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Sie suchten Liebe … und fanden den Tod
Ein brisanter Thriller über die dunklen Seiten der künstlichen Intelligenz
Willkommen bei IQ-VE, eine Dating-App exklusiv entwickelt für Hochintelligente. Doch hinter der scheinbar perfekten Welt lauert eine dunkle Gefahr: So genannte Honey Trapper manipulieren Nutzer zum Fremdgehen – oder schlimmeren. Denn die Spur mehrerer verschwundener Personen, führen den Psychologe Dr. Daniel Mertons und die Streifenpolizistin Lupita Mugabo direkt zu der Dating App. Und von dort aus beginnt eine nervenaufreibende Suche, die sie in ein Labyrinth aus Rätseln und Gefahren führt. Was passiert hinter den Kulissen von IQ-VE und wer hält dort wirklich die Fäden in der Hand? Daniel und Lupita versuchen alles, um weitere Unschuldige vor den manipulativen Machenschaften der App zu retten, merken aber nicht, wie sie selbst Gejagte in einem mörderischen Spiel werden …
Erste Leser:innenstimmen
„Die Verflechtung von Hochtechnologie, Psychologie und einem skrupellosen Milliardär macht diesen Thriller unglaublich packend!“
„Die Idee, eine Dating-App mit einer düsteren Verschwörung zu verknüpfen, ist spannend umgesetzt.“
„Beeindruckt hat mich die stetige Entwicklung der Charaktere und wie sie in das Netz aus Lügen und Geheimnissen verwickelt werden.“
„Die moralischen Konflikte der Protagonisten und die erschreckend realistische Darstellung moderner Technologie machen das Psychothriller nicht nur spannend, sondern auch zum Nachdenken anregend.“
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 460
Willkommen bei IQ-VE, eine Dating-App exklusiv entwickelt für Hochintelligente. Doch hinter der scheinbar perfekten Welt lauert eine dunkle Gefahr: So genannte Honey Trapper manipulieren Nutzer zum Fremdgehen – oder schlimmeren. Denn die Spur mehrerer verschwundener Personen, führen den Psychologe Dr. Daniel Mertons und die Streifenpolizistin Lupita Mugabo direkt zu der Dating App. Und von dort aus beginnt eine nervenaufreibende Suche, die sie in ein Labyrinth aus Rätseln und Gefahren führt. Was passiert hinter den Kulissen von IQ-VE und wer hält dort wirklich die Fäden in der Hand? Daniel und Lupita versuchen alles, um weitere Unschuldige vor den manipulativen Machenschaften der App zu retten, merken aber nicht, wie sie selbst Gejagte in einem mörderischen Spiel werden …
Erstausgabe November 2024
Copyright © 2024 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten
E-Book-ISBN: 978-3-98998-267-3 Hörbuch-ISBN: 978-3-98998-280-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-98998-538-4
Covergestaltung: Buchgewand unter Verwendung von Motiven von stock.adobe.com: @ jakkapan, @ hearty depositphotos.com: @ LauraBustos, @ avicons shutterstock.com: Evgeni ShouldRa, EA230311, Ensuper Lektorat: Astrid Pfister
E-Book-Version 17.10.2024, 12:02:45.
Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.
Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
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Sie suchten Liebe … und fanden den Tod Ein brisanter Thriller über die dunklen Seiten der künstlichen Intelligenz
„Es ist mir gleichgültig, ob du ein Dämon oder ein Engel bist“, flüsterte die Banshee und strich mit der Fingerspitze sanft über das rechte geschwungene Horn, das aus der ockerfarbenen Haut seiner Stirn ragte.
Adam Sinclair lehnte sich zurück und las sich den Satz laut vor. Was war denn das für ein süßlicher Mist? Er markierte den Text und löschte ihn. Danach starrte er minutenlang auf den blinkenden Cursor. Etwa hundert Seiten noch, dann wäre seine Bestseller-Trilogie endlich abgeschlossen. Und die Legionen von weiblichen Fans, die Sinclair mit seinem wilden Mix aus Fantasy und Liebesroman gewonnen hatte, würden zum Verkaufsstart des letzten Bandes wieder vor den Buchhandlungen campieren. Die ersten beiden Bücher hatten monatelang die Bestsellerliste angeführt und der Erwartungsdruck war dementsprechend gewaltig. Doch Sinclair zweifelte zunehmend daran, dass er ihn erfüllen konnte, denn es war ihm schwergefallen, den dritten Roman zu schreiben. Anders als bei den Vorgängerbänden, hatten die Musen ihm die Küsse bislang verweigert. Und sein Plan für das große Finale kam ihm lau und langweilig vor.
Auf dem linken der beiden Bildschirme auf seinem Schreibtisch ploppte ein Fenster auf. Als er die Nachricht in grüner Schrift auf schwarzem Hintergrund las, weiteten sich seine Augen:
Hey, du hast doch gesagt, du bist spontan. Wollen wir Nacktbaden gehen?
Adam schluckte. Damit hatte er nicht mehr gerechnet. Seit Tagen hatte er mit der Nutzerin Nachrichten ausgetauscht, hatte um sie geworben mit aller Eloquenz, die ihm als weltbekanntem Autor von Fantasy-Liebesromanen zur Verfügung gestanden hatte. Doch mal hatte sie sich unnahbar gegeben, mal hatte sie ihn gelockt, gereizt oder getriezt. Am Ende ihrer oft stundenlangen Chatsessions hatte er sie immer um ein Treffen gebeten, aber bisher hatte sie stets abgeblockt, hatte vorgegeben, etwas Anderes, Besseres vorzuhaben. Einmal hatte sie ihm sogar offen mitgeteilt, dass sie gar nicht daran denke, sich mit ihm zu treffen, weil er ihr nicht genug zu bieten habe, Bestsellerautor hin oder her. Sie hatte mit ihm gespielt und je weiter er ihr sein Innerstes geöffnet hatte, desto brutaler hatte sie auf seinen Gefühlen herumgetrampelt. Aber - Adam wagte kaum, sich das einzugestehen - gerade das hatte ihm einen besonderen Kick verschafft.
