Der Kopf - Ernst Augustin - E-Book

Der Kopf E-Book

Ernst Augustin

0,0
18,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ernst Augustins Romanerstling „Der Kopf“ (1962) gehört zu den großen existenzialistischen Romanen der Nachkriegszeit. Augustin erhielt den Hermann-Hesse-Preis dafür, die Öffentlichkeit staunte. Der Ton war neu, er klingt so: "Menschenskind, dachte er, das ist ja ungeheuerlich. Er saß draußen unter freiem Himmel, und nun erst überfiel ihn Rührung. Das Gras anzufassen." Bevor die Katastrophe eintrat, hatte Türmann alle Vorahnungen durchlitten. Als Freidenker hatte er Angst vor seiner eigenen Vorstellungsgabe: "Wenn wirklich alles, was ich hier um mich sehe, nur meinem eigenen Kopf entspringt, dann könnte sich ja alles ereignen, was ich denke." Folglich denkt Türmann die größtmögliche Katastrophe, die sich im ersten Teil von Ernst Augustins Roman auch prompt ereignet.

Im zweiten Teil, „Der Keller“, erzählt Augustin die Geschichte der Überlebenden. Asam war einmal Lehrer. Jetzt kämpft er sich, nach einem langen Kellerleben, zum ersten Mal ans Tageslicht zurück. Wo einst die Menschen in Städten lebten, ist nurmehr Wüstenei, stehen allenfalls noch fensterlose Mauern. Es gibt nicht einmal den Trost der Bäume!

Im dritten Teil, „Der Turm“ genannt, belebt sich die Welt. Asam heiratet und verliert sein Dorfmädchen an seinen Rivalen Popow.

Das Ende des Romans läuft wieder in seinen Anfang zurück. Erneut wartet Versicherungskaufmann Rudolf Türmann auf seinem Balkon „auf das herannahende Übel“ und hat plötzlich Angst, selbst „nicht genügend gedacht zu werden.“

Mit dieser Ausgabe wird Augustins Debüt, das Jahrzehnte lang vergriffen und zum Geheimtipp geworden war, erstmals wieder zugänglich.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Ernst Augustin

Der Kopf

Roman

Mit einem Nachwort (!) von Lutz Hagestedt

C.H.Beck

Zum Buch

Ernst Augustins Romanerstling Der Kopf (1962) gehört zu den großen existentialistischen Romanen der Nachkriegszeit. Augustin erhielt den Hermann-Hesse-Preis dafür, die Öffentlichkeit staunte. Der Ton war neu, er klingt so: «Menschenskind, dachte er, das ist ja ungeheuerlich. Er saß draußen unter freiem Himmel, und nun erst überfiel ihn Rührung. Das Gras anzufassen.» Bevor die Katastrophe eintrat, hatte Türmann alle Vorahnungen durchlitten. Als Freidenker hatte er Angst vor seiner eigenen Vorstellungsgabe: «Wenn wirklich alles, was ich hier um mich sehe, nur meinem eigenen Kopf entspringt, dann könnte sich ja alles ereignen, was ich denke.» Folglich denkt Türmann die größtmögliche Katastrophe, die sich im ersten Teil von Ernst Augustins Roman auch prompt ereignet.

Im zweiten Teil, Der Keller, erzählt Augustin die Geschichte der Überlebenden. Asam war einmal Lehrer. Jetzt kämpft er sich, nach einem langen Kellerleben, zum ersten Mal ans Tageslicht zurück. Wo einst die Menschen in Städten lebten, ist nurmehr Wüstenei, stehen allenfalls noch fensterlose Mauern. Es gibt nicht einmal den Trost der Bäume!

Im dritten Teil, Der Turm genannt, belebt sich die Welt. Asam heiratet und verliert sein Dorfmädchen an seinen Rivalen Popow.

Das Ende des Romans läuft wieder in seinen Anfang zurück. Erneut wartet Versicherungskaufmann Rudolf Türmann auf seinem Balkon «auf das herannahende Übel» und hat plötzlich Angst, selbst «nicht genügend gedacht zu werden.»

Mit dieser Ausgabe wird Augustins Debüt, das Jahrzehnte lang vergriffen und zum Geheimtipp geworden war, erstmals wieder zugänglich.

Über den Autor

Ernst Augustin, geboren 1927, war in seinem Beruf als Arzt und Psychiater an (damals) entlegensten, exotischen Orten tätig, unter anderem in Kandahar, Afghanistan, das sich in biblischem Zustand befand. Heute lebt und schreibt er in noch verbliebenen Innenwelten. In München. Von ihm ist im Verlag C.H.Beck lieferbar: «Die Schule der Nackten» (2003), «Mahmud der Bastard» (Neuausgabe, 2003), «Raumlicht: Der Fall Evelyne B.» (Neuausgabe, 2004), «Der Künzler am Werk» (2004), «Der amerikanische Traum» (Neuausgabe, 2006), «Badehaus Zwei» (Neuausgabe, 2006), «Schönes Abendland» (Neuausgabe, 2007), «Robinsons blaues Haus» (2012), «Gutes Geld» (Neuausgabe, 2013). «Robinsons blaues Haus» stand auf Platz 1 der SWR-Bestenliste und auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. 2007 erschien auch eine Ausgabe «Romane und Erzählungen» in acht Bänden in einer Schmuckkassette. Literaturpreise: Hermann-Hesse-Preis, Kleist-Preis, Tukan-Preis (Literaturpreis der Stadt München), Mörike-Preis, Lübecker Literaturpreis von Autoren für Autoren. Ernst Augustin ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste

Inhalt

Erstes Buch: Die Katastrophe

1

2

3

4

Zweites Buch: Der Keller

1

2

3

4

5

Drittes Buch: Der Turm

1

2

3

4

Landschaften der Seele: Ernst Augustins Erstlingsroman Der Kopf – Nachwort von Lutz Hagestedt

Eine Welt in der Welt

Meine Phantasie ist zu allem fähig

Ein neuer Weltentwurf

Schreiben über meine eigene Existenz

Die Fabel

Türmann lebte wirklich

er lebte zwischen Gastürmen und Mietshäusern

und ging in einem Strom von Wirklichkeit spazieren

zu Hause aber in seiner Kommode

hielt er sich einen Sandkasten mit kleinen Gastürmen und

Mietshäusern

und in diesem Sandkasten

lebte ein Mann namens Asam, der dort in einem Strom von

Wirklichkeit spazieren ging

der aber zu Hause

in einer sehr kleinen Kommode gleichfalls einen Sandkasten

hatte, in welcher ein Mann zwischen Gastürmen und Mietshäusern spazieren ging

überzeugt, daß es ihn wirklich gäbe.

Erstes Buch

Die Katastrophe

1

Türmann stand auf seinem Balkon und fühlte sich bedroht. Unten fuhren die Verdecke der Autos, verkürzte Leute gingen auf dem Bürgersteig, Frau von Elriss überquerte verkürzt die Straße und betrat den Milchladen gegenüber. Türmann stand fünf Stockwerke hoch. Allein. Nach vorn schützte ihn die eiserne, mit einem Kranz von Blumenkästen versehene Balkonbrüstung – im Rücken das Wohnzimmer, das ihn durch die geöffnete Tür andunstete.

Er war in der Lage, die Ereignisse auf der Straße genau zu beobachten. Es traten ein Briefträger, zwei junge Mädchen, ein Herr im hellen Überzieher und ein Mann mit zwei Eimern aus dem Haus, dann ein älterer Herr, dessen Kopf von oben wie ein Auge mit einer weißen Pupille aussah. Es gingen hinein Frau von Elriss und ein Schüler, heraus kam Nolde. Na ja.

Türmann überdachte seine Lage: Er befand sich in sicherer Höhe, er war durch vier unter ihm liegende Stockwerke von der Straße getrennt. Von dort zu seinem Standpunkt auf dem Balkon zu gelangen, schien unmöglich, da die Front des Hauses nur wenig Vorsprünge aufwies, die einen Halt geboten hätten. – Nun gab es zwar im Hintergrund dieses Wohnzimmer, dahinter den Flur mit der Tür zum Treppenhaus. Aber letzteres zählte nicht. Mit dem Treppenhaus hatte es – wie sich noch zeigen wird – eine besondere Bewandtnis: es war unbeschreitbar, wenn man den Begriff nicht allzu eng faßt, es fiel als Zugang aus. Tatsächlich war Türmann auf seinem Balkon ziemlich sicher; er stand der Straße zugewandt an der Brüstung, zwar nicht mit voller, aber, immerhin, mit einer den Umständen angemessenen Rückendeckung. Vor ihm die Straße. Es fuhr vorbei ein Auto mit grünem Verdeck, ein … Es gingen ins Haus drei Kinder, vier Kinder … verließen das Haus.

Und nun begab es sich.

Ein Mann kam die Straße entlang; er ging auf dem diesseitigen Bürgersteig wie immer, und er war pünktlich wie immer – ging dicht an den eisernen Zäunen entlang, welche hier die lächerlich schmalen Vorgärten begrenzten, ging gleichmäßig, vielleicht etwas schneller als gewöhnlich. Er hielt sich hart rechts, streifte fast die Zäune, hielt einen so knappen Abstand zur Hauswand, daß er genau die Stelle passieren mußte, wo ein von Türmanns Balkon herabfallender Stein ihn treffen würde. – Türmann stand oben und hatte den Stein in der Hand. Der Mann näherte sich mit gleichmäßigen Schritten, sein Haupthaar war sackfarben oder rötlich, soweit sich dies aus einer Höhe von fünf Stockwerken erkennen ließ.

Türmann sprach ihn an.

