Der Kratzer - Oliver Ménard - E-Book

Der Kratzer E-Book

Oliver Ménard

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Beschreibung

Ein Serienmörder will Vergeltung. Ein Kommissar kämpft um sein Leben. Zwei Feinde – ein Duell. Oliver Ménard schreibt Thriller fürs Kopfkino: hochspannend und mit filmischer Dichte erzählt. Der Berliner Kriminalkommissar Tobias Dom und die investigative Journalistin Christine Lenève treffen diesmal auf den gefährlichsten Serienkiller ihrer Karriere. Der Kratzer. So nennt die Berliner Mordkommission den Killer, der seine Opfer ausbluten lässt und Nachrichten in ihre Haut ritzt. Vor sieben Jahren ist er Kriminalkommissar Tobias Dom knapp entwischt, nun wird Doms Ex-Frau überfallen und der Name der gemeinsamen Tochter in ihren Oberschenkel geritzt. Der Kommissar bittet die Journalistin Christine Lenève um Hilfe. Gemeinsam folgen sie einer Spur ausgerechnet in jene psychiatrische Anstalt, in der Dr. Lindfeld einsitzt. Und der Psychiater hat mit Christine noch eine Rechnung offen … Ein Thriller für die Leser von Arno Strobel, Max Bentow, Wulf Dorn und Marc Raabe

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Oliver Ménard

Der Kratzer

Thriller

Knaur e-books

Über dieses Buch

Alte Feinde und eine offene Rechnung: der dritte Thriller mit der toughen Berliner Investigativ-Journalistin Christine Lenève

 

Der Kratzer – so nennt die Berliner Mordkommission den Serienkiller, der seine Opfer ausbluten lässt und Nachrichten in ihre Haut ritzt. Vor sieben Jahren ist er Kriminalkommissar Tobias Dom knapp entwischt, nun wird Doms Ex-Frau überfallen und der Name der gemeinsamen Tochter in ihren Oberschenkel geritzt. Der Kommissar bittet die investigative Journalistin Christine Lenève um Hilfe. Gemeinsam folgen sie einer Spur ausgerechnet in jene psychiatrische Anstalt, in der Dr. Lindfeld einsitzt. Und der Psychiater hat mit Christine noch eine Rechnung offen …

 

Für die Leser von Arno Strobel, Max Bentow, Wulf Dorn und Marc Raabe

Inhaltsübersicht

PrologErster Teil: DER KRATZER1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. KapitelZweiter Teil: KORALLEN13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. KapitelDritter Teil: LETZTE TAGE39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel15 Monate späterSieben Wochen späterEin Dank, und noch einer …
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Polen, Stettin, 28. April 2011

Die Jagd näherte sich dem Ende. Das konnte er spüren.

Kriminalkommissar Tobias Dom presste sich auf den feuchten Waldboden. Er durfte nicht entdeckt werden. Nicht jetzt.

Wucherndes Perlgras berührte ihn am Hals, die Halme kitzelten seine Haut, strichen über seinen Adamsapfel. Auf seiner Unterlippe schmeckte er raue Sandkörner, die der Wind in sein Gesicht getrieben hatte. Der Geruch von altem Moos und toten Blättern umgab ihn. Dom streckte die Arme nach vorne und umklammerte die hölzernen Griffschalen seiner SIG Sauer mit beiden Händen. Dunkelbraune Erde klebte an seinen verschwitzten Fingern. Das Gewicht der Waffe erschien ihm schwerer als noch vor einer halben Stunde. Natürlich war das nicht möglich, das wusste er, doch das Gefühl ließ sich nicht vertreiben.

Unten am See stand ein Campingwagen. Dom richtete den Lauf seiner SIG Sauer darauf. Kein Mensch war dort zu sehen. Nur dieses silbrig graue Wohnmobil mit den Milchglasscheiben, das sich in der Abenddämmerung wie ein Koloss aus Metall gegen die Natur aufzubäumen schien.

»Wie lange noch, Tobias?«, flüsterte die Stimme. Dom blickte über seine Schulter. Kriminalhauptmeisterin Karen Weiss, seine Partnerin. Sie schmiegte sich mit ihrem Körper an den Boden und schob sich mit den Ellbogen vorwärts, ein stetes Gleiten. Als sie auf gleicher Höhe mit ihm angelangt war, verharrte sie. Eine Haarsträhne hatte sich aus ihrem streng geflochtenen Zopf gelöst. Karen strich sie sich mit einer schnellen Bewegung aus dem Gesicht. Sie atmete viel zu stark durch die Nase ein, wie sie es immer tat, wenn sie im Angesicht von Gefahr nach Luft hungerte.

Dom blickte über die hohen Grashalme zum Ufer hinab. »Schluss mit der Warterei. Ich geh jetzt rein.«

Durch die Fenster des Campingwagens drang der helle Schein der Innenbeleuchtung. In der purpurnen Abenddämmerung erschien das Licht wie ein Versprechen von Wärme und Sicherheit. Doch der Eindruck täuschte. Im Innern des Wagens hauste eine Bestie. Dom war sich sicher. Er kannte seinen Gegner. Die Handschrift des unbekannten Mörders, die eingeritzten Buchstaben, die er in der Haut seiner Opfer hinterließ, hatten ihm viele Geschichten erzählt – zuerst in Deutschland und nun in Polen. An diesem verlassenen See in Stettin würde die Entscheidung fallen. Dom ließ keinen Zweifel zu, der ihn von seinem Ziel abbringen könnte.

»Wir wissen doch gar nicht, ob er es wirklich ist.« Karen berührte ihn an der Schulter. »Warum bist du dir so sicher?«

Dom ging in die Hocke. »Das tote Mädchen aus Köslin. In der Nähe des Tatortes wurde genau so ein Campingwagen gesichtet. Dasselbe Modell. Das reicht mir.«

Karen schüttelte den Kopf. »Schwarz. Der war schwarz, nicht grau. Und das Ding da unten«, sie deutete mit dem Kinn zum Ufer, »das gehört einer Lehrerin aus Schwerin. Wir haben das doch überprüft. Es gibt keinen plausiblen Anhaltspunkt.«

»Diskutier jetzt nicht mit mir. Bitte.« Jede Sache hatte ein Aber, doch jetzt wollte er nichts von Karens Einwänden hören. Er drehte sich um. Hinter ihm verblassten die Sonnenstrahlen auf einer Waldlichtung, ein heller Kreis, der immer kleiner wurde, bis er von der einbrechenden Dunkelheit verschluckt wurde. »Ich kann ihn fühlen.«

Karen zog ihre Waffe aus dem Holster und visierte das Wohnmobil in vierzig Metern Entfernung an. »Na gut. Du bist der Chef.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dann los.«

Dom erhob sich. Der Sand zwischen seinen Fingerknöcheln rieselte zu Boden. Er griff in seine Hosentasche und stöpselte sein In-Ear-Headset ein. Der kleine Knopf am Kabel gab dem Druck seines Fingers nach. Sofort ertönte ein Rauschen in seinem rechten Ohr. Er sprach ins Mikrofon. »Funkstrecke steht.«

Karen klopfte auf ihr Ohr und hob den Daumen.

Dom nickte ihr zu. Mit kleinen Schritten bewegte er sich im Schatten der Eschen und näherte sich dem Wohnmobil. Unter seinen Schuhen knackten trockene Zweige. Im Vorbeigehen strich er mit der freien Hand über die rissigen Rinden der Bäume. Karen folgte ihm in einem Abstand von zehn Metern.

Fünfzehn Kugeln befanden sich in seinem Magazin. Geschosse, die er nur abfeuern musste, um die Haut dieses Schweins zu durchbrechen und einen Flächenschaden anzurichten. Die Tatortfotos der toten Fünfzehnjährigen blitzten vor ihm auf: ihr zerstörter Körper und ihr starrer Blick, aus dem das Leben entflohen war. In den vergangenen vier Tagen hatte sich Dom dieses Bild immer wieder aufgezwängt. Und er hatte es sofort verdrängt. Er war Polizist, kein Mörder. Seine Wut spielte seinem Gegner nur in die Hände. Das durfte er nicht zulassen.

Scharbockskraut und Taubnesseln strichen über seine Hosenbeine. Schritt für Schritt kam er dem Wagen näher. Da war kein Vogelkreischen. Keine Stimme. Nur das Schlagen der Wellen, das in einem Rauschen ausklang. Der scharfe Aprilwind trieb das Wasser des Dammscher Sees vor sich her. Grashalme beugten sich, Blätter raschelten.

Er lief gebückt auf den Wohnwagen zu. Der Sand am Ufer war locker, der Boden verschluckte das Geräusch seiner Schritte. Vor ihm zeichneten sich die Abdrücke von breiten Reifenprofilen ab, die zu dem Campingwagen führten. Der Wind hatte Teile der Spur verweht. Vielleicht drei, vier Stunden, länger konnte der Wagen hier nicht stehen.

Dom erreichte die dem Wald zugewandte Fahrzeugseite und presste sich mit dem Rücken gegen die Außenwand des Wohnmobils. Die Kühle des Metalls drang durch den dünnen Stoff seines Sakkos. Mit der Hand ertastete er feine Dellen im Aluminium. Unter den Schiebefenstern zeigten sich braune Roststellen und abgeblätterter Lack. Dichte Streifen von Moos zogen sich über die Dachreling. Der Wohnwagen musste mindestens zwanzig Jahre alt sein.

