Der Kunstreiter - Friedrich Gerstäcker - E-Book

Der Kunstreiter E-Book

Friedrich Gerstäcker

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Beschreibung

Ein adliger Kunstreiter? Ein Graf in einer Zirkus-Arena? Das kann auf die Dauer nicht gut gehen - und in diesem Roman zeigt uns Friedrich Gerstäcker eindrücklich auf, mit welchen Problemen in der damaligen Gesellschaft gekämpft werden musste, wollte man einem solchen Umfeld entfliehen und - die Vergangenheit dabei geheim halten. Ein auch heute noch lesenswerter Gesellschaftsroman, der selbst noch den Lesern der heutigen Zeit einen Spiegel vorhält. Sind wir denn inzwischen wirklich toleranter geworden?

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Friedrich Gerstäcker

Der Kunstreiter

Erzählung

Volks- und Familien-Ausgabe, Band Siebzehn

der Ausgabe Hermann Costenoble, Jena

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Ungekürzte Ausgabe nach der von Friedrich Gerstäcker für die Gesammelten Schriften,

H. Costenoble Verlag, Jena, eingerichteten Ausgabe „letzter Hand“, herausgegeben von Thomas Ostwald für die Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V., Braunschweig

Hinweis: Die im 19. Jahrhundert verfassten Texte Friedrich Gerstäckers enthalten Bezeichnungen, die heute nicht mehr in dieser Form verwendet werden.

In dieser unbearbeiteten Werkausgabe wurden sie unverändert übernommen.

Ausgabe letzter Hand, ungekürzt, mit den Seitenzahlen der Vorlage

Gefördert durch die Richard-Borek-Stiftung und Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz

Friedrich-Gerstäcker-Gesellschaft e.V. und Edition Corsar, Braunschweig, 2022

Geschäftsstelle: Am Uhlenbusch 17, 38108 Braunschweig

Alle Rechte vorbehalten! © 2016 / © 2022

1.

Auf der Hauptpromenade der Residenzstadt *** herrschte heute, bei dem außerordentlich freundlichen und warmen Wetter, reges Leben. Dieser Platz lag am entferntesten von dem Meßtreiben, das gerade jetzt die übrige Stadt erfüllte, und zahlreiche Equipagen fuhren auf und ab, während das schattige Laub der Parkanlagen selbst eine Menge Fußgänger angelockt hatte. Da kam plötzlich eine ganz ungewohnte Bewegung in die vor wenigen Minuten noch so ruhig Promenierenden. Ein großer Volkshaufe wälzte sich von oben die breite Hauptstraße herab, und die Equipagen drehten um und fuhren aus dem Wege, während die meisten der Fußgänger dem Schwarme ebenfalls auszuweichen suchten.

Zwei junge Damen, von einem Kürassier-Officier begleitet, blieben unschlüssig stehen und sahen den Weg hinauf.

»Wenn wir zurückgehen,« sagte die ältere von ihnen, »so verfehlen wir jedenfalls Papa, der gerade in dieser Stunde aus dem Ministerium kommt, und wir haben versprochen, ihm bis hierher entgegen zu gehen. Was kann das nur sein?«

»Jedenfalls irgend ein Meßzug,« erwiderte der Officier, »wenn wir einen Augenblick in der Veranda jenes Cafés Schutz suchen, wird sich die Menge vorüberwälzen und verlaufen.«

Unter der mit allen möglichen Blumen und Pflanzen der Tropenwelt geschmückten Veranda fand sich so nach und nach /6/ in gleicher Absicht eine zahlreiche Gesellschaft von Herren und Damen ein, und wie sich dort eine Menge Bekannte trafen, sammelten sich plaudernd und lachend kleine Gruppen.

Unter einem in vollen Blüten prangenden Granatbaume hatte sich die junge, reizende Comtesse Melanie, die Tochter des Kriegsministers v. Ralphen, mit ihrer jüngeren Schwester auf ein paar leichte Rohrfauteuils niedergelassen. Der Menschenschwarm stockte oben in der Straße, und es dauerte eine Zeitlang, bis er sich wieder in Bewegung setzte. Die junge Comtesse hielt einen Becher mit Erdbeer-Gefrorenem in den zarten Fingern, nur langsam dann und wann daran kostend, und neben ihr, beide

Hände auf den zwischen seinen Knieen stehenden Pallasch gestützt, saß Graf Wolf v. Geyerstein, Rittmeister eines Kürassier-Regiments in ***schen Diensten. Graf Geyerstein stammte aus einer alten, norddeutschen Familie und war ein deutscher Edelmann im schönsten Sinne des Wortes. Von ernstem, für seine Jahre vielleicht zu ernstem Wesen, mischte er sich dabei selten oder nie in die leichtfertigen Vergnügungen der Kameraden, und wenn ihn auch manche für stolz und kalt hielten,

schlug doch ein für alles Gute warmes Herz in seiner Brust.

In diesem Augenblicke hatte aber die reizende Plauderin an seiner Seite, den Ernst aus den edlen Zügen gebannt. Das offene, dunkle Auge hing lächelnd an den Lippen der schönen Nachbarin und lauschte, weniger dem Sinn, als dem Klange der Worte, die wie das Rauschen eines murmelnden Waldquells zu ihm drangen.

»Aber nun sagen Sie mir um Gottes willen, an was Sie jetzt gedacht haben!« unterbrach sich da Melanie, indem sie ihren kleinen Teller senkte und sich halb gegen ihren Nachbar wandte.

»Ich, Comtesse?« rief der Graf, halb erschreckt wie aus einem Träume auffahrend, und er fühlte dabei, daß er errötete, »wahrhaftig nur an Sie.«

»An mich?« sagte die Dame, ungläubig mit dem Kopfe schüttelnd, »und zweimal habe ich Sie indes gefragt, ob Sie den jungen Grafen Selikoff schon gesprochen, ohne daß Sie mir auch nur mit einer Silbe geantwortet hätten.«/7/

»Und doch war ich nur bei Ihnen,« entgegnete mit herzlichem Tone der junge Mann. »Zürnen Sie mir nicht, daß ich den Sinn der gleichgültigen Frage dabei überhörte.«

»Gleichgültige Frage?« lachte die Comtesse, »und woher wissen Sie, Herr Rittmeister, daß mir die Frage oder vielmehr deren Beantwortung gleichgültig war? -- Aber ich sehe, Sie sind heute wieder in einer verzweifelten Stimmung. Man muß erstaunliche Geduld mit Ihnen haben.«

»Und nicht wahr, Comtesse, die fehlt Ihnen?« lächelte der Graf.

»Darüber können Sie sich wahrlich nicht beklagen, und ich weiß gar nicht - aber was ist das?« unterbrach sich die junge Dame im nächsten Augenblicke selbst, als jene lärmende, wogende Menschenmenge die Straße herunter drängte. Einzelne Trompetenstöße wurden dazwischen laut, und der Graf selber horchte erstaunt auf.

»Ach, das ist herrlich!« rief die Comtesse Rosalie, Melanies jüngere Schwester, »das muß die Kunstreiter- und Seiltänzergesellschaft sein, Monsieur Bertrand mit seiner Truppe, der seine Tour durch die Residenz macht, um sich dem Publikum vorzustellen. Letzte Woche hat er auf dem hochgespannten Seile getanzt, und diesen Abend wird die erste Vorstellung in dem erst heute fertig gewordenen Zirkus sein.«

»Du bist ja sehr genau unterrichtet,« lächelte Melanie. »Haben Sie diesen Monsieur Bertrand schon gesehen, Herr Graf? Er soll in seiner Kunst ganz Ausgezeichnetes leisten.«

»Noch nicht, Comtesse,« erwiderte der junge Mann. »Ich liebe derartige Kunststücke nicht, und das Seiltanzen vor allem ist mir das Verhaßteste, Entwürdigendste für den Menschen.«

»Und weshalb? Gehört nicht ein außergewöhnlicher Mut dazu, um sein Leben in schwindelnder Höhe auf dem schwanken Seil zu wagen?«

»Es ist das kein Mut mehr, den ich in dem Manne gewiß ehren würde,« erwiderte der Rittmeister, »sondern nur eine verzweifelte Tollkühnheit, welche Glieder und Leben um wenige Taler, oft um Groschen preisgibt; ja nicht selten sogar kaum mehr als feige Furcht, durch Arbeit eine Exi/8/stenz erringen zu müssen, die jedenfalls ehrenvoller wäre als solch ein Dasein.«

»Sie urteilen zu streng.«

»Ich glaube kaum. Es ist wenigstens meine Ueberzeugung.«

»Und doch fühlen sich die Menschen glücklich in ihrem Berufe.«

»Das kann ich mir kaum denken,« erwiderte kopfschüttelnd der Graf. »Aeußerlich mag es allerdings so scheinen; wer sie aber beobachten könnte, wenn sie sich unbeachtet wissen, möchte doch wohl ein anderes Urteil über sie fällen. Aber da kommen sie; ich kann wenigstens die wallenden Federn des Baretts oder Helms erkennen.«

Hunderte von Menschen drängten indessen lachend und erzählend vorbei, um mit dem Zuge zu gehen und den Marsch mit anzuhören, den das gemietete Musikkorps blies, während Andere wieder stehen blieben, die wunderlich gekleideten Gestalten an sich vorbei passieren zu lassen. So etwas sahen sie nicht alle Tage.

Und macht es nicht einen gar eigentümlichen Eindruck auf den Zuschauer, plötzlich, in dem wirklichen, bestimmt ausgesprochenen Alltagsleben, das ihn nach allen Seiten umgibt, und in dem ihn das geringste Außergewöhnliche schon störte, ja selbst im hellen, lichten Sonnenschein phantastisch aufgeputzten und geschminkten Menschen zu begegnen?

