Der Kunstreiter, 1. Band - Gerstäcker, Friedrich - kostenlos E-Book

Der Kunstreiter, 1. Band E-Book

Friedrich, Gerstäcker

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Project Gutenberg's Der Kunstreiter, 1. Band, by Friedrich GerstäckerThis eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and withalmost no restrictions whatsoever.  You may copy it, give it away orre-use it under the terms of the Project Gutenberg License includedwith this eBook or online at www.gutenberg.orgTitle: Der Kunstreiter, 1. BandAuthor: Friedrich GerstäckerRelease Date: June 20, 2014 [EBook #46053]Language: German*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DER KUNSTREITER, 1. BAND ***Produced by richyfourtytwo and the Online DistributedProofreading Team at http://www.pgdp.net

Gerstäcker

Der Kunstreiter

1. Band

Bosse & Co., Hamburg 1914

1.

Auf der Hauptpromenade der Residenzstadt *** herrschte heute, bei dem außerordentlich freundlichen und warmen Wetter, reges Leben. Dieser Platz lag am entferntesten von dem Meßtreiben, das gerade jetzt die übrige Stadt erfüllte, und zahlreiche Equipagen fuhren auf und ab, während das schattige Laub der Parkanlagen selbst eine Menge Fußgänger angelockt hatte. Da kam plötzlich eine ganz ungewohnte Bewegung in die vor wenigen Minuten noch so ruhig Promenierenden. Ein großer Volkshaufe wälzte sich von oben die breite Hauptstraße herab, und die Equipagen drehten um und fuhren aus dem Wege, während die meisten der Fußgänger dem Schwarme ebenfalls auszuweichen suchten.

Zwei junge Damen, von einem Kürassieroffizier begleitet, blieben unschlüssig stehen und sahen den Weg hinauf.

»Wenn wir zurückgehen,« sagte die ältere von ihnen, »so verfehlen wir jedenfalls Papa, der gerade in dieser Stunde aus dem Ministerium kommt, und wir haben versprochen, ihm bis hierher entgegen zu gehen. Was kann das nur sein?«

»Jedenfalls irgend ein Meßzug,« erwiderte der Offizier, »wenn wir einen Augenblick in der Veranda jenes Cafés Schutz suchen, wird sich die Menge vorüberwälzen und verlaufen.«

Unter der mit allen möglichen Blumen und Pflanzen der Tropenwelt geschmückten Veranda fand sich so nach und nach in gleicher Absicht eine zahlreiche Gesellschaft von Herren und Damen ein, und wie sich dort eine Menge Bekannte trafen, sammelten sich plaudernd und lachend kleine Gruppen.

Unter einem in vollen Blüten prangenden Granatbaume hatte sich die junge, reizende Komtesse Melanie, die Tochter des Kriegsministers von Ralphen, mit ihrer jüngeren Schwester auf ein paar leichte Rohrfauteuils niedergelassen. Der Menschenschwarm stockte oben in der Straße, und es dauerte eine Zeitlang, bis er sich wieder in Bewegung setzte. Die junge Komtesse hielt einen Becher mit Erdbeer-Gefrorenem in den zarten Fingern, nur langsam dann und wann daran kostend, und neben ihr, beide Hände auf den zwischen seinen Knieen stehenden Pallasch gestützt, saß Graf Wolf von Geyerstein, Rittmeister eines Kürassier-Regiments in ***schen Diensten. Graf Geyerstein stammte aus einer alten, norddeutschen Familie und war ein deutscher Edelmann im schönsten Sinne des Wortes. Von ernstem, für seine Jahre vielleicht zu ernstem Wesen, mischte er sich dabei selten oder nie in die leichtfertigen Vergnügungen der Kameraden, und wenn ihn auch manche für stolz und kalt hielten, schlug doch ein für alles Gute warmes Herz in seiner Brust.

In diesem Augenblicke hatte aber die reizende Plauderin an seiner Seite den Ernst aus den edlen Zügen gebannt. Das offene, dunkle Auge hing lächelnd an den Lippen der schönen Nachbarin und lauschte, weniger dem Sinn, als dem Klange der Worte, die wie das Rauschen eines murmelnden Waldquells zu ihm drangen.

»Aber nun sagen Sie mir um Gottes willen, an was Sie jetzt gedacht haben!« unterbrach sich da Melanie, indem sie ihren kleinen Teller senkte und sich halb gegen ihren Nachbar wandte.