Im Innern war das Brummen eines Generators zu hören. Dom spürte die Vibrationen, die durch das Blech zogen, er atmete den Geruch von Benzin ein. Camper ließen die Stromversorgung nur an, wenn sie sich in der Nähe ihres Fahrzeugs aufhielten. Das hatten ihm seine Großeltern schon als Kind beigebracht, in den Sommerurlauben auf der Insel Fehmarn. Er umklammerte seine Waffe noch fester.

Dom stellte sich auf die Zehenspitzen. Durch die beiden Milchglasscheiben konnte er keine Bewegung wahrnehmen. Doch hinter einem der trüben Fenster zeichnete sich eine dunkle Kontur ab, womöglich die Umrisse eines Menschen, der auf einem Stuhl saß. Aber vielleicht sah er ja auch nur das, was er sehen wollte. Er blickte auf seine Schuhspitzen hinab. Konzentrier dich auf die Fakten. Auf die Fakten und sonst nichts. Er hat dich oft genug in die Irre geführt.

Kurz schaute er sich nach Karen um, die sich im Schatten eines Baumes verbarg. Mit beiden Händen hielt sie ihre Waffe auf den Boden gerichtet. Sie wartete auf sein Kommando. Dom deutete mit ausgestrecktem Zeige- und Mittelfinger auf seine Augen und wies dann zum Ufer. Sofort verlagerte Karen ihre Position und näherte sich im Schutz der Bäume dem See. Von dort aus konnte sie ein größeres Areal überblicken und näher kommende Personen schon aus der Ferne erkennen.

Dom setzte einen Fuß neben den anderen und umrundete das Wohnmobil. Durch die Scheiben des Fahrerhauses blickte er ins Wageninnere. Zwei leere Bierflaschen mit dem Logo eines Leuchtturms und eine sechs Tage alte Bild-Zeitung lagen im Fußraum des Beifahrersitzes. Am Rückspiegel baumelte eine zerfledderte Hawaii-Girlande. Auf dem Armaturenbrett stand eine aufgerissene Packung Käse-Cracker, daneben pappten gelbliche Kekskrümel an der Plastikverkleidung. Hinter den Sitzen hing eine grüne Stoffgardine, die löchrig und mit Flecken übersät war. Sie verbarg die Sicht auf den Wohnraum im Wagen. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Verwahrlosung zeigte sich in jedem Detail, doch das alles war noch kein Hinweis auf den Serienmörder, den Dom im Umfeld des Fahrzeugs vermutete.

Er näherte sich der Wohnwagentür. Sie hing schief im Rahmen und war verzogen. Das Aluminiumblech wies rund um den Drehknauf tiefe Kratzspuren auf. Offenbar hatten sich schon häufiger Einbrecher das Auto vorgenommen. Der ausgeleierte Zylinder bestätigte Doms Vermutung. Er legte seine linke Hand um den Knauf und drehte ihn bis zum Anschlag. Abgeschlossen.

Die Erde vor dem Eingang des Wohnmobils war platt getreten. Die ungleichmäßig geriffelten Profile von zwei Sportschuhen bildeten sich im Sand ab. Größe einundvierzig, kein tiefer Abdruck, abgelaufene Sohlen – der Bewohner des Campingwagens wog nicht viel, wahrscheinlich war er von schmächtiger Statur. Die Spuren führten um den Wagen herum, dann fort von ihm in Richtung Ufer und wieder zurück. Hin und her. Das Durcheinander an Abdrücken ließ keine Rückschlüsse über den Aufenthalt der Person zu.

Noch einmal warf Dom einen Blick durch eine der Milchglasscheiben. Innen regte sich nichts. Ein guter Instinkt brauchte keine Vernunft, selbst wenn Karen da anderer Meinung war.

Er klopfte mit der geballten Faust gegen die Tür. Einmal. Zweimal. Dom stellte sich breitbeinig vor den Eingang, streckte seinen Arm mit der Waffe aus und atmete flach. Wasser plätscherte ans Ufer. Der Wind fuhr durch die Zweige der Eschen, trieb Dom Haarsträhnen vors Gesicht. In der Ferne ertönte der krächzende Ruf einer Schleiereule. Über dem Campingwagen hing eine seltsame Stille, die nur vom sonoren Brummen des Generators gestört wurde.

Dom machte einen Schritt nach vorn und drehte den Knauf bis zum Anschlag. Er rammte seine Schulter gegen die Tür. Das Blech gab dem Druck nach und bog sich im Rahmen. An den Kanten konnte er das Licht im Innenraum des Wagens sehen. Noch stärker. Mehr Druck. Er nahm Schwung und schleuderte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür. Das Aluminium verbog sich, der Riegel brach aus der Verankerung und fiel zu Boden. Die Tür klappte auf.

Das Brummen des Generators wurde lauter. Warme Luft schlug Dom entgegen. Er hörte sein Atmen wie aus weiter Ferne, ganz so, als würde das Geräusch einem fremden Körper entweichen.

Eine gelbe Plastikplane lag ausgebreitet auf dem Boden des Wohnmobils. Dom beugte sich vor. Nein, keine Plane: Da waren Ösen in den Kunststoff eingelassen, durch die sich eine weiße Kordel zog. So sah eine luftleere Schlauchboothülle aus.

Der Geruch von Eisen umgab Dom, metallisch, wie zersetzter Schweiß, und so intensiv, als ob er in seine Schleimhäute eindringen und sie verkleben wollte. Er senkte den Kopf. Da nahm er ein Geräusch wahr, ein unregelmäßiges Tropfen, ähnlich einem lecken Wasserhahn.

Er presste den Lauf seiner Waffe gegen die Brust. Die Schlauchboothülle raschelte unter seinen Füßen, als er den Wohnwagen betrat. Über ihm strahlte eine LED-Leuchtschiene und warf ihr flackerndes Licht in den Raum. Doms Lederschuhe knirschten.

Eine Frau saß vornübergebeugt und mit weit gespreizten Beinen auf einem hölzernen Klappstuhl. Sie war nackt und fast vollständig mit Blut besudelt. Ihr Gesicht zeigte nach unten. Dabei schien ihr Oberkörper zu schweben, als würde er sich der Schwerkraft widersetzen wollen. Ein Rinnsal von Blut verlief in Höhe der Hauptschlagader. Es war über die Brust der Frau geflossen und auf die unter ihr ausgebreitete Schlauchboothülle getropft. Mindestens zwei Liter Blut hatten sich wie in einem Auffangbecken in den Falten der Hülle abgesetzt. Die Frau musste tot sein.

»Das hast du getan. Ich weiß, dass du es warst.« Auf einer Sitzbank lag ein gefaltetes Kleid mit Blumenmuster. Zwei rote Absatzschuhe standen davor. Dom schloss kurz die Augen.

Draußen nahmen die Böen des Windes an Wucht zu und schlugen die geöffnete Tür gegen die Blechwand des Wagens. Auf und zu. Das dumpfe Scheppern erinnerte Dom an den Pendelschlag der Standuhr im Wohnzimmer seiner Mutter. Er zog die Klappe ins Schloss.

Die Sitzbänke im Wohnwagen glänzten speckig. In einem Fliegengitter klebten die Reste toter Insekten. Im Regal daneben reihten sich selbst getöpferte Keramiktassen aneinander. Anti-Atomkraft-Aufkleber mit lachenden Sonnen pappten an den Wänden. Eine Staffelei mit einer kindlich anmutenden Malerei lehnte an der Wand. Die Farbe roch noch frisch.

Dom trat vorsichtig auf das grüne Linoleum, das sich überall dort zeigte, wo der Boden nicht von der Schlauchboothülle verdeckt wurde. Er wollte keine Spuren zerstören, außerdem war es ihm zuwider, durch das Blut zu waten.

Er schob die Waffe in sein Schulterholster und näherte sich dem Stuhl. Die Frau mochte Anfang fünfzig sein. Ihr blondes Haar war kurz geschnitten, ihr Körper von mittlerer Statur. Zweifelsohne war sie die Lehrerin aus Schwerin, auf die das Wohnmobil zugelassen war. Doch da war noch etwas über ihr, ein Flirren in der Luft, das nur für einen Moment sichtbar war und sofort wieder verschwand. Dom legte den Kopf schräg. Aus dieser Perspektive waren ein paar durchsichtige Fäden erkennbar, die sich vom Oberkörper der Frau bis zur Decke spannten.

Er trat von der Seite an den Stuhl heran, zog ein Taschentuch aus seiner Sakkotasche und tippte mit dem umwickelten Zeigefinger gegen einen der Fäden in der Luft: Angelschnur. Dom erkannte acht Angelhaken, die durch die Schulterblätter der Frau gestochen worden waren. Rund um die Einstichstellen befanden sich schwarze Spuren geronnenen Blutes. Die Schnüre verliefen von den Haken in der Haut bis zur Decke hinauf, wo sie an einer metallenen Schiene festgeknüpft waren. Das gesamte Gewicht des Oberkörpers hing an den Widerhaken. Daher also rührte der schwebende Eindruck der Leiche.

Dom beugte sich vor. Auf allen Haken glänzte eine Fettschicht. Der Mörder hatte das Metall mit einer Paste bearbeitet, um es leichter durch die Haut seines Opfers treiben zu können. Die Haken waren fast drei Millimeter breit. Normalerweise wurden damit wohl große Raubfische wie Hechte geangelt. In dem Regal an der Wand lagen weitere Angelrollen. Sicher gehörten sie der Toten, die in stillen Stunden an den polnischen Seen Fische gefangen hatte.