Die unteren Schichten der Bevölkerung, mit den Kindern, freuen sich allerdings darüber. Sie sehen nur die äußere Hülle, das Flittergold und die wallenden Federn, die gestickten Wämser und bunten Farben. Den Gebildeten überkommt bei solchem Anblick aber fast immer ein eigenes unbehagliches Gefühl - nicht der Bewunderung etwa, sondern eher des Mitleids mit den Unglücklichen, die solcher Art, in ihrem glänzenden Elend, äußerlich stolz und guter Dinge, doch nur - »an der menschlichen

Gesellschaft vorüber - den Pranger reiten.«

Weit anders ist es mit der Bühne. Hier wird uns ein abgerundetes und in sich fest stehendes Kunstwerk von Künstlern vorgeführt, und die phantastischen Trachten, die durch /9/ die Culissen ihren wahren Hintergrund, durch die Lichter ihre richtige Beleuchtung erhalten, stören uns nicht, ja, sind sogar nötig, die Täuschung zu vollenden, die uns in andere Zeiten, andere Sitten versetzen soll. Ich rede hier freilich nicht von jener Entweihung der Kunst, dem neu aufgekommenen Unfug der Sommertheater, die zu den »Kunstreitern« schon den Uebergang bilden. - Hier dagegen, wo die Häuser, in denen wir selber wohnen, den Hintergrund formen und wir in eigener Person, sobald solche abenteuerliche Gestalten zwischen uns und aus ihrem Rahmen heraustreten, Mitspieler in dem Drama werden, schaut uns der Ernst des Lebens nur so viel greller aus solchem Spottgebild entgegen.

Aber ähnliche Gedanken erfüllen schwerlich die Herzen der lärmenden Schar, die gerade jetzt die Straße heraufgezogen kam, bis dicht am Café francais vorüber, von wo aus man den bunten Trupp vollkommen gut übersehen konnte. Wenn auch das Volk - Arbeiter, Kindermädchen und Müßiggänger - einen festen Wall an der Seite bildete, so ragten die berittenen und phantastisch geschmückten Gestalten doch über die Köpfe dieser hoch hinaus. Voran ritten dem Zuge zwölf Trompeter in roten, abgetragenen und verschossenen, mit unechten Borden besetzten Uniformen, ungeschickte, hohe Tschakos mit roten und weißen Federbüschen auf dem Kopfe, und bliesen einen schmetternden Marsch. Der Zug wollte gesehen werden, und je mehr Lärm sie deshalb machten, desto besser. Unmittelbar hinter diesen folgte der Herr der Schar, der berühmte Monsieur Bertrand, in einem reichbesetzten, schwarzsamtnen Waffenrock, ein schwarzes Barett auf dem Kopfe mit wallenden schneeweißen Straußenfedern, die von einer mit jedenfalls unechten Steinen besetzten Agraffe gehalten wurde. Es war eine hohe, männliche Gestalt, mit edlen Zügen, so weit sich diese nämlich unter dem nach vorn gerückten Barett und dem vollen Bart erkennen ließen. Ernst und schweigend blickte der Reiter aber auf den Kopf seines Rappen nieder, der unter ihm sprang und tanzte; weder nach rechts noch links schaute er hinüber und schien die ihn umtobende, jauchzende Menge so wenig zu hören, als ob er allein durch eine Wüste ritte. /10/

Den Gegensatz zu ihm bildete ein wunderschönes Weib an seiner Seite. Eine wahrhaft junonische Gestalt, mit Augen voll Glut und Leben und in feuerfarbene goldgestickte Seide gekleidet, bändigte sie den wilden Fuchs, den sie ritt, doch mit der kleinen Hand so kräftig und hielt ihn so fest im Zügel, daß er seinen Platz innehalten mußte, er mochte wollen oder nicht. Dabei neigte sie sich mit holdem Lächeln bald hier, bald da hinüber, einem oder dem andern der Grüßenden zu danken, und nichts entging dem scharfen Blick der kühnen Reiterin.

Die Gesellschaft, die bis dahin in der Veranda des Cafés gesessen, war aufgestanden, um den Zug besser übersehen zu können, und Comtesse Melanie sagte jetzt: »Das ist die sogenannte schöne Georgine, die Frau des Seiltänzers. Sehen Sie nur, Herr Graf, wie sie so keck nach uns herüberschaut.« Ihr Nachbar erwiderte kein Wort, und als sie sich erstaunt nach ihm umwandte, hielt er den Blick fest und starr auf die

Gruppe geheftet - ja, es schien ihr fast, als ob alles Blut seine Wangen verlassen hätte.

»Ei, ei, Herr Rittmeister!« flüsterte die schöne Comtesse, während ihr ein Gefühl durch das Herz zuckte, von dem sie sich selber keine Rechenschaft geben konnte oder wollte, »wie mir scheint, haben sie dort drüben eine alte Bekanntschaft entdeckt.«

»Ich glaubte es im Anfange, Comtesse, aber ich habe mich geirrt. Es war nur eine Aehnlichkeit, wie man sie ja so oft im Leben findet.«

Wildes Jauchzen und Geschrei, sowie Lachen und Jubeln der Masse übertönte in diesem Augenblick seine Worte, denn hinter dem Zuge, der gerade jetzt vorüber war, kam der Hanswurst der Truppe in buntscheckigem Anzuge, die weiße spitze Filzmütze auf dem Kopf, das Gesicht auf die grellste Weise bemalt, auf einem kleinen Pony nachgeritten. Auf diesem aber führte er die groteskesten Künste aus: bald stand er auf dem Kopf, bald überschlug er sich, bald war er unten und fuhr mit seiner Pritsche unter die kreischend zurückdrängende Straßenjugend, während er im nächsten Augenblick /11/ wieder rittlings auf seinem Thiere saß und den Nachspringenden Gesichter schnitt. Das Volk schrie und jauchzte dabei vor Vergnügen, und selbst die in dem Gedränge mitgehenden Polizeidiener vergaßen für kurze Zeit ihren sonstigen Ernst und lächelten.

Mit dem Hanswurst wogte aber auch der Menschenschwarm vorüber, und wie die Trompeten in weiter Ferne verklangen, nahm die Straße wieder ihren früheren ruhigen Charakter an. Ein paar Freundinnen der Comtesse Melanie, die sich ebenfalls vor dem Gedränge hierher geflüchtet hatten, beschäftigten die junge Dame jetzt vollkommen, da es galt, den Besuch der heutigen Vorstellung Monsieur Bertrands zu bereden. Außerdem ging das sehr interessante Gerücht, das die beiden Damen mitbrachten, der tollkühne Mensch habe sich erboten, zwischen den Thürmen der Katharinenkirche ein Seil zu spannen und dort oben seine Künste zu zeigen. Der Magistrat hätte es aber bis jetzt noch nicht gestattet, und man glaubte, er wolle sich deshalb an den Fürsten selber wenden.

Der Kriegsminister v. Ralphen, der versprochen hatte, seinen Töchtern hier zu begegnen, kam jetzt ebenfalls die Straße herunter und ging, als er den Rittmeister v. Geyerstein erkannte, auf ihn zu, um ihn zu begrüßen.

»Ach, Papa,« bat die Comtesse Rosalie, die sich schmeichelnd an seinen Arm hing, »heut' Abend ist die erste Vorstellung Monsieur Bertrands im Zirkus, und es soll so hübsch werden. Dürfen wir hin?«

»Recht gern, mein liebes Kind,« sagte der alte Herr freundlich, indem er ihre Stirn streichelte, »und deine Mutter wird euch gewiß begleiten. Ich selber bin leider durch eine Sitzung verhindert, die meine Zeit wenigstens bis neun Uhr in Anspruch nimmt, und doch möchte ich euch nicht gern ohne männlichen Schutz an solchem Platze wissen.«

»O, dann begleitet uns Graf Geyerstein!« rief die lebhafte Rosalie, halb bittend, halb fragend zu dem Rittmeister aufschauend. »Ich habe überdies ein Vielliebchen1 von ihm gewonnen, das er noch einlösen muß, und setze es jetzt zum Pfand.«

»Sie sind zu gnädig, Comtesse,« lächelte mit einer leich/12/ten Verbeugung der junge Mann, »mir eine solche Ehre als Buße aufzuerlegen. Ich stehe natürlich den Damen mit Vergnügen zu Diensten - wenn Exzellenz es gestatten.«

»Ich bin Ihnen dankbar dafür, lieber Geyerstein,« nickte ihm der alte Herr zu, »und da es gerade mit der Zeit zusammentrifft, so speisen Sie heute Mittag bei uns, und fahren dann mit den Damen nach dem Diner hinüber in den Zirkus. Das wäre also abgemacht, Kinder, und da sich die Menge jetzt verlaufen hat, denk' ich, wir gehen nach Hause. Es ist spät geworden, und eure Mutter wird euch erwarten.«

2.

Mitten auf dem breiten Landgrafen-Platz stand eine mächtige runde bretterne Bude, von deren spitzer Zinne die französische Trikolore wehte. Das Innere derselben war übrigens geschmackvoll dekoriert und mit Gas erleuchtet, und an der Kasse für den ersten und zweiten Platz saß ein bildhübsches junges Mädchen, die Billetts auszugeben. - Nur etwas zu hell fiel das Gaslicht auf die leicht geschminkten Wangen und die nachgemachten, an einigen Stellen schon etwas zerknickten Blumen, die ihren Kopfschmuck bildeten.

Das Publikum beteiligte sich indessen sehr bedeutend an diesem ersten Abend, für den auf riesengroßen, farbigen Anschlagzetteln Außerordentliches versprochen worden. Die dritte Galerie war schon eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung bis in ihre letzten Räume gefüllt, während noch umsonst nach Billetts rufende Scharen vor dem Schiebfenster unter der schmalen, dort hinaufführenden Holztreppe standen.