«Asam», sagte er, «du weißt, daß ich im Recht bin, wenn ich dich treffe. Dieser Stein ist nicht schwer, aber er wird durch den Fall aus einer Höhe von fünf Stockwerken genügend Wucht erreichen, um dein Haupt zu zerschmettern.» Dabei hielt er den Stein locker über die Stelle der Brüstung, wo er, losgelassen, den Asam treffen mußte, wenn dieser bei gleichbleibender Richtung und Geschwindigkeit senkrecht unter ihm angelangt war.

Der Mann hatte noch acht Schritte zurückzulegen. «Ich bin mir über alle Folgen im klaren – wenn ich dich treffe, wird es das Ende bedeuten, nicht nur für dich, sondern auch für mich. Es wird sein, als ob der Stein aus halber Höhe zurückkehrt und in mein eigenes Auge fällt, gerade so. Es wird so sein, als hättest du selbst den Stein geworfen. Aber das wird mich nicht hindern.»

Sechs Schritte.

Türmann hielt den Stein mit Daumen und Zeigefinger über die Brüstung. Dann ließ er ihn los, so daß er in der Zeit, in welcher der Mann Asam sechs Schritte vollführte, unten anlangen und seinen Schädel zerschmettern mußte.

Er hatte ihn losgelassen.

«Jetzt bist du bereits tot», sagte Türmann, «obwohl du noch sechs Schritte lang lebst. Hörst du mich, Asam?»

Aber Asam konnte ihn aus einer Höhe von fünf Stockwerken schwerlich hören. Er war nicht tot, der Stein wurde nicht losgelassen, und der Mann hieß auch nicht Asam – es gab niemanden, der Asam hieß.

Asam war Lehrer. Wenn er vorgestellt wurde, fragten Gebildete: «Egid Quirin oder Cosmas Damian?», jedoch war ihm dieser Scherz längst bekannt und lästig. Falls jemand so fragte, lächelte er um keinen Preis, sondern nannte ernsthaft seinen wirklichen Vornamen: Friedrich.

An diesem Morgen ging er sehr eilig zur Schule.

Asam war vierunddreißig Jahre alt. Er hatte keine Frau, führte in seiner Pension ein geregeltes Leben, ohne irgendwelche Anstößigkeiten, und war bei jedermann als höflicher Mensch bekannt, der zuvorkommend grüßte.

An diesem Morgen jedoch war es zweimal geschehen, daß er gute Bekannte, die ihm auf der Straße begegneten, überhaupt nicht sah. Es hatte den Anschein, als ob er absichtlich starr geradeaus blickte wie ein Mann, der sich fürchtet, unterwegs eine bestimmte Person zu treffen. Er ging sehr schnell. Er lief beinahe. – Asam hatte einen kräftigen, untersetzten Körper, dem man regelmäßige Leibesübungen ansah. Morgens stellte er sich für gewöhnlich nackt mitten in sein möbliertes Zimmer im zweiten Stock der Pension und machte zwanzig Kniebeugen, sieben oder acht Liegestütze, Atemübungen und derlei mehr. Außerdem erteilte er neben seinen Hauptfächern Latein und Biologie auch Turnunterricht. Vor dem Schlafengehen pflegte er im Badezimmer im Erdgeschoß eine kalte Dusche zu nehmen, wobei er so laut prustete, daß seine Wirtin, eine ältere Dame, jedesmal erschauerte, wenn sie es hörte.

Für gewöhnlich betrug sein Weg zur Schule etwa zehn bis zwölf Minuten und führte ihn über zwei Kreuzungen am Justizgebäude vorbei, dem einzigen hervorstechenden Bauwerk am Wege; alle übrigen unterschieden sich höchstens in der Farbe oder durch die Art des Verputzes oder durch die Anordnung der Fenstersimse, die niemals auf gleicher Höhe lagen, obwohl alle Häuser ohne Zwischenräume in einer Reihe standen. Die Simse waren hier etwas schmaler und höher, dort etwas breiter und tiefer; ferner gab es einige, die in sich eine gekehlte oder gekerbte Struktur aufwiesen. Außer seiner Pension kannte Asam nur noch ein Haus von innen. Ein roter Läufer führte dort im Treppenturm bis vor ein weißes Emailleschild: Dr. Wenske, Zahnarzt. Vor den Häusern lagen Vorgärten, oft nicht viel breiter, als eine Tür hoch ist. Davor standen schmiedeeiserne Zäune, manche gelappt mit eisernen Spitzen, manche spiralig gedreht, wieder andere wie eine Galerie von Spießen, in handbreiten Abständen oder mit Kelchformen abwechselnd: Spieß, Kelchform, Spieß. Zwölf Minuten lang – mit Ausnahme der dreißig Meter, welche das Justizgebäude einnahm – auf jeder Straßenseite ein Zaun, und zwischen beiden Zaunfronten ging Asam heute schneller als sonst, da er befürchtete, dieses Mädchen zu treffen. Else.

Er war ein stattlicher Mann. Der Direktor pflegte bei Schulfeierlichkeiten zu sagen: «Wer läßt denn antreten? – Am besten Herr Asam», weil er kräftig aussah und Stränge am Hals hatte, wenn er laut sprach. Als im letzten August nach den Sommerferien die Schule wieder begann, war Asam mit einem Bart erschienen. Sie saßen im Lehrerzimmer, als er eintrat, Herr Nolde, Herr Schirrmacher, Herr Kollege Czibulka, und alle erröteten für ihn. Diesen Bart – genau wie das Haupthaar leicht fuchsig im Ton – trug Asam als kurzgeschnittenen runden Henry IV; nur an den Schläfen und an der Kehle rasierte er ihn etwas. Böttcher erklärte, er habe damit einen unbedingt flämischen Ausdruck bekommen, den er früher nicht an ihm bemerkt habe. Böttcher war sein Freund.

Als er an diesem Morgen die Schule betrat, empfand er ein starkes Schlafbedürfnis, noch ehe er die Vorhalle mit den roten Backsteinsäulen durchquert hatte. Das große Treppenhaus hallte vom Geschrei der Schüler, die vor Beginn des Unterrichts umherrannten und laut klapperten, pfiffen oder brüllten. Manche sahen ihn nicht einmal, nur die ihm unmittelbar entgegenrannten, hielten plötzlich im Brüllen inne und warteten, bis er vorüber war – etwa zehn Schritte lang –, brüllten dann weiter. Asam zog, indem er langsam die Treppe hinaufstieg, diesen gewissen schallverdünnten Raum mit sich, der sehr wichtig für den Lehrer ist, da sein Ausmaß in direkte Beziehung zum Respekt gesetzt werden kann. Asam verbreitete einen vergleichsweise mittelgroßen Raum, der Direktor einen nur wenig größeren, Czibulka gar keinen und Nolde den größten, der sich manchmal über eine ganze Flurlänge erstreckte. Wieso das so war, wußte niemand.

Der erste Flur roch sehr stark nach Knaben. Asam empfand den ersten Flur jeden Morgen als eine niederschmetternde Wirklichkeit, eine Wirklichkeit, ja, tatsächlich. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und stieg aufwärts. Der zweite Flur war hellblau gestrichen. Hier stand über dem Treppenbogen die Inschrift «nunquam retrorsus». In der Ecke ragte die Büste eines früheren Direktors.

Um acht Uhr betrat Asam das Klassenzimmer, wo die Tafel mit dem Käfer bereits an der Wand hing. Er legte auf folgendes Wert: die Klasse mußte absolut still auf den Plätzen stehen, und die Tafel mit dem Käfer, der einem aufgeschnittenen Panzerwagen ähnelte, mußte hängen. So hatte er das eingeführt. Eins und zwei uuund drei. Müde sah er vom Pult herab auf die dreißig Gesichter.

«Was war denn aufgegeben? – –» Die dreißig Gesichter standen unverwandt hochgerichtet wie kleine blasse Pilze. Asam suchte sein Zensurenbuch heraus und schritt die Namen mit dem Finger ab. Zwischendurch sah er knapp unter den Brauen hervor, so daß ihm nichts entging. In der dritten Reihe rechts verschwand Exners Gesicht hinter dem Vordermann. Er lief weiter mit dem Finger die Namenreihe ab und hatte sie ganz abgeschritten, ohne jemanden ausgewählt zu haben, denn inzwischen war ihm bereits sein Lieblingsgedanke eingefallen, das Terrarium. Äußerlich war ihm das kaum anzumerken, die dreißig Gesichter warteten weiterhin ängstlich darauf, wen er drannehmen würde. Frau von Selchow wird sich damit abfinden müssen, sie wird nichts sagen können. Zwei mal drei Meter. Na, dachte er, vielleicht ein bißchen zu groß. Einssiebzig mal zweiachtzig. Er nickte und schrieb ins Zensurenbuch: Einssiebzig mal zweiachtzig. Dann radierte er es schnell wieder aus, und die dreißig bemerkten das, wußten aber nicht, was sie daraus entnehmen sollten. Unten mit Zinkblech ausgeschlagen, dachte Asam, wegen der Feuchtigkeit, das muß schon wegen Frau von Selchow so sein, und in der Mitte ein Teich, «für die Tiere». Er schrieb: «Für die Tiere» und malte einen eiförmigen Umriß. Exner saß genau hinter seinem Vordermann, so genau, daß sich die Köpfe deckten. Exner, dachte er, ich werde dich drannehmen, und in diesem Augenblick schob sich Exner etwas hervor, bis er sich auf einmal zu seinem Erschrecken genau unter den Augen des Lehrers befand. Er hatte ein rotes Wolljäckchen an, und sein rundes Gesicht war weiß und rot wie eine Süßspeise. Asam klopfte mit dem Bleistift auf die Tischplatte, so daß die Knaben sich gerade hinsetzten.