Dom breitete das Taschentuch über seiner Hand aus, formte seine Finger zur Schale und zog das Kinn der Frau zurück. Ihr Oberkörper wackelte hin und her wie eine Marionette. Blut trat aus der Schnittwunde am Hals, lief über seinen rechten Schuh und tropfte von dort auf den Linoleumboden. Die Hauptschlagader war mit einem sauberen, sechzehn Zentimeter langen, vertikalen Schnitt durchtrennt worden. Die unnatürliche Körperhaltung der Frau hatte dafür gesorgt, dass das Blut schneller aus ihrem Körper entweichen konnte.

Die Sprache des Mörders war eindeutig und schnörkellos. Sie folgte einem streng logischen System, das Dom in den vergangenen achtzehn Monaten ausführlich kennengelernt hatte. Er ging vor der Frau in die Knie. Neben dem rechten hinteren Stuhlbein lag eine aufgeklappte Nagelschere. Mit dem Taschentuch hob er die Schere auf. An ihrer Spitze klebte getrocknetes Blut.

Doch das Wort fehlte noch. Immer wieder das verdammte Wort. »Wo ist es? Wo hast du es versteckt?« Niemals würde der Mörder sein Opfer ohne das Wort zurücklassen.

Dom hasste es, dem Regelsystem eines Wahnsinnigen zu folgen, auch wenn es sein Job war. Es fühlte sich an, als hätte ihn der Unbekannte in all seiner Überlegenheit dazu erzogen, bei seinem Spiel mitzumachen.

Dom legte die Schere an ihre ursprüngliche Stelle zurück und prüfte den Körper der Toten: Brust, Oberarme, Rücken und Schulterpartie – keine Spur von dem Wort. Doch an der Innenseite des linken Oberschenkels hatte sich das Blut ungleichmäßiger verteilt. Er fuhr mit dem Taschentuch über die Haut der Frau. Das Tuch sog sich voll mit Blut, ein tiefroter Fleck, der sich ausbreitete und die letzten Reste Weiß verschluckte. Das Bindegewebe der Toten wirkte am Oberschenkel wulstig und aufgequollen. Dom konnte die scharfen, eckigen Schnittwunden unter seinen Fingern fühlen und nahm das Taschentuch fort. In der zerstörten Haut erhoben sich eingeritzte rote Linien, ungefähr einen halben Zentimeter tief. Sie formten das Wort: Heimweh.

Was wollte ihm der Mörder damit sagen? Vielleicht sehnte er sich zurück nach Deutschland, um dort weiter zu töten. Oder er fühlte sich in Polen verloren. Vielleicht war es auch nur ein Gefühl des Opfers gewesen, das sich dem Mörder mitgeteilt hatte. Fragen, immer diese gottverdammten Fragen.

Dom drückte den Knopf am Mikro seines Headsets. »Er ist es. Wir haben eine Tote mit aufgeschlitztem Hals und seinem Wort. Eindeutig seine Handschrift.«

In der Klangkulisse seines Ohrsteckers rauschte es. Karen sog scharf die Luft ein. »Dann hast du also recht gehabt. Ich mache mich auf den Weg.«

»Nein, Karen. Warte. Wir halten unsere Positionen. Gib den Polen Bescheid. Ich schaue mich hier noch um.«

»Verstanden. Und, Tobias …?«

»Ja?«

»Sei vorsichtig.«

Das Rauschen in Doms Ohr brach ab. Er strich die Knopfleiste seines Hemdes gerade. Sein Nacken schmerzte, was eine Folge der langen und unbequemen Observation auf dem Waldboden war. Er atmete tief durch und streckte sich. Ein runder Gegenstand auf der Sitzbank fiel ihm ins Auge. Eine Schneekugel. Sie lag auf einem der abgewetzten Polster.

Er ging vor der Kugel in die Hocke. Unter dem Glas war ein Haus zu sehen, das von blattlosen Bäumen umgeben war. Davor stand ein Mädchen mit nach oben gereckten Armen. Der Mund des Kindes stand weit offen, als würde es einen Jubelschrei ausstoßen. Dom zog ein frisches Taschentuch aus seinem Sakko und hob damit die Kugel dichter vor seine Augen. Herbst stand in goldener Schreibschrift auf dem zerkratzten Sockel. Er schüttelte die Kugel, und sofort erhoben sich gelb-braune Blätter und wirbelten durch die Landschaft unter dem Glas. Eine kindlich anmutende Melodie setzte ein. Dom brauchte drei Sekunden, um in dem Geklimper Beethovens Für Elise zu erkennen.

Er drehte die Kugel. Auf der Rückseite des Glases befanden sich zwei Finger breite Blutschlieren. Der Abstand zum Opfer betrug zwei Meter. Während des Tötungsprozesses konnte das Blut unmöglich auf die Rückseite des Glases gespritzt sein. Der Mörder musste die Schneekugel während oder nach der Vollendung seiner Tat in der Hand gehalten haben. Die Schlieren stammten wahrscheinlich von seinem Zeige- und Mittelfinger.

Dom legte die Schneekugel zurück auf die Sitzbank. Die Musik verstummte mit zwei ausklingenden Akkorden.

Vorsichtig tippte er mit der Schuhspitze gegen die Schlauchboothülle am Boden. Die Leiche der Lehrerin und das Blut ließen sich damit auf einfache Weise entsorgen. Der Mörder wollte das Wohnmobil weiter benutzen, sonst hätte er nicht so viel Sorgfalt darauf verwendet, keine Spuren zu hinterlassen. Das Schwein hatte seine Rückkehr geplant, zurück zu dem Wagen und der Toten. Doch jetzt war er hier. Er würde warten, egal, wie lange, tagelang, wenn es sein musste.

Der Stecker in seinem Ohr knisterte. »Ein Mann kommt auf den Wagen zu. Entfernung vierzig Meter. Keine Waffen erkennbar.«

Vierzig Meter. Doms Vermutung wurde zur Wahrheit. Er drückte die Sendetaste für das Mikrofon. »Position halten«, flüsterte er. Eine falsche Bewegung, und sie flogen auf. Das könnte er sich nie verzeihen.

Dom zog die SIG Sauer aus seinem Schulterholster und baute sich hinter der Tür auf. Er umklammerte die Griffschalen seiner Waffe. Mit geschlossenen Augen horchte er in seine eigene Stille hinein. Die Lautlosigkeit beruhigte ihn, gab ihm Kraft. So hatte er schon als Heranwachsender gegen sein Asthma gekämpft, wenn Aufregung und Atemlosigkeit ihm die Muskeln verkrampft hatten.

»Dreißig Meter.« Karen reihte die Silben wie mechanisch aneinander.

Nur eine lächerlich kleine Entfernung trennte Dom von dem Unbekannten. Nach all den Monaten der Jagd kam ihm diese Vorstellung so unwirklich vor, als würde er sich bei seinem Einsatz aus der Distanz beobachten.

»Noch zwanzig Meter.« Trotz des elektronisch verzerrten Klangs konnte er den gepressten Tonfall in Karens Stimme vernehmen.

Vielleicht noch fünfzehn Sekunden, dann würde, wer immer sich dort draußen dem Wohnwagen näherte, in den Lauf seiner Waffe blicken. Gleich war es vorbei. Nur noch einen Moment.

»Verdächtiger bleibt stehen. Abstand zehn Meter.« Es knackte im Ohrstecker. »Der ist wie erstarrt.«

Dom hielt die Luft an. Keine Bewegung, kein Geräusch. Er hatte es vermieden, dass er im Licht der LED-Lampe verräterische Schatten warf, die von außen durch die Scheiben zu erkennen waren. Die Tür zum Wohnwagen hatte er geschlossen. Auf zehn Meter Entfernung fiel der lädierte Riegel in der Abenddämmerung nicht auf. Das Gleiche galt für seine Spuren im Sand. Die Fußabdrücke auf der Uferseite befanden sich so dicht am Fahrzeug, dass sie nur aus nächster Nähe zu bemerken waren.

»Der Typ steht noch immer an derselben Stelle. Jetzt schaut er sich nach allen Seiten um.« Die Verbindung wurde durch ein Knistern gestört. »Tobias, der hat vielleicht irgendwas gemerkt. Soll ich …?«

»Position halten. Unbedingt«, antwortete er schnell. »Ich gehe raus.«

Dom riss den Stecker aus seinem Ohr. Karen war ein vorsichtiger Mensch. Sie wollte verhindern, dass er auf eigene Faust handelte, bevor sie selbst das Wohnmobil erreichte. Aber das war der falsche Zeitpunkt für Einwände und Bedenken.

Er warf sein Haar nach hinten, drückte den Rücken durch und atmete tief ein. Mit dem rechten Fuß trat er die Tür des Wohnmobils auf. Blech knallte auf Blech. Die Wagenwände vibrierten. Dom sprang mit erhobener Waffe nach draußen.

Seine Füße versanken ein paar Zentimeter im Sand. Der Himmel hatte eine blaugraue Färbung angenommen, die ersten Sterne zeigten sich am Firmament. Die Luft roch nach Algen und süßlich faulem Moder. Der Mann, der Dom in einem Abstand von zehn Metern gegenüberstand, hielt eine Angel und einen Eimer mit Fischen in den Händen. Er ließ beides fallen. Zwei silbrig weiße Aale zappelten auf dem Boden, sie warfen sich hin und her und wühlten den Sand auf. Der Unbekannte trug einen wuchernden Vollbart und eine runde Brille mit dünnem Drahtgestell, die einen Großteil seines Gesichts verbargen. Sein blondes Haar war zu einem Zopf gebunden. Er mochte sechzig Kilo schwer sein und war vielleicht ein Meter zweiundsiebzig groß. Die Schnürsenkel seiner blauen Sportschuhe waren offen. Auf seinem T-Shirt prangte ein Logo von Black Sabbath. Dom konnte das Alter des Mannes nicht bestimmen. Er hätte Mitte zwanzig oder Ende dreißig sein können.