Was sollte er nun zurückschreiben? Sollte er auf ihr Angebot eingehen? Würde sie überhaupt auftauchen, oder war das nur ein weiteres ihrer Spielchen? Er schob die Gedanken beiseite. Sie war das strahlende Licht an der Spitze des Leuchtturms gewesen, das ihn in den letzten Tagen über Wasser gehalten hatte. Das Schreiben war so quälend und schleppend verlaufen, dass er beinahe an sich und seinen schriftstellerischen Fähigkeiten verzweifelt war. Die aufkeimenden Depressionen hatte er, so gut es ging, mit Single Malt Whisky bekämpft, was der Qualität seines Manuskripts jedoch eher abträglich gewesen war. Doch die Chats mit der mysteriösen Unbekannten, hatten es geschafft, ihn aus den tiefsten Löchern heraus zu ziehen.
Hey, bist du noch da? Ich dachte, du willst nichts mehr, als mich zu treffen? Oder bist du zu feige dazu?
Adam spürte, wie sich seine Wangen röteten. Das war ja die Höhe! Er und feige?
Wann und wo?
schrieb er zurück und war dabei stolz, wie knapp und cool seine Worte klangen. Da sollten ihn die Rezensentinnen noch einmal für seinen ausladenden Stil kritisieren!
Am Strand in Porthleven. In zwanzig Minuten.
Adam spürte, wie sein Mund austrocknete. Vor seinem inneren Auge erschienen anregende Bilder, zweier Menschen, die sich eng umschlungen in der Gischt wälzten. Eine dieser Personen war er, die andere die attraktive Blondine mit dem Alias Tryharder27, deren Profilbild ihm nicht aus dem Kopf gehen wollte, seit er es vor drei Tagen zum ersten Mal auf der Dating-Plattform IQ-VE gesehen hatte.
Er speicherte das Manuskript ab, fuhr den PC herunter und ging ins Bad, um sich frisch zu machen. Dann schob er das Handy in die Gesäßtasche, griff nach dem kleinen Geldbeutel und eilte hinaus in die Garage, wo er sich auf sein Fahrrad schwang. Er trat in die Pedale und ließ sich die abschüssige Straße hinunterrollen, die zu dem nur wenige Meilen entfernten Hafenstädtchen Porthleven im äußersten Südwesten von Cornwall führte. Die Vorfreude ließ ihn innerlich förmlich vibrieren. Endlich standen die Sorgen und Nöte wegen seines Manuskripts einmal ganz hinten an. Ein Grinsen breitete sich in Adams Gesicht aus. Die Musenküsse, die dort auf ihn warteten, würden ihn mit dem dringend benötigten Energiestoß versorgen, um seinen Roman mit einem Finale zu krönen, das die Welt noch nicht gelesen hatte.
„Ich schaffe es nicht“, sagte Daniel Merton, zog sich die halb zusammengebundene Krawatte vom Kragen des gestärkten Hemdes und hielt sie seiner Mitbewohnerin Sasha entgegen. Er sah, dass sich ihre Lippen kräuselten. Na super, jetzt amüsierte sie sich auch noch über ihn.
„Den Doktortitel haben sie dir jedenfalls nicht für deine Fingerfertigkeit verliehen“, sagte sie und nahm ihm den Schlips ab. „Warum überhaupt so förmlich? Du fängst doch nicht bei einer Bank an oder bei einer Versicherung. Ich dachte, dein neuer Arbeitgeber ist ein hippes IT-Unternehmen. Wetten, dass da keiner außer dir eine Krawatte trägt? Wahrscheinlich würdest du selbst in einem Rollkragenpulli overdressed wirken.“
Daniel seufzte. „Es ist mir aber wichtig, an meinem ersten Tag ordentlich gekleidet zu erscheinen. Einen neuen Job zu finden war schwer genug, ich will ihn nicht gleich wieder verlieren, nur weil ich verlottert aussehe“, sagte er. „Und jetzt hilf mir bitte, dieses blöde Teil zu binden. Ich bin sowieso schon spät dran.“
Sasha grinste, packte ihn bei den Schultern und drehte ihn zu sich. Dann schob sie ihm die Krawatte durch den Kragen und band sie mit schnellen, sicheren Bewegungen zu einem einwandfreien Oxford-Knoten.
Daniel betrachtete sich im Spiegel. „Wie machst du das nur? Warum kannst du so etwas?“
Sashas Grinsen wurde noch breiter. „Du bist so eine Klischeemaschine. Nur, weil ich meine Haarfarbe wöchentlich wechsle und den ganzen Tag vor dem Computer sitze, glaubst du, ich hätte keine Ahnung vom Leben, was? Das Krawattenbinden habe ich mir für mein Men-In-Black-Cosplay beigebracht. Wenn du mal einen schicken schwarzen Anzug und eine passende Sonnenbrille brauchst, sag einfach Bescheid.“
„Danke, aber ich glaube, das würde an der Größe scheitern. Für den Oxford-Knoten hast du aber ein Curry gut bei mir.“
Daniel schnappte sich den Aktenkoffer und wieder sah er, dass Sasha grinste.
„Ja, lach du nur. Ich mag aussehen wie ein Buchhalter aus einem Monty-Python-Sketch, aber so fühle ich mich eben wohl.“
Sasha hob die Hände. „Jeder, wie er mag. Und jetzt lass dich mal drücken, Daniel. Ich wünsche dir viel Glück und vor allem viel Spaß bei deinem neuen Job. Ich weiß, dir wäre es lieber gewesen, wenn du an der Uni hättest bleiben können, bei deinen Daten und deinen Modellrechnungen, aber nun ruft das echte Leben draußen in der freien Wildbahn. Das ist doch auch spannend, oder nicht?“
Daniel verzog das Gesicht. „Der Vorteil an Daten und Modellen ist, dass sie berechenbar sind. Menschen sind das nicht. Ich weiß nicht, wie ich mit so vielen neuen Kollegen auf einmal zurechtkommen soll.“
Sasha klopfte ihm auf die Schulter. „Das wird schon werden. Denk immer dran, du bist der Persönlichkeitspsychologe. Du weißt, wie die Leute ticken. Zumindest theoretisch.“
Daniel atmete tief durch und trat in den Flur hinaus. Er überlegte, ob er den Mantel mitnehmen sollte, aber da es draußen über zwanzig Grad warm war, wäre das dann wohl doch übertrieben gewesen. Auch den Schirm ließ er im Ständer. Sasha hatte recht. Er durfte an seinem ersten Arbeitstag bei IQ-VE nicht aussehen wie die billige Kopie einer der Tausenden von Buchhaltern, die in der City of London ihren Geschäften nachgingen.