«Exner!» sagte er, «nun sag mal auf, was du gelernt hast.» Exner erhob sich und hing schief in der Bank.

Wie ich es mir vorgestellt habe, dachte Asam, er hat nicht gelernt; nun soll er stehen, damit er sich schämt. Das Terrarium, dachte er und nickte dazu. Dann überlegte er, wie er es bepflanzen sollte. Eine Art Wald mußte es haben, ein Dickicht aus Farnkräutern, in dem die Käfer mühsam herumspazieren würden.

«Nun also, was ist, Exner. – Nichts? Das habe ich mir gedacht.» Exner hing schräg und bohrte mit dem Finger auf dem Pultdeckel herum.

«Komm, stell dich hierher. Nein – nicht so, dreh dich rum, sieh die Klasse an. – Meinst du, die Hausaufgaben sind dazu da, daß man sie nicht erledigt? – – – –»

Jetzt sagt er gar nichts mehr. «Ex – ner!»

Exner stand gut genährt im roten Jäckchen vor dem Katheder und schämte sich. Ein Terrarium, dachte Asam, mit tropischen Temperaturen, jeden Tag Regen. Aber wenn er an dieser Stelle angelangt war, begann er regelmäßig über das Problem des Regens nachzugrübeln, wobei ihm eine Fülle unklarer Technik vorschwebte, feingebohrte Löcher in der Glasplatte etwa, oder dünne Röhren; jedoch wußte er nicht, ob es funktionieren würde.

«Setz dich», er holte Luft und befahl kurz: «Hefte raus. Oben drüber, Klassenarbeit, Datum –»

Das sah so aus: die dreißig kleinen bleichen Pilze wurden eine Spur bleicher und rückten enger zusammen.

«Abstand», kommandierte Asam und hieb mit der flachen Hand auf den Tisch.

In der Pause saß er im Lehrerzimmer am Tisch und aß sein belegtes Brot aus der Tüte. Neben ihm saß Nolde, der «ebend» sagte.

«Dann muß die Schule ebend gleich geschlossen werden während der Umbauten. Es geht ebend nicht anders.» Das war seine Eigenheit. Nolde hatte einen kahlen Kopf und litt an der Galle, weshalb er allgemein gefürchtet wurde. Diese Schule war, wie jede andere, ein massiver Backsteinbau mit Korbbogenfenstern, der Lehrkörper wie jeder andere, nur deshalb eigenartig, weil die dauernde Aufmerksamkeit von fünfhundert Schülern auf ihn gerichtet war. Draußen vor dem Fenster entstand Lärm. Nolde sprang zum Fenster, stieß die Flügel auf: «Es ist jeden Tag dasselbe», sagte er. Unten hielten sich zwei gepackt und rangen, während der gesamte Schulhof herbeieilte und einen Ring bildete. Hööö. Kollege Czibulka, der die Aufsicht führen sollte, zerteilte den Haufen. Höööö. Aber erst als sie Noldes Gesicht im Fenster sahen, gingen die Schüler auseinander. «Jeden Tag dasselbe», sagte Nolde drohend.

Dann klingelte es, und die Schüler gingen langsam zurück ins Gebäude. Asam sah, daß sie an der Tür zusammenklumpten, was gegen die Regel war. Er trank seinen Malzkaffee aus und wischte sich mit dem Handrücken altväterisch über den Bart. Nolde und Schirrmacher sahen fort; sie dachten beide gleichzeitig: Man kann es nicht mit ansehen. Böttcher rülpste daraufhin und blickte erstaunt um sich. Als es zum zweiten Male klingelte, mußten auch die Lehrer ihre Pause beenden und sich von den Stühlen erheben.

Dieses Mal stieg Asam noch eine Etage höher und betrat ein schimmelgrünes Klassenzimmer, wo die Schüler stramm neben den Bänken standen und an der Wand zwei Bilder hingen, eines links: Caspar David Friedrichs Domruine im Schnee, eines geradeaus: Hagen von Tronje mit Günther auf dem Ritt nach Worms. Asam setzte sich hin und schlug den Caesar auf, wobei ihn, wie immer in dieser Stunde, ununterdrückbar eine innerliche Kälte beschlich. Ein Landwirtssohn in der vordersten Bank erklärte:

«Vercingetorix erhielt die Nachricht –»

«Tat er das?» «Nein.» «Also!» «Vercingetorix –» «Obwohl!»

«Obwohl Vercingetorix die Nachricht erhielt, daß die Legionen –»

Asam dachte, daß das Terrarium auf Füßen stehen müßte wie ein Tisch. «Setzen Sie sich», sagte er, «Niebert!»

«Obwohl Vercingetorix die Nachricht, daß Caesar die Legionen in schnellen Tagereisen –» Asam nickte und blickte aus dem Fenster. Die Fenster waren alle bis zur Hälfte milchig gehalten, aber jenes zur Seite des Katheders war geöffnet, so daß er hinausblicken konnte. Oder demzufolge er hinausblicken konnte. «Dergestalt, daß die Vorhut nicht den Feind –» «Den Feind?» «– nicht mit dem Feind –» «Also!» Ich werde einen Tischler beauftragen, dachte Asam, der mir das ganze mit Zinkblech ausschlagen soll. Es konnte nicht viel kosten, und die Blumenerde würde er selber kaufen. Dann blickte er wieder aus dem Fenster: Unten vor der Schule standen Else und ihr Vater. «… und schon vier von den fünf Marschsäulen –» Asam setzte sich plötzlich aufrecht hin. Das hatte er erwartet, jawohl, dachte er, so mußte es kommen. «– den fünf –» «Donnerwetter», brüllte er, «was ist mit den fünf Marschsäulen?» Der Schüler wußte es nicht. Er litt an einer Rachenmandel, weshalb er auch dann, wenn er nicht sprach, den Mund offenhielt, so daß sich im Laufe der Jahre sein Gesicht nach diesem Leiden gebildet hatte. «Noch einmal von vorn.» Der Schüler begann: «Wenn Vercingetorix …»

Else und ihr Vater waren jetzt nicht zu sehen, und Asam überlegte: entweder hatten sie das Schulgebäude betreten und kamen jetzt die Treppe herauf, oder sie waren fortgegangen, was auch nur Aufschub bedeutete. Wie hartnäckig sie sind, dachte er, aber ich habe es nicht anders erwartet.

«… in schnellen Tagereisen, dergestalt daß die Vorhut sich mit dem Feind ins Verhält – in Verhältnis setzen …»

Asam hatte sie gestern gesehen. War aber, wie er glaubte, von ihr nicht bemerkt worden. Im Hotel Oberländer: sie saß mit ihren Eltern nach hinten hinaus im Wintergarten. Sie war, als sie dort saß, so sehr «Else» wie nur je, lächelte, wie er es in Erinnerung hatte – auf dem Tisch standen drei Eisbecher –, sie preßte beim Lächeln die Lippen aufeinander und sah aus wie ein ganzes Leben, wie das Schlafzimmer für tausendzweihundert Mark und jenes Service. Er war sehr erschrocken, als er sie bemerkte, und war auf der Stelle umgekehrt.

«… fünf Marschsäulen – auf dem Fuße folgten, antrieb und selbst stehenden Fußes in die Winterquartiere zu gehen anstrengte –»

«Was ist das für ein Deutsch!»

«Ich meine: Caesar strengte an.»

«Ihre Meinung ehrt Sie.» Gelächter der Klasse.

«Setzen. Ich übersetze: – und selbst stehenden Fußes in die Winterquartiere zu gelangen sich bemüßigte, Nachricht erhielt …»

Else, dachte er. Sie bringt es fertig und folgt mir bis in die Schule, oder ihr Vater bringt es fertig.

Als er nach der Lateinstunde ins Lehrerzimmer kam, verlangte man ihn am Telephon. «Ja», sagte er, «Asam.» Der Pförtner meldete, daß ihn jemand zu sprechen wünsche.

«Wer?»

«Ich weiß nicht, ich hab den Namen nicht gefragt. Ich hab gefragt, ob er wegen einem Schüler kommt, aber er sagte, er wolle Sie nur sprechen.»

Asam setzte sich an den Tisch und versuchte zu essen. Dann kam Nolde herein, der ihm ausrichtete, daß auf dem Flur jemand auf ihn warte, er nehme an, es sei der Vater eines Schülers.

«Ja», sagte Asam, «ich weiß.» Er ging langsam auf die Tür zu, blieb dann aber vor der Lehrerbibliothek stehen, einem hohen Büchergestell mit Glastüren. Er beugte sich vor und versuchte einen orangeroten Titel durch die Glasspiegelung hindurch zu erkennen, und als er ihn erkannt hatte, legte er den Kopf waagerecht, um einen quergeschriebenen Titel zu lesen: Reisen im südlichen Thüringen. Nolde beobachtete ihn mißbilligend:

«Die Pause ist gleich zu Ende. Wenn Sie draußen noch jemanden sprechen wollen –»

Asam aber schloß eine der Glastüren auf und las weitere Titel. Dann nahm er ein Buch und schlug es auf. Kommunikationssysteme.

«Ja», sagte er, «sofort.» Es roch nach Staub und altem Papier. Die Abbildungen waren außerordentlich exakte Tiefdrucke von Ludwig Wagner: kommunizierende Röhren, 1895 in Kupfer gestochen. Nolde sah ungehalten zu. Dann klingelte es. «Da, bitte», sagte Nolde, nahm einen Stoß Hefte und ging hinaus, und Asam mußte nun auch das Lehrerzimmer verlassen. Draußen wartete Elses Vater, im Paletot und mit halbsteifem runden Hut, der oben etwas eingedellt war. Er sieht passabel aus, dachte Asam, er sieht aus, als ob er Geld hätte, er hat aber keines.