»Ich, Komtesse?« rief der Graf, halb erschreckt wie aus einem Traume auffahrend, und er fühlte dabei, daß er errötete, »wahrhaftig nur an Sie.«

»An mich?« sagte die Dame, ungläubig mit dem Kopfe schüttelnd, »und zweimal habe ich Sie indes gefragt, ob Sie den jungen Grafen Selikoff schon gesprochen, ohne daß Sie mir auch nur mit einer Silbe geantwortet hätten.«

»Und doch war ich nur bei Ihnen,« entgegnete mit herzlichem Tone der junge Mann. »Zürnen Sie mir nicht, daß ich den Sinn der gleichgültigen Frage dabei überhörte.«

»Gleichgültige Frage?« lachte die Komtesse, »und woher wissen Sie, Herr Rittmeister, daß mir die Frage oder vielmehr deren Beantwortung gleichgültig war? – Aber ich sehe, Sie sind heute wieder in einer verzweifelten Stimmung. Man muß erstaunliche Geduld mit Ihnen haben.«

»Und nicht wahr, Komtesse, die fehlt Ihnen?« lächelte der Graf.

»Darüber können Sie sich wahrlich nicht beklagen, und ich weiß gar nicht – aber was ist das?« unterbrach sich die junge Dame im nächsten Augenblicke selbst, als jene lärmende, wogende Menschenmenge die Straße herunter drängte. Einzelne Trompetenstöße wurden dazwischen laut, und der Graf selber horchte erstaunt auf.

»Ach, das ist herrlich!« rief die Komtesse Rosalie, Melanies jüngere Schwester, »das muß die Kunstreiter- und Seiltänzergesellschaft sein, Monsieur Bertrand mit seiner Truppe, der seine Tour durch die Residenz macht, um sich dem Publikum vorzustellen. Letzte Woche hat er auf dem hochgespannten Seile getanzt, und diesen Abend wird die erste Vorstellung in dem erst heute fertig gewordenen Zirkus sein.«

»Du bist ja sehr genau unterrichtet,« lächelte Melanie. »Haben Sie diesen Monsieur Bertrand schon gesehen, Herr Graf? Er soll in seiner Kunst ganz Ausgezeichnetes leisten.«

»Noch nicht, Komtesse,« erwiderte der junge Mann. »Ich liebe derartige Kunststücke nicht, und das Seiltanzen vor allem ist mir das Verhaßteste, Entwürdigendste für den Menschen.«

»Und weshalb? Gehört nicht ein außergewöhnlicher Mut dazu, um sein Leben in schwindelnder Höhe auf dem schwanken Seil zu wagen?«

»Es ist das kein Mut mehr, den ich in dem Manne gewiß ehren würde,« erwiderte der Rittmeister, »sondern nur eine verzweifelte Tollkühnheit, welche Glieder und Leben um wenige Taler, oft um Groschen preisgibt; ja nicht selten sogar kaum mehr als feige Furcht, durch Arbeit eine Existenz erringen zu müssen, die jedenfalls ehrenvoller wäre als solch ein Dasein.«

»Sie urteilen zu streng.«

»Ich glaube kaum. Es ist wenigstens meine Ueberzeugung.«

»Und doch fühlen sich die Menschen glücklich in ihrem Berufe.«

»Das kann ich mir kaum denken,« erwiderte kopfschüttelnd der Graf. »Aeußerlich mag es allerdings so scheinen; wer sie aber beobachten könnte, wenn sie sich unbeachtet wissen, möchte doch wohl ein anderes Urteil über sie fällen. Aber da kommen sie; ich kann wenigstens die wallenden Federn des Baretts oder Helms erkennen.«

Hunderte von Menschen drängten indessen lachend und erzählend vorbei, mit dem Zuge zu gehen und den Marsch mit anzuhören, den das gemietete Musikkorps blies, während andere wieder stehen blieben, die wunderlich gekleideten Gestalten an sich vorbei passieren zu lassen. So etwas sahen sie nicht alle Tage.