Daniel schlug den Weg zur U-Bahn-Station Clapham South ein. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er viel zu früh dran war. Das war jedoch Absicht, schließlich hatte er einberechnen müssen, dass ihm etwas dazwischenkommen könnte. Und noch schlimmer als schlecht gekleidet zu seinem ersten Arbeitstag aufzutauchen, wäre es, wenn er unpünktlich kommen würde. Trotzdem schritt er zügig voran und atmete erst durch, als er in dem Zug saß, der ihn in die City of London bringen würde. An jeder Haltestelle füllte sich das Abteil noch mehr. Abgesehen von den wenigen Touristen mit ihren Sonnenhüten und ihren Hard-Rock-Café-T-Shirts waren die meisten Leute auf dem Weg zu ihren Arbeitsplätzen. Daniel schluckte schwer. Das würde also nun sein tägliches Los sein.
Wie neu und anders dieses Leben war. Früher als er noch in der benachbarten Roehampton University gearbeitet hatte, war er mit dem Fahrrad in sein Institut gefahren. Doch der Weg in die City of London war dafür zu weit und aufgrund der Verkehrssituation auch zu gefährlich. Er holte sein Handy aus der Tasche und öffnete das Go-Spiel, das er in der Nacht begonnen hatte, als er vor lauter Aufregung nicht hatte einschlafen können. Er setzte einen weißen Stein und die Planung der nächsten Spielzüge drängte wie stets alle schwierigen Gedanken zur Seite.
Er war so in die Partie vertieft, dass er den Ausstieg mit Sicherheit verpasst hätte, wenn er sich dafür nicht einen Alarm einprogrammiert hätte, der ihn aus seiner Go-Trance riss. An der Haltestelle Aldgate verließ er die Tube und reihte sich in die lange Schlange ein, die am Fuß der Rolltreppe darauf wartete, ans Tageslicht befördert zu werden. Er spürte sein Herz hektisch schlagen. Alles Neue und Unvertraute war die Hölle für ihn! Wie sehr er es hasste, ins kalte Wasser springen zu müssen. Warum hatte ausgerechnet er seine Stelle an der Uni verlieren müssen? In Roehampton hatte er sich sicher gefühlt, dort hatte er gewusst, was er tat, und hatte die wenigen Kollegen und ihre Eigenheiten gut einschätzen können. Das hier hingegen war ein Wagnis. Und Daniel Merton war nicht der Mann für Wagnisse.
An der Oberfläche wandte er sich nach links, überquerte den Aldgate Square und folgte dem Dukes Place und der Bury Street zu dem gurkenförmigen Hochhaus, das die Skyline von London seit nunmehr zwanzig Jahren mit seiner originellen Architektur bereicherte. Er trat in das chromglänzende Foyer. Mit der Zugangskarte, die ihm gemeinsam mit dem Arbeitsvertrag zugeschickt worden war, passierte er die gläsernen Barrieren und gelangte zu den Aufzügen. Er fuhr in den 24. Stock. Den Weg kannte er immerhin von seinem Vorstellungsgespräch. Auch damals war er hypernervös gewesen und hatte sich vollkommen fehl am Platz gefühlt. Doch das war kein Vergleich zu dem, was er nun empfand. Er spürte einen unwiderstehlichen Fluchtimpuls. Doch dafür war es zu spät. Die Türen des Aufzugs schwangen auf und er zwang sich, nicht ins Erdgeschoss zurückzufahren, sondern in den Flur hinauszutreten.
Die Büros der Dating-App IQ-VE nahmen das gesamte 24. Stockwerk ein. Was Daniel schon bei seinem ersten Besuch irritiert hatte, war, dass hier keine Wände im herkömmlichen Sinne verbaut waren. Alles bestand aus Glas. So sah er von der Tür des Fahrstuhls aus direkt auf den Empfangsbereich und weiter zu den Büros der Mitarbeitenden.
Wie viele Menschen hier hin und her wuselten! Als er sich beworben hatte, war er davon ausgegangen, dass die Belegschaft nur aus ein paar Programmierern und einigen Marketingleuten bestehen würde. Doch bei seinem Vorstellungsgespräch hatte er erfahren, dass IQ-VE, das Steckenpferd des Milliardärs Timothy Nupret, beinahe zweihundert Angestellte beschäftigte. Und nun gehörte auch er dazu.
Der Blick durch die Glaswände zeigte ihm außerdem, dass Sasha recht gehabt hatte. Hier trug niemand einen Schlips und einen Anzug schon gar nicht. So ein Mist. Daniel drehte sich zur Fahrstuhltür um, fummelte den Knoten seiner Krawatte auf und zog sie aus dem Kragen. Dann wickelte er sie ungelenk um seine Hand und ließ sie in der Tasche des Sakkos verschwinden. Anschließend öffnete er den obersten Knopf des Hemdes und atmete tief durch, ehe er sich wieder umdrehte und auf die gläserne Eingangstür seines neuen Arbeitgebers zuging. Diese schob sich geräuschlos zur Seite und er trat ein.
„Herzlich willkommen bei IQ-VE, Dr. Merton“, sagte die Dame am Empfang, die ihm freundlich zu lächelte. Er stutzte. Woher kannte sie seinen Namen?
„Mister Helligan hat mich gebeten, Sie zu begrüßen und Ihnen schon einmal ein paar Unterlagen zum Ausfüllen zu geben. Er wird gleich zu Ihnen kommen.“
Sie reichte ihm ein Klemmbrett, auf dem ein Personalbogen befestigt war, und deutete auf eine Sitzgruppe schräg gegenüber. Daniel nahm auf einem bequemen Stuhl Platz und legte die Formulare auf seinen Oberschenkel. Er holte einen Kugelschreiber aus der Innentasche des Sakkos und begann damit, den Fragebogen auszufüllen. Wie üblich waren die ersten Zeilen seinen Stammdaten gewidmet.