Auch die erste und zweite Galerie füllte sich rasch, und manche Equipage fuhr sogar vor, der Damen in glänzender Toilette entstiegen. Monsieur Bertrand, über den man sich in der Residenz die abenteuerlichsten Dinge erzählte, war eben Mode geworden, und da es gerade in dieser Zeit, besonders /13/ in den höheren Kreisen, an Stoff zur Unterhaltung fehlte, so wollte niemand versäumen, ihn zu sehen.

Oben auf der über dem Eingange für die Pferde angebrachten Tribüne hatte sich das Musikkorps gesammelt, das heute Morgen auch den Umzug durch die Stadt anführen mußte, und die Leute stimmten ihre Instrumente und tranken Bier dazu. In der Reitbahn selber, die durch einen improvisierten Kronleuchter und zahlreiche Flammen an den Seitensäulen reichlich erhellt wurde, kehrten eben ein paar Stallknechte den Kreis, und ein Mann in hohen Kanonenstiefeln und einem Reitfrack, eine lange Peitsche in der Hand, kam herein, um zu sehen, ob alles in Ordnung wäre.

»Ist er das?« flüsterte es hier und da, aber die Antwort fiel verneinend aus. Es war nur einer der Leute, ein Bereiter - so sah er wenigstens aus - irgend jemand aus dem untergeordneten Personal der Gesellschaft. Die Familie des Kriegsministers v. Ralphen erschien gerade und nahm eben ihre Plätze auf der zweiten Bank ein, als die

dritte Galerie in ein schallendes Gelächter und lauten Jubel ausbrach. Der Hanswurst sprang nämlich, sich fünf- oder sechsmal dabei überschlagend, eben in den Zirkus und warf sich dem dort sehr ernsthaft befehlenden Stallmeister oder Bereiter so geschickt zwischen die Füße, daß dieser auf ihn zu sitzen kam und durch den Wurf die Balance verlor.

Er fiel wenigstens hinterrücks in den Sand, und während er unter dem Gejauchze der Menge wieder aufsprang und den flüchtenden Hanswurst mit der Peitsche zu treffen suchte, benutzte dieser die anscheinend darüber sehr entrüsteten Stallknechte, sich hinter ihnen zu verbergen und sie die nach ihm gezielten Hiebe auffangen zu lassen.

Der Bajazzo hatte jedenfalls die Sympathien der dritten Galerie und der Kinder für sich; aber auch selbst den Ernstesten entlockte er mit seiner grotesken Malerei und Gliedergewandheit ein Lächeln. Sein Alter ließ sich allerdings in den dick mit weißer und roter Farbe bestrichenen Zügen nicht erkennen, aber seine Figur war schlank und schmächtig, und die kleinen blitzenden Augen behielten selbst unter den bis zur Verzerrung gemalten Brauen ihre scharfe Lebendigkeit. Die ganze Szene /14/ hatte übrigens nur dazu dienen sollen, die Aufmerksamkeit des Publikums kurze Zeit zu beschäftigen, und noch während des Umherspringens und Ausweichens des Bajazzos flog plötzlich ein kleines weißes Pony in gestrecktem Galopp über die niedere Eingangsbarriere und mitten in den Zirkus hinein. Auf seinem Rücken aber saß ein kleines, vielleicht siebenjähriges, als Elfe gar phantastisch gekleidetes Mädchen. Stallknechte, Bajazzo und Stallmeister stoben blitzschnell auseinander, und während das Pony den Zirkus durchflog, war die jugendliche Reiterin in die Höhe gesprungen und grüßte, auf dem breiten Sattel stehend, freundlich lächelnd nach allen Seiten hinüber. Sie trug fleischfarbene Trikots, ein kurzes, leichtes rosa Röckchen von durchsichtigem Stoff, das Kleidchen dabei tief ausgeschnitten, und an den halbnackten

Schultern ein Paar buntfarbige Flügel, handhabte auch ihr zierliches Roß vortrefflich und zeigte eine für ihre Jahre außerordentliche Uebung.

Die Frauen waren ganz entzückt von dem kleinen Wesen, das in jeder seiner Bewegungen - nur nicht im Körper selber - erwachsen schien. Zum äußersten kokett und überlegen, grüßte und winkte sie bald da, bald dorthin, trieb ihr Pferd mit der kleinen Peitsche an, und hielt plötzlich, um sich von dem rasch herbeispringenden Stallmeister noch einmal die Sohlen mit Kreide streichen zu lassen. Dabei lächelte sie

auch dem Bajazzo zu, der um sie her die tollsten Kapriolen machte, sprang dann durch Reifen und Girlanden, und trieb alle die übrigen Kunststücke, die Kinder in dem Alter gewöhnlich bei solchen Gesellschaften treiben. Das Publikum applaudierte zwar lebhaft, aber es bleibt doch immer ein eigenes, eben nicht angenehmes, oft sogar unbehagliches Gefühl, ein Kind zu solchen Künsten abgerichtet zu sehen. - Was für Erfahrungen hat das Kinderherz nicht schon gesammelt, das dort mit der affekThierten Handbewegung und halben Kußhänden den Applaus des Publikums erwidert! Wie lange schon mußte es seinen schönsten Schmuck, die Kindlichkeit, abgeschüttelt haben, jede Bewegung einer erwachsenen Kokette so täuschend nachzuahmen! Ihr applaudiert und jubelt der Kleinen zu. Fragt euch einmal, wie euch zu Muthe /15/ sein würde, wenn das Euer Kind wäre, und dann bedauert das unglückliche Wesen, das sein böses Geschick in solche Bahn, in solch ein glänzendes Elend geworfen. Und fühlt es sich selber glücklich in solchem Leben? – Es nickt und lächelt da oben mit freudestrahlendem Gesicht und sprengt lustig - hinter die Kulissen. - Was es dort treibt, kümmert das Publikum nicht.

»Mademoiselle Josefine,« wie die Kleine auf dem Zettel genannt wurde, hatte mit diesem Ritt die Vorstellung eröffnet, und ihr folgte auf einem schwarzbraunen Pony Monsieur Charles, »der kleine Herkules«. Monsieur Charles, ebenfalls in fleischfarbenen Trikots, mit einem kurzen Löwenfell bekleidet und mit einer Keule in der Hand, war ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, aber für sein Alter von außergewöhnlicher Kraft und Gewandtheit - ein wahres Talent in seinem Fache. Die schwierigsten Kunststücke führte er auf dem Rücken des dahinsausenden Pferdes aus, und mit kaltem ja tollkühnem Mute schien er die Gefahr weit eher zu suchen, als zu vermeiden. Monsieur Charles wurde hervorgerufen, wie er die Arena kaum unter stürmischem Applaus verlassen hatte, und zwei Athleten nahmen jetzt seine Stelle ein, die mit halsbrechender Geschicklichkeit, der eine eine Stange balancierte, während der andere daran hinaufkletterte und oben die gefährlichsten und kühnsten Stellungen ausführte.

Und wie hing das kecke Menschenkind da oben! Das Nachlassen einer Muskel, ein Krampf in den zum Zerspringen angespannten Sehnen der Hand, ein Straucheln des Stangenträgers, und er war rettungslos verloren. - Und das Publikum saß dabei, hielt den Atem in peinlicher Spannung an, dankte Gott, als der Frevler mit seinen Gliedern den Boden wieder berührte, und - applaudierte doch wie rasend, ihn dadurch nur zu neuen noch tollkühneren Versuchen anfeuernd. Comtesse Melanie hatte sich schaudernd abgewandt, denn sie fürchtete den Menschen im nächsten Augenblick zerschmettert vor ihren Füßen zu sehen. Graf Geyerstein, der an ihrer Seite saß, flüsterte: »Sie haben recht, Comtesse; ein Nervenkitzel erscheint vielen erwünscht, die Monotonie ihres alltäglichen Lebens zu /16/ unterbrechen. Diese Kunststücke werden aber zur Nervenqual - und doch, sehen Sie die freudig staunenden Gesichter Ihrer Umgebung, die keine Ahnung von dem zu haben scheinen, was schon im nächsten Moment ihren Genuß unterbrechen könnte.«

»Es sollte verboten werden, solch entsetzliche Kunststücke öffentlich zu zeigen,« sagte Melanie. Graf Geyerstein zuckte mit den Achseln.

»Ja und nein,« sagte er dabei. »Wir wissen dann nur nicht, wo wir die Grenzen ziehen sollen, die der Polizei gestatten, in das Privatleben bürgerlichen Erwerbes einzugreifen. Solange Seiltanzen und Kunstreiterei erlaubt bleibt, wird es unmöglich sein einen Maßstab anzulegen, welches von ihnen für den Ausführenden gefährlicher - für den Zuschauer peinlicher ist. Das Publikum allein hätte es in seiner Gewalt, sich

solche Schau zu verbitten, aber die große Mehrzahl verlangt derartige Produktionen, ja läuft gerade dem Unnatürlichsten und Widerlichsten am meisten nach. Doch, Gott sei Dank, es ist vorüber, und der tollkühnste Ritt der Gesellschaft wird uns nach dieser Schau wie Spielerei erscheinen.«

Der Jubel der Zuschauer, als die beiden jungen Athleten den Schauplatz verlassen hatten, legte sich eben, als jener Stallmeister mit einer halbkreisförmigen Verbeugung anzeigte: Madame Georgine Bertrand und Monsieur Bertrand! - Bajazzo benutzte diesen unbewachten Augenblick, seine klappernde Pritsche auf den hervorragendsten Teil desselben niederprasseln zu lassen, und wenn der Scherz auch eben nicht zart war, wurde er doch von dem Publikum dankbar angenommen. Während der Stallmeister auf seinen Erzfeind vergebens einfuhr, sprengte das wunderschöne Weib des Kunstreiters und Seiltänzers in die Arena. Mochte nun die Beleuchtung und die vielleicht aufgetragene Farbe dem Gesichte der Frau diese jugendliche Frische geben, aber Georgine war wirklich schön, und ein lautes unwillkürliches »Ah!« entfloh den Lippen der Versammlung, als sie leicht geschürzt und in ganz ähnlicher, nur weit brillanterer Kleidung wie »Mademoiselle Josefine« im Zirkus erschien.