«Guten Tag, Friedrich», sagte Elses Vater, «wie geht’s denn so?»

«Jaha», sagte Asam, «das ist aber eine Überraschung.» Er hielt sich dicht an der Wand, so daß er sich etwas abstützen konnte. «Wie geht’s denn Else?» «Danke sehr, danke, sie ist im Hotel. Und selbst?» Du lügst, sie ist nicht im Hotel, sie steht draußen.

«Ja», sagte Elses Vater.

Asam stützte sich von der Wand ab, und dann federte er etwas, als ob ihm leicht zumute sei.

«Wir sind auf der Durchreise, weißt du, und da dachten wir, weil du und Else – ihr habt euch ja lange nicht gesehen –, deshalb dachten wir, hier ein wenig Station zu machen.»

«Ja», nickte Asam lebhaft.

Elses Vater war von seiner Familie sorgfältig ausgestattet worden, der Mantel war neu und der Hut auch, wahrscheinlich hatte er letzteren nicht einmal selbst wählen dürfen. Asam erschrak zum zweiten Male: Sie hegten wohl wirklich ernste Absichten.

Hingegen sagte er:

«Ja, ich freue mich sehr, daß ihr Station machen wollt. Das ist aber eine Überraschung», und fügte noch hinzu, «das hätte ich nicht gedacht.» Das hätte ich wirklich nicht gedacht.

«Dann könntest du doch heute abend mit uns essen», schlug Elses Vater vor. «Wir wohnen im Hotel Oberländer.»

«Selbstverständlich.» Der Schulhausflur war weiß, blau, rot gefliest, speckweiß, schieferblau und ziegelrot. Nun soll ich im Hotel mit ihnen essen, dachte Asam und bedankte sich laut, er freue sich.

«Um acht?» fragte Elses Vater.

«Ausgezeichnet.»

«Um acht im Hotel Oberländer.»

Das Hotel Oberländer war ein vornehmes Hotel, wo nur wohlhabende Leute verkehrten (der Adel allerdings ging zu Wogener); daß Elses Familie im Hotel Oberländer wohnte, war ein weiterer beängstigender Zug, den sich wahrscheinlich Elses Mutter ausgedacht hatte. Asam sah sie deutlich vor sich, wie sie auf dem mittelgrauen Hut bestand: sie sagte ›Konrad‹ und deutete auf den Hut. Ich möchte wissen, was sie Else alles eingeschärft hat, dachte er.

«Bleibt’s also dabei?» sagte Elses Vater. – «Da soll ich sicherlich Else einen schönen Gruß bestellen?»

Der Vater traf Else an der Straßenecke. Sie war in einen Mantel mit Schößen gekleidet und sah ihm besorgt entgegen. «Er trägt jetzt einen Vollbart», sagte er.

Nach der letzten Nachmittagsstunde blieb Asam noch in der Schule. Er saß als letzter im Lehrerzimmer, die anderen Herren waren schon fort. Auf der Treppe rief jemand «He» und pfiff laut, während von unten, vom Erdgeschoß her, ein anderer durch das Treppenhaus antwortete. «He», sagte es oben, «jetzt kommts.» Wieder wurde anhaltend gepfiffen, bis ein Aufschlag und begeisterte Rufe aus dem Erdgeschoß ertönten. Dann schimpfte die Stimme des Hauswarts, jemand lief die Steinstufen hinab, unten klappte die Tür. Ruhe.

Asam wollte die abgestandene Luft aus dem Lehrerzimmer hinauslassen und öffnete ein Fenster: Es war warm, der Baum auf dem Schulhof stand sehr breit in der Mitte, eine gewaltige Sommerkugel. Asam blickte erschöpft auf die große Staubfläche, welche am Vormittag die vielen Füße aufgerührt hatten, kehrte sich vom Fenster ab und trat in den Raum hinein. Auf dem Tisch lag ein Stoß Hefte, er schlug das erste auf. «Eine Schrift!» sagte er. Alexander von Humboldts Büste blickte ohne Pupillen weiß in den Raum. Die Stille rieselte in Asams Ohren. Einmal öffnete er die Tür zum Flur, wo es kühl war nach der Wärme am Fenster. Die Treppe führte leer und unnatürlich breit hinauf zur Aula. Er ging durch die Aula, oben war die Empore mit der Schulorgel, die er nie gehört hatte, weil es niemanden gab, der sie spielen konnte. Dafür gab es das Schülerorchester und Herrn Schuster, der es seit mehr als zwanzig Jahren eckig dirigierte.

Asam betrat die Holztreppe, die verbotene, die sich aufwärts zum Boden drehte. Oben drückte die Sonne auf das Dach, es war sehr heiß. Der Bodenraum erstreckte sich weit über den Grundriß der ganzen Schule, hoch und niedrig und um die Ecken herum, die Schornsteine standen darin wie dicke Säulen, einige mit eingelassenen Sprossen, so daß man daran bis zur äußersten Höhe gelangen konnte. Er vermochte genau zu sagen, über welchem Teil der Schule er sich jeweils befand. Dies ist das Dach des Treppenhauses, sagte er und trat unsicher auf, als könne es durchbrechen. Er dachte daran, daß es von hier oben bis zum Keller senkrecht über zwanzig Meter abwärts ging, deshalb beeilte er sich, über das gewölbte Dach hinwegzukommen. An verschiedenen Stellen bedeckte filzartiger grauer Staub den Boden, so daß Fußstapfen darin stehen blieben. Es war halbdunkel, und das Licht fiel in schrägen Streifen durch die Luken.

Asam wußte, wohin er wollte: zur Luke an der Giebelseite – hier steckte er den Kopf hindurch, um über die ausgebreitete Stadt zu blicken. Dächer schlossen sich aneinander, Dachfenster, die Paulskirche, neugotisch, krause Imitation, der See in der Stadt und der größere See vor der Stadt und die Verbindungskanäle. Rechts hinter der Wagenfabrik lag der Volkspark, ein Dreieck voller Bäume. Leichter Wind strich in dieser Höhe am Haus entlang, die Stadt war gelb von der Sonne, nur ein winziger Wolkenschatten wanderte über die Dächer. Sein Gesicht erfrischte sich draußen, während tief unter ihm drei Personen gingen. Er schaute ohne besondere Gedanken, bis er sich mit einem Male eines befremdenden Gefühls bewußt wurde. Weil nämlich sein Körper, Rumpf, Arme und Beine in dem dumpfigen Bodenraum steckten – der Kopf aber draußen war – und das Bodenfenster mitsamt dem ganzen Satteldach voller Ziegel ihm als Krause um den Hals stand, «als enge Halskrause …», konnte er den eigenen Körper nicht sehen und nicht sehen, was mit ihm zur Zeit geschah oder wer ihn bedrohte, «so als ob der Kopf auf Reisen» – ja – aber dann geschah dieses Seltsame, das ihm schon mehrmals geschehen, diese ganz bodenlose Ahnung. Er besann sich. So als ob er hinter sich stünde und sich selbst (also doch) betrachtete. So als ob …

Er – wer? hinter ihm stünde. O du mein Gott, dachte er, dies Gefühl kenne ich, es wird gleich vorübergehen – als ob er gar nicht wirklich vorhanden, sondern nur in Gedanken, sozusagen als etwas Ausgedachtes bestünde. Dieses Gefühl: ausgedacht er selbst in diesem Augenblick, da er den Kopf in der Dachluke hatte

und sich als ausgedacht empfand …

Türmann lächelte auf seinem Balkon und sagte: Du weißt, wenn ich dich treffe, werde ich im Recht sein. Aber dann blickte er nach unten und fühlte sich in schaudernder Weise wichtig. Es dauerte so lange, wie ein Mensch braucht, um sechs Schritte zurückzulegen.

… und war schon vorüber. Asam hatte sich nur geringfügig erschrocken, weil es ihm nichts Neues war und er außerdem wußte, daß er sich doch gleich wieder zurechtfinden würde in seinem Ich (welches sein Ich war). Aber einen Augenblick lang hatte er auf besondere schaudernde Weise gefühlt, wie es sein könnte, wenn er einmal durch irgendeine Stockung nicht mehr genügend gedacht würde – das wäre eine Katastrophe. – Denk mich bloß genügend, lieber Gott, bat er und erschrak, weil er sich versündigte, aber wiederum nur ein wenig. «Man ist ein erwachsener Mensch», sagte er laut, zog den Kopf aus der Luke und wandte sich langsam um. Er musterte sorgsam den Bodenraum, doch war es ihm nach der Helligkeit draußen nicht möglich, Einzelheiten zu erkennen. «Hätte ich doch mit Bestimmtheit angenommen, daß hier jemand rumklötert!» murmelte er. Dann, nach einer Weile, während er zur Treppe ging, rief er:

«Hallo!»

Fern draußen auf der Straße riefen sich Kinderstimmen etwas zu, aber sie waren durch die dumpfen Bodenwände sehr abgeschwächt, sie waren nichts als heiße, staubige Laute hier oben. Er ging jetzt schnell zur Treppe und schloß die Eisentür hinter sich; ein Schlüssel steckte nicht.

Im Lehrerzimmer nahm er den Stoß Hefte und wollte nach Hause gehen. Als er mit dem Hut auf dem Kopf die Tür öffnete, stand dort jemand.

«Hopp», sagte Asam, als er auf ihn stieß.

Es war einer von den älteren Schülern. Asam erinnerte sich, ihn bisweilen im Treppenhaus gesehen zu haben, doch zu seiner Klasse gehörte er nicht.