Und macht es nicht einen gar eigentümlichen Eindruck auf den Zuschauer, plötzlich, in dem wirklichen, bestimmt ausgesprochenen Alltagsleben, das ihn nach allen Seiten umgibt, und in dem ihn das geringste Außergewöhnliche schon störte, ja selbst im hellen, lichten Sonnenschein phantastisch aufgeputzten und geschminkten Menschen zu begegnen? Die unteren Schichten der Bevölkerung, mit den Kindern, freuen sich allerdings darüber. Sie sehen nur die äußere Hülle, das Flittergold und die wallenden Federn, die gestickten Wämser und bunten Farben. Den Gebildeten überkommt bei solchem Anblick aber fast immer ein eigenes unbehagliches Gefühl – nicht der Bewunderung etwa, sondern eher des Mitleids mit den Unglücklichen, die solcher Art, in ihrem glänzenden Elend, äußerlich stolz und guter Dinge, doch nur – »an der menschlichen Gesellschaft vorüber – den Pranger reiten.«

Weit anders ist es mit der Bühne. Hier wird uns ein abgerundetes und in sich fest stehendes Kunstwerk von Künstlern vorgeführt, und die phantastischen Trachten, die durch die Kulissen ihren wahren Hintergrund, durch die Lichter ihre richtige Beleuchtung erhalten, stören uns nicht, ja, sind sogar nötig, die Täuschung zu vollenden, die uns in andere Zeiten, andere Sitten versetzen soll. Ich rede hier freilich nicht von jener Entweihung der Kunst, dem neu aufgekommenen Unfug der Sommertheater, die zu den »Kunstreitern« schon den Uebergang bilden. – Hier dagegen, wo die Häuser, in denen wir selber wohnen, den Hintergrund formen und wir in eigener Person, sobald solche abenteuerliche Gestalten zwischen uns und aus ihrem Rahmen heraustreten, Mitspieler in dem Drama werden, schaut uns der Ernst des Lebens nur so viel greller aus solchem Spottgebild entgegen.

Aber ähnliche Gedanken erfüllen schwerlich die Herzen der lärmenden Schar, die gerade jetzt die Straße heraufgezogen kam, bis dicht am Café francais vorüber, von wo aus man den bunten Trupp vollkommen gut übersehen konnte. Wenn auch das Volk – Arbeiter, Kindermädchen und Müßiggänger – einen festen Wall an der Seite bildete, so ragten die berittenen und phantastisch geschmückten Gestalten doch über die Köpfe dieser hoch hinaus. Voran ritten dem Zuge zwölf Trompeter in roten, abgetragenen und verschossenen, mit unechten Borden besetzten Uniformen, ungeschickte, hohe Tschakos mit roten und weißen Federbüschen auf dem Kopfe, und bliesen einen schmetternden Marsch. Der Zug wollte gesehen werden, und je mehr Lärm sie deshalb machten, desto besser. Unmittelbar hinter diesen folgte der Herr der Schar, der berühmte Monsieur Bertrand, in einem reichbesetzten, schwarzsamtnen Waffenrock, ein schwarzes Barett auf dem Kopfe mit wallenden schneeweißen Straußenfedern, die von einer mit jedenfalls unechten Steinen besetzten Agraffe gehalten wurde. Es war eine hohe, männliche Gestalt, mit edlen Zügen, so weit sich diese nämlich unter dem nach vorn gerückten Barett und dem vollen Bart erkennen ließen. Ernst und schweigend blickte der Reiter aber auf den Kopf seines Rappen nieder, der unter ihm sprang und tanzte; weder nach rechts noch links schaute er hinüber und schien die ihn umtobende, jauchzende Menge so wenig zu hören, als ob er allein durch eine Wüste ritte.

Den Gegensatz zu ihm bildete ein wunderschönes Weib an seiner Seite. Eine wahrhaft junonische Gestalt, mit Augen voll Glut und Leben und in feuerfarbene goldgestickte Seide gekleidet, bändigte sie den wilden Fuchs, den sie ritt, doch mit der kleinen Hand so kräftig und hielt ihn so fest im Zügel, daß er seinen Platz innehalten mußte, er mochte wollen oder nicht. Dabei neigte sie sich mit holdem Lächeln bald hier, bald da hinüber, einem oder dem andern der Grüßenden zu danken, und nichts entging dem scharfen Blick der kühnen Reiterin.

Die Gesellschaft, die bis dahin in der Veranda des Cafés gesessen, war aufgestanden, um den Zug besser übersehen zu können, und Komtesse Melanie sagte jetzt: »Das ist die sogenannte schöne Georgine, die Frau des Seiltänzers. Sehen Sie nur, Herr Graf, wie sie so keck nach uns herüberschaut.« Ihr Nachbar erwiderte kein Wort, und als sie sich erstaunt nach ihm umwandte, hielt er den Blick fest und starr auf die Gruppe geheftet – ja, es schien ihr fast, als ob alles Blut seine Wangen verlassen hätte.