Ein paar junge Cavallerie-Officiere fingen an zu applau/17/dieren, und das Einstimmen des Publikums war eine Huldigung, die man der lieblichen Erscheinung brachte. Madame Bertrand zeigte sich auch dankbar dafür. Ihre Bahn dahinfliegend, hatte sie fast für jeden ein Lächeln, wenn auch ein noch so flüchtiges, für jeden einen freundlichen Blick, eine halbversteckte Kußhand, mit der sie die Herzen gleichsam sichelförmig abschnitt oder mähte - denn zwei genügten für das ganze Publikum. Und wie sie dahinflog, siegesgewiß - siegesgewohnt! Das hochgeschürzte leichte Kleid im Winde flatternd, die Locken von dem Luftzug gelöst, mit den zarten Fußspitzen den Sattel kaum berührend, glaubte man wirklich, sie habe Flügel, und wäre kaum noch erstaunt gewesen, das Pferd unter ihr davoneilen und sie ihren Rundzug ohne dasselbe fortsetzen zu sehen.

»Eine reizende Erscheinung!« flüsterte Melanie ihrem Nachbar zu, während Madame Bertrand ihr schnaubendes Thier am Eingange plötzlich parierte, daß es auf den Hinterbeinen herumflog und Front gegen die Mitte machte; »wenn sie nur etwas weniger keck und zuversichtlich auftreten wollte!«

Ihr Nachbar antwortete ihr nur durch ein langsames, kaum bewußtes Kopfnicken, und als sie ihr Auge zu ihm hob, sah sie, daß sein Blick fest und fast stier auf der Stelle haftete, an der die schöne Reiterin hielt. Ihre eigene Aufmerksamkeit wurde aber in dem Moment von ihm abgelenkt.

»Monsieur Bertrand! Monsieur Bertrand!« ging der flüsternde Ruf durch die Reihen der Zuschauer, und als Melanie den Kopf dorthin wandte, sah sie, wie an Georginens Seite, in phantastischer, aber höchst geschmackvoll gewählter Tracht, der Reiter auf milchweißem arabischen Hengste hielt. Doch auch Graf Geyerstein bog sich jetzt zu ihr nieder und erwiderte auf die frühere Bemerkung seiner Nachbarin vollkommen ruhig: »Sie dürfen bei solchen Damen nicht sittsame Schüchternheit erwarten, Comtesse. Schon das Reiten selber bedingt eine gewisse Zuversicht, die Reiter oder Reiterin haben muß, um das Thier in der Gewalt zu halten. Wie viel mehr also hier, wo der Ritt für die Oeffentlichkeit bestimmt ist und die Frau nur zu leicht jede zarte

Weiblichkeit abschüttelt!« /18/

»Sie mögen recht haben,« sagte Melanie nach kurzem Zögern. »Aber gerade das Außergewöhnliche hat ja auch uns hierher geführt. Wir wollen die Pferde und Menschen bewundern - uns wenigstens an ihnen ergötzen. Was kümmert uns das Uebrige!« Der junge Officier sah die schöne Gräfin etwas erstaunt über diese Bemerkung an; Melanies Aufmerksamkeit schien aber wieder vollständig auf das Paar gerichtet, das jetzt mit außerordentlicher Geschicklichkeit und wirklich vieler Grazie en Pas de deux2 mit den Pferden tanzte. Gleich darauf, und inmitten desselben, sprengten die beiden Kinder wieder herein - der Knabe jetzt genau so gekleidet wie Monsieur Bertrand - indem sie das Pas de deux in ein Pas de quatre verwandelten. Die Pferde führten dasselbe auch vortrefflich durch, und der rauschende Beifall galt diesmal besonders der Geschicklichkeit und Ausdauer des Mannes, der die Dressur der edlen

Thiere zu solcher Vollkommenheit gebracht. Nach dem Tanze hielten die beiden Paare wieder ihren Umritt um die Arena, in einer Art Triumphzug den wohlverdienten Applaus einzuernten, den ihnen diesmal selbst die Damen nicht versagten. Nur Melanie saß still und regungslos, ihren Blick fest auf die Reiterin heftend, deren Auge sie bewachte. Es war ihr nämlich nicht entgangen, daß die Kunstreiterin, wo das nur irgend geschehen konnte, ihren Nachbar, den Grafen Geyerstein, scharf fixierte. Der nach allen Seiten hin grüßende Blick haftete in der Sekunde, in der sie an ihnen vorüberflog, jedesmal fest und forschend auf der edlen Gestalt des Rittmeisters, und als sie die Arena verlassen und durch dröhnenden Applaus zurückgerufen wurde, schien derselbe Blick nur ihm allein zu danken.

Die Szene wechselte jetzt, und der Bajazzo übernahm die Unterhaltung des Publikums auf‘s Neue durch halsbrechende Kunststücke und Gliederverrenkungen. Aber das Publikum wollte sich amüsieren; die übersättigten Bewohner der Residenz verlangten einen neuen Reiz für ihre abgespannten Nerven - und diese atemlose Angst um ein Stück wertlosen Menschenlebens gewährte ihn. Ein Mulatte beschloß die erste Abteilung durch groteske Sprünge und gymnastische Uebungen, die er mit seinem Pferde ausführte. Wie eine Schlange /19/ wand und schnellte er sich im vollen Rennen seines Thieres darüber hin. All die verschiedenen und schwierigsten Piècen führte er aber mit solcher Leichtigkeit aus, und war dabei in jeder seiner noch so gewagten Bewegungen so sicher, daß sich das Publikum unmöglich für ihn interessieren konnte. Es sah eben keine Gefahr dabei und die Szene vorher hatte es verwöhnt.

Eine kurze Pause folgte jetzt, in der selbst die ebenso unermüdlichen wie erbarmungslosen Musiker ihre gequälten Instrumente für eine Viertelstunde ruhen ließen. Das Trommelfell der ihnen zunächst sitzenden Zuschauer vibrierte aber eine ganze Weile fort, als ob sich die aufgewühlten Schallwellen des hohen Raumes noch nicht beruhigt hätten. Die Trompeter gossen dabei ihre Instrumente aus und ließen ihre Bierkrüge füllen, wechselten die Notenblätter, um eine andere Nummer aufzulegen, und nahmen dann ihre Sitze wieder ein, beim ersten gegebenen Zeichen mit schmetterndem Tusch und lustiger Fanfare bereit zu sein.

Ein Teil des Publikums, besonders alle solche, die den Ausgang leicht erreichen konnten, ohne die hinter ihnen sitzenden Damen zu sehr zu inkommodieren, strömte hinaus an das Büffet und fand dort nicht allein Erfrischungen in Masse, sondern auch - Buketts, Kränze und Zuckertüten, für die der vortrefflich spekulierende Restaurateur Sorge getragen. Die Blumen für die Damen, das Zuckerwerk für die Kinder! Die jungen

Kavaliere kauften in Masse, und das Büfett machte ausgezeichnete Geschäfte. Unter den zurückgebliebenen Zuschauern entspann sich indessen eine lebhafte Unterhaltung über das Gesehene, und besonders schien Monsieur Bertrand auf die Damen einen für ihn nur schmeichelhaften Eindruck hervorgebracht zu haben. Die jüngeren besonders – vielleicht weniger zurückhaltend als die älteren - schwärmten für ihn, und Comtesse Rosalie erklärte, daß sie kaum die Zeit erwarten könne, in der er wieder erscheinen würde.

»Und was halten Sie von Monsieur Bertrand, Herr Rittmeister?« wandte sich da Melanie an ihren auffallend schweigsamen Nachbar. »Als so vortrefflicher Reiter werden auch Sie ihm Ihren Beifall kaum versagen können.« /20/

»Allerdings nicht, Comtesse,« erwiderte der junge Mann, »es ist eine edle, männliche Gestalt und - er reitet untadelhaft.«

»Wie ernst er aber aussieht und was für dunkle, seelenvolle Augen er hat! Ich kann mir kaum denken, daß er wirklich zum Kunstreiter - und noch schlimmer - zum Seiltänzer erzogen ist, denn mit seiner Erscheinung würde er jeden Platz in der menschlichen Gesellschaft ehrenvoll ausfüllen.«

»Ich glaube auch,« sagte der Rittmeister leise, fast wie mit sich selber redend. »Wer weiß, welche unglücklichen Verhältnisse ihn gerade in diese Bahn getrieben!«

»Und doch fühlt er sich vielleicht vollkommen glücklich darin,« warf Melanie ein. »Wir dürfen andere nicht immer nach uns selber beurteilen. Eine andere Erziehung gibt dem Menschen doch auch sicher andere Ansichten über das Leben, und jeder hält die seinigen gewiß immer für die richtigen.«

»Sein Ernst widerspricht dem,« entgegnete Graf Geyerstein. »Eher glaub' ich, daß sich die Dame glücklich in ihrem Berufe oder – ihrer Kunst fühlt - wenn wir es so nennen wollen.«

»Es ist seine Frau?« sagte Melanie, leicht hingeworfen.

»Ich glaube wohl - ich weiß es nicht,« erwiderte der Graf. »Sie trägt, dem Zettel nach, wenigstens seinen Namen.«

»Vielleicht seine Schwester.«

»Der Zettel sagt Madame Bertrand.«

»Die Kleine kann aber kaum ihre Tochter sein; die Frau sieht dafür zu

jugendlich aus. Wo sind Sie früher schon mit ihnen zusammengetroffen?«

»Ich?« fragte der Rittmeister, »so viel ich mich besinnen kann, habe ich

die Gesellschaft heute zum ersten Male gesehen.«

»Sagten Sie mir nicht heute Morgen, daß es eine alte Bekanntschaft sei?«

fragte die Comtesse, und ihr Blick haftete dabei forschend auf den Zügen

ihres Nachbars.