«Was tun Sie denn hier um diese Zeit?» fragte Asam verärgert, weil er sich erschrocken hatte. «Wollen Sie sich bitte äußern –»

Ein halbreifes Gesicht mit dünnen Haaren auf der Oberlippe, ein verstörter Junge vor dem Lehrer.

«Also, was gibts?» fragte er etwas milder. Der andere antwortete nicht. Er hat eine pickelige Haut, und wenn er einen anblickt, blinkert er; sieht aus, als ob er die Nacht nicht geschlafen hätte, dachte Asam.

«Ich wollte Sie sprechen», brachte der Schüler schließlich heraus.

«Mich?»

«Ja – weil ich Sie auf dem Boden gesehen habe.»

«Auf dem Boden? Was tun Sie denn auf dem Boden?»

Der Schüler bewegte die Lider über den trockenen Augen und war bleich.

«Nun gut», sagte Asam, «ich will es nicht wissen.»

Der andere blinkerte.

Asam dachte daran, daß er heute abend mit Else und ihren Eltern zu Abend essen würde.

Er war abwesend und fragte: «Wie?»

Dann wurde er aufmerksam und faßte den Schüler an die Schulter, hielt ihn auf Armeslänge von sich ab.

«Menschenskind, jetzt kommen Sie erst einmal ans Licht.» Der andere folgte gehorsam.

Am Fenster zeigte sich sein Gesicht scheckig. Auf seiner Hose lagen Staubflecken. Also, wenn Sie es mir nicht sagen wollen. Asam wurde nun ungeduldig, weil der Schüler nicht in seine Klasse gehörte. Also, dann kann ich es auch nicht ändern.

«Warum warten Sie hinter der Tür auf mich, wenn Sie nicht reden wollen?» Mit einem Male begann der Schüler trocken zu schluchzen – Asam fuhr zurück –, er schluchzte und hielt eine Faust vors Auge. Aber, sagte Asam, aber. Der Schüler hörte wieder auf. Aber, was ist denn? Der Schüler ist verzweifelt. Na, das hat mir gerade noch gefehlt, dachte Asam, du meine Güte. «Nun reden Sie doch ein Wort.»

Was soll man denn jetzt mit dem Menschen anfangen? Er dachte an den bevorstehenden Abend und seufzte.

«Hören Sie mal zu», sagte er zu dem Schüler, denn es war ihm eingefallen, daß er sich für das Hotel Oberländer umziehen mußte. «Jetzt passen Sie mal auf», er schob den Schüler leicht die Treppe hinunter, ferner mußte noch der dunkle Anzug ausgebürstet werden, und er mußte sich natürlich rasieren. Selbstverständlich, dachte er. «Also passen Sie auf. Sie können hier nicht bleiben, jetzt gehen Sie erst mal nach Hause.» Asam hatte einen Schlüssel und schloß die Schule ab.

«Nicht wahr, nun seien Sie mal vernünftig, na, Kopf hoch, sind doch ein erwachsener Mensch.»

Dann standen sie auf der Straße, und der Schüler sagte nichts. Asam überlegte:

«Wenn Sie wollen, kommen Sie nachher zu mir in die Wohnung, um sechs – sagen wir gegen sechs, ja?» Bis dahin würde er sich umgezogen haben. «Wir besprechen dann alles, nicht wahr», sagte er aufmunternd und stieß den Schüler gegen die Schulter. Na, also. Der Junge nickte und ging unter den Bäumen der Allee davon. Asam sah ihm nach, während er überlegte, ob er das richtig gemacht hatte; aber schließlich – dachte er – gehört der Mensch nicht in meine Klasse. Also.

Die Pension hatte einen ganz besonderen Geruch. Teilweise mochte das mit einer gewissen Ahnungslosigkeit zusammenhängen, die Frau von Selchow hinsichtlich aller Probleme des Haushalts bewies, zum großen Teil aber war das Haus selbst daran schuld; es war so verbaut, daß manche Winkel völlig unzugänglich schienen, zumal im Erdgeschoß, wo ungeheure Schränke den Korridor besetzt hatten. – Von hier aus roch es meist scharf durch das Haus. – Draußen lag ein brauner Streifen Vorgarten mit zwei Hindenburglinden neben dem Eingang. Gleich hinter der Haustür gab es eine zweite weiß gestrichene mit einer Menge Namensschilder. Untermieter. Sorgfältige alte Männer. Mauwef. Strecker. Möller. Vier Klingelzüge von verschiedener Bedeutung. Einmal, zweimal klingeln. Auch «Friedrich Asam» stand dort graviert, hinter dieser Tür roch es dann streng aus den Korridoren, roch nach Hundehalftern, Bohnerwachs, nach Leibwäsche.

Am ersten jeden Monats kam Frau von Selchow selbst, um das Mietgeld zu kassieren.

Asams Zimmer lag im zweiten Stock. Die Tür war teilweise verglast, so daß Licht auf die Treppe fiel, doch hatte man die Scheiben von innen mit Papier hinterklebt, einer Art ornamentiertem Pergament, damit niemand hindurchsehen konnte. Übrigens war dies keineswegs ein Notbehelf, sondern die Scheibe war damals, beim Bau des Hauses vor vierzig Jahren, bereits beklebt geliefert worden, und das Papier klebte noch heute fest wie ein Anstrich. Aus einer Ecke war ein kleines Stück Pergament abgeblättert, so daß Asam durch dieses Loch abends sehen konnte, ob die Toilette besetzt war oder nicht, nämlich beleuchtet oder nicht, und durch dasselbe Loch konnte sich Frau von Selchow morgens – wenn sie kam, um Herrn Asam zu wecken – überzeugen, ob er bereits aufgestanden war. Eigentlich brauchte er sich nicht wecken zu lassen, denn er war ein pünktlicher Mensch, der von selbst aufwachte, aber die Wirtin war es gewöhnt, sich morgens von seinem Aufstehen zu vergewissern.

Asam zog den dunklen Anzug an und bürstete seinen Bart. Dann setzte er sich, nahm ein Buch, versuchte zu lesen, trug mehrere Bücher im Zimmer umher, geriet dabei vor den Spiegel, der ihn im dunklen Anzug zeigte. Nein, sagte Asam, während er sich betrachtete, nun wollen wir doch mal sehen. Schließlich klopfte es.

Else war eine blonde, wohlgeordnete und leidlich hübsche Erscheinung von siebenundzwanzig Jahren. Sie trug ein Kostüm und hatte das Haar nach Luisenart aufgesteckt, doch da ihr Rücken etwas zu lang war, litt der Gesamteindruck an einer störenden Nebenwirkung – so auch jetzt, obwohl nur ihr Vorderteil in der Tür sichtbar wurde. Als es geklopft hatte, sagte Asam «ja», und als Else eintrat, rief er «Else!» aus, während Frau von Selchow von hinten über Elses Schulter blickte.

«Wie denn», sagte Asam, «das ist aber eine Überraschung.» Sie jauchzte ein bißchen, aber das war ihm unangenehm, so daß er vor Frau von Selchow schnell die Tür schloß. Else lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Es dauerte einen Augenblick, bis sie «du Ungeheuer» sagte, dabei hielt sie die Hände flach gegen das Holz der Tür gepreßt und lächelte genauso, wie sie es sich vorgenommen hatte, nämlich wie zurückweichende Frauen zu lächeln pflegen, und sie wich wahrhaftig auch etwas in die Tür zurück. Asam dachte: Das geht nicht, das kann ich nicht.

«Du Ungeheuer», sagte sie; Asam paßte auf, was sie noch sagen würde. Dann setzte sie sich hin, wobei sie sich eine Zigarette ansteckte, sah jetzt sehr gekränkt aus, lächelte aber noch immer in der ihm bekannten Weise, preßte die Lippen zusammen, kreuzte auch die Beine mit den Strümpfen und verbreitete einen leisen Frisörgeruch.

«Daß du nicht ein einziges Mal geschrieben hast, Friedrich!» Es ist noch ärger, als ich angenommen habe, dachte er.

«Friedrich.»

Er sah auf ihr Knie und empfand gar nichts dabei; es ist fleischig, dachte er, aber es ist kein richtiges Fleisch.

Er ging mit den auf dem Rücken verschränkten Händen im Zimmer umher, blieb schließlich vor dem Fenster stehen, welches im Ausschnitt ein Stück Hinterfront des nächstliegenden Straßenzuges zeigte. Als er sich wieder umwandte, begegnete er ihrem Gesicht, das eine ganz außerordentliche Bewegung zeigte. So werde ich sie also heiraten, dachte er.

Später sagte sie: «Friedrich.»

«Ja.»

«Papa hat uns die Etage über Klaasens herrichten lassen, wir dachten, daß dich das vielleicht interessieren würde.»

«In Günzburg?»

«Über Klaasens, ja. Meist cremefarben oder Pastelltöne.»

«Und das Treppenhaus?» fragte Asam.

«Das Treppenhaus nicht. Papa hatte gemeint, im Treppenhaus wäre kein neuer Anstrich nötig.»

«Er will also nicht», sagte Asam.

«Er will es nicht einsehen.» Sie nahm den Glaskasten mit den Insekten auf und stellte ihn wieder hin.

«Wie komisch du wohnst.»

«Ja, ich wohne so.» Er schob den Glaskasten wieder auf den alten Platz und wischte einmal über die Brotbüchse.

«In Günzburg richten wir uns aber ganz neu ein, ach Friedrich.»

«In Günzburg, ja», nickte er.

«Wir können Papa dazu bringen, uns ein Eßzimmer zu kaufen, wenn wir darauf bestehen.»

«Ich werde nicht in Günzburg sein.»

«Warum wirst du denn nicht in Günzburg sein?» fragte sie mit dem Lächeln, das Asam so genau kannte.