Breitbeinig stand er vor Dom und schaute ihm direkt ins Gesicht. Nach fünf Sekunden senkte er den Blick und trat mit seinem rechten Schuh auf den Kopf eines sich windenden Aals. »Ich mag … das nicht, dieses … Rumgezappel.« Seine Stimme klang rau, aber freundlich, nur die langen Pausen verliehen seinen Worten eine unterschwellige Bedrohung. Sicher plante er ein Spiel auf Zeit. Der Fisch wand sich unter seinem Schuh. »Ich kann es nicht … ausstehen.« Er drückte das Knie durch. Ein Knacken ertönte. Der Aal zuckte dreimal, dann verebbten seine Bewegungen im Sand.

Dom ging dem Fremden entgegen. Mit der Waffe zielte er auf seine linke Brustwand.

Der Mann presste seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. »Kommissar Dom«, sagte er mit einem überraschten Unterton, als habe er ihn eben erst bemerkt. »Hatten Sie ’ne schöne Anreise?« Er schob beide Hände in die Taschen seiner Cordhose. »Ist ziemlich ungemütlich hier, oder? Ich hab’s mir irgendwie hübscher vorgestellt.«

Dom machte vier Schritte auf ihn zu. »Hände hoch, sofort!«

Der Mann schüttelte den Kopf. »Und wenn nicht?« Seine Zunge blitzte zwischen den Zähnen auf. »Nieten Sie mich dann einfach um?« Er zog beide Hände aus den Taschen und richtete Zeige- und Mittelfinger wie zwei Pistolenläufe auf seine Stirn. »Bamm.« Seine Augenbrauen hoben sich. »Einfach so, und der Fall ist erledigt?«

Die Fingerkuppen des Mannes wirkten heller als der Rest seiner Haut. Ein Teil des kleinen Fingers an der linken Hand fehlte.

Dom ging einen weiteren Schritt auf ihn zu. Er spürte das Gewicht seiner Waffe noch deutlicher als zuvor. Zwei Meter trennten ihn von dem Fremden. Er war von zierlicher Statur. Seine schmalen Hände und dünnen Arme passten nicht in Doms Vorstellung von einem Serienmörder. Aber er war es. Das tote Mädchen blitzte vor ihm auf, durch seinen Kopf rauschte die Wut. »Ich schieße dir erst ins rechte Knie und dann ins linke. Ich höre mir an, wie du schreist. Und dann, erst dann, lasse ich dich von der Policja abführen.«

Der Mann zog die Brauen zusammen. »Schreie mag ich auch. Ich liebe es, wenn sie schreien. Das klingt immer so natürlich, als seien sie nur dafür geschaffen. Irgendwie ursprünglich … so echt.« Er deutete auf das Wohnmobil. »Die Alte da drinnen war nicht übel. Hat mehr gewinselt als die Kleine aus Köslin. Hätte ich nicht gedacht. War aber ’ne angenehme Überraschung.« Er schob seine Brille das Nasenbein hinauf. »Muss wehtun, wenn man als Polizist so versagt hat wie Sie.« Seine Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Habe ich Ihnen wehgetan, Herr Kommissar? Oder haben Sie’s auch ein bisschen genossen?«

Genug. Dom sprang nach vorn. Er schlug den Waffenlauf gegen die Stirn des Mannes. Der kippte nach hinten, knallte mit dem Rücken auf den Boden. Dom setzte sich auf seine Brust und presste mit den Knien die dünnen Arme in den Sand.

Eine Welle wurde ans Ufer gespült. Sie lief in einem Rinnsal aus und berührte Dom an den Unterschenkeln. Der Wind trieb einzelne Tropfen Wasser in sein Gesicht. Er steckte die Waffe ins Holster und schlug zu. Das Brillenglas splitterte. Eine Augenbraue platzte auf. Wieder schlug er zu. Erst mit der rechten Faust, dann mit der linken. Immer wieder. Blut schoss aus den Mundwinkeln. Ein Schneidezahn brach. Aber das Lächeln in dem Gesicht blieb.

Dom holte mit der rechten Faust weit aus, da wurde sein Handgelenk von hinten gepackt. Er fuhr herum und blickte in Karens Gesicht. Zwei tiefe Falten zogen sich über ihre Stirn.

»Es reicht, Tobias. Es ist gut. Das will er doch nur. Erkennst du das denn nicht?« Sie packte sein Handgelenk noch fester. Ihre scharfen Fingernägel bohrten sich in seine Haut. »Wir haben ihn. Es ist vorbei.«

Dom sah einen blutverschmierten Klumpen unter sich, eine fleischige Masse mit zwei Lippen.

»Es ist erst vorbei … wenn ich tot bin.« Die Stimme des Mannes brach. Speichelfäden hingen an seinen Zähnen. »Erst, wenn ich tot bin. Das wissen Sie doch …«

Dom legte den Kopf in den Nacken. Über ihm stand Jupiter mit seinem ruhigen Licht am Firmament. Da waren keine Wolken am Himmel, nur völlige Klarheit. Er fuhr mit der Hand über die Waffe in seinem Holster. Es würde eine stille Nacht werden.

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Erster TeilDER KRATZER

1. Kapitel

Bernau bei Berlin, heute

Der Rappe stieß seinen Atem durch die Nüstern. Wie Nebel stieg die warme Luft in die Höhe und verschwand zwischen den schneebeladenen Zweigen der Buchen. Jasmin blickte den Schwaden nach. Die Lederzügel lagen schwer in ihren Händen. Sie verlagerte ihr Gewicht nach rechts und galoppierte durch das Unterholz des Waldes. Schnee fiel auf ihr Haar. Sie trug keine Handschuhe, weil sie das feuchtwarme Fell des Pferdes spüren wollte. Jasmin beugte sich vor und atmete den Geruch von Schweiß ein, den Timmi verströmte.

Sie liebte die Ausritte nach Einbruch der Dunkelheit. Am Tag nahm sie die Geräusche im Wald kaum wahr, das Knacken und Rauschen der Zweige und den würzigen Geruch der Erde. Im Dunkeln erlebte sie alles intensiver, vor allem sich selbst. Nach jedem Ausritt war ihr Kopf klarer, befreit von den Eindrücken einer kräftezehrenden Großstadt. Ihre Sorgen und Probleme wurden hier draußen mit jeder Minute kleiner.

Eine Frau mit Mitte dreißig sollte nicht schon die erste Scheidung hinter sich haben, sagte ihre Mutter immer wieder. Zu spät, Mutti. Ehe kaputt, Zoff mit dem Ex und dazu jede Menge Ratschläge von allen Seiten. Wie sehr sie all diese Klugscheißer nervten, die das Ende ihrer Beziehung schon kommen sahen, bevor sie den Ehering über ihren Finger gestreift hatte. Jasmin brauchte die Ausritte in der Nacht und den schnellen Galopp ihres Pferdes, weil sie all ihren Ärger vergessen machten. Zumindest bis zum nächsten Morgen.

Sie passierte eine Lichtung, zog den Kopf unter einem ausfächernden Ast ein und touchierte Timmi mit ihrer Gerte. Seine Hufe verfielen in einen schnellen, dreitaktigen Rhythmus. Der Schnee dämpfte das Getrappel. Sie galoppierte über eine Obstwiese. An den Kronen der Apfelbäume glitzerten Eiskristalle, die Wiese lag ruhig in der Dunkelheit. In der Ferne leuchteten elektrische Laternen an der Scheune.

Nur noch einhundert Meter.

Jasmin setzte sich im Sattel aufrecht und presste ihre Waden gegen die Flanken ihres Rappen, bis er langsamer wurde und vor dem zweiflügeligen Scheunentor aus Eiche zum Stehen kam.

Sie stieg aus den Bügeln und strich über den weißen Fleck auf seiner Stirn. »Bist ein Braver, Timmi.«

Er hob den Kopf und schnaubte.

Jasmin drehte den Scheunenschlüssel im Schloss und zog die rechte Seite des Tores an dem schweren Eisenring auf. Die Stallgasse mit ihren Verschlägen zeichnete sich nur konturenhaft in der Dunkelheit vor ihr ab. Sie zog Timmi am Zügel hinter sich her und passierte aufgetürmte Strohballen und Heubündel. Das Tor fiel hinter ihr zu.

Der Geruch von Gras und Kräutern hing in den Pferdeboxen. Jasmins Stall lag unweit vom Eingang. Sie ertastete einen Schalter neben dem Sicherungskasten, und das gedimmte Nachtlicht unter dem Dach der Scheune flackerte auf. Der rote Schein fiel auf die Boxen neben dem Tor.

Zwei Schimmel standen in ihren Holzverschlägen. Als Jasmin an ihnen vorbeiging, neigten sie ihre Köpfe und legten die Ohren an. Sie erreichte ihre Box, schob den Querriegel nach oben und zog das Gatter auf.

Timmi ging im Schritt in seine mit Stroh gedeckte Stallung. Jasmin öffnete den Ledergurt unter seinem Bauch, lockerte Kehlriemen und Reithalfter und legte das Zaumzeug zusammen. Ein Rascheln drang vom anderen Ende der Scheune zu ihr. Doch in diesen Verschlägen befanden sich keine Pferde.

Sie lauschte in die Dunkelheit. Draußen vor dem Stall wehte ein leichter Wind, der die Laternen zum Schaukeln brachte. Sie knirschten in ihren Fassungen. Die Äste eines Baumes schlugen gegeneinander. Neben sich hörte sie Timmis flaches Atmen.