Daniel Merton, geboren am 27.4.1994 in Leeds, ledig, männlich, wohnhaft 24 Honeybrook Lane, Clapham, London.“
Er trug seine Handynummer und seine E-Mail-Adresse ein, ehe es um die Sozialversicherungsdaten ging.
„Aha, da ist ja unser Herr Wissenschaftler“, hörte er eine Stimme sagen. Er blickte auf und sah einen breitschultrigen, untersetzten Mann mit rotbraunen Haaren und meerblauen Augen vor sich, der ihm die Hand entgegenstreckte. Daniel hatte kurz Mühe, das Weglegen des Kugelschreibers und den Handschlag zu koordinieren, und fürchtete, dabei etwas ungelenk ausgesehen zu haben, doch seinem Gegenüber schien das nicht aufgefallen zu sein.
„Mister Helligan, schön Sie zu sehen“, sagte Daniel.
Der CEO von IQ-VE lächelte ihm zu. „Sie hätten sich nicht so schick machen brauchen. Ein Sakko trägt hier niemand. Wenigstens haben Sie auf eine Krawatte verzichtet.“
Daniel schluckte schwer. Manchmal war es schwierig, die eigenen Vorstellungen davon, wie man sich in der Welt draußen zu verhalten hatte, mit der Realität abzugleichen. Helligan forderte ihn auf, mitzukommen. Er führte ihn durch die von Glaswänden gesäumten Gänge. Immer wieder hielt er an und stellte ihn Mitarbeitenden vor, aber Daniel konnte sich weder die Namen noch die Gesichter, geschweige denn die Kombination aus beidem merken. Nach kurzer Zeit fühlte er sich überrollt von all den Informationen und er war froh, als der CEO ihn in ein Büro am Ende des Ganges führte. Durch die bodentiefen Fenster konnte er in der Ferne das silberne Band der Themse glitzern sehen.
„Ich hoffe, Sie sind mit der Aussicht zufrieden. Schöner geht es nicht.“
„Es ist ein großartiger Ausblick von hier oben“, bestätigte Daniel. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass Small Talk nicht zu seinen Stärken gehörte.
„Aber verlieben Sie sich nicht zu sehr in das Panorama!“
„Natürlich, Mister Helligan, ich bin hier, um zu arbeiten“, erwiderte er, froh darüber das Gespräch in ein Fahrwasser gleiten zu sehen, das ihm vertrauter war. „Und ich habe auch schon einige Vorschläge ausgearbeitet. Ich fand das Vorstellungsgespräch sehr anregend und habe mir bereits Gedanken gemacht, wie man die Algorithmen der Partnervermittlung weiter verbessern könnte. Wie Sie wissen, habe ich viel zum Datingverhalten geforscht. Sehen Sie, ich habe hier etwas vorbereitet.“ Er öffnete seinen Aktenkoffer und legte ihn auf den gläsernen Schreibtisch. Darin befand sich ein Stoß von Papieren, die in einer engen, kleinen Handschrift beschrieben waren. Helligans Augenbrauen schossen nach oben. Er hob die Hände und lachte.
„Nein, nein, lassen Sie es gut sein. Jetzt kommen Sie erst mal an. Richten Sie sich in Ihrem Büro ein, spitzen Sie Ihre Bleistifte, sorgen Sie dafür, dass Sie einen Zugang zum Intranet bekommen und merken Sie sich die Namen Ihrer Kollegen. Ihre Vorschläge lassen Sie bitte in diesem Koffer. Und den lassen Sie am besten zu Hause. Mr. Nupret hat viel Zeit und Geld in die Entwicklung der KI-basierten Algorithmen gesteckt. Die funktionieren reibungslos und sie sind es, die unser Alleinstellungsmerkmal in der Dating-Szene ausmachen. Ich habe Sie nicht eingestellt, um daran etwas zu ändern.“
Daniel spürte, wie ihm der Mund austrocknete. „Aber ich bin davon ausgegangen, Sie würden einen Persönlichkeitspsychologen suchen, der Ihnen dabei helfen kann, noch bessere Vermittlungsergebnisse zu erzielen.“
Helligan grinste. „Wo haben Sie das denn her? In der Stellenanzeige stand das bestimmt nicht. Und ich kann mich nicht erinnern, dass ich mich im Vorstellungsgespräch dementsprechend geäußert hätte. Ja, wir haben einen Persönlichkeitspsychologen gesucht, aber nicht, um unsere Vermittlungsergebnisse zu verbessern, sondern aus einem ganz anderen Grund. Ich verspreche Ihnen, Sie werden sich nicht langweilen. Wir haben einen Spezialauftrag für Sie. Aber dazu morgen mehr. Jetzt kommen Sie erst einmal an, und lassen Sie sich von Jerry, unserer Büroassistentin, die Kaffeemaschine erklären. Für das Teil braucht man wirklich einen Hochschulabschluss.“
Er nickte Daniel zu und ging aus dem Büro. Dieser sah ihm hinterher und spürte, wie sich ein Gefühl der Enttäuschung in ihm breitmachte. Er hatte sich darauf gefreut, die Vermittlungsalgorithmen zu durchdringen und mithilfe seiner Forschungsergebnisse zu optimieren. Und nun? Ein Spezialauftrag? Was das wohl war?
„Puh, ist das öde.“ Police Constable Lupita Mugabo ließ die Scheibe an der Beifahrerseite des Streifenwagens herunter und blickte auf den Weiher am Ortsrand der Kleinstadt Helston in Cornwall hinaus. Ein einzelnes Tretboot in Form eines überdimensionierten Schwans pflügte durch die spiegelglatte Oberfläche des algendurchsetzten Gewässers, hinter dem sich ein bewaldeter Hügel erhob. Ein verliebtes Teenagerpärchen saß in dem Kahn, mehr mit Knutschen als mit Navigieren beschäftigt.
„Das Aufregendste, was hier jemals passieren wird, ist, dass diese zwei Turteltäubchen mit ihrem Schwan in die Uferpromenade krachen“, sagte Lupita.