»Ei, ei, Herr Rittmeister!« flüsterte die schöne Komtesse, während ihr ein Gefühl durch das Herz zuckte, von dem sie sich selber keine Rechenschaft geben konnte oder wollte, »wie mir scheint, haben sie dort drüben eine alte Bekanntschaft entdeckt.«

»Ich glaubte es im Anfange, Komtesse, aber ich habe mich geirrt. Es war nur eine Aehnlichkeit, wie man sie ja so oft im Leben findet.«

Wildes Jauchzen und Geschrei, sowie Lachen und Jubeln der Masse übertönte in diesem Augenblick seine Worte, denn hinter dem Zuge, der gerade jetzt vorüber war, kam der Hanswurst der Truppe in buntscheckigem Anzuge, die weiße spitze Filzmütze auf dem Kopf, das Gesicht auf die grellste Weise bemalt, auf einem kleinen Pony nachgeritten. Auf diesem aber führte er die groteskesten Künste aus: bald stand er auf dem Kopf, bald überschlug er sich, bald war er unten und fuhr mit seiner Pritsche unter die kreischend zurückdrängende Straßenjugend, während er im nächsten Augenblick wieder rittlings auf seinem Tiere saß und den Nachspringenden Gesichter schnitt. Das Volk schrie und jauchzte dabei vor Vergnügen, und selbst die in dem Gedränge mitgehenden Polizeidiener vergaßen für kurze Zeit ihren sonstigen Ernst und lächelten.

Mit dem Hanswurst wogte aber auch der Menschenschwarm vorüber, und wie die Trompeten in weiter Ferne verklangen, nahm die Straße wieder ihren früheren ruhigen Charakter an. Ein paar Freundinnen der Komtesse Melanie, die sich ebenfalls vor dem Gedränge hierher geflüchtet hatten, beschäftigten die junge Dame jetzt vollkommen, da es galt, den Besuch der heutigen Vorstellung Monsieur Bertrands zu bereden. Außerdem ging das sehr interessante Gerücht, das die beiden Damen mitbrachten, der tollkühne Mensch habe sich erboten, zwischen den Türmen der Katharinenkirche ein Seil zu spannen und dort oben seine Künste zu zeigen. Der Magistrat hätte es aber bis jetzt noch nicht gestattet, und man glaubte, er wolle sich deshalb an den Fürsten selber wenden.

Der Kriegminister von Ralphen, der versprochen hatte, seinen Töchtern hier zu begegnen, kam jetzt ebenfalls die Straße herunter und ging, als er den Rittmeister von Geyerstein erkannte, auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ach, Papa,« bat die Komtesse Rosalie, die sich schmeichelnd an seinen Arm hing, »heut' abend ist die erste Vorstellung Monsieur Bertrands im Zirkus, und es soll so hübsch werden. Dürfen wir hin?«

»Recht gern, mein liebes Kind,« sagte der alte Herr freundlich, indem er ihre Stirn streichelte, »und deine Mutter wird euch gewiß begleiten. Ich selber bin leider durch eine Sitzung verhindert, die meine Zeit wenigstens bis neun Uhr in Anspruch nimmt, und doch möchte ich euch nicht gern ohne männlichen Schutz an solchem Platze wissen.«

»O, dann begleitet uns Graf Geyerstein!« rief die lebhafte Rosalie, halb bittend, halb fragend zu dem Rittmeister aufschauend. »Ich habe überdies ein Vielliebchen von ihm gewonnen, das er noch einlösen muß, und setze es jetzt zum Pfand.«

»Sie sind zu gnädig, Komtesse,« lächelte mit einer leichten Verbeugung der junge Mann, »mir eine solche Ehre als Buße aufzuerlegen. Ich stehe natürlich den Damen mit Vergnügen zu Diensten – wenn Exzellenz es gestatten.«

»Ich bin Ihnen dankbar dafür, lieber Geyerstein,« nickte ihm der alte Herr zu, »und da es gerade mit der Zeit zusammentrifft, so speisen Sie heute mittag bei uns, und fahren dann mit den Damen nach dem Diner hinüber in den Zirkus. Das wäre also abgemacht, Kinder, und da sich die Menge jetzt verlaufen hat, denk' ich, wir gehen nach Hause. Es ist spät geworden, und eure Mutter wird euch erwarten.«

2.

