landstraßen seien die Rettung für ein Land.
Kaundilya
Nun, Bhavadatta, ich brauche wohl nicht erst von neuem festzustellen, daß Janardan mit einem merkwürdig schiefen Verstand gesegnet ist, der ihn sicher eines Tages in Gefahr bringen wird. Wenn der König von unserm werten Freund zu hören bekommt, wird er es ihm nicht gerade leicht machen, einen zu finden, der für sein Begräbnis sorgt, wenn er tot ist.
Bhavadatta
Man hat doch das Gefühl, daß das Leben in diesem Lande recht schwer sein muß; man vermißt die Freuden der Einsamkeit in diesen Straßen — dieses Drängen und Schulterstreifen mit fremden Menschen bei Tag und Nacht läßt einen nach einem Bad verlangen. Und mit was für einer Sorte Menschen mag man auf diesen öffentlichen Wegen zusammenkommen — puh!
Kaundilya
Und gerade Janardan hat uns überredet, in dieses kostbare Land zu kommen! Wir hatten nie einen Zweiten seines Schlages in unsrer Familie. Du hast meinen Vater natürlich gekannt; er war ein großer Mann, ein frommer Mann wie nur einer. Er verbrachte sein ganzes Leben innerhalb eines Kreises von 49 Ellen Radius, der mit peinlicher Befolgung der Gebote der heiligen Schriften gezogen war, und nie überschritt er diesen Kreis auch nur ein einziges Mal. Nach seinem Tode erhob sich eine ernsthafte Schwierigkeit — wie sollte man ihn innerhalb der Grenzen der 49 Ellen und doch außerhalb des Hauses verbrennen? Schließlich entschieden die Priester, daß wir zwar nicht über die Schriftzahl hinausgehen durften, daß es aber einen Weg aus der Schwierigkeit gab, die Ziffer umzukehren und 94 Ellen zu nehmen; nur so konnten wir ihn außerhalb des Hauses verbrennen, ohne die heiligen Bücher zu verletzen. Auf mein Wort, das war genaue Befolgung! Unser Land hat wirklich nicht leicht seinesgleichen.
Bhavadatta
Und doch will Janardan, der dem nämlichen Boden entstammt, uns weismachen, freie Landstraßen seien das beste für ein Land.
Die Fremden gehen ab.
Der Großvater mit einer Knabenschar tritt auf.
Großvater
Jungen, heute müssen wir es mit dem wilden Südwind aufnehmen — und wir wollen uns nicht schlagen lassen. Wir wollen singen, bis wir mit unsern Jubelliedern alle Straßen überflutet haben.
Lied
Ab.
Eine Schar von Bürgern tritt auf.
Erster Bürger
Schließlich kann man nur wünschen, daß der König sich wenigstens an diesem einen Tag hätte sehen lassen. Es ist doch sehr schade: man lebt in seinem Königreich und hat ihn noch nicht ein einziges Mal gesehen!
Zweiter Bürger
Kenntest du nur den wirklichen Sinn dieses Geheimnisses! Ich könnte ihn dir sagen, wenn du schweigen könntest.
Erster Bürger
Lieber Freund, wir wohnen beide im nämlichen Stadtviertel, aber hast du je gehört, daß ich irgend jemandes Geheimnis ausgeplaudert hätte? Natürlich, die Sache damals, als dein Bruder beim Graben eines Brunnens einen Schatz gefunden hatte — nun, du weißt ganz gut, warum ich darüber reden mußte. Du kennst den ganzen Zusammenhang.
Zweiter Bürger
Natürlich kenne ich ihn. Und weil ich ihn kenne, frage ich, könntest du schweigen? Weißt du, es könnte Verderben für uns alle bedeuten, wenn du ein einziges Mal davon sprächest.
Dritter Bürger
Du bist mir ein netter Mensch, Virupakscha! Warum brennst du darauf, ein Unheil herbeizuführen, das bis jetzt nur geschehen kann? Wer wird die Verantwortung auf sich nehmen wollen, dein Geheimnis sein ganzes Leben lang zu wahren?