Dann fiel plötzlich ihr Gesicht zusammen.

Sie stand in der Mitte des Zimmers, federte nicht mehr, sondern stand kunstlos, und Asam konnte nun deutlich sehen, daß ihre Beine nicht ganz gerade waren.

«Aber – Friedrich.» Sie hatte vergessen, daß sie nicht stehen durfte, ohne ein Bein vorzusetzen. Jetzt wird sie gleich weinen, dachte Asam, gleich verzieht sie die Oberlippe. Man muß etwas dagegen tun, man muß die Hand nehmen, wie war das noch? – Ihre Oberlippe kräuselte sich, sie zog ein Damentaschentuch hervor und weinte.

Vor der Glastür rief die Hausbesitzerin: «Herr Asam, es ist jemand da für Sie», und klopfte gleichzeitig an. Asam, der genau wußte, was er zu erwarten hatte, versuchte, die Tür noch rechtzeitig zu erreichen, ohne allerdings verhindern zu können, daß es Frau von Selchow gelang, die Tür zumindest um eine Handbreit zu öffnen, ehe er seinen Schuh dagegenstellen konnte. Diese Handbreit gab Frau von Selchow nicht auf. Else weinte.

«Wer ist da?» fragte er verbittert, indem er sich so vor den Türspalt stellte, daß Frau von Selchow nicht hindurchsehen konnte.

«Ein junger Mann. Er behauptet, Sie hätten ihn bestellt.»

«Ich habe niemanden bestellt.» Else weinte.

Asam schloß die Tür. Er wußte sich nicht zu bewegen, stand viereckig vor Else und blickte auf sie herab, deren Nacken leicht im Licht flimmerte. Dann werde ich sie also doch heiraten, dachte er.

Er nahm Else bei den Händen und küßte sie durch die Nässe hindurch. Sie ordnete ihr Haar und strich das Kleid glatt.

Asam erinnerte sich plötzlich des Schülers. «Frau von Selchow», rief er, «wo ist der Schüler?»

«Der Schüler ist fortgegangen.» Wirrnis, dachte er, solch eine Wirrnis.

Er bot Else den Arm, und so – er hatte es nicht gewollt – schritten sie in die dämmrige Stadt. Als sie das Hotel Oberländer betraten, sah Asam den Schüler lang, mager und verzweifelt auf der anderen Straßenseite stehen. Über dem Eingang des Hotels hing ein Glasdach, entlang der Straßenfront standen mehrere Kübelbäume, der Abend war bläulich, die Fenster goldgelb, hundert Schritte weiter lag der Bahnhof. Jetzt bewegte sich der Schüler auf der anderen Seite, und Asam wollte ihm ein Zeichen geben, aber gleichzeitig trat Elses Vater mit der Absicht, sich eine Zeitung zu kaufen, aus der Tür; er war nicht darauf vorbereitet, seine Tochter und Asam in diesem Augenblick zu treffen, so trat er also mittelmäßig und etwas träge aus der Tür, und da er sich zuvor längere Zeit mit seiner Frau unterhalten hatte, zeigte er ein abgespanntes Gesicht, welches sich erst verwandelte, als er unmittelbar vor den beiden stand. Da aber wurde er lebendig: Halt. Hahaha, oder es wird geschossen, na da seid ihr ja, wir hatten euch noch gar nicht erwartet. Nun ließ er Asam nicht mehr los, so daß dieser kaum Gelegenheit hatte, dem Schüler kurz zuzuwinken, und er wußte nicht einmal sicher, ob der es verstand.

Der Speisesaal war mit einer Art rotem, in Höhe der Stuhllehnen stark abgewetztem Samt bezogen. Es wurde sehr leise gesprochen. Am zweiten Tisch rechts, hinter einem Aufbau aus Servietten, saß Elses Mutter.

Sie wies Ähnlichkeit auf mit den Ölgemälden, die glatt im Galerieton an den Wänden hingen und auf denen beinfarbene Damen mit hohen Frisuren und glänzenden Busen zu sehen waren. Die Damen an den Wänden trugen weitaufgerissene Dekolletés, höfisch und falsch angesetzte Busen, und Elses Mutter trug ein ebensolches milchiges Dekolleté, wenn auch nicht so groß.

Elses Mutter war gefährlich. Sie war noch heute eine recht schöne Frau, und wenn auch im Laufe der Zeit die unvermeidlichen Mängel, die teigige Kinnpartie, die hängenden Wangen und die Beutel unter den Mundwinkeln aufgetreten waren, so hatte sie sich doch alles Selbstbewußtsein der früheren Jahre erhalten.

Sie saß zart zurückgelehnt, hatte das ganz leichte Lächeln der schönen Frau, der Busenausschnitt erschien unter dem schwarzen Kleid wie eine Crême. Musterte Asam unverhohlen, ob er genehm sei; – ja, Asam war sich dessen völlig bewußt, daß es so war, genau so simpel – ob er genehm sei für das zu kaufende Schlafzimmer ihrer Tochter. Sie war zweifach gefährlich, weil sie ihn schon abschätzte, denn wie nun – dachte er –, wenn sie erst erfährt, daß er durchaus keine ernsten Absichten hatte. Wie nun das?

Ogottogott, dachte Asam, als er die etwas feuchte Hand der Mutter in der seinen hielt.

Der Vater allerdings schien von alledem nichts zu ahnen. Da er nun alle beisammen sah und das rosa Licht des Speisesaales, das sich aus seidenen Tüten ergoß, einen angenehmen Abend versprach, entspannte sich sein Gesicht vollständig. Also, was nehmen wir denn, Pilzsuppe, was meint ihr? Der Ober stand vor dem Tisch und hörte zu. Also Pilzsuppe. Dann Rindersaftbraten, was meint ihr, ich nehme den Rinderbraten, und wie ist es mit Ihnen. Herr Friedrich? Drei Suppen, sagte der Ober, zwei Rindersaft, gemischtes Gemüse, eine Leber, ein Filet. Zum Nachtisch? Eis, sagte Elses Mutter. Also dann bringen Sie Eis. Vier Eis, Vanille.

«Was macht die Arbeit, Herr Friedrich?» Die Pilzsuppe kam. Elses Mutter aß so, daß man es nicht hörte. Beim Braten unterhielt man sich über Elses Geburt.

«Sie wäre beinahe nicht vorhanden.» Der Vater nickte bestätigend, und Elses Mutter nahm noch von der Soße. «Professor Szelnik hatten wir, der war sehr tüchtig. Ach, unser Elschen», sie tätschelte deren Wange und blickte mütterlich auf Asam, als erwartete sie nun sehr viel von ihm. Dann nahm sie noch von der Soße und erzählte, daß Elschen eine hohe Zange gewesen sei.

«Eine hohe Zange, wissen Sie, was das bedeutet?» Er wußte es nicht, konnte sich aber ohne Mühe ein perfides Gerät vorstellen.

«Der Kaiserschnitt ist viel ungefährlicher», dabei nahm sie auf dem Stuhl eine sonderbare Haltung ein – sonderbar steil, wunderte sich Asam –, so daß man sich nun vorstellen konnte, wie solche Zangen gelagert sind. Der Vater schien nicht zugehört zu haben, denn während Elses Mutter noch steil aufgerichtet saß, bestellte er unvermittelt beim Ober ein neues Bier. Sie sah ihn flüchtig an und wandte sich wieder an Asam.

«Mein Professor sagte gleich, sie sei ein so hübsches Kind. Gleich nach der Geburt.»

«Ja, das stimmt», pflichtete Asam bei, der ein wenig Bescheid wußte, «desgleichen ergeben Steißgeburten hübsche Kinder, sagt man. Darf ich vielleicht nochmal die Kartoffeln? Danke sehr.»

Elses Vater lachte lautlos in sein drittes Bier:

«Und ich soll auch so sehr hübsch gewesen sein. Nun müßten Sie aber erst mal meine Frau sehen, als kleinen Nacktarsch auf dem Eisbärfell.» Die sagte: «Wir glauben es dir.» Sie war zusammengerafft, freundlich, und er wurde sofort still. Nach dem Essen setzten sie sich in die Schoppenstube, wo sie einen Weißwein tranken, der vom Ober empfohlen worden war. Asam erinnerte sich an den Schüler vor dem Hotel und entschuldigte sich für einen Augenblick, was von allen Anwesenden verstanden wurde; aber der Schüler stand nicht mehr draußen. Asam hatte schon etwas Wein getrunken, so daß die Straße lauwarm war, er dehnte sich, ging ein paar Schritte: Der Schüler stand nirgends mehr, er mußte fortgegangen sein.

Nachher sprach man über das Leben. «Wenn man es richtig bedenkt», sagte Elses Mutter bedeutsam. «Man wird in die Welt gesetzt und man wächst auf und dann heiratet man» – «– und damit beginnt es», schaltete sich Elses Vater ein. «Konrad», sagte seine Frau liebevoll, sie befand sich jetzt in dem Zustand, in welchem sie ihre ganze Jugend vor sich sah, «Konrad, du tust doch immer nur so. Ich habe dich in fünfundzwanzig Ehejahren –»

«Glauben Sie ihr kein Wort», sagte Konrad zu Asam.

«Deshalb wird mir wohl niemand verbieten, nun sagen wir – ach, Kinder, schließlich sind wir nicht immer so wie heute beisammen.» Nachher weinte sie ein wenig, und Konrad lehnte sich impulsiv zurück und zitierte mit einer Geste, die ihm nur ganz selten gelang, den Ober herbei.