Mitten auf dem breiten Landgrafenplatz stand eine mächtige runde bretterne Bude, von deren spitzer Zinne die französische Trikolore wehte. Das Innere derselben war übrigens geschmackvoll dekoriert und mit Gas erleuchtet, und an der Kasse für den ersten und zweiten Platz saß ein bildhübsches junges Mädchen, die Billetts auszugeben. – Nur etwas zu hell fiel das Gaslicht auf die leicht geschminkten Wangen und die nachgemachten, an einigen Stellen schon etwas zerknickten Blumen, die ihren Kopfschmuck bildeten.

Das Publikum beteiligte sich indessen sehr bedeutend an diesem ersten Abend, für den auf riesengroßen, farbigen Anschlagzetteln Außerordentliches versprochen worden. Die dritte Galerie war schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung bis in ihre letzten Räume gefüllt, während noch umsonst nach Billetts rufende Scharen vor dem Schiebfenster unter der schmalen, dort hinaufführenden Holztreppe standen.

Auch die erste und zweite Galerie füllte sich rasch, und manche Equipage fuhr sogar vor, der Damen in glänzender Toilette entstiegen. Monsieur Bertrand, über den man sich in der Residenz die abenteuerlichsten Dinge erzählte, war eben Mode geworden, und da es gerade in dieser Zeit, besonders in den höheren Kreisen, an Stoff zur Unterhaltung fehlte, so wollte niemand versäumen, ihn zu sehen.

Oben auf der über dem Eingange für die Pferde angebrachten Tribüne hatte sich das Musikkorps gesammelt, das heute morgen auch den Umzug durch die Stadt anführen mußte, und die Leute stimmten ihre Instrumente und tranken Bier dazu. In der Reitbahn selber, die durch einen improvisierten Kronleuchter und zahlreiche Flammen an den Seitensäulen reichlich erhellt wurde, kehrten eben ein paar Stallknechte den Kreis, und ein Mann in hohen Kanonenstiefeln und einem Reitfrack, eine lange Peitsche in der Hand, kam herein, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre.

»Ist er das?« flüsterte es hier und da, aber die Antwort fiel verneinend aus. Es war nur einer der Leute, ein Bereiter – so sah er wenigstens aus – irgend jemand aus dem untergeordneten Personal der Gesellschaft. Die Familie des Kriegsministers von Ralphen erschien gerade und nahm eben ihre Plätze auf der zweiten Bank ein, als die dritte Galerie in ein schallendes Gelächter und lauten Jubel ausbrach. Der Hanswurst sprang nämlich, sich fünf- oder sechsmal dabei überschlagend, eben in den Zirkus und warf sich dem dort sehr ernsthaft befehlenden Stallmeister oder Bereiter so geschickt zwischen die Füße, daß dieser auf ihn zu sitzen kam und durch den Wurf die Balanze verlor. Er fiel wenigstens hinterrücks in den Sand, und während er unter dem Gejauchze der Menge wieder aufsprang und den flüchtenden Hanswurst mit der Peitsche zu treffen suchte, benutzte dieser die anscheinend darüber sehr entrüsteten Stallknechte, sich hinter ihnen zu verbergen und sie die nach ihm gezielten Hiebe auffangen zu lassen.

Der Bajazzo hatte jedenfalls die Sympathien der dritten Galerie und der Kinder für sich; aber auch selbst den Ernstesten entlockte er mit seiner grotesken Malerei und Gliedergewandheit ein Lächeln. Sein Alter ließ sich allerdings in den dick mit weißer und roter Farbe bestrichenen Zügen nicht erkennen, aber seine Figur war schlank und schmächtig, und die kleinen blitzenden Augen behielten selbst unter den bis zur Verzerrung gemalten Brauen ihre scharfe Lebendigkeit. Die ganze Szene hatte übrigens nur dazu dienen sollen, die Aufmerksamkeit des Publikums kurze Zeit zu beschäftigen, und noch während des Umherspringens und Ausweichens des Bajazzos flog plötzlich ein kleines weißes Pony in gestrecktem Galopp über die niedere Eingangsbarriere und mitten in den Zirkus hinein. Auf seinem Rücken aber saß ein kleines, vielleicht siebenjähriges, als Elfe gar phantastisch gekleidetes Mädchen. Stallknechte, Bajazzo und Stallmeister stoben blitzschnell auseinander, und während das Pony den Zirkus durchflog, war die jugendliche Reiterin in die Höhe gesprungen und grüßte, auf dem breiten Sattel stehend, freundlich lächelnd nach allen Seiten hinüber. Sie trug fleischfarbene Trikots, ein kurzes, leichtes rosa Röckchen von durchsichtigem Stoff, das Kleidchen dabei tief ausgeschnitten, und an den halbnackten Schultern ein Paar buntfarbige Flügel, handhabte auch ihr zierliches Roß vortrefflich und zeigte eine für ihre Jahre außerordentliche Uebung.