»Ich wüßte nicht, Comtesse,« erwiderte der Graf. »So viel ich mich entsinne, sprach ich von einer Aehnlichkeit, und das begegnet uns ja oft im Leben, daß uns die Züge eines sonst vollkommen fremden Menschen irgend eine Erin/21/nerung aus früheren Zeiten wecken, so wenig er selber auch mit ihnen im Zusammenhange steht. Ist Ihnen das noch nie vorgekommen?«

»Mir? - ja, o ja. Ich habe mich dann geirrt. Ich glaubte, Sie sprächen von einer alten Bekanntschaft. Aber die Vorstellung beginnt wieder. Jene schrecklichen Menschen da oben in den alten, uniformierten Jacken nehmen ihre Marterinstrumente wieder zur Hand. Mir wirbelt der Kopf schon ordentlich von dem furchtbaren Lärm. Ob man uns damit einen Genuß bereiten will?«

»Täuschen Sie sich darüber nicht, Comtesse,« lächelte der Rittmeister. »Was jene Leute Musik nennen, ist meist nur ein für die Pferde bestimmter, taktmäßiger Lärm, den sie vollführen. Schwiegen sie still, so würden auch die Thiere ihre Kunststücke nicht ausführen, zu denen sie den geräuschvollen Takt notwendig brauchen. Daß die Zuschauer gewöhnlich glauben, die Musik würde ihretwegen gemacht, ist ihre eigene Schuld.«

»Dann werde ich mich künftig nicht mehr darüber beklagen,« lächelte Melanie. »Aber da beginnen sie wirklich ihre Pferdemusik schon von Neuem, und jener gräßliche Gliederverrenker scheint seine Künste ebenfalls wieder produzieren zu wollen. Sehen Sie nur, Herr Graf, was dieser Bajazzo für ein fataler Mensch ist. Ein frecheres, widerlicheres Gesicht ist mir im ganzen Leben noch nicht vorgekommen. – Ob der Mann auch Familie hat?«

»Und warum nicht?« erwiderte der Rittmeister. »In seinen Kreisen glänzt er vielleicht sogar.«

»Und glauben Sie wirklich, daß sich ein Mädchen in solch ein – Geschöpf verlieben kann?«

»Comtesse,« sagte achselzuckend der Rittmeister, »in jenen Kreisen kommt es oft auf Liebenswürdigkeit oder ehrenvolles Brot nicht an. Sobald der Mann nur eben sein Brot hat - sobald er imstande ist, eine Frau vor Mangel zu schützen - denn mehr verlangen solche Leute selten - sobald hat er auch Anspruch darauf, als gute Partie betrachtet zu werden - betrachtet er sich doch selber dafür. In welcher Achtung er bei seinen Nachbarn oder gar den höheren /22/ Schichten der Gesellschaft steht, was liegt ihm daran! Solange das Publikum, dem er seine Späße vormacht, darüber lacht, solange ihn sein Brotherr dafür bezahlt, solange er ein Mann ist, der seinen Platz in der menschlichen Gesellschaft, gleichviel, wie - ausfüllt: so lange hat er eben sein Brot. Hört das einmal auf, bricht er einen Arm oder ein Bein oder wird er sonst zum Krüppel, vielleicht gar krank - dann ist er eben verloren. Dann macht er Kollekten oder schickt die Frau betteln - aber das alles liegt für ihn noch in der Zukunft - liegt weiter als der nächste Tag, und was sollte er sich jetzt schon deshalb Sorge machen?«

»Ein fürchterliches Leben!« sagte die Comtesse, zusammenschaudernd, »und doch klingt es, als ob es wahr sein könnte. Wo haben Sie nur einen so tiefen Blick in diesen Abgrund des Elends getan, Graf?«

»Guter Gott,« sagte der Rittmeister, »ein Soldat verkehrt mit allerlei Ständen, und ohne daß wir es wollen oder suchen, wendet uns oft das Leben auch seine dunkeln Seiten zu.«

Wüstes Geschrei und Jauchzen unterbrach ihr Gespräch, denn Bajazzo hatte die zweite Abteilung auf einem Esel eröffnet, mit dem er in die Arena sprengte. Auf dem Rücken des Thieres suchte er Monsieur Bertrand nachzuahmen, und die Galerie war glücklich darüber. Ihm folgten die beiden Kinder wieder, denen man die erst angekauften Zuckertüten zur Belohnung zuwarf, und als Bajazzo ein paar davon entwenden wollte und von dem Stallmeister dabei erwischt und daran verhindert wurde, kannte der Jubel des Publikums keine Grenzen mehr.

Dem Kinderritt folgte ein imposanteres Schauspiel: ein Turnier, in einer Art von Pantomime, in der sich zwei Ritter um den Besitz der schönen Georgine stritten. Monsieur Bertrand war einer von diesen, und in voller Rüstung, mit geschlossenem Visier und eingelegter Lanze, warf er in wirklich prachtvollem Rennen seinen Gegner in den Sand. Dann, mit abgeworfenem Helm, hielt er an der Seite der erbeuteten Schönen seinen Siegesritt um die Arena, und die Buketts flogen jetzt von allen Seiten

dem lieblichen Ritterfräu/23/lein zu. Eins der Buketts hatte die schöne und kecke Reiterin selber vom Boden aufgehoben, und es hoch in der Hand haltend, schwang sie sich damit unter dem Beifallsjauchzen der Menge wieder auf ihr Pferd, während dieses, bei dem Schmettern der Trompeten, in wilder Flucht die Arena umschnaubte. Der Ritter konnte sich kaum an ihrer Seite halten, und immer wilder, immer toller hieb er auf das schäumende Thier ein, es noch zu stärkerem, rasenderem Laufe anzutreiben.

Wieder kam es Melanie da vor, als ob ihr Blick, so oft die tolle Jagd an ihnen vorüberbrauste, den Nachbar suche und finde. Grüßend neigte sie sich gegen ihn und jetzt - als sie ihren Zelter mitten in vollster Flucht herumriß, die Arena, dem Ausgange zu, quer zu durchfliegen, warf sie die linke Hand, in der sie die Blumen hielt, empor, und der Strauß - ob absichtlich oder zufällig nach dieser Richtung getrieben – fiel im nächsten Augenblicke zu den Füßen des jungen Grafen nieder. Fast in demselben Moment war auch die Schöne, über die Bahn hinweg, verschwunden, und Melanie sah zu dem Rittmeister empor, dessen Antlitz Totenblässe bedeckte.

»Wollen Sie den Strauß nicht aufheben?« sagte sie mit vor innerer Bewegung fast erstickter Stimme.

Der Rittmeister bückte sich, aber er tat es wie in einem Traume, und die Blumen aufgreifend, hielt er sie fast bewußtlos seiner Nachbarin hin.

»Sie befehlen, Comtesse?«

»Ich danke Ihnen, Herr Graf!« erwiderte jedoch die junge Dame mit so auffallender Kälte im Tone, daß Graf Geyerstein erstaunt sie ansah. »Die Blumen sind ohne Zweifel dorthin gelangt, wohin sie bestimmt waren, und ich möchte Sie derselben nicht berauben - würde ich überhaupt etwas annehmen, was einer - Kunstreiterin zugeworfen ist.«

»Comtesse?«

»Sie haben jetzt Gelegenheit, Ihr Bukett wieder zu verwerten,« sagte das schöne und, wie es schien, beleidigte Mädchen. In der Tat erschien Georgine in diesem Augenblick wieder auf den donnernden Hervorruf der Menge, während ihr aufs Neue von allen Seiten Blumen entgegenflogen. /24/

Graf Geyerstein war aber durch die Worte Melanies so überrascht worden, daß er das Bukett unschlüssig in der Hand behielt, bis die schöne Reiterin die Arena verlassen hatte.

Wieder sprang jetzt der Bajazzo mit seinen gliederverrenkenden Künsten in die Arena, nachdem die Bahn vorher von den hineingeworfenen Blumen gesäubert worden, und zwei andere junge Damen, Mademoiselle Amelie und Leontine, waren ebenfalls noch in dem Programm angeführt. Comtesse Melanie hatte durch den Lärm der Trompeten Kopfschmerzen bekommen, und obgleich sich die jüngere Schwester dem nur ungern fügte, bat doch die Mutter den Grafen, ihren Wagen vorfahren zu lassen. Zehn Minuten

später verließ die Familie des Kriegsministers v. Ralphen, vom Grafen Geyerstein natürlich begleitet, den Zirkus, um nach Hause zurückzukehren.

3.