Wahrscheinlich war es eine Krähe gewesen. Die Vögel suchten vor dem eiskalten Winter oft Zuflucht im Stall. Manchmal hatte Jasmin sogar für die Krähen Fettfutter und Erdnussnetze draußen in den Bäumen auf der Wiese aufgehängt.

Sie legte das Zaumzeug auf den Boden und nahm einen Striegel aus ihrem Putzkasten. Mit kreisenden Bewegungen zog sie die Drahtbürste über Timmis Rücken und entfernte Erde, Blätter und lockere Haare. Die Borsten kratzten über die Haut des Rappen. Auf und ab. Die Gleichmäßigkeit ihrer Handbewegungen entspannte Jasmin. Sie holte tief Luft.

Der helle Streifen an ihrem Ringfinger war selbst im dämmrigen Licht der Scheune gut sichtbar. Wie seltsam. Nach acht Monaten Trennung und einem sonnigen Urlaub in Sri Lanka wehrte sich ihre Haut noch immer dagegen, die Spuren ihrer Ehe zu vertreiben.

Der Grund für deine Scheidung liegt in der Eheschließung. Ihr Vater hatte das immer wieder mit der Vehemenz eines Starrsinnigen betont. Du bist doch Neurowissenschaftlerin, da wirst du doch wissen, dass irgendwelche Botenstoffe dir das Hirn vernebelt haben. Da lief so ein Hormonterror in deinem Kopf ab, anders kann ich mir deine Beziehung mit diesem Mann nicht erklären.

Liebe war nur Chemie – oder auch nicht. Einhundert Milliarden Nervenzellen ließen sich nicht so einfach austricksen. Jahrelang hatte ihr Vater über Jasmins Ehe doziert, geschimpft und geflucht, während ihre Mutter mit sanften Bewegungen über seinen Handrücken strich, um ihn zu beruhigen. Was für ein Aufruhr im Hippie-Haushalt des Lehrerehepaars. Und nun war alles vorbei.

Jasmin lächelte bei dem Gedanken an ihre Eltern und fuhr durch Timmis Mähne, die rau wie Stroh in ihrer Handfläche pikste. Durch den Lichtfirst im Scheunendach fielen die Strahlen des Vollmonds. Immer wieder schoben sich Wolken am Himmel entlang und nahmen dem kalten Schein seine Kraft.

Etwas knisterte links von ihr, weit entfernt. Es war kein Scharren von Hufen, das immer ein wenig wie der dumpfe Schlag eines Holzhammers klang, sondern ein Geräusch, das einem fegenden Besen ähnelte.

Jasmin legte die Drahtbürste ins Stroh. Sie beugte sich vor, bis sie den Stallgang überblicken konnte. Timmis Schweif raschelte. Niemand zu sehen.

Um diese Uhrzeit hielt sich kein Mensch auf dem Gelände auf. Nicht einmal Axel, der Stallwirt, war jetzt noch unterwegs. Für seinen 450-Euro-Job erledigte er ohnehin nur die nötigsten Arbeiten.

Jasmin kannte alle Geräusche im Stall: das Knarren des Holzes im Winter, das Atmen der Pferde, das Gluckern in den Wasserleitungen – doch dieses Knistern passte nicht hierher.

Jasmin ging in die Knie. Sie blickte durch die Holzlatten in die benachbarten Stallungen. Das schwache Licht drang kaum bis auf den Boden vor.

»Hallo?«, rief sie und drehte sich dabei auf ihren Stiefelabsätzen um. Das Stroh unter ihren Schuhen raschelte, doch die übrigen Stallungen lagen friedlich vor ihr. Niemand antwortete. Sie war allein in der Scheune mit den Pferden.

Jasmin schüttelte den Kopf. Sie musste endlich ruhiger werden. Selbst hier draußen, in der Stille des Stalles, ließ sie sich von ihrer Stressspirale gefangen nehmen.

Timmi blähte die Nüstern und beugte den Kopf zu ihr hinab. Sie spürte sein Maul an ihrem Haar und musste lachen. »Klar, so eine Gelegenheit lässt du dir nicht entgehen, was?« Sie erhob sich und strich über Timmis Nüstern. »Alter Gauner.«

Mit Sattel und Zaumzeug lief sie zur Stallkammer. Durch die Glasscheibe in der Tür zeichneten sich die Konturen der Trensen-, Gerten- und Helmhalter ab. Mit Ausnahme ihrer eigenen Ausrüstung waren alle Plätze belegt. Sie nahm einen Schlüssel von dem verrosteten Haken an der Wand und öffnete die Tür. Als sie den Sattel auf eine hölzerne Stange hieven wollte, hörte sie ein Klicken.

Das Licht ging aus. Dunkelheit legte sich über die Scheune. Nur das Geflimmer der Laternen fiel durch die Fenster. Schemenhaft lag der Stall vor ihr. Der Sicherungskasten. Eine der Zellen musste ausgefallen sein.

Sie legte Sattel und Zaumzeug ab. Die eisernen Steigbügel klirrten auf dem Boden. Jasmins Stiefel knirschten, als sie einen Schritt in Richtung Ausgang machte. Sie tastete sich durch den Türrahmen, fühlte das rissige Holz unter ihren Fingern und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen, bis sie im Stallgang stand.

Schritte kamen von rechts, wurden lauter, waren ganz nah. Der erste Schlag traf sie an der Wange, der zweite unter ihrem Brustbein. Jasmin torkelte rückwärts in die Stallkammer, suchte Halt und griff nach den Gestängen an der Wand.

Nein! In ihrem Kopf dröhnte ihr eigener Schrei. Du darfst nicht stürzen. Ihr Körper ignorierte den Befehl. Sie krümmte sich und krachte mit dem Bauch auf den Boden. Der Aufprall wurde durch ihre dicke Daunenjacke gedämpft. Vor ihren Augen tanzten flirrende Punkte.

Jemand fuhr ihr mit der Hand ins Haar, riss ihren Kopf hoch. Ein Tritt in ihr Rückgrat, so hart, dass sie auf den Boden geschleudert wurde. Jasmin wollte sich mit den Händen abstützen, sich unter dem schweren Fuß seitlich fortrollen.

»Die kleine Sau will kämpfen?« Die Stimme gehörte einem Mann. Der Druck des Fußes auf ihren Rücken nahm zu. »Sau, Sau, Sau …«, sagte er ganz leise.

Der Tonfall ihres Angreifers war eindringlich, ohne Schwankungen in den Tonhöhen, kein Zittern oder Zaudern. Sie kannte den Mann nicht und hatte niemals zuvor seine Stimme gehört. Auf keinen Fall arbeitete er hier oder ritt mit einem der Pferde aus. Wohl ein Obdachloser, der hier Unterschlupf gesucht hatte.

»Wollen … Sie … Geld? Bitte … in meiner Jackentasche.« Jedes Wort tat weh. Ihre Lunge brannte. Der Tritt in den Rücken schmerzte noch immer.

Statt einer Antwort packte sie der Mann noch fester an den Haaren. Er bückte sich und hob mit der freien Hand ihr Zaumzeug auf. Das Leder der Zügel spannte sich um ihren Hals, schnitt in ihre Haut und würgte sie. Er band die Riemen hinten an ihrem Nacken zusammen. Jasmin wurde an den Zügeln über den Boden geschleift. Auf allen vieren musste sie dem Mann folgen. Stroh und Erde verfingen sich in ihrem Gesicht. Sie riss den Kopf zurück, stemmte sich gegen die Zügel, spreizte die Knie. Wehr dich. Mit den Fingern suchte sie Halt am Boden. Die Strohballen, die Halterungen mit den Futtertrögen – ihre Hände griffen ins Leere. Der Ruck an den Zügeln war hart und schnell. Der Mann riss ihren Körper in die Höhe.

»Glaubst du wirklich, du kannst dich hier mit ein paar Euro rauskaufen?« Er zerrte an den Riemen. »Du hast es wohl noch nicht kapiert. Ich mache mit dir, was ich will.« Langsam zog er die Zügel über seiner geballten Faust zusammen und verkürzte den Abstand zwischen sich und Jasmin.

Der Geruch verschimmelter Erde drang aus seiner Kleidung. Er beugte den Kopf zu ihr hinab. Vorbeiziehende Wolken gaben den Mond frei. Kalt und aschgrau fiel der Schein durch den Lichtfirst. Der Mann hatte eine Schiebermütze mit breiter Krempe tief ins Gesicht gezogen. Er trug eine Brille mit großen runden Gläsern. Jasmin bemerkte die Grübchen um seine Mundwinkel, in ihnen lag ein Anflug von Lächeln.

»Wir müssen die Balance wiederherstellen. Kapierst du?«

Sie kapierte gar nichts, und er erwartete wohl auch keine Antwort. Für einen Mann, der auf der Straße lebte, erschien er Jasmin zu stark. Und ein ertappter Einbrecher wäre einfach geflohen. Sie fand keine Erklärung für sein Auftauchen in der Scheune.

Er zog seine Mütze noch tiefer ins Gesicht und schüttelte den Kopf. »Armseliger, kleiner Mensch.« In seiner Stimme klang Enttäuschung mit, wie ein abschließendes Urteil, das er gerade über sie gefällt hatte.