Die Frauen waren ganz entzückt von dem kleinen Wesen, das in jeder seiner Bewegungen – nur nicht im Körper selber – erwachsen schien. Zum äußersten kokett und überlegen, grüßte und winkte sie bald da, bald dorthin, trieb ihr Pferd mit der kleinen Peitsche an, und hielt plötzlich, um sich von dem rasch herbeispringenden Stallmeister noch einmal die Sohlen mit Kreide streichen zu lassen. Dabei lächelte sie auch dem Bajazzo zu, der um sie her die tollsten Kapriolen machte, sprang dann durch Reifen und Girlanden, und trieb alle die übrigen Kunststücke, die Kinder in dem Alter gewöhnlich bei solchen Gesellschaften treiben. Das Publikum applaudierte zwar lebhaft, aber es bleibt doch immer ein eigenes, eben nicht angenehmes, oft sogar unbehagliches Gefühl, ein Kind zu solchen Künsten abgerichtet zu sehen. – Was für Erfahrungen hat das Kinderherz nicht schon gesammelt, das dort mit der affektierten Handbewegung und halben Kußhänden den Applaus des Publikums erwidert! Wie lange schon mußte es seinen schönsten Schmuck, die Kindlichkeit, abgeschüttelt haben, jede Bewegung einer erwachsenen Kokette so täuschend nachzuahmen! Ihr applaudiert und jubelt der Kleinen zu. Fragt euch einmal, wie euch zu Mute sein würde, wenn das euer Kind wäre, und dann bedauert das unglückliche Wesen, das sein böses Geschick in solche Bahn, in solch ein glänzendes Elend geworfen. Und fühlt es sich selber glücklich in solchem Leben? – Es nickt und lächelt da oben mit freudestrahlendem Gesicht und sprengt lustig – hinter die Kulissen. – Was es dort treibt, kümmert das Publikum nicht.

»Mademoiselle Josefine,« wie die Kleine auf dem Zettel genannt wurde, hatte mit diesem Ritt die Vorstellung eröffnet, und ihr folgte auf einem schwarzbraunen Pony Monsieur Charles, »der kleine Herkules«. Monsieur Charles, ebenfalls in fleischfarbenen Trikots, mit einem kurzen Löwenfell bekleidet und mit einer Keule in der Hand, war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, aber für sein Alter von außergewöhnlicher Kraft und Gewandheit – ein wahres Talent in seinem Fache. Die schwierigsten Kunststücke führte er auf dem Rücken des dahinsausenden Pferdes aus, und mit kaltem ja tollkühnem Mute schien er die Gefahr weit eher zu suchen, als zu vermeiden. Monsieur Charles wurde hervorgerufen, wie er die Arena kaum unter stürmischem Applaus verlassen hatte, und zwei Athleten nahmen jetzt seine Stelle ein, die mit halsbrechender Geschicklichkeit, der eine eine Stange balanzierte, während der andere daran hinaufkletterte und oben die gefährlichsten und kühnsten Stellungen ausführte.

Und wie hing das kecke Menschenkind da oben! Das Nachlassen einer Muskel, ein Krampf in den zum Zerspringen angespannten Sehnen der Hand, ein Straucheln des Stangenträgers, und er war rettungslos verloren. – Und das Publikum saß dabei, hielt den Atem in peinlicher Spannung an, dankte Gott, als der Frevler mit seinen Gliedern den Boden wieder berührte, und – applaudierte doch wie rasend, ihn dadurch nur zu neuen noch tollkühneren Versuchen anfeuernd. Komtesse Melanie hatte sich schaudernd abgewandt, denn sie fürchtete den Menschen im nächsten Augenblick zerschmettert vor ihren Füßen zu sehen. Graf Geyerstein, der an ihrer Seite saß, flüsterte: »Sie haben recht, Komtesse; ein Nervenkitzel erscheint vielen erwünscht, die Monotonie ihres alltäglichen Lebens zu unterbrechen. Diese Kunststücke werden aber zur Nervenqual – und doch, sehen Sie die freudig staunenden Gesichter Ihrer Umgebung, die keine Ahnung von dem zu haben scheinen, was schon im nächsten Moment ihren Genuß unterbrechen könnte.«

»Es sollte verboten werden, solch entsetzliche Kunststücke öffentlich zu zeigen,« sagte Melanie. Graf Geyerstein zuckte mit den Achseln.