Pete, ihr Kollege hinter dem Steuer, zuckte mit den Schultern. „Da könntest du recht haben. Ich glaube auch nicht, dass wir an der Uferpromenade einen international gesuchten Drogenbaron aus Kolumbien oder einen Mafiaboss aus Sizilien verhaften werden. Aber sieh es doch mal positiv. Dann haben wir wenigstens keinen Stress. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen, als bei schönem Wetter in einem Streifenwagen zu sitzen und auf einen Weiher hinauszuschauen.“
Lupita verdrehte die Augen. „Das liegt wohl an deiner mangelnden Vorstellungsgabe. Ich könnte mir ein Dutzend Dinge vorstellen, die ich jetzt lieber täte. Was machen wir hier überhaupt?“
„Wir zeigen Präsenz.“
„Präsenz? Wozu?“
„Was weiß ich“, sagte Pete. „Der Chief hat mir heute Morgen aufgetragen, dass wir möglichst öffentlichkeitswirksam durch den Ort fahren und an diversen Stellen Halt machen sollen, damit wir bemerkt werden. Irgendeine Anordnung aus London. Wahrscheinlich will die Regierung mit Blick auf die kommende Wahl gut Wetter machen und zeigen, dass man die Sache hier im Griff hat.“
„Politiker!“, knurrte Lupita und verdrehte erneut die Augen.
Das Funkgerät knackte. „MW 23, bitte kommen“, knatterte es aus dem Lautsprecher. Das war Oscar, der heute in der Station Dienst tat. Lupita nahm das Mundstück und sprach hinein: „Hier MW 23. Wir hören.“
„Wir haben einen Notruf erhalten, 14 Gwawas Hill. Schaut bitte mal nach, was da passiert ist.“
„Kannst du uns wenigstens grob sagen, worum es sich handelt? Nur, damit ich nicht plötzlich vor einem bewaffneten Einbrecher stehe. Oder mit gezogener Pistole vor einem Kätzchen, das sich in einen Baum geflüchtet hat“, sagte Lupita.
Sie hörte ein heiteres Lachen aus dem Lautsprecher, dann erwiderte die blecherne Stimme: „Das ist die Adresse eines Schriftstellers namens Adam Sinclair. Seine Haushälterin hat angerufen. Sie vermisst ihn. Schaut mal nach dem Rechten, wir wollen uns schließlich nicht sagen lassen müssen, dass wir die Anliegen von irgendwelchen poshen Künstlertypen nicht ernst nehmen.“
Pete hatte bereits den Wagen gestartet und bog in Richtung Innenstadt ab.
„Adam Sinclair“, sagte Lupita. „Hast du mal was von dem gelesen?“
Pete schüttelte seinen beinahe kahlen Kopf. „Du weißt doch, dass ich kein großer Leser bin. Meine Bibliothek zu Hause besteht aus dem Stapel Comics in der Toilette.“
Lupita biss sich auf die Zunge und schluckte den scharfen Kommentar hinunter, der darauf gelegen hatte. Es war sinnlos. So wie Pete dachten alle Kollegen hier. Ihren Horizont als eng zu beschreiben, wäre eine Untertreibung gewesen, und die Aussicht, die nächsten Jahre Streifendienst in dem kleinen Städtchen in Cornwall zu leisten, hinterließ ein flaues Gefühl in ihrem Magen.
„Hast du was gelesen von diesem Sinclair?“, fragte Pete.
Lupita schüttelte den Kopf. „Ich habe gehört, er schreibt Fantasy-Romane. Aber nicht so klassisch wie Tolkien, sondern mit vielen Szenen, die man heutzutage als spicy bezeichnen würde.“
„Oh, dann sollte ich mir vielleicht doch mal eins seiner Bücher vornehmen“, sagte Pete und kicherte wie ein Zwölfjähriger, der auf der Schultoilette mit einem Exemplar des Playboys erwischt wurde.
Glücklicherweise dauerte es nicht lange, bis sie die Adresse erreicht hatten, die Oscar ihnen genannt hatte. Das kleine Anwesen auf einer Anhöhe über dem Ort sah nobel aus. Auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass in die Anlagen viel Geld geflossen war. Das schmiedeeiserne Tor stand offen und Pete lenkte den Wagen die Einfahrt hoch. Vor dem dreistöckigen Gebäude in Natursteinoptik wartete eine Frau um die fünfzig, der die Sorge um ihren Arbeitgeber an den zusammengekniffenen Lippen und den rotfleckigen Wangen abzulesen war. Die Polizisten stiegen aus und Lupita ging auf die Person zu, in der sie die Haushälterin von Adam Sinclair vermutete.
„Sie haben uns gerufen?“, fragte sie, nachdem sie sich und Pete vorgestellt hatte.
„Ja, ich bin Anny Wilkins, Mr. Sinclairs Mädchen für alles. Er ist verschwunden.“
„Mister Sinclair ist der Besitzer dieses Hauses?“, fragte Pete.
Mrs. Wilkins musterte ihn mit gerümpfter Nase.
„Natürlich. Kennen Sie ihn nicht? Den weltbekannten Schriftsteller? Er ist der berühmteste Sohn unserer Stadt.“
Ehe Pete sein Unwissen weiter zur Schau stellen konnte, fragte Lupita: „Seit wann vermissen Sie Mister Sinclair denn?“
„Ich habe gestern Nachmittag die Wäsche gemacht. Das ist keine allzu große Arbeit, denn Mister Sinclair trägt meistens Freizeitklamotten und besteht nicht darauf, dass seine Hemden gebügelt werden. Er saß in seinem Arbeitszimmer und hat am letzten Buch seiner Trilogie gearbeitet. Es soll im Herbst erscheinen.“
Die Augen der Haushälterin glänzten. War sie etwa auch ein Fan von Sinclairs expliziter Prosa?
„Das bedeutet, Sie haben ihn gestern Nachmittag zum letzten Mal gesehen. Wann ist Ihnen dann aufgefallen, dass er nicht da ist?“
„Ich bin heute Mittag gekommen, um ihm den Lunch zu bereiten. Na ja, ich habe Fish & Chips mitgebracht. Das mag er am liebsten und ich wollte ihm eine Freude machen. Es sollte gestärkt sein, damit er das Buch endlich fertig schreibt. Wir warten alle darauf.“
„Und als Sie dann mit den Fish & Chips angekommen sind, war Mr. Sinclair nicht da?“, fragte Pete.