Der nächste Tag war ein Sonntag. Reges, bewegtes Leben herrschte in der Residenz, wo einesteils die gerade abgehaltene Messe eine Menge von Landleuten und Fremden in die Stadt gelockt hatte, während zugleich, zur Geburtstagsfeier des Fürsten, große Parade abgehalten wurde. Equipage um Equipage fuhr langsam durch das Gedränge der Straßen, dem Landesherrn zu diesem Tage die Glückwünsche des Hofes und der Beamten, ja des ganzen Volkes zu bringen. Der Rittmeister v. Geyerstein sah sich den Morgen über durch seinen Dienst teils auf der Parade, teils bei Hofe gefesselt und kam erst gegen zwei Uhr nach Hause, während er um fünf schon wieder zur Tafel befohlen worden. Zum nicht geringen Erstaunen seines Burschen kleidete er sich aber, so wie er zurückkehrte, um und in Zivil, und während dieser, immer dabei mit dem Kopfe schüttelnd, /25/ die verschiedenen nöthigen Gegenstände herbeibrachte, sagte sein Herr: »Hast du mir die Wohnung gefunden, wie ich dir aufgetragen, Karl?«

»Zu Befehl, Herr Rittmeister - die von dem Seiltänzer, meinen Sie doch?«

»Von Monsieur Bertrand.«

»Sehr wohl. Rosenstraße Nummer 47, zweiter Stock, erste Thür rechts.«

»Rosenstraße? -- wo ist die Rosenstraße? die kenne ich gar nicht.«

»Gleich am Landgrafenplatz, zu Befehl, die kleine Gasse, die hinter der Bude hineinläuft. Nummer 47 ist das rechte Eckhaus, aber der Eingang in der Gasse drin. Das Haus selber heißt auch die Rose und war früher ein Hospital, ist aber jetzt ein Wirthshaus, und die Kunstreiter kehren gewöhnlich dort ein, weil ihnen die Ställe unten bequem liegen und der Mann, dem das Haus gehört, auch Futter und Streu zu verkaufen hat.«

»Es ist gut, du - kannst mir eine Droschke holen.«

»Herr Rittmeister halten zu Gnaden, um fünf Uhr Tafel.«

»Ich weiß es -- bis dahin bin ich wieder zurück. Du gehst mir indessen nicht fort und hältst alles bereit.«

»Sehr wohl, Herr Rittmeister!«

Wenige Minuten später rasselte die Droschke über das Pflaster und hielt vor der Thür.

»Wohin?« fragte der Kutscher.

»Landgrafenplatz!« und fort klapperte das Fuhrwerk, der bezeichneten Richtung zu.

Am Landgrafenplatz angekommen, schaute der Kutscher in das vordere Fenster hinein, zu erfahren, ob er sich rechts oder links halten müsse. Eine Handbewegung des Fahrenden wies ihn zurecht, und in der Nähe der kleinen Straße angekommen, stieg der Rittmeister aus. Er wollte nicht vor dem Hause mit dem Wagen halten. Den bezeichneten Platz fand er ohne alle Schwierigkeit. Die Beschreibung des Burschen war genau gewesen, und er betrat gleich darauf einen dunkeln, schmutzigen Hausflur, in dem sich nur ein paar Pferde/26/knechte herumtrieben und mit dem hindurchgehenden Hausmädchen schäkerten. Einige Schwierigkeit hatte es, die Treppe in den zahlreichen Einschnitten des alten Gebäudes zu finden, die zu ebenso

vielen Keller- oder Stubenthüren, bald mit Stufen abwärts, bald aufwärts, führten. Endlich fand er aber die schmale, hölzerne Stiege, der er, ohne weiter jemandem zu begegnen, bis in die zweite Etage folgte. Die ihm von seinem Burschen bezeichnete erste Thür rechts trug eine daran geheftete Visitenkarte, und als er näher trat, las er die mit feiner, zierlicher Schrift gestochenen Worte: »George Bertrand.«

»Georg,« flüsterte der Rittmeister leise vor sich hin, und zögernd, unschlüssig hob sich seine Hand nach dem Drücker. Sollte er anklopfen? - aber die Zeit verging, und im nächsten Augenblicke tönte ihm schon ein lautes »Herein!« aus dem Zimmer entgegen.

Ohne sich länger zu besinnen, öffnete er die Thür und überraschte hier eine Dame, die sehr ungeniert und in tiefstem Negligé auf dem Sofa lag, auch nur langsam den Kopf nach dem Eintretenden umdrehte. Kaum aber erkannte sie, daß es ein Fremder sei, als sie auch blitzschnell aufsprang und wie ein Schatten durch die dicht daneben befindliche Thür huschte. Verlegen, hier so gestört zu haben, sah sich der Rittmeister

im Zimmer um und entdeckte jetzt erst in der anderen Ecke, dicht am Fenster, noch eine andere Persönlichkeit, einen älteren Mann, der ihn mit eben nicht freundlichem Blick und etwas vorgebogenem Kopfe über eine Klemmbrille hinüber betrachtete.

»Suchen Sie jemanden?« fragte er dabei mit heiserer Stimme.

»Herrn Bertrand. Ist er zu Hause?«

»Nein.«

»Wann kann ich ihn treffen?«

»Weiß ich nicht. Was wollen Sie?«

»Ich möchte ihn sprechen.«

»Müssen Sie morgen wiederkommen -- heute hat er keine Zeit,« brummte der Alte, der, wie der Rittmeister jetzt erst sah, mit einer kurzen Pfeife im Munde, eine Hanswurst/27/jacke auf den Knieen liegen hatte und beschäftigt schien, sie mit Nadel und Zwirn auszubessern.

»Ich bitte den Herrn, ein klein wenig zu warten - ich komme den Augenblick,« rief da die Stimme der Dame aus dem Nebenzimmer, und der Alte, als ob damit die Sache für ihn erledigt sei, schob sich seine Brille zurecht und nahm seine Arbeit wieder auf. Der Fremde mochte sich indessen selber die Zeit vertreiben.

Dem Rittmeister war es nicht wohl in dieser Umgebung und er überlegte schon, ob er nicht lieber Monsieur Bertrand zu sich bestellen solle. Er hatte gehofft, ihn allein zu finden, denn bei dem, was er mit ihm zu sprechen wünschte, brauchte und wollte er keinen Zeugen. Aber er mochte nicht unartig gegen die Dame sein; jedenfalls erhielt er von ihr auch bessere Auskunft, als der mürrische Alte, in dem er jetzt den Hanswurst

von Abend zu erkennen glaubte, geben mochte. - Ganz recht - er hatte sich nicht getäuscht. An der linken Seite des eben nicht zu sorgfältig gewaschenen Gesichts ließ sich noch ein schmaler Streifen der weißen Farbe erkennen, mit der er gestern bemalt gewesen. Aber wie anders sah der sauertöpfische Gesell heute aus gegen gestern, wie er da, zusammengekauert, ein Bein über das andere geschlagen, mit hohlen, tief

liegenden Augen und runzeligen Wangen, das stark mit Grau gemischte Haar wirr und ungekämmt um den Kopf hängend, vor ihm saß und seine Narrenjacke flickte! Doch in der ganzen Stube sah es ebenso wild und ungeordnet aus. Auf dem Sofa lagen eine Menge getragener Kleidungsstücke, die jedenfalls der Dame gehörten – Unterkleider

und Trikots, ohne den Glanz, den ihnen die abendliche Beleuchtung verliehen; über einen Stuhl daneben war ein prachtvoller Waffenrock von kirschfarbenem Samt geworfen. Darunter stand ungeputztes Schuhwerk, und Schmuck und Tand, mit Schminknäpfchen, Pinseln, Farben und allen möglichen anderen Utensilien, das Publikum zu täuschen, deckten den Tisch und die benachbarte Kommode. Das Zimmer war auch noch nicht ausgekehrt, eine Decke mit einem schon mehrfach gebrauchten Kopfkissen nahm einen der Stühle ein - es sah fast aus, als ob jemand die Nacht /28/ auf dem Sofa gelegen hätte, und der Tabaksqualm aus der Pfeife des Alten hatte den Schlafdunst noch nicht bewältigen können.

Dem Rittmeister benahm es bald den Atem, und draußen lag der helle Sonnenschein so warm auf den Fensterscheiben. Er hätte Gott weiß was darum gegeben, ein Fenster aufreißen zu dürfen. Da öffnete sich die Kammerthür wieder, durch welche die Dame vorhin geflüchtet war, und Madame Bertrand - nicht so bezaubernd wie sie Abend wohl dem Publikum erschienen, aber noch immer ein bildschönes Weib - trat auf die Schwelle.

»Ich muß tausendmal um Entschuldigung bitten,« sagte sie, während ihr Blick im Zimmer umherschweifte und sie rasch die jedenfalls ihr gehörigen und zunächst liegenden Kleidungsstücke aufraffte und hinter sich in die Kammer warf - »Sie finden uns aber noch so in Unordnung...«

»Madame,« unterbrach sie der Rittmeister höflich, »wenn jemand hier um Entschuldigung zu bitten hat, so bin ich es, der ich unangemeldet bei Ihnen eintrat und Sie unberufen störte.«

Madame Bertrand hatte indessen zu ihm aufgesehen, und ein eigenes Lächeln belebte plötzlich ihre Züge.

»Ich glaube, ich habe schon gestern das Vergnügen gehabt, Sie bei unserer Vorstellung zu sehen,« sagte sie, »aber wollen Sie nicht Platz nehmen? Guter Gott, es sieht wahrhaftig gerade heute zu unordentlich bei uns aus! Was müssen Sie nur von uns denken!« Sie räumte dabei rasch und ziemlich rücksichtslos, wohin sie die Sachen aus dem Wege brachte, das Sofa ab, und sich dann in die eine Ecke lehnend, zeigte sie mit einer leichten Handbewegung lächelnd auf die andere, so daß Graf Geyerstein nicht umhin konnte, neben ihr Platz zu nehmen. Halb verlegen gehorchte er auch der Einladung, und es entging ihm dabei nicht, daß die schöne Frau dem Alten einen bezeichnenden Blick zuwarf. Dieser griff, demselben gehorchend, und wie es schien ziemlich mürrisch, seine Arbeit auf, sah rechts und links neben sich auf die Erde, ob er nicht etwas vergessen habe, und verließ dann ohne weiteren Gruß das Zimmer. /29/

»Ich bin Ihnen vor allen Dingen eine Erklärung schuldig, Madame,« nahm jetzt der Rittmeister das Wort, »daß ich gewagt habe...«

»Ich bitte Sie um Gotteswillen, keine Entschuldigung,« unterbrach ihn lächelnd die Frau, »Sie sind da, und das genügt mir - was wollen Sie mehr? Es soll mich nur freuen, wenn ich Ihnen mit etwas dienen kann.«

Graf Geyerstein geriet dieser Antwort, ja Ermunterung gegenüber in Verlegenheit und Madame Bertrand schaute ihn so freundlich dabei an, und sah in dem leichten, seidenen Oberkleide, das ihren vollen Körper nur locker umschloß, wirklich so reizend aus - er konnte nur eine dankende Verbeugung machen.