Er zerrte sie zu einer leeren Pferdebox, direkt gegenüber von Timmis Stall. Mit einer Hand packte er sie am Hals und drückte sie mit dem Rücken gegen die Stallwand. Er zog die ledernen Riemen um ihren Hals durch die Zwischenräume der Latten. Ihr Hinterkopf schlug gegen das Holz. Das Leder knirschte in der Faust des Mannes. Er verknotete die Enden auf der Rückseite der Bretter. Jasmins Hals wurde zusammengepresst. Sie schob ihre Fingerspitzen unter den Riemen, wollte sich Luft verschaffen. Doch der Mann bemerkte den Widerstand und riss ruckartig am anderen Ende des Zügels. Jasmins Kehlkopf knackte.

Zu Hause wartete niemand auf sie. Mit ihren Eltern hatte sie erst vor ein paar Stunden telefoniert. Zu so später Stunde ritt niemand mehr die Pferde aus. Was immer der Fremde mit ihr vorhatte, er konnte seinen Plan ungestört ausführen.

Hitze stieg in ihr auf. Ein Kribbeln setzte in den Füßen ein. Sie saß auf der Erde, streckte die Beine weit von sich und schob ihren Rücken an den Holzlatten ein Stück hinauf. Die Absätze ihrer Stiefel rutschten vom Boden ab. Die Erstickungsgefühle ließen nicht nach. Je mehr sie sich verrenkte, desto härter schnitt das Leder in ihren Hals. Jasmin wollte schreien, doch ihre Zunge lag schwer und unbeweglich in ihrem Mund. Sie war ihm hilflos ausgeliefert.

»Wir bringen alles wieder ins Gleichgewicht«, flüsterte die Stimme hinter ihr. »Der Kreisel muss sich drehen, damit er nicht umfällt.«

Das Stroh knackte unter seinen Schuhen, als er vor die Pferdebox trat. Er ließ seinen Blick über Jasmin gleiten, betrachtete sie wie einen komplexen Versuchsaufbau in einem Chemielabor. Wenn er mit seinem Experiment begann, hatte sie ihm nichts entgegenzusetzen.

Durch die spinnenverwobenen Fenster der Scheune leuchtete der Schnee. Timmi stieß Luft durch die Nüstern. Aus den Boxen der beiden Schimmel drangen scharrende Hufgeräusche. Der Fremde trug einen dunklen Mantel, der ihm bis zu den Knien reichte. Klobige Schuhe lugten unter dem Saum seiner Hose hervor.

»Ich kann in deinen Kopf sehen.« In seiner Stimme lag keine Aggression, nur Gelassenheit. Jasmin konnte nicht glauben, dass so derselbe Mann sprach, der sie gerade mit Gewalt durch den Stall gezerrt hatte.

»Ist eigentlich lustig, Jasmin, wo doch sonst du diejenige bist, die in den Hirnen ihrer Patienten herumwühlt.«

Er kannte ihren Namen und wusste, dass sie Neurologin war. Das konnte nur eines bedeuten: Der Mann hatte sie im Verborgenen beobachtet und dann einen günstigen Zeitpunkt für seinen Überfall gewählt. Aus ihrer Vermutung wurde Gewissheit: Dieser Angriff war kein Zufall. Ob er einer ihrer ehemaligen Patienten war? Die Besucher der Praxis glitten vor ihrem inneren Auge vorüber. Sie suchte nach einer Übereinstimmung – vergeblich.

Er ging in die Hocke, griff nach ihrem Kinn und presste ihre Wangen zwischen Zeigefinger und Daumen zusammen. »Du fragst dich sicher, ob wir uns schon mal begegnet sind?«

Sie musste mitspielen, bis sie einen Plan für ihre Flucht hatte. Jasmin deutete ein Nicken an, so weit es die Zügel um ihren Hals zuließen.

»Siehst du? Hab ich’s doch gewusst. Ist doch komisch.« Er schüttelte ihren Kopf hin und her. Seine Finger bohrten sich in ihre Wangen. »Oder nicht?«

»Ja …« Ihre Stimme klang schwach und brüchig, als würde sie einer anderen Frau gehören.

»Was, ja?« Er beugte den Kopf vor.

»Ja … Das ist komisch.«

»Warum lachst du dann nicht?«

»Weil ich … ich …« Er war unberechenbar. Eine falsche Antwort konnte ihn vielleicht zum Ausrasten bringen.

Der Mann strich ein paar Haarsträhnen aus ihrem Gesicht. »Weil du mich nicht verstanden hast.« Der Griff um ihr Kinn lockerte sich, beinahe zärtlich berührte er sie. »Gerade eben noch hattest du ein Leben. Und nun stehe ich vor dir.« Abrupt drückte er ihre Schulter gegen die Holzwand und begann, ihr die Daunenjacke auszuziehen.

Jasmin drückte ihr Kreuz durch. »Nein … Was soll das?«

Er schob ihren rechten Ärmel nach unten, ergriff ihr Handgelenk, zerrte die Jacke von ihren Schultern und warf sie in den Stallgang.

»Bitte, warum machen Sie das? Was wollen Sie?« Dich nehmen. Mit dir machen, was ich will. Er musste seine Lippen nicht bewegen, damit sie seinen ruhigen Tonfall in ihrem Innersten hörte. Jasmin bäumte sich auf. Sie spannte ihre Halsmuskeln an, in ihren Adern pochte es. Das Leder des Zügels ließ sich nicht brechen.

Er legte einen Finger auf ihre Lippen. »Ruhig. Alles ist miteinander verbunden. Du. Ich. Die anderen.« Langsam schob er seine Hände über ihren Bauch. Zwischen Jasmins Haut und seinen Fingern lagen nur noch die dünne Baumwollschicht ihres Pullovers und ihr Unterhemd. »Für alles, was passiert, gibt es einen Grund. Immer. Das ist das Gesetz des Universums.«

Jasmin spürte, wie sich seine Finger krümmten. Mit beiden Händen packte er den Stoff ihres Pullovers und zerrte daran, bis er mit einem scharfen Geräusch riss. Kälte drang durch ihr Unterhemd an ihre Haut. Der Geruch von Schimmel, süßlich und moderig, entstieg dem Mantel des Mannes. Sein Atem streifte ihr Gesicht.

»Nein … Nicht …«

Ein Windstoß erfasste die Scheune, so plötzlich, als sei ein Sturm erwacht. Das Tor klapperte. Laternen schepperten. Jetzt. Jasmin ballte die Fäuste und schlug sie dem Fremden ins Gesicht, schnell, noch schneller. Sie traf seine Wange, seinen Mund. Die Oberlippe platzte auf, Blut rann aus dem Riss. Sie streckte sich, trat mit dem Bein gegen seinen Oberschenkel, verfehlte nur knapp seine Lenden. Sie wollte noch einmal zutreten, da erwischte sie sein Faustschlag direkt unterm Kinn.

Ihr Hinterkopf knallte gegen die Latten. Der Stall drehte sich um sie. Ihr wurde schwindelig, ein Gefühl, das sie sonst nur empfand, wenn sie mit dem Lift in der Praxis viel zu schnell nach unten fuhr. Ihr Blickfeld verengte sich, als würde sie durch eine lange Röhre schauen. Alles um sie herum war grau in grau: Der Mann, sein Lächeln, Timmi, die Seile an der Wand, die Eimer auf dem Boden.

Er packte Jasmins Stiefel und zog sie ihr mit den Socken von den Füßen. »Wehr dich nicht. Gegen die Wahrheit gibt es keine Medizin.« Mit seinen Fingern fuhr er an der Innenseite ihrer Beine entlang, fand die Naht und riss ihre Reiterhose daran auf. Der Stoff gab knirschend nach.

Jasmin trat um sich, warf sich hin und her.

Der Mann band ihre Hände mit dem elastischen Material ihrer Hose an die unterste Holzlatte. Ihre Fingerspitzen berührten den Boden, sie ertastete Stroh und Erde unter sich.

»Der Stallwirt … er wird gleich kommen. Gleich …« Ihrer Stimme fehlte die Überzeugung. Nicht einmal für einen Selbstbetrug reichte ihr Gestammel.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Nein, das wird er nicht.« Er erhob sich und nahm einen Besen, der an einem Gatter lehnte. Mit beiden Händen prüfte er den Stiel auf seine Biegsamkeit. Das Holz gab nicht nach. Er nickte und ging vor Jasmin in die Hocke.

»Dein Stallwirt sitzt jetzt zu Hause, wie er es immer um diese Zeit macht. Er lässt sich von seinem Fernseher einlullen und trinkt dazu billiges Bier.« Er winkelte ihre Beine an, drückte mit Gewalt, als sie die Knie versteifte. Jasmin schrie auf. Immer weiter presste er ihre Beine auseinander, spreizte sie, bis ihre Muskeln schmerzten.

»Nein. Bitte …«

Er band Jasmins Füße an die beiden Enden des Besenstiels und verknotete die Enden des Stoffs.

Sie zerrte an ihren Fesseln. Aussichtslos. Er hatte ihren Körper bis zur Bewegungslosigkeit fixiert. Mit weit gespreizten Beinen saß sie vor ihm. So hilflos.

»Ich werde von einer Freundin erwartet, wenn ich nicht komme, ruft sie die Polizei. Das wird sie tun, sie tut das, sie ruft an.« Ihre Worte überschlugen sich. »Sie ruft die Polizei.« Nur noch ein Flüstern kam über ihre Lippen.

Der Mann erhob sich. »Bis dahin sind wir längst fertig.« Er wandte sich um, als langweile ihn ihr Anblick. Anscheinend wollte er seinen Geist nicht weiter an ihrem Unverständnis vergeuden. Stattdessen schlenderte er zur Stallkammer. Vor der Tür blieb er stehen. Er band die Reste von Jasmins Hose um seine rechte Faust und schlug sie in das Fenster der Kammer. Das Glas klirrte, die Scherben rieselten zu Boden und fielen vor ihm zu einem splittrigen Haufen zusammen.