«Also nun bringen Se mal noch eine Flasche Blonsberger Gesell. – Ich will mich, weiß Gott, nicht beklagen», wandte er sich wieder an Asam, «man hat ja auch mal Pläne gehabt, aber heute, wenn ich mich so umsehe!» Er sah sich im Lokal um. «Na, Friedrich, na nun wollen wir mal, was, unter Männern.» Er neigte seinen Kopf nach Asams Seite, so daß dieser jetzt ganz deutlich die vielen kleinen weinfarbenen Äderchen auf seinem Gesicht sehen konnte. «Ein gutes Herz und ein anständiger Charakter, na! Hier meine Hand drauf. Ich heiße Konrad», während in Asam nun eine fürchterliche Ahnung aufstieg – nicht etwa, daß er nicht darauf vorbereitet gewesen wäre,

aber die Ahnung,

die eintretende Gewißheit

nahm zum ersten Male sichtbare Gestalt an, und diese war: rosarot beschirmte Lämpchen an der Wand eines guten Eßlokales gemischt mit unentrinnbarer Bewirtung von anständigen Leuten aus Günzburg mit einer Tochter, die Ende zwanzig und blond und blau und –

«Was?»

Blauäugig, dachte Asam, na und? Asam nannte, nachdem Konrad seinen Vornamen genannt hatte, auch den seinen, sie stießen an und duzten sich von nun an, Asam versuchte, seinerseits eine Weinbestellung aufzugeben. Blonsberger Gesell. «Friedrich!» rief Konrad. Den Wein habe nur er zu bestellen, nee, das gibt es nicht. Warum denn nicht? Dann stießen sie wieder an, stießen diesmal mit den Damen an, kreuzweis die Herren untereinander und die Damen untereinander.

Asam fühlte eine lähmende Enthemmung aufsteigen, als erstes wurden ihm die Lippen prickelnd taub, so daß er die Worte nicht mehr ganz am Zügel hatte. Das ist ja gefährlich, dachte er.

Reichlich satt getränkt.

«Kinder», sagte Elses Mutter, wobei ihre Perlen undamenhaft baumelten, «so schön wird’s nie wieder.» Der Sekt wurde großkalibrig in überzeugenden, silbernen Kübeln herangetragen, ohne daß Asam gewußt hätte, wie es so plötzlich geschehen konnte. Elses Mutter wurde von einem besonderen, wehmütigen Lächeln überzogen. Die Flasche trug eine Serviette um den Hals, als der Kellner mit der linken Hand auf dem Rücken einschenkte, die Lampen leuchteten hoch und festlich,

und jetzt:

Asam hielt das schmale Glas in der Hand, alle standen auf. Dieses, dachte er, ist der Augenblick, jetzt klopft er ans Glas; denn so war ihm das schreckliche Bild bewußt: der Schwiegervater, welcher sich am Kopfende des Tisches erhebt und ans Glas klopft. Die Lampen leuchteten noch immer festlich – oder muß ich etwas sagen? Er wird klopfen und bekanntgeben. Dann sah er vorsichtig in ihre Gesichter und las in ihnen die gräßliche Aufmunterung. Nein. Sie stießen mit den Gläsern an und setzten sich wieder.

Ein älteres Ehepaar ging am Tisch vorbei und nahm in der gegenüberliegenden Sesselnische Platz. Auf der Speisekarte stand oben groß das Wort: HOTEL OBERLÄNDER. Endlich kam das zweite knappe Glas Sekt, und dann war die Flasche leer. Asam ging wie ein Schuft nach Hause.

Am nächsten Morgen fiel ihm Noldes eisiges Gesicht auf. Czibulka war anwesend und Schirrmacher und noch andere, sie aßen ihre Schnitten im Lehrerzimmer.

«Nein», sagte Nolde zu Czibulka, «er ist bisher noch nicht erschienen. Vielleicht kommt er zur dritten Stunde. – Ein Fahrschüler behauptet, er hätte den Süßenblut in einer Kneipe am Bahnhof gesehen, aber auch nur von draußen, und dann war die Scheibe beschlagen, sagt er.»

Asam ging besorgt in seine Klasse, wo bereits die Wandtafel mit dem Käfer aufgehängt war. Er dachte an das Gesicht mit den spärlichen Haaren auf der Oberlippe.

«Also, Exner», sagte er unaufmerksam in die Klasse hinein, «komm nach vorne.» Exner sagte schnell auf, was er gelernt hatte, fürchtend, der Lehrer könne ihm die Strafarbeit abverlangen.

«Ja», sagte Asam, «es ist gut.»

Eine Stunde später übersetzten die Schüler in dem schimmelgrünen Klassenzimmer:

«Wenngleich Caesar die Legaten einberufen hatte, uns –»

«Ja», nickte Asam.

«– konnten sich die Abtrünnigen – die Abtrünni-gen –»

Asam nickte und dachte an den Schüler. Ich hätte, dachte er, ihn nicht fortlassen sollen, denn er wollte sich mir anvertrauen. Das ist gewiß. Er nickte sehr besorgt, als er hörte:

«– daß die Legaten sich nicht zur Aufgabe bewegt fühlten.»

«Ja», sagte er. Der Schüler setzte sich erstaunt.

Am Nachmittag war Süßenblut noch nicht in der Schule erschienen, er sollte aber – und dieses Mal angeblich mit Bestimmtheit – in der Kneipe am Bahnhof gesehen worden sein.

Kurz nach drei Uhr verließ Asam die Schule und begab sich nach Hause. Er dachte: «Es wird sich wahrscheinlich alles einrenken, ohne daß man etwas zu tun braucht.» Der Tag war still und drückend, kein Mensch ging auf der Straße.

«– und mit der Else auch!»

An vier Gullys kam er vorüber, welche er als Meilensteine zählte. Er trat auf einen eisernen Verschlußdeckel, rund, schwer, mit eingelassenem Griff.

Vor einigen Tagen hatte er dort Männer in Arbeitskleidung hineinsteigen sehen, und als er jetzt den Fuß auf diesen Deckel setzte, erschien er ihm wie die Tür zu einer darunterliegenden Welt. Asam schüttelte den Kopf und sagte: So eine Dummheit. Doch ging er noch einmal die zehn Schritte bis zum Deckel zurück und stampfte auf: es klang nicht hohl, wie er wohl erwartet hatte, sondern massiv, dick. Er nickte: Beängstigend, um drei Uhr ist niemand auf der Straße.

Es war heiß, Asam fühlte sich unbehaglich unter dem dicken Anzug. Er durchschritt den Vorgarten und zog den Hausschlüssel heraus. Bevor er jedoch eintrat, hauchte er auf das Messingschild und putzte es mit dem Rockärmel blank. Friedrich Asam.

Oben wartete Else auf ihn. Sie stand, weich im Nachmittagsschatten des Hofes, ans Fenster gelehnt. Heute trug sie ein sehr gefälliges Kleid mit rund geschnittenem Kragen und Blenden, ein geschwungenes Kleid, sorgsam ausgedacht in Günzburg. Gefältelt. Sie löste sich vom Fensterkreuz, um sich Asam zuzuwenden.

Einige Häuser weiter oberhalb – jemand, der sich aus Asams Fenster gelehnt hätte, wäre in der Lage gewesen, die hintere Loggia zu erkennen, da sie etwas in die Gärten vorsprang – stand der Musiker Zachun am Tisch und wartete auf sein spätes Mittagessen; aber da er seine Frau kannte, war er nicht gut gestimmt.

Else lehnte jetzt am Bettpfosten und zeigte ihr geschwungenes Kleid. Er zog das Jackett aus, setzte sich in Hosenträgern auf das Bett, saß nun kräftig, von mittlerer Größe vor ihr und gefiel ihr in diesem Augenblick sehr.

«Du liebst mich nicht.»

«Nein», antwortete er sofort.

Sie sagte: «Wenn du mich nicht mehr liebst, mußt du es mir sagen. Ich muß wissen, ob du mich noch liebst. Manchmal habe ich das Gefühl, du liebst mich nicht mehr. Sag es doch, Friedrich.»

«Doch», entgegnete Asam, «ich liebe dich doch noch.» Sie lächelte wehmütig über die Messingkugel des Bettpfostens hin. Die Kugel – so bemerkte sie – gab in gebogenem Bild das ganze Zimmer wieder: das Fenster, Friedrich, sie selbst, alles. Das empfand sie als Gleichnis und setzte ihre Seele in die Messingkugel. Dann antwortete sie mit einer verneinenden Handbewegung.

Asam dagegen fühlte sich völlig ausgepumpt, er war jetzt fast bereit, alles zuzugestehen.

«Vielleicht sollte es nicht sein», sprach sie leise. Dann schlang sie die Arme um ihn, und er roch ihr gebranntes Haar. Für Else war das eine sehr unbequeme Haltung, da sie sich nicht zu ihm aufs Bett setzen wollte, sich also bücken mußte, um ihn zu umschlingen. Sie weinte. Ihr geschweifter Kragen stand unter seinem Kinn. Ja, dachte er, ja – während er darauf blickte –, ich kann dieser Anmut nicht folgen, diese Art Anmut stößt mich glatt ab. Doch gleichzeitig drückte sich irgendein Verschluß an ihrem Schenkel, ein Strumpfknopf oder etwas derartiges, er wußte es nicht genau, in seinen Unterarm, und dagegen war er nicht unempfindlich. Er stand vom Bett auf und schob sie vorsichtig von sich.

«Ich muß stehen, meine Beine schlafen ein», sagte er höflich.