»Ja und nein,« sagte er dabei. »Wir wissen dann nur nicht, wo wir die Grenzen ziehen sollen, die der Polizei gestatten, in das Privatleben bürgerlichen Erwerbes einzugreifen. Solange Seiltanzen und Kunstreiterei erlaubt bleibt, wird es unmöglich sein einen Maßstab anzulegen, welches von ihnen für den Ausführenden gefährlicher – für den Zuschauer peinlicher ist. Das Publikum allein hätte es in seiner Gewalt, sich solche Schau zu verbitten, aber die große Mehrzahl verlangt derartige Produktionen, ja läuft gerade dem Unnatürlichsten und Widerlichsten am meisten nach. Doch, Gott sei Dank, es ist vorüber, und der tollkühnste Ritt der Gesellschaft wird uns nach dieser Schau wie Spielerei erscheinen.«

Der Jubel der Zuschauer, als die beiden jungen Athleten den Schauplatz verlassen hatten, legte sich eben, als jener Stallmeister mit einer halbkreisförmigen Verbeugung anzeigte: Madame Georgine Bertrand und Monsieur Bertrand! – Bajazzo benutzte diesen unbewachten Augenblick, seine klappernde Pritsche auf den hervorragendsten Teil desselben niederprasseln zu lassen, und wenn der Scherz auch eben nicht zart war, wurde er doch von dem Publikum dankbar angenommen. Während der Stallmeister auf seinen Erzfeind vergebens einfuhr, sprengte das wunderschöne Weib des Kunstreiters und Seiltänzers in die Arena. Mochte nun die Beleuchtung und die vielleicht aufgetragene Farbe dem Gesichte der Frau diese jugendliche Frische geben, aber Georgine war wirklich schön, und ein lautes unwillkührliches »Ah!« entfloh den Lippen der Versammlung, als sie leicht geschürzt und in ganz ähnlicher, nur weit brillanterer Kleidung wie »Mademoiselle Josefine« im Zirkus erschien.

Ein paar junge Kavallerieoffiziere fingen an zu applaudieren, und das Einstimmen des Publikums war eine Huldigung, die man der lieblichen Erscheinung brachte. Madame Bertrand zeigte sich auch dankbar dafür. Ihre Bahn dahinfliegend, hatte sie fast für jeden ein Lächeln, wenn auch ein noch so flüchtiges, für jeden einen freundlichen Blick, eine halbversteckte Kußhand, mit der sie die Herzen gleichsam sichelförmig abschnitt oder mähte – denn zwei genügten für das ganze Publikum. Und wie sie dahinflog, siegesgewiß – siegesgewohnt! Das hochgeschürzte leichte Kleid im Winde flatternd, die Locken von dem Luftzug gelöst, mit den zarten Fußspitzen den Sattel kaum berührend, glaubte man wirklich, sie habe Flügel, und wäre kaum noch erstaunt gewesen, das Pferd unter ihr davoneilen und sie ihren Rundzug ohne dasselbe fortsetzen zu sehen.

»Eine reizende Erscheinung!« flüsterte Melanie ihrem Nachbar zu, während Madame Bertrand ihr schnaubendes Tier am Eingange plötzlich parierte, daß es auf den Hinterbeinen herumflog und Front gegen die Mitte machte; »wenn sie nur etwas weniger keck und zuversichtlich auftreten wollte!«

Ihr Nachbar antwortete ihr nur durch ein langsames, kaum bewußtes Kopfnicken, und als sie ihr Auge zu ihm hob, sah sie, daß sein Blick fest und fast stier auf der Stelle haftete, an der die schöne Reiterin hielt. Ihre eigene Aufmerksamkeit wurde aber in dem Moment von ihm abgelenkt.