»Manchmal ist es nur ’ne Kleinigkeit, die ein Wesen vom Rest seiner Art unterscheidet.« Er bückte sich und schob die Glasscherben auseinander, als würde er in ihnen nach etwas suchen. »Taranteln, Jasmin. Taranteln …«

Er war abgelenkt. Sie musste diesen Moment nutzen. Jasmin tastete den Boden neben sich ab. Im Stroh fühlte sie die Ränder eines Blecheimers. Daneben stand ein Besen, die harten Borsten kratzten über ihre Fingerspitzen. Beides unbrauchbar. Doch da lag noch etwas. Ein rechteckiger Gegenstand aus gegerbtem Leder: ein Etui.

Der Mann trat mit seinem Schuh in den Glashaufen. »Taranteln sind Spinnen, doch sie sind ganz anders als die meisten Arachniden.« Er schob die Splitter auseinander. »Taranteln stechen nicht, sie beißen. Und sie bauen keine Netze.«

Jasmin nahm das Etui in die Hände. Es war verschlossen. Ein Reißverschluss. Sie presste ihren Fingernagel in die Öffnung zwischen den Schieber und die kleinen Zähne. Der Stall gehörte ihrer Freundin Lisa, und Jasmin wusste, was sich in dem Etui verbarg: ihre einzige Überlebenschance.

Der Mann hob eine keilförmige Glasscherbe auf. Er hielt sie auf Augenhöhe, begutachtete sie. »Taranteln beobachten ihr Opfer sehr lange. Sie verlassen ihre Zuflucht und bewegen sich auf fremdem Terrain. Sie sind Meister der Improvisation.« Er umwickelte das breite Ende der Glasscherbe mit Stoff und wog das Gewicht in seiner Hand.

»Sie jagen aus dem Hinterhalt.« Er blickte über seine Schulter. »Verstehst du?«

Jasmin zwang sich zu einem Nicken, während sie versuchte, das Etui zu öffnen. Der Schieber hakte, sie konnte ihn aus dieser Position nicht über die Metallzähne bewegen.

Mit langsamen Schritten, als würde ihn völlige Ruhe umgeben, ging der Mann an Jasmin vorbei. Er betrat Timmis Box. Mit der flachen Hand fuhr er durch die Mähne des Rappen, klopfte mit kurzen Schlägen auf seinen Nacken. »Taranteln sind listig und schnell. Sehr, sehr schnell.«

Die Laternen vor den Fenstern schaukelten. Das Licht fiel für einen kurzen Moment in die Scheune und verschwand. Hin und her, immer wieder.

Mit einer blitzschnellen Geste, die Jasmin fast entgangen wäre, hob er den rechten Arm mit der Glasscherbe und rammte sie in Timmis Hals.

»Nein!« Ihr Schrei klang in einem Schluchzen aus. »Nein, nein …«

Mit beiden Händen zog er den Splitter durch die Haut des Pferdes, an die Stelle, wo sich Hauptvene und Schlagader kreuzten. Jasmin erkannte den tödlichen Schnitt sofort.

Timmi bäumte sich auf, er trat mit den Vorderläufen aus. Das Holz in der Stallung knirschte. Nur noch das Weiße in seinen Augen war zu sehen. Ein Zittern lief durch seinen schweren Körper. Aus seinem Maul drang ein Schnarren.

Sie wollte Timmi streicheln, seinen Hals stützen, bei ihm sein. Ihre Fesseln knirschten, doch sie rissen nicht.

»Eine Tarantel verzehrt ihr Beutetier an Ort und Stelle.« Der Mann zog die Glasscherbe aus Timmis Fleisch und schüttelte sein Handgelenk, als ob er den Splitter vom Blut des Rappen befreien wollte. »Verstehst du jetzt, wie eine Tarantel denkt, Jasmin?«

Der Wind rüttelte an den Fensterläden. Schneeflocken rieselten auf den Lichtfirst im Scheunendach. Das Mondlicht fiel ungehindert von der dämpfenden Kraft der Wolken in die Stallungen. Jasmins Drahtbürste lag im Stroh. Zwei braune Arbeitshandschuhe hingen an einem Gatter. Aus Timmis Nüstern drang blutiger Schaum.

»Du dreckiger Wichser.« Wut erstickte ihre Stimme, ließ sie in einem Raunen ausklingen. Sie senkte den Blick.

An ihren nackten Beinen klebten schwarze Erde und Stroh. In ihren Augen stiegen Tränen auf. Die Halme, ihre Haut, die Erdklumpen – alles verschwamm zu einer breiigen Masse. Da war ein Gefühl von Enge in ihrer Brust. Ihr blieb zu wenig Luft zum Atmen.

Schließ die Augen. Mach die verdammten Augen zu. Das Gehirn hat die Konsistenz von Tofu. Die Länge aller Nervenbahnen beträgt fast sechs Kilometer. Je mehr ein Mensch träumt, desto höher ist sein IQ. Fakten. Fakten. Bleib fokussiert. Sieh nicht hin.

Schon als Kind hatte sich Jasmin mit diesem Täuschungsmanöver beruhigt, wenn sie sich mit ihrem Vater stritt und ein Gefühl tiefer Verzweiflung über sie hereingebrochen war. Sie musste raus aus der Scheune. Egal, wie. Der Mann würde sie wie Timmi töten. Das war die einzige Gewissheit, die ihr auf dem verdreckten Boden der Scheune geblieben war.

Sie zwängte ihre Finger in den Reißverschluss des Lederetuis, und endlich konnte sie den Holzgriff eines Hufmessers ertasten.

Timmis Körper wankte und krachte gegen die Holzlatten seines Stalls. Nicht hinhören. Mit Zeigefinger und Daumen schob Jasmin das Messer Zentimeter für Zentimeter aus der Spannhalterung der Hülle.

Der Mann näherte sich ihr. »Wir müssen denen da draußen das Wort schicken.« Er kniete vor ihr nieder. Die Glasscherbe lag in seiner Hand. »Das tut nicht weh. Mach dir keine Sorgen.« Wieder lag dieses angedeutete Lächeln auf seinen Lippen. »Ich kenne mich damit aus. Nur ein Wort. Ein einziges Wort.«

Bevor Jasmin reagieren konnte, setzte er die Spitze der Scherbe an ihrem rechtem Oberschenkel an und drückte zu, ganz sanft. »Bleib ruhig, sonst versaust du es. Und das willst du doch nicht, oder?«

Er erhöhte den Druck. Das Glas durchbohrte ihre Haut, brachte sie zum Pulsieren. Jasmin biss sich auf die Lippen. Er führte kurze Schnitte aus, ritzte mit großer Vorsicht, als ob er eine Zeichnung auf ihrem Oberschenkel anfertigte. Der Schirm seiner Kappe nahm ihr die Sicht, doch mit jedem Schnitt zog ein Brennen durch ihr Bein. Warmes Blut lief aus den feinen Wunden in ihrer Haut. Das Hufmesser lag kalt in ihrer Hand.

Der Mann legte den Kopf schräg und leckte sich über die Lippen. Er schien zufrieden.

Jasmin drehte die Klinge zwischen den Fingern, setzte die Schneide an ihrer rechten Handfessel an und schloss die Augen. Ganz vorsichtig bewegte sie das Hufmesser hinter ihrem Rücken auf und ab. Der elastische Stoff gab nach, Zentimeter für Zentimeter, immer noch ein wenig mehr. Schließlich riss das Gewebe lautlos über ihrem Handgelenk.

Der Mann beugte sich tief über ihre Beine. Die raue Wolle seines Mantels kratzte über Jasmins Knie. Sein warmer Atem glitt über ihre Haut, bevor er mit der Glasscherbe seine Schnitte setzte.

Da holte Jasmin aus. Mit der Klinge des Hufeisenmessers hackte sie auf seinen Hals ein. Ein Mal, ein zweites Mal. Keine vollen Treffer, sein Mantelkragen hatte ihn geschützt.

Er riss den Kopf hoch, wandte sich ihr zu. Sie zog die Schneide durch sein Gesicht. Auf seiner Wange bildete sich ein Striemen, der sich sofort mit Blut füllte.

»Sau …« Nur ein Wort entrang sich seinem Mund. Sein Oberkörper wankte, er kippte zur Seite. Seine Brille fiel ins Stroh. Jasmin holte noch einmal mit der Klinge aus und stach zu. Sie durchbohrte den Stoff seiner Hose, traf auf Widerstand und drückte das Messer in seinen Unterschenkel, bis seine Haut nachgab.

Kein Laut kam über seine Lippen. Der Mann stützte sich mit einer Hand vom Boden ab. Er wollte sich aufrichten. Seine Mütze rutschte herab. Die Kopfhaut schimmerte hell durch sein kurzes Haar.

Jasmin handelte ohne Umwege. Ein Schnitt mit dem Hufeisenmesser, die zweite Handfessel fiel. Schneller. Ihre zusammengebundenen Füße. Sie streckte die Arme aus, bis sie knirschten. Zwei Schnitte. Der Besen fiel zu Boden. Ihre Beine waren frei. Jasmin griff nach dem Lederriemen an ihrem Hals, der sie noch immer an der Stallwand festhielt.

Der Mann krümmte sich auf dem Boden. Mit einer Hand fuhr er sich über die Wange, dort, wo sie ihn verletzt hatte.

»Die kleine Sau will alles kaputt machen.« Er betrachtete die feinen Schlieren von Blut an seinen Fingern.