Mrs. Wilkins nickte eifrig. „Das Bett war unberührt. Genau so, wie ich es gestern gemacht hatte. Auch das Abendessen hat er nicht angerührt. Das steht noch in der Küche. Sein Geldbeutel liegt daneben. Er hat aber die kleine Brieftasche mitgenommen, die er immer bei sich trägt, wenn er aus dem Haus geht. Da sind die nötigsten Dinge drin. Personalausweis, Kreditkarte und etwas Geld.“
„Hatte er Ihnen mitgeteilt, dass er noch ausgehen wollte?“, fragte Lupita.
Die Haushälterin schüttelte den Kopf. „Eben das ist es doch, was mich stutzig macht. Er hat mir sonst immer gesagt, wann er außer Haus war. Er wollte nicht, dass ich ihm etwas zu essen bereitstelle, wenn er es danach nicht aß. Mister Sinclair ist in armen Verhältnissen aufgewachsen. Verschwendung ist ihm zuwider.“
„Lebt Mr. Sinclair alleine hier?“, fragte Pete. Wieder musterte ihn Mrs. Wilkins mit einem empörten Blick.
„Ja, seit seine Frau vor drei Jahren mit seinem Agenten durchgebrannt ist, wohnt er alleine hier. Er ist kinderlos und ehe Sie fragen: Mr. Sinclair lebt für seine Arbeit. Er hat keine Frauengeschichten.“
„Dann sehen wir uns mal im Haus um“, sagte Lupita.
Mrs. Wilkins führte sie in eine Eingangshalle. An der Wand neben dem Treppenaufgang hing ein riesiges Elchgeweih. Im Erdgeschoss befand sich die Küche, auf der Anrichte sah Lupita das erwähnte Abendessen, eine Art Brei, der hellbraun unter einer Plastikfolie durchschimmerte. Sie konnte es Adam Sinclair nicht verübeln, dass dieser das Essen nicht angerührt hatte. Neben dem Teller lag eine Brieftasche. Die Haushälterin führte sie in den ersten Stock, wo sich der Wohn- und der Arbeitsbereich des Schriftstellers befanden. Pete nahm sich das Schlafzimmer vor und Lupita war ihm dankbar dafür. In Männerhöhlen von Junggesellen entdeckte man die widerlichsten Dinge. Sie widmete sich stattdessen dem Arbeitszimmer, von dem aus der fantastische Ausblick bis zur ein paar Meilen entfernten Küste und weit hinaus über das Meer reichte. Der Schreibtisch wirkte ein wenig überdimensioniert. Zwei große Bildschirme standen darauf, darunter ein kleiner, silberner Computer. Eine spartanisch aussehende, sehr flache Tastatur und eine Art Mousepad lagen daneben. Eine Mouse sah sie nicht. Auf einem Regal neben dem Schreibtisch entdeckte sie das Ladegerät eines Handys.
„Haben Sie versucht, Mister Sinclair telefonisch zu erreichen?“
„Ja, aber da geht sofort die Mailbox ran“, sagte die Haushälterin.
Lupita ließ sich die Telefonnummer des Schriftstellers geben und probierte es selbst einmal, wurde jedoch auch zu dessen Anrufbeantworter weitergeleitet.
Pete kam zu ihnen. „Abgesehen von den üblichen Perversitäten war nichts Auffälliges im Schlafzimmer“, sagte er und zwinkerte Lupita mit einem anzüglichen Grinsen zu.
Sie ging nicht darauf ein, sondern wandte sich wieder an Mrs. Wilkins: „Haben Sie nachgesehen, ob das Auto von Mr. Sinclair in der Garage steht?“
„Ja, es befindet sich dort, aber sein Fahrrad fehlt. Er ist häufig damit unterwegs. Mr. Sinclair ist sehr sportlich.“
Pete zuckte mit den Achseln. „Für mich sieht die Sache relativ harmlos aus. Mister Sinclair hatte spontan Lust auf eine Radtour, ist vielleicht in der Kneipe versackt und hat bei einem Kumpel übernachtet, um seinen Rausch auszuschlafen. Der wird schon wieder auftauchen.“
Die Haushälterin warf ihm einen zornesfunkelnden Blick zu. „Mister Sinclair ist niemand, der in der Kneipe versackt. Er ist ein Genie. Und er muss einen Roman fertigstellen. Er kann sich keine längeren Ausflüge leisten.“
„Gerade von Genies kennt man es doch, dass sie gerne dem Alkohol zusprechen. Ich sehe keinen Anlass dafür, dass wir hier die Pferde scheu machen. Wir müssen sowieso noch mindestens vierundzwanzig Stunden warten, ehe wir eine Vermisstenanzeige aufgeben können. Ich gehe allerdings davon aus, dass Mr. Sinclair bis dahin wohlbehalten zurückgekehrt ist“, erwiderte Pete ungerührt. Er nickte der Haushälterin zu und ging hinaus.
Die Frau sah Lupita flehend an. „Unternehmen Sie doch was! Da stimmt etwas nicht! Da stimmt etwas ganz gewaltig nicht!“
Daniel Merton saß am gläsernen Schreibtisch und blickte auf den blinkenden Cursor auf dem Bildschirm. An seinem zweiten Arbeitstag hatte er es endlich geschafft, sich anzumelden. Am Vortag hatte die IT noch mit Problemen zu kämpfen gehabt. Daniel hatte sich gefragt, ob das ein böses Vorzeichen war. Er hatte bei einem IT-Unternehmen angeheuert, und die waren nicht einmal in der Lage, ihm einen funktionierenden PC-Zugang einzurichten. Aber über Nacht hatten die Servicetechniker Wunder geleistet und nun hatte er Zugriff auf das Intranet von IQ-VE.