»Sie sind Soldat, nicht wahr?« nahm da die Dame die Unterhaltung wieder auf, »Kavallerie-Officier?«

»Allerdings.«

»Ich dachte es mir - oder vielmehr, ich erinnere mich Ihrer Uniform,« setzte die Frau, leicht errötend, aber doch auch wieder halb schelmisch hinzu, »und Sie - interessieren sich für unsere schönen Pferde?«

»Ich muß gestehen, daß ich entzückt davon bin,« erwiderte der Graf, der um jeden Preis diese Unterredung abzubrechen wünschte, »aber das ist es eigentlich nicht, was mich hierher geführt.«

»Sie wollten auch die Reiter kennen lernen,« lächelte Madame Bertrand, »ein sehr natürlicher Wunsch, der aber leider nur gewöhnlich die Illusion zerstört, die bis dahin einen eigenen, fremdartigen Zauber um sich warf.«

»Ich wünschte Monsieur Bertrand zu sprechen.«

»Georg? - er ist leider nicht zu Hause. Heute, am Meßsonntage, geben wir zwei Vorstellungen und seine Anwesenheit im Zirkus ist deshalb unumgänglich nötig, um die erforderlichen Anordnungen dort zu treffen. Er wird vielleicht vor der Vorstellung nur noch auf einen Augenblick herüberkommen.« Graf Geyerstein schwieg und sah sinnend vor sich nieder.

»Kann ich vielleicht irgend einen Auftrag ausrichten? Georg wird sich jedenfalls geehrt fühlen. - Aber, mein Gott! fehlt Ihnen etwas? - Sie sehen todten/30/bleich aus.« Sie legte ihre Hand auf seinen Arm und sah besorgt zu ihm auf.

»Nicht das Mindeste,« sagte abwehrend der Graf, »ich danke Ihnen, Madame, aber ich befinde mich vollkommen wohl - nur die drückende Luft hier im Zimmer...«

»Sie haben recht!« rief Madame Bertrand, aufspringend und rasch ein Fenster öffnend, »es ist hier auch entsetzlich heiß, und Vater hat dabei wieder einmal so gequalmt.«

»Der Vater!« flüsterte der Rittmeister leise vor sich hin, und fast krampfhaft faßte die Linke den Tisch, an dem er sich emporrichtete.

»Sie wollen schon wieder fort?« rief da Georgine, mit einem halb erstaunten, halb bittenden Blick.

»Ich darf Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Aber Sie stören mich gar nicht, und wenn Sie Geschäfte mit Georg...«

»Geschäfte nicht, Madame, aber - ich wünschte ihn zu sprechen,« unterbrach sie der Graf, »und - ich sehe auch keinen Grund, weshalb ich Ihnen die Ursache verschweigen sollte. Eine merkwürdige Aehnlichkeit, die er mit einem meiner früheren Freunde hat, läßt mich wünschen, ihn kennen zu lernen - möglich, daß es nur eben eine Aehnlichkeit ist, aber ich würde ihm sehr dankbar sein, wenn er mich vielleicht morgen früh zwischen acht und zehn Uhr besuchen wollte. Meine Karte hier haben Sie wohl die Güte ihm zu überreichen.«

»Graf Wolf v. Geyerstein,« las Georgine, sich leise und lächelnd dabei gegen den jungen Officier verneigend, »ich werde nicht ermangeln, Ihren Auftrag pünktlich auszurichten, Herr Graf. Aber - wissen Sie wohl, daß das ein recht eigenes Zusammentreffen ist?«

»Welches, Madame?«

»Daß Sie Georg einer Aehnlichkeit wegen aufsuchen wollen,« sagte die junge Frau, »während gerade Sie, Herr Graf, auch mir einer Aehnlichkeit wegen von Anfang an aufgefallen sind.«

»Und wem sah ich ähnlich?« flüsterte der Graf, und seine Blicke hafteten fest und stier auf den Augen des schönen Weibes. /31/

»Keinem so entsetzlichen Wesen, als Sie zu glauben scheinen,« lächelte schalkhaft Georgine, »nur - einem früheren Geliebten von mir – meinem jetzigen Manne.«

»Georg Bertrand?«

»Demselben - wenigstens damals, als er noch nicht einen so furchtbaren Bart trug wie jetzt.«

»Sie sind schon längere Zeit verheiratet, Madame?«

»Leider!« seufzte Georgine mit komischem Bedauern.

»Leider?«

»Ich weiß nicht, ob Sie vermählt sind, Herr Graf, aber - es ist doch ein anderes Ding um einen Liebhaber, als um einen Ehemann, und Monsieur Bertrand ist, besonders in der letzten Zeit, so ernst - ja, ich möchte fast sagen, finster geworden, als ob er die ganze Lust an seiner Kunst verloren hätte.«

»Und wenn dem wirklich so wäre?«

»Wenn dem so wäre?« lachte Georgine. »Sie reden gerade, als ob er von seinen Renten leben könnte! Er hat weiter nichts gelernt, als die sogenannte »brotlose Kunst«, die uns aber doch ein ganz hübsches Brot abwirft, und die Dressur der Pferde, in der er Meister ist. Sollte er aber jetzt, wo er so viele in seinem Dienste gehabt, selber Dienste bei einem Herrn nehmen und Bereiter werden? Er hielte es nicht vierundzwanzig Stunden aus.«

»Und finden Sie selber Freude an diesem Beruf - an dieser Kunst, wenn Sie wollen?«

»Ich lebe und atme darin!« rief Georgine, und ihre Augen leuchteten, ihre ganze Gestalt hob sich. »Auf dem Rücken meines Thieres bin ich ein anderes Wesen, gehöre ich dieser Erde kaum mehr an, und was dem Fisch das Wasser, der Pflanze das Licht sein mag, ist mir der jauchzende Beifall der Menge, die buntgeschart mich umgibt. Ich schwimme dann in einem Meer von Glanz und Licht und Wonne, und - erwache erst, wenn diese Wände hier aufs neue mich umgeben - einschließen.«

»Und das ist doch ein unnatürlich Leben,« sagte der junge Graf, »das Haus ist eigentlich des Weibes schönster Wirkungskreis.« /32/

»Nicht der meine!« rief Georgine, indem ein trotziges Lächeln ihre schönen Lippen umspielte. »Das Haus? - ja, für die Weiber, die nähen und stricken und Freude an ihrem Wäschschrank finden können. Mein Wirkungskreis liegt draußen in der Bahn; ich tanze, fliege durch das Leben, und so - so möcht' ich enden, wenn es denn einmal geschieden, gestorben sein muß. Aber Sie sind Soldat. Sie können sich am besten, am leichtesten in solche Sehnsucht denken. Und möchten Sie, wie Sie da vor mir stehen, als Mann, das Leben eines Stubenhockers, eines Aktenmenschen, wählen, der über seinen staubigen Papieren brütet und Licht und Luft und Sonnenschein da draußen ungesehen, unbeachtet wirken, schaffen, segnen läßt? Sie nicht, Sie wahrlich nicht, und gerade so denk' auch ich. Von klein auf zu diesem Beruf herangebildet, hab' ich mit der Muttermilch schon die Lust an solchem Leben eingesogen, und wem das nun einmal im Blute liegt, glauben Sie nicht, daß der sich einer geregelten - einer festgeschnürten Existenz möcht' ich es nennen, einem Gang in der Tretmühle des menschlichen Lebens je wieder fügen könne. Zugvögel, die wir sind, müssen wir auch die Freiheit des Zugvogels behalten, wenn wir nicht verkümmern, nicht untergehen sollen.«

»Und denkt Ihr Gatte ebenso?«

»Gewiß - er wäre sonst nicht der, der er ist: Bertrand, der kühnste aller Reiter und - mein Mann. Aber ich plaudere und plaudere und denke nicht daran, daß es Sie wenig kümmern wird, welche Gesinnungen über ihr Leben eine Kunstreiterin hegt. Von Ihren Sphären sind wir freilich ausgeschlossen, und doch, - wer weiß, ob nicht so wackere Herzen oft unter dem bunten Tand, mit dem wir uns behängen müssen, wie unter Stern und Ordensbändern schlagen! Doch mein Geschwätz ermüdet Sie; nehmen Sie wieder Platz, Herr Graf, und - wenn Sie es wünschen und etwas Besonderes mit Monsieur Bertrand zu bereden haben, will ich ihn rufen lassen. Der Zirkus ist nur wenige Schritte von hier entfernt.«

»Ich danke Ihnen, Madame,« unterbrach sie der Rittmeister. »Meine Zeit ist überdies heute beschränkt, wie die seine wahr/33/scheinlich. Morgen früh wird ihm eher Raum bleiben, mir eine halbe Stunde zu gönnen. Meine Wohnung finden Sie auf der Karte angegeben. Ich darf Sie bitten, ihm meinen Wunsch mitzuteilen?«

»Ihr Auftrag soll pünktlich vollzogen werden,« sagte die Frau, und der Rittmeister, indem er sich dankend verbeugte, grüßte sie achtungsvoll und verließ das Zimmer.

Georgine blieb, die Unterlippe mit den kleinen, weißen Zähnen gefaßt, wohl mehrere Minuten in derselben Stellung am Fenster. Sie hielt die Karte, die er ihr gegeben, noch in der Hand, und ihre Augen hafteten darauf.