Virupakscha
Es war nur, weil die Rede darauf kam — also gut, ich werde nichts sagen. Ich bin nicht der Mann, der unnütz redet. Ihr hattet selbst die Frage aufs Tapet gebracht, daß der König sich nie zeigt; und ich bemerkte bloß, es sei nicht umsonst, daß der König sich vor dem Blick der Öffentlichkeit verschließt.
Erster Bürger
Bitte, sag uns, warum, Virupakscha.
Virupakscha
Natürlich nehme ich keinen Anstand, es euch zu sagen — wir sind ja alle gute Freunde, nicht wahr? Das kann nicht gefährlich sein. (Mit leiser Stimme:) Der König — ist — häßlich —, so hat er den Entschluß gefaßt, sich seinen Untertanen nie zu zeigen.
Erster Bürger
Hah! Das ist es! Das muß es sein. Wir haben uns immer gewundert..., der bloße Anblick eines Königs läßt die Menschen in allen Ländern vor Furcht zittern wie Espenlaub; warum sollte da unser König sich von keinem sterblichen Auge je sehen lassen? Selbst wenn er nur herauskäme, um uns alle zum Galgen zu verdammen, könnten wir sicher sein, daß unser König kein Trug ist. Schließlich scheint mir Virupakschas Erklärung doch ganz einleuchtend.
Dritter Bürger
Nicht die Spur — ich glaube keine Silbe davon.
Virupakscha
Wie, Vischu, willst du sagen, ich wäre ein Lügner?
Vischu
Das gerade nicht — aber ich kann deine Theorie nicht annehmen. Entschuldige mich, ich kann nichts dafür, wenn ich ein bißchen grob und plump scheine.
Virupakscha
Kein Wunder, daß du an meine Worte nicht glauben kannst — wo du dich weise genug dünkst, die Meinungen deiner Eltern und Oberen zu verwerfen. Wie lange, glaubst du, hättest du in diesem Lande bleiben dürfen, wenn der König nicht im Verborgenen bliebe? Du bist nicht besser als ein offenkundiger Ketzer.
Vischu
Mein lieber Pfeiler der Rechtgläubigkeit! Glaubst du, irgendein anderer König hätte gezögert, dir die Zunge abschneiden und sie den Hunden zum Fraß vorwerfen zu lassen? Und du hast die Stirne, zu sagen, unser König wäre den Augen ein Greuel?
Virupakscha
Hör einmal, Vischu, willst du deine Zunge im Zaum halten?
Vischu
Man braucht wohl nicht erst festzustellen, wessen Zunge einen Zaum braucht.
Erster Bürger
Jetzt wird die Sache gefährlich. Da mache ich lieber nicht mit.
Ab.
Eine Zahl Männer tritt auf, die in lärmendem Übermut Großvater mit sich schleppen.
Zweiter Bürger
Großpapa, etwas fällt mir heute auf...
Großvater
Was ist es?
Zweiter Bürger
Dies Jahr hat jedes Land seine Leute zu unserm Fest entsandt, doch jedweder fragt: „Alles ist reizend und schön — wo aber ist euer König?” und wir wissen nicht, was wir antworten sollen. Das ist die eine große Lücke, die sich jedem in unserm Lande fühlbar machen muß.
Großvater
„Lücke”, sagst du! Wie, das ganze Land ist ganz erfüllt und geladen und gestopft voll von dem König: und du nennst ihn eine „Lücke”! Wie, er hat jeden einzigen unter uns zum gekrönten König gemacht!
Gesang
Dritter Bürger
Aber wirklich, ich kann die sinnlosen Sachen nicht mit anhören, die die Leute über unsern König sagen, bloß weil er sich nicht öffentlich zeigt.
Erster Bürger
Stellt euch nur vor! Jeder, der mich beleidigt, kann bestraft werden, während niemand einem Schuft den Mund stopfen kann, dem es einfällt, auf den König zu schimpfen.
Großvater