Daniel wollte gerade die Seiten erkunden, als es an seiner Tür klopfte. Er sah hinüber. Auf dem Glas hatten die Knöchel der Besucher bereits einen milchig weißen Fleck hinterlassen. Den musste er später unbedingt entfernen. Zwei Männer traten in sein Büro. Sie waren lässig gekleidet, der eine trug einen Kapuzenpulli und ausgebeulte Cargo-Hosen, der andere sehr enge Jeans und ein AC/DC-T-Shirt. Allerdings war auch das sehr eng und als er es gekauft hatte, war sein Bauchumfang offenbar wesentlich schmaler gewesen. Daher lugte nun zwischen Hosenbund und Hemd ein bleicher, behaarter Streifen Haut hervor.
„Guten Morgen“, sagte der in den lockeren Klamotten. „Ich bin Paul Martin und das ist Chris Weller. Wir sind die Kollegen in Ihrer Abteilung.“ Sein Begleiter tippte lässig mit zwei Fingern gegen seine Stirn.
„Guten Morgen. Mein Name ist Daniel Merton“, sagte Daniel, erhob sich und streckte den Männern die Hand entgegen. Es entstand ein kurzer Moment der Irritation, da sich seine Hand genau in der Mitte zwischen den beiden befand, und nun keiner von ihnen wusste, wer wem zuerst die Hand schütteln sollte.
„Und Sie sind wirklich Psychologe?“, fragte Chris. Seine Stimme klang ziemlich nasal, die letzte Silbe des Satzes hatte er beinahe eine Oktave höher gesprochen als den Rest.
„Ja, ich habe in Persönlichkeitspsychologie promoviert. An der University of Roehampton. Dort habe ich Studien zum Zusammenhang zwischen Persönlichkeitseigenschaften der jeweiligen Partner und dem Erfolg oder Misserfolg ihrer späteren Liebesbeziehung durchgeführt. Und Sie?“
„Na ja, ich habe Informatik studiert“, sagte Paul. „Hier an der University of East London.“
„Und ich habe mich schon mit vierzehn in mein erstes Netzwerk gehackt. Eine Ausbildung habe ich nicht gemacht. Ich bin von Mister Nuprets Sicherheitsdienst erwischt worden und habe daraufhin eine Stelle angeboten bekommen. Das war cooler, als zu studieren“, sagte Chris.
„Okay. Können Sie mir dann auch verraten, welche Aufgaben unsere Abteilung hat? Mister Helligan hat mich nur kurz begrüßt und mich vertröstet, als ich ihn danach gefragt habe.“
Die beiden Kollegen tauschten einen Blick. „Er hat es ihm nicht gesagt“, flüsterte Paul, ganz offenbar im Glauben, dass Daniel ihn nicht verstehen würde.
„Was hat er nicht gesagt?“, fragte Daniel.
Paul sah ertappt aus. Sein Adamsapfel hüpfte auf und ab.
„Na, dass wir hier so eine Art Polizei sind. Nicht im klassischen Sinne. Es gibt keine Schießereien oder so etwas in der Art.“
Chris boxte seinen Kollegen gegen die Schulter. „Wir sind nicht die Polizei, wir sind eher die Müllabfuhr“, sagte er.
Daniel verstand nun überhaupt nichts mehr. „Polizei? Müllabfuhr? Was soll das bedeuten?“
„Haben Sie schon einmal den Begriff Honeytrap gehört?“, fragte Paul.
„Ja, das habe ich schon einmal gelesen. In einem Spionageroman. Ist das nicht ein klassisches Werkzeug eines Geheimdienstes, um irgendwelche Politiker mit einer hübschen Geliebten in die Falle zu locken und ihre Karrieren dann durch kompromittierende Fotos zu beenden?“
Chris nickte. „Ja, daher kommt der Begriff. Wir haben es hier bei IQ-VE auch mit Honeytraps zu tun. Allerdings sind es keine Geheimdienste, die unsere Nutzer in die Falle locken. Es sind vor allem zwei Arten von Leuten: Erpresser und Seitensprung-Agenturen.“
„Das ergibt Sinn“, sagte Daniel. „Aber was haben wir damit zu tun?“
Die beiden Männer tauschten erneut einen Blick. „Wir sind die Abteilung, die diesen Honeytrappern das Handwerk legen soll“, sagte Chris. „Und wir haben Helligan lange darum gebeten, dass er jemanden einstellt, der sich in diese Leute hineinversetzen kann. Wir zwei sind ziemlich gut, wenn es darum geht, zu programmieren, aber wir sind keine Psychologen. Doch jetzt haben wir Sie bekommen. Das ist cool. Denn nun haben wir endlich einmal eine realistische Chance, jemanden zu schnappen.“
Daniel spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihm aufstieg. „Ich soll Betrüger überführen?“, flüsterte er.
Seine Kollegen nickten. „Das hört sich erst einmal blöd an“, gab Paul zu, der offenbar bemerkt hatte, dass Daniel von der Erkenntnis überwältigt worden war, dass er nun nicht in der Forschungsabteilung, sondern bei der Müllabfuhr von IQ-VE beschäftigt war. „Aber es ist ein cooler Job. Wir helfen schließlich Leuten.“
„Wem helfen wir denn? Nutzern, die ihre Seitensprünge vertuschen wollen?“
„Das ist mir gleichgültig“, sagte Paul. „Ich werde für den Job bezahlt. Und zwar nicht schlecht. Wir müssen wieder an die Arbeit. Kommen Sie doch morgen zu uns, dann können wir genau besprechen, wie wir das in Zukunft angehen wollen. Wir hätten da auch schon einen Fall, der uns ziemliche Kopfschmerzen bereitet.“
Die Kollegen nickten Daniel zu und verließen sein Büro. Er saß einen Augenblick da wie zur Salzsäule erstarrt. Was sollte das denn? Die Übelkeit in seinem Magen verwandelte sich. Was zunächst Schock gewesen war, wurde nun immer mehr zu einer gewaltigen Wut. Schließlich hielt er es nicht mehr auf seinem Platz aus.