»Monsieur Bertrand! Monsieur Bertrand!« ging der flüsternde Ruf durch die Reihen der Zuschauer, und als Melanie den Kopf dorthin wandte, sah sie, wie an Georginens Seite, in phantastischer, aber höchst geschmackvoll gewählter Tracht, der Reiter auf milchweißem arabischen Hengste hielt. Doch auch Graf Geyerstein bog sich jetzt zu ihr nieder und erwiderte auf die frühere Bemerkung seiner Nachbarin vollkommen ruhig: »Sie dürfen bei solchen Damen nicht sittsame Schüchternheit erwarten, Komtesse. Schon das Reiten selber bedingt eine gewisse Zuversicht, die Reiter oder Reiterin haben muß, um das Tier in der Gewalt zu halten. Wie viel mehr also hier, wo der Ritt für die Oeffentlichkeit bestimmt ist und die Frau nur zu leicht jede zarte Weiblichkeit abschüttelt!«

»Sie mögen recht haben,« sagte Melanie nach kurzem Zögern. »Aber gerade das Außergewöhnliche hat ja auch uns hierher geführt. Wir wollen die Pferde und Menschen bewundern – uns wenigstens an ihnen ergötzen. Was kümmert uns das Uebrige!« Der junge Offizier sah die schöne Gräfin etwas erstaunt über diese Bemerkung an; Melanies Aufmerksamkeit schien aber wieder vollständig auf das Paar gerichtet, das jetzt mit außerordentlicher Geschicklichkeit und wirklich vieler Grazie en Pas de deux mit den Pferden tanzte. Gleich darauf, und inmitten desselben, sprengten die beiden Kinder wieder herein – der Knabe jetzt genau so gekleidet wie Monsieur Bertrand – indem sie das Pas de deux in ein Pas de quatre verwandelten. Die Pferde führten dasselbe auch vortrefflich durch, und der rauschende Beifall galt diesmal besonders der Geschicklichkeit und Ausdauer des Mannes, der die Dressur der edlen Tiere zu solcher Vollkommenheit gebracht. Nach dem Tanze hielten die beiden Paare wieder ihren Umritt um die Arena, in einer Art Triumphzug den wohlverdienten Applaus einzuernten, den ihnen diesmal selbst die Damen nicht versagten. Nur Melanie saß still und regungslos, ihren Blick fest auf die Reiterin heftend, deren Auge sie bewachte. Es war ihr nämlich nicht entgangen, daß die Kunstreiterin, wo das nur irgend geschehen konnte, ihren Nachbar, den Grafen Geyerstein, scharf fixierte. Der nach allen Seiten hin grüßende Blick haftete in der Sekunde, in der sie an ihnen vorüberflog, jedesmal fest und forschend auf der edlen Gestalt des Rittmeisters, und als sie die Arena verlassen und durch dröhnenden Applaus zurückgerufen wurde, schien derselbe Blick nur ihm allein zu danken.

Die Szene wechselte jetzt, und der Bajazzo übernahm die Unterhaltung des Publikums aufs neue durch halsbrechende Kunststücke und Gliederverrenkungen. Aber das Publikum wollte sich amüsieren; die übersättigten Bewohner der Residenz verlangten einen neuen Reiz für ihre abgespannten Nerven – und diese atemlose Angst um ein Stück wertlosen Menschenlebens gewährte ihn. Ein Mulatte beschloß die erste Abteilung durch groteske Sprünge und gymnastische Uebungen, die er mit seinem Pferde ausführte. Wie eine Schlange wand und schnellte er sich im vollen Rennen seines Tieres darüber hin. All die verschiedenen und schwierigsten Piecen führte er aber mit solcher Leichtigkeit aus, und war dabei in jeder seiner noch so gewagten Bewegungen so sicher, daß sich das Publikum unmöglich für ihn interessieren konnte. Es sah eben keine Gefahr dabei und die Szene vorher hatte es verwöhnt.

Eine kurze Pause folgte jetzt, in der selbst die ebenso unermüdlichen wie erbarmungslosen Musiker ihre gequälten Instrumente für eine Viertelstunde ruhen ließen. Das Trommelfell der ihnen zunächst sitzenden Zuschauer vibrierte aber eine ganze Weile fort, als ob sich die aufgewühlten Schallwellen des hohen Raumes noch nicht beruhigt hätten. Die Trompeter gossen dabei ihre Instrumente aus und ließen ihre Bierkrüge füllen, wechselten die Notenblätter, um eine andere Nummer aufzulegen, und nahmen dann ihre Sitze wieder ein, beim ersten gegebenen Zeichen mit schmetterndem Tusch und lustiger Fanfare bereit zu sein.