Jasmin hätte einen wutentbrannten Schrei erwartet, nicht diese kalte Sachlichkeit. Sie winkelte ein Bein an, nahm Schwung und trat mit ihrem Fußballen gegen das Kinn des Mannes. Er kippte nach hinten, fiel auf den Rücken.

Ein Poltern kam aus Timmis Stall. Der Rappe wankte aus seiner Box und schleppte sich in den Stallgang. Seine hängenden Lefzen, der gesenkte Kopf – nichts an ihm erinnerte noch an das Pferd, mit dem sie jahrelang durch den Wald galoppiert war. Timmis Vorderbeine knickten ein. Das Geräusch seines zusammenbrechenden Körpers klang gedämpft und weit entfernt. Er sackte neben dem Mann zu Boden.

Jasmin riss an den Zügeln um ihren Hals. Sie ertastete die harten Zwirnnähte in den Riemen, suchte nach einer vor Jahren geflickten Bruchstelle und fand sie. Mit der Schneide fuhr sie über die Quernaht. Auf. Ab. Auf. Ab. Immer wieder, bis das Leder brach. Ihr Hals lag frei. Sie atmete tief ein und rollte sich zur Seite.

Der Mann kniete neben ihr. Blut lief an seiner Wange herab. Seine Hand streifte Jasmins Bein. Die Berührung fuhr wie ein kalter elektrischer Schock durch ihren Körper. Er wollte sie packen, doch seine Finger rutschten an ihrer Ferse ab.

Jasmin zog sich an der Stallung empor. Ihre Beine zitterten, ein Taubheitsgefühl zog durch ihre Füße. Sie umklammerte das Messer fester als zuvor.

Das Tor der Scheune, es war etwa zwölf Meter entfernt. Das schaff ich nicht. Niemals. Sie erstickte alle Gedanken und öffnete ihrem Fluchtinstinkt die Tür. Lauf! Jasmin lief los. Stroh, kleine Steine und klumpige Erde pressten sich in ihre Fußsohlen. Ihre Beine übernahmen die Kontrolle. Sie blickte über die Schulter zurück. Timmi lag in einer Blutlache am Boden. Seine Nüstern zitterten. Mit glasigen Pupillen schaute er Jasmin nach. Sie ertrug seinen Anblick nicht, doch sie musste auch den Mann im Auge behalten.

Der richtete sich aus der Hocke auf. »Will die Sau spielen?« Er folgte ihr mit kleinen Schritten, ganz vorsichtig, dabei zog er sein verletztes Bein nach.

Jasmin erreichte das Tor. Der Türgriff lag kühl in ihrer Hand. Sie drückte die Klinke nach unten, presste ihre Schulter gegen das Holz. Das Tor bewegte sich, glitt knarrend zurück. Kaum tat sich ein schmaler Schlitz auf, schob sich Jasmin ins Freie.

Eisige Kälte schlug ihr entgegen. Der Schnee gab unter ihren Füßen nach, bis zu den Knöcheln versank sie in ihm, als sie in die Nacht rannte. In der klirrenden Kälte formten sich weiße Wolken aus ihrem Atem. Slip und Unterhemd, mehr hatte ihr der Mann nicht gelassen. Sie wollte die Arme vor der Brust kreuzen, ihre Haut wärmen, doch dann hätte sie an Tempo eingebüßt. Hinter ihr knarrte das Tor. Sie rannte vorbei an der Koppel. Ihr Wagen stand dreihundert Meter entfernt auf dem kleinen Parkplatz an der Straße. Der Autoschlüssel und ihr Handy steckten in ihrer Daunenjacke, die unerreichbar im Stall lag. Doch auf der unten angrenzenden Allee fuhren Autos. Dort war das Leben. Dort waren Menschen. Hilfe.

Am Wegrand schaukelten die Zweige der Birken. Ein Windspiel klirrte an einem Ast. Kinder hatten es dort im Herbst aufgehängt. Hinter sich hörte sie die schweren Schritte ihres Verfolgers. Unter seinen Schuhen knirschte der Schnee. Jasmin schaute sich um. Fünfzehn Meter, der Mann im langen Mantel war vielleicht noch fünfzehn Meter hinter ihr. Obwohl er humpelte, zog er sein Tempo noch mal an.

Blicke niemals zurück. Lauf, Jasmin! Richte die Augen immer auf die Ziellinie. Ihre Mutter war Sportlehrerin. Vor jedem Wettkampf auf der Hundertmeterbahn hatte sie ihr mit strengem Unterton diesen Rat gegeben – damals, als sie noch ein Kind gewesen war.

»Ich laufe, ich gucke nicht zurück«, flüsterte Jasmin. Sie winkelte die Arme an, sie spurtete, sog die kalte Luft ein. Schnee rieselte auf ihr Haar. Sie spürte keine Kälte an ihren nackten Füßen, nur das Pochen in ihren Oberschenkeln, die brennenden Schnittwunden. Doch sie sah nur geradeaus auf den verschneiten Weg.

Noch zweihundert Meter. Das Stapfen hinter ihr klang wie der Widerhall ihrer eigenen Laufgeräusche. Schneller. Sie musste noch schneller sein.

Die Allee kam näher. Nördlich von Jasmin, verborgen hinter den Apfelbäumen auf der Wiese, blitzten die Scheinwerfer eines Autos auf. Der Wagen fuhr die Straße in ihre Richtung hinunter. »Das kann ich schaffen. Ich schaff das.« Die Muskeln in ihren Waden verkrampften sich. Lauf Jasmin. Sie konnte den Motor des Wagens schon hören. Nur noch einhundert Meter.

Jasmin erreichte den Parkplatz. Ihr schwarzer Golf stand mit schneebedecktem Dach neben einem Pferdetransporter. Sie ignorierte das falsche Versprechen von Zuflucht und hetzte weiter.

Jasmin schnappte nach Luft. Sie konnte den Wagen auf der Straße stoppen. Wer immer hinter dem Lenkrad saß, er würde sie retten. Das Auto, sie musste nur das Auto erreichen, und alles war gut.

Zwei Krähen saßen auf dem Rand eines Mülleimers und pickten in Abfällen herum. Der Wind strich über Jasmins nackte Haut. Die Vögel schreckten auf und schlugen mit den Flügeln. Die Scheinwerfer waren noch fünfzig Meter entfernt. Das Brummen des Motors wurde durch die Luft getragen, war nun ganz nahe. Jasmin spannte ihre Muskeln. Gleich, nur noch einen Moment, und sie war in Sicherheit.

Sie stolperte über einen vereisten Pfosten, fing sich, und erreichte endlich die Straße. Die Strahler des Wagens erfassten sie, das Licht blendete. Jasmin wankte in die Fahrbahn, sie riss ihre Arme hoch. »Hilfe!« Sie schrie ins Licht. »Hilfe!« Dicke Schneeflocken tanzten vor den Scheinwerfern. Die Bremsen des Wagens ratterten. Schnee knirschte. Scheibenwischer surrten. Für einen Moment stellte sie sich vor, was der Fahrer sehen musste: eine fast nackte Frau mit einem blutigen Messer in der ausgestreckten Hand. Lauf, Jasmin! Sie starrte in die Windschutzscheibe, direkt in ein bleiches Gesicht. Der Wagen rutschte auf sie zu, war direkt vor ihr, prallte mit der Stoßstange gegen ihre Unterschenkel und riss sie von den Beinen. Sie kippt, fällt. Das Gesicht hinter dem Lenkrad schreit etwas. Ihr Oberkörper schlägt auf die Motorhaube. Kaltes Metall, blendend weißer Schmerz, die Frontscheibe splittert, sie rutscht durch Eis, rutscht und fällt. Der Wagen stoppt. Sie liegt im Dunkeln. Spürt Asphalt unterm Schnee.

Die Krähen flogen davon. Ihr Krächzen hallte durch den Nachthimmel, bis es leiser wurde und schließlich ganz erstarb. Eine Böe trieb ein paar Zweige über die Fahrbahn.

Das Hufmesser lag in Jasmins ausgestreckter Hand. Blut lief in einem Rinnsal von der Klinge und verfärbte den Schnee.

2. Kapitel

Das Eis spritzte unter Alberts Kufen davon. Er jagte mit Höchstgeschwindigkeit über den zugefrorenen See und beugte dabei den Oberkörper weit vor, als folgte er einer geheimnisvollen und nur für ihn sichtbaren Fährte. Christine konnte seine pfeilschnellen Bewegungen kaum mitverfolgen.

Kinder auf wackligen Beinen und ihre besorgten Eltern trotteten in der Nachmittagssonne über die Eisfläche im Park. Bunte Schals flatterten im Wind. Albert zog seine Bahnen, drehte sich um die eigene Achse und winkte Christine zu.

Sie saß am Rand des Ufers auf den Wurzeln einer Eiche. Mit den Fingerspitzen strich sie über die scharfen Kufen ihrer Schlittschuhe. Schon merkwürdig, wie Menschen so viel Vergnügen daran finden konnten, über einen zugefrorenen See zu schliddern und sich dabei regelmäßig Arme und Knie aufzuschlagen.

»Komm schon, Christine! Macht richtig Spaß«, rief ihr Albert zu. Er sprang über einen Ast, der aus dem Eis ragte.

Christine winkte ab und zog eine Packung Gauloises aus ihrer Tasche. Sie legte sich auf den Rücken, entflammte eine Zigarette und blickte den Rauchkringeln nach, die zwischen den schneebedeckten Zweigen der Eiche in die Höhe stiegen und im Wind zerfächerten.