Sie aber hielt ihn fest – das ist doch nicht wahr, Friedrich. Friedrich – so daß er auch jetzt im Stehen auf den geschweiften Kragen blickte. Sie hatte die Augen geschlossen und begann zu zittern, ein weit angelegtes Zittern, das ganz leicht mit einem Heben und Senken der Brust begann und sich langsam verstärkte. Asam war bestürzt. Wenn er solche Sachen anrichtete, nicht nur das mit Else, auch die Sache mit Süßenblut, der hier ankam und nicht eingelassen wurde und sich jetzt vielleicht totsoff – dann müsse ihn das Schicksal für seine Handlungsweise bestrafen. Als er jetzt Else im Arm hielt, die immer stärker schwankte und schließlich in den Knien nachgab, so daß er ihr ganzes Gewicht trug, hätte er sie am liebsten in einen Sessel gesetzt, jedoch traute er sich nicht, da sie das vielleicht als ein neues Zeichen von Lieblosigkeit angesehen hätte.

Er wußte nicht, daß Else schon in ihren Mädchenjahren die Eltern zuweilen durch Zustände ähnlicher Art erschreckt hatte, sonst hätte er es sicherlich etwas leichter genommen. Er legte sie schließlich auf die Couch, wo sie ausgestreckt mit geschlossenen Augen liegenblieb, noch immer zitternd. Es war nicht so, daß sie nun etwa in regelrechte Krämpfe verfiel. Sie spreizte nicht die Beine, bog weder den Hals noch das Kreuz durch, doch ließ sie keinen Zweifel darüber, daß er etwas angerichtet hatte,

daß ich etwas angerichtet habe.

Er hätte Frau von Selchow rufen können, aber als er sich Frau von Selchows Bemühungen vorstellte, unterließ er das lieber. Er hörte sie unten im Flur mit dem Garderobenständer klappern, fast absichtsvoll, wie ihm schien. Nach einer Weile ließ das Zittern endlich nach, statt dessen verfiel Else nun in ein stilles, strömendes Weinen aus geöffneten Augen. Er stand abseits und wartete. Schließlich näherte er sich ihr, ging unschön durch das Zimmer und sagte: «Else.» Er versuchte, ihren Scheitel zu berühren, aber sie zog den Kopf unter seiner Hand fort. Sie erhob sich, nahm ihre Handtasche und verließ schnell das Zimmer.

Asam war jetzt bereit zu heiraten. Er stand auf der Stelle, hörte Else die Treppe hinabgehen und die Haustür schlagen, blieb noch eine halbe Stunde auf der Stelle stehen, wo er nachdachte und sich im gegenüberliegenden Spiegel ansah. Dann ging er ins Badezimmer im Erdgeschoß, einen muffigen Raum mit Holzlatten für die Füße, einem sehr kleinen Fenster und wenig Licht; in der Tür zum Flur befand sich eine hinterklebte Glasscheibe genau wie in seinem Zimmer. Er zog sich aus und ließ die Brause laufen. Eiskalt über Rücken und Brust, so daß er laut schauderte. Die Hauswirtin kam, er bemerkte es an ihrem Schatten auf der Glasscheibe.

«Ich dusche, Frau von Selchow.»

Sie antwortete nicht sogleich. Dann: «Ich will ja nichts sagen, und ich habe auch nichts gehört, Herr Asam.»

«Wie bitte?»

«Ich will ja nichts sagen», rief sie durch den Lärm der Brause, «aber ich weiß nicht, ob das mit dem Fräulein vorhin richtig war.»

Er stieg auf die Fliesen und stellte das Wasser ab, rot, struppig. Uff, sagte er struppig, er schleuderte die Arme und sprang auf den Fliesen, bis er trocken war. Schließlich fragte er laut:

«Sind Sie noch da, Frau von Selchow?»

Diese stand jetzt auf der Seite und antwortete nicht.

«Na», sagte er, «die ist wohl wieder abgezogen.»

Er hob das Kinn an und streckte die Brust heraus, von der Dampfwolken aufstiegen. Da sein Haar naß war, sah er sehr borstig und grob aus, jedoch nicht grob in abfälligem Sinne, sondern eher wie ein kräftig arbeitender Teufel. Frau von Selchow bewegte sich leicht.

«Wird wohl weg sein», wiederholte Asam, «– die alte Selchow.»

Uhha, rief er in den Hof hinein. Wenn er sich auf den Rand der Badewanne stellte, konnte er gerade bequem mit den Ellenbogen auf dem Fensterbrett liegen.

Inzwischen aber, während Asam in seine Hose schlüpfte und das Hemd anzog, trat einige Häuser weiter der Musiker Zachun in die letzte kurze Phase seines Lebens. Asam stieg zu seinem Zimmer hinauf, warf sich aufs Bett und schlief, während der Musiker Zachun sich erstmalig gegen seine zweite Frau auflehnte, was diese mit Erstaunen, ja mit Bestürzung erfüllte: Zachun weigerte sich in der Tat, das Essen zu sich zu nehmen, das sie für ihn gekocht hatte; er sammelte alle seine Kräfte, um in eine neue Phase seines Lebens einzutreten, das nicht mehr lange dauern würde.

Im Hotel Oberländer sagte Elses Mutter zu ihrem Mann: «Sie hat einen Anfall gehabt.» «Was?» «Sie hat wieder einen Anfall gehabt», sagte sie. «Else», fragte er, «hast du wieder einen Anfall gehabt?» «Ja, Papa.» Sie ängstigten sich.

In dieser letzten Stunde geschah noch viel Bedeutungsloses. Zum Beispiel stand der Schulwart auf der Leiter und versuchte, den glockenförmigen Leuchtkörper über dem Vordereingang zu erreichen. Böttcher ging währenddessen mit zwei Hunden in der Schloßstraße spazieren, und Czibulka zog seine Rasiermesser ab. Es kamen langsame, kleine, weiße Wölkchen auf. In der Schauburg lief vor wenigen Zuschauern der Farb- und Kriegsfilm «Unternehmen Kondor». Vielfältige Kinderschreie in der Badeanstalt.

Asam wachte nicht sofort auf, als Elses Vater in sein Zimmer trat, vielmehr schreckte er erst hoch, als dieser ans Sofa klopfte; kam aus einer dicht bepackten Landschaft und saß plötzlich vor Elses Vater.

«Sie haben mir sicherlich etwas zu sagen», erklärte dieser.

«Nein», sagte Asam verworren, «nein, bestimmt nicht.»

Einige Häuser weiter setzte sich der Musiker Zachun durch. Seine Frau saß allein vor dem Königsberger Gericht am Tisch und war außer sich, er aber trat dürftig, doch entschlossen auf den Balkon hinaus, welcher sehr schmal war und dem Haus oben wie eine Westentasche anhing. Der Fagottbläser stand entschlossen auf seinem Balkon, während seine starke Frau über dem Gericht brütete, das sie selbst gekocht hatte. Sie nahm etwas davon, kaute es, dann legte sie Messer und Gabel wieder hin und schwieg verbissen. Solch eine Ehe war das; nach zwölf Jahren und eine halbe Stunde vor dem Ende.

«Ich bin jetzt weniger dazu in der Lage als je zuvor», erklärte Asam seinem Besucher, «ich kann mich doch nicht zwingen, Sie wollen doch nicht, daß ich mich zwinge.»

«So!»

«Ich mache mir gar nichts vor, aber ich kann nicht, verstehen Sie, etwas aufrechterhalten, von dessen Aufrichtigkeit ich so wenig wie Else und Sie selbst überzeugt bin.»

«Hören Sie, Herr Asam, ich bin nicht gekommen, um mir hier von Ihnen sagen zu lassen –» er verlor den Faden. «Nun, ich nehme an, wenn hier einer sich mit Dreck bewirft, dann sind Sie es», rief Elses Vater. Er schritt zur Tür. Das wollen wir doch einmal abwarten, wir haben ja schließlich auch noch Rücksichten zu nehmen. Ja, wie stellen Sie sich das eigentlich vor, wie? Wer hat denn eigentlich darauf bestanden? Sie haben mich, ach reden Sie doch nicht – Sie haben mich. Was? Ach reden Sie doch nicht. Was hat denn das mit Else zu tun? «Else ist meine Tochter», brüllte er. Asam schüttelte abwesend den Kopf. «Sie gemeiner Mensch», sagte Elses Vater und schlug die Tür zu.

Er straffte seine Weste, hob den Kopf und schickte sich an, davonzugehen. Sie hören noch von mir, so ein gemeiner Mensch. Am Treppenabsatz aber stockte er, mitten im Zorn fiel ihm auf einmal das wahre Unglück ein, und fassungslos kehrte er in das Zimmer zurück.

«Ja», sagte er ohne Aussicht, «so wollen Sie meine Tochter nicht heiraten.»

Asam schwieg traurig, und Elses Vater nickte, als wenn er dafür Verständnis hätte. Er setzte sich müde auf die Bettkante. «Ja, so wollen Sie also doch nicht.» Er nickte und gab Asam die Hand. «So lösen Sie die Verlobung?»

«Ich weiß es auch nicht.»

«Dann muß ich das meiner Tochter, der Else, mitteilen. Das ist so mit der Else.»

«Ich könnte es versuchen.»

«Ja», sagte Elses Vater.

«– mit der Heirat versuchen.»

«Ja», sagte Elses Vater erschöpft, «versuchen Sie es.»

Sie saßen erschöpft voreinander, und beide, jeder auf seine Weise, bemerkten, daß sie sich von dem Geschehenen im Augenblick seltsam wenig, fast nur ganz flach berührt fühlten.

«Ist vielleicht ganz gut so», sagte Asam.

«Ja.»

Es war fast sechs Uhr. Der Schulwart stand auf der Leiter und schraubte die neue Glasglocke fest, Böttcher traf einen Bekannten auf der Straße, ein schneeweißes Wölkchen nahm Schäfchengestalt an.

«Aber es muß nicht gleich heute und morgen sein.»

«Nein», erwiderte Elses Vater.