Daniel trat aus dem Büro und eilte den Gang entlang. Er hatte keinen Blick für die Kollegen und Kolleginnen, die in ihren Glaskästen saßen, vor Computerbildschirmen, auf die sie starrten, und Tastaturen, auf denen sich ihre Finger bewegten. Er musste Helligan sofort sprechen. Er musste ihm deutlich machen, dass er so nicht mit sich umspringen ließ. Daniel bog um die Ecke und sah das Büro des CEO vor sich. Ein sportlicher, braun gebrannter Mann mit sehr blonden Haaren und sehr weißen Zähnen trat aus Helligans Tür. Daniel blieb stehen, als er erkannte, dass es sich um Timothy Nupret handelte, den Tech-Milliardär und Besitzer von IQ-VE. Er kam den Gang entlang, Helligan war neben ihm. Den beiden folgte eine hochgewachsene Frau mit kurzen, blonden Haaren, die Daniel sofort aufmerksam zu mustern begann.
„Aha, da kann ich dir gleich unsere Neuerwerbung vorstellen“, sagte Helligan zu Nupret. „Das ist Dr. Daniel Merton. Er ist Persönlichkeitspsychologe.“
„Persönlichkeitspsychologe“, wiederholte Nupret und lächelte. Seine Zähne glänzten so weiß, dass Daniel beinahe davon geblendet wurde. „Wozu hast du den denn eingestellt? Das ist eine Wissenschaft, die im letzten Jahrhundert steckengeblieben ist.“
Daniel fühlte sich, als ob ihm der Milliardär eine Ohrfeige verpasst hätte. Er wollte etwas erwidern, wollte sein Fachgebiet verteidigen, doch Helligan kam ihm zuvor.
„Ja, das mag sein“, sagte er. „Aber es hat sich gezeigt, dass wir dringend jemanden brauchen, der unseren Programmierern persönlichkeitspsychologische Konzepte erklärt. Und dafür haben wir nun Dr. Merton.“
Nupret grinste. „Du bist der CEO, es ist deine Entscheidung, wen du einstellst. Aber ganz ehrlich: Wenn deine Programmierer eine Erklärung benötigen, sollten sie besser meine KI fragen, als dieses universitäre Fossil. Ich gebe ihm drei Monate, wenn er dann keinen Mehrwert nachweisen kann, wird er wieder gefeuert.“
Nupret ging an Daniel vorbei. Helligan folgte ihm, warf Daniel aber einen Blick zu, der wohl so etwas wie Vorsicht ausdrücken sollte. Die Frau mit den kurzen blonden Haaren flüsterte ihm im Vorbeigehen zu: „Keine Sorge, Mr. Nupret wird Sie schon wieder vergessen haben, wenn er in den Aufzug steigt.“
Daniel sah ihnen hinterher. Das ungute Gefühl in seinem Magen intensivierte sich zu einem Brennen. Er ging in sein Büro zurück, holte seine Tasche und machte sich auf den Heimweg. Als er die WG betrat, hörte er das vertraute Klicken von Sashas Fingern auf der Tastatur. Die Tür zu ihrem Zimmer stand offen. Er wollte sich vorbei schleichen, doch sie hatte ihn natürlich gehört.
„Hi, wie war dein Tag?“, fragte sie. „Weißt du jetzt endlich, was deine Aufgaben sind?“
Daniel hatte keine Lust, darüber zu sprechen, aber er wusste, dass Sasha keine Ruhe geben würde, bis sie alles von ihm erfahren hatte. Deshalb hielt er inne, wandte sich ihr zu und sagte: „Ich soll Honeytrapper identifizieren. Die setzen mich als eine Art Müllabfuhr ein.“
Sashas Augenbrauen schossen nach oben. „Das ist nicht wahr, oder? Du sollst Betrüger aufspüren? Mein Gott, ist das eine Ressourcenverschwendung. Das musst du diesem Nupret sagen.“
„Das wollte ich, aber er hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen. Stattdessen hat er meinen Chef zusammengestaucht, weil der mich eingestellt hat. Die Persönlichkeitspsychologie hat er eine Wissenschaft aus dem letzten Jahrhundert genannt, die seiner KI weit unterlegen sei.“
Sashas seufzte. „So ein Idiot. Und was hat dein Chef geantwortet?“
„Das war seltsam. Er hat behauptet, dass er mich eingestellt hat, damit ich den Programmierern persönlichkeitspsychologische Konzepte erläutern kann. Von Honeytrappern hat er kein Wort verloren.“
„Das ist wirklich seltsam. Und was willst du jetzt tun?“
„Ich weiß es nicht. Am liebsten würde ich gleich wieder kündigen, aber das kann ich mir nicht leisten. Ich muss froh sein, dass ich überhaupt einen Job gefunden habe. Vielleicht kann ich mich ja beweisen, und Nupret davon überzeugen, dass ich mehr draufhabe als seine KI. Ich schlafe wohl am besten noch einmal eine Nacht darüber.“
„Das ist eine gute Idee. Weißt du was, ich hole uns was beim Chinesen um die Ecke und dann bingen wir eine Serie.“
Lupita stand hinter dem Tresen der Polizeidienststelle. Sie unterdrückte ein Gähnen. Helston war ein verschlafenes Kaff. Hier geschah absolut gar nichts. Abgesehen von den beinahe täglichen Autounfällen, die sie in der Urlaubssaison aufnehmen mussten, und den Gelegenheitsdiebstählen in den örtlichen Discountern hatte sie in ihren bisherigen drei Dienstjahren bei keinem einzigen schweren Verbrechen ermittelt.
Der Schriftsteller war immer noch nicht aufgetaucht und nun waren bereits achtundvierzig Stunden vergangen, seit Mrs. Wilkins sein Verschwinden gemeldet hatte. Der Chief hatte jedoch nicht eingesehen, dass man deswegen schon eine Vermisstenanzeige aufgab. „Diese Künstler. Wahrscheinlich liegt der bekifft in irgendeinem Gebüsch und halluziniert seinen nächsten Roman. Der ist bestimmt beleidigt, wenn wir ihn finden und ihn aus seinem Rausch reißen.“
Pete hatte ihm wie erwartet zugestimmt und daher hatten sie darauf verzichtet, Adam Sinclairs Namen in die nationale Vermissten-Datenbank einzuspeisen. Lupita hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Ihr klangen immer noch die Bitten der Haushälterin im