»Kalt wie Eis,« murmelte sie dann mit einem spöttischen und doch auch wieder verdrießlichen Lächeln vor sich hin, »aber - was er nur von Georg will, denn die Aehnlichkeit war leere Ausrede - Graf Wolf v. Geyerstein, Rittmeister - hier - und Adjutant des Fürsten? – Sollte der Fürst - vielleicht wegen des Turmseiles? aber, bah! was hat der mit dem Kunstreiter zu schaffen, daß er einen seiner Adjutanten zu ihm schicken würde? Auch war der Herr Rittmeister nicht in Uniform, sondern in Zivil; er hat sich vielleicht geschämt, in Uniform bei uns gesehen zu werden. Aber er wollte Georg sprechen, nicht mich. - Doch, was zerbreche ich mir den Kopf?« rief sie plötzlich, die Karte neben sich auf den Tisch werfend. »Ob Herr Graf Wolf v. Geyerstein Ursache hat den Kunstreiter Bertrand aufzusuchen oder nicht - was kümmert's mich! Georg mag das selber untersuchen. Die ganze Sache läuft doch nur zuletzt auf einen Pferdekauf hinaus.«

»Ist er fort?« sagte in diesem Augenblicke der Alte, der seinen Kopf wieder zur Thür hereinsteckte.

»Wie du siehst, ja,« erwiderte gleichgültig die Frau, »dort unten geht er eben über die Straße.«

»War gerade noch so ein Musjö da, der Dich sprechen wollte.«

»So? - Wer?«

»Der geschniegelte und geleckte Bengel mit dem Schnurbart wie ein Malerpinsel. Silbermann oder Silberfranz /34/ - was weiß ich's, wie er heißt! Ich habe ihn gleich an der Treppe abgefertigt.«

»Das war recht -- ich mag den faden Menschen überhaupt nicht leiden.«

»Und wer war der?«

»Ein Graf.«

»Und wollte?«

»Georg sprechen.«

»Nur Georg?«

»Nur Georg.«

»Pferdehändler!« brummte der Alte und schleppte seine Jacke wieder zum Fenster, an dem er den alten Platz einnahm, um mürrisch und finster wie vorher an dem scheckigen, schmutzigen Kleidungsstück weiter zu nähen. Kein Wort wurde mehr zwischen den beiden gewechselt, die Jedes mit den eigenen Gedanken vollständig beschäftigt schienen. Da schallten Schritte vom Vorsaale herein.

»Georg,« sagte die Frau aufhorchend.

»Wird mich wieder zur Probe haben wollen,« knurrte der Alte, »aber verdammt will ich sein, wenn ich jetzt hinübergehe. Heute die Rackerei zweimal ist vollständig genug.«

Die Thür ging auf, und Monsieur Bertrand betrat in der Tat das Zimmer, ohne die beiden aber nur im Mindesten zu beachten. Selbst ohne Gruß kam er herein, warf seinen Hut auf einen Stuhl und schritt dann eine Weile, die Arme fest ineinander geschlagen, in dem kleinen Raume auf und ab. Der Alte warf einen forschenden Blick nach ihm hin, nahm aber weiter keine Notiz von ihm, und nur Georgine sagte endlich: »Ist etwas vorgefallen, daß du so verdrießlich bist?«

»Vorgefallen? - nein,« erwiderte der Mann, ohne seinen Spaziergang zu

unterbrechen.

»Ist die Erlaubnis zu deinem Turmseil noch nicht gekommen?«

»Nein.«

»Und wär' auch kein Schade, wenn sie ganz ausbliebe!« brummte der Alte. »Mit dem verwünschten Seiltanzen nimmt es noch einmal ein böses Ende. Und wenn Ihr's noch nöthig /35/ hättet! Aber die Reiterei ist weit ehrenvoller und bringt hundertmal mehr Geld ein, als der halsbrechende Lauf.«

»Aber er macht Aufsehen!« rief Georgine rasch. »Wenn sich die Kunde verbreitet, daß Georg gewagt hat, was vor ihm noch keiner wagte, strömt das Volk von nah und fern herzu, um ihn zu sehen.«

»Sie denken gar nicht daran,« sagte der Alte finster, »und du solltest gerade die Letzte sein, die dem Tollkopf auch noch zuredete, sein Leben an solch einen Quark zu wagen. Was wird aus dir, aus uns allen, wenn er den Hals bricht oder selbst nur zum Krüppel stürzt?«

»Und geht er nicht so sicher auf dem Seil, wie hier auf ebenem Boden?« rief die Frau.

»Papperlapapp! Mir mußt du so etwas nicht sagen,« meinte aber kopfschüttelnd der Hanswurst. »Mein Bruder, der lange Franz, mit dem ich meine tollsten Jahre verlebt, war ein so tüchtiger Seiltänzer wie nur einer, und wie er zuletzt glaubte, er könnt's ganz allein, und höher und immer höher stieg, passierte ihm doch einmal etwas Menschliches. Ob er den Krampf bekam, ob er schwindelig wurde - er hat's keinem Menschen mehr erzählt, aber ich seh' ihn noch vor mir, wie er da oben haushoch über die staunende Menschenmenge hinlief, daß wir unten, gegen den grauen Himmel hin, nicht einmal mehr das Seil erkennen konnten – ich sehe ihn noch vor mir, wie er auf einmal schwankte, wie ihm die Stange aus der Hand fiel, und ein Schrei von den Tausenden – ein furchtbarer Schrei zu ihm hinaufgellte - dann kam ein dumpfer Schlag

- und als ich wieder scheu den Kopf hob, lag ein häßlicher, blutiger Klumpen vor mir - der lange Franz. - Seit dem Tage hab' ich kein Seil wieder betreten.«

Bertrand war vor dem Alten stehen geblieben, aber sein Blick schweifte über ihn hin nach seinem Weibe, das halb abgewandt von ihm, die rechte Hand auf das Fensterbrett gestützt, den Kopf unwillig langsam hin- und herwiegend, am Fenster lehnte.

»Du hättest etwas Gescheiteres thun können,« sagte sie jetzt, während der Vater, in der Erinnerung noch zusammen/36/schaudernd, schwieg, »als ihm gerade heute die Geschichte zu erzählen. Daß etwas derartiges passieren kann, weiß ich auch, aber eben die Möglichkeit desselben übt den Reiz auf die Zuschauer, gründet den Ruf des kühnen Läufers. Wäre keine Gefahr dabei, wer würde sich die Mühe geben, auch nur zuzusehen?«

»Du hast gut reden,« sagte der Alte finster.

»Und glaubst du, ich fürchte die Gefahr?« rief rasch und heftig die Frau, »glaubst du, ich rede ihm zu, wenn ich sie nicht teilen wollte? - Ich werde ihn begleiten.«

»Du? - auf dem Turmseil?« lachte kopfschüttelnd ihr Vater. »Du bist nicht gescheit!«

»Das geht nicht, Georgine,« sagte Bertrand. »Wenn ich mich selber auch sicher genug da draußen weiß, um nicht das Schicksal des langen Franz zu befürchten, möchte ich doch nicht die Angst für Dich mit hinausnehmen. Außerdem weißt du selber, daß es viel schwerer ist, zu zweien, als allein das Seil zu begehen.«

»Bah! wir sind so oft zu zweien darauf gewesen.«

»Allerdings, doch nicht in solcher Höhe.«

»Und welcher Unterschied ist zwischen Haus- und Turmhöhe? Ein Sturz wäre von der einen genau so verderblich wie von der andern.«

»Gewiß! aber du selber hast ein Seil in solcher Höhe noch nie betreten; du weißt nicht, wie es Dich erregen würde - doch wir streiten da um einen ganz nutzlosen Gegenstand. Bis jetzt hat es mir der Magistrat verboten, und ob mein direkt an den Fürsten gerichtetes Gesuch einen anderen Erfolg haben wird, weiß ich noch nicht.«

»Ein Adjutant des Fürsten war heute Morgen hier,« sagte Georgine, »ich zweifle aber, ob in der Angelegenheit. Jedenfalls wollte er Dich sprechen.«

»Ein Adjutant des Fürsten?« rief Bertrand rasch - »und weshalb hast du mich da nicht rufen lassen?«

»Er hatte keine Zeit. Dort liegt seine Karte. Er ersucht Dich, ihn morgen früh zwischen acht und zehn Uhr zu besuchen.«

»Sonderbar!« sagte Bertrand und schritt langsam zu dem /37/ Tisch, auf dem die Karte lag. Georgine hatte sich dem Fenster zugewandt und sah hinaus, und der Alte nähte den letzten abgerissenen großen weißen und ballähnlichen Knopf an seine Jacke.

»Nun?« sagte Georgine endlich, als Bertrand noch immer schwieg, indem sie sich nach ihm umdrehte. »Kennst du den Herrn?« Bertrand antwortete nicht. Er hielt die Karte zwischen den Fingern; seine Augen hafteten darauf, aber er sprach kein Wort. Georgine schritt hinüber zu ihm und sah über seine Schulter auf die Karte nieder; erst als er noch immer nicht sprach, schaute sie zu ihm auf und erschrak über die plötzliche

Blässe seiner Züge.

»Was fehlt dir, Georg?« rief sie. »Du siehst kreideweiß aus. Was ist mit dem Fremden?«

»Kreideweiß?« lächelte Bertrand, aber ihrem scharfen Blick entging nicht, welche Gewalt er sich dabei anthun mußte, wenn er auch sonst seine ganze Fassung und Ruhe behielt. - »Du träumst. Aber wer brachte diese Karte?«

»Der, dessen Namen sie trägt.«

»Wolf v. Geyerstein,« flüsterte Bertrand halblaut vor sich hin, aber es war, als ob er die Worte mehr zu sich selber spräche, als sie für ein anderes Ohr bestimmte.

»Du kennst ihn?« fragte die Frau, und ihre Augen hingen erwartend an denen des Gatten.

»Ich kenne den Namen,« sagte dieser ruhig, »kannte wenigstens einen, der ihn trug - aber das ist lange Jahre her und war auch an einem andern Orte - weit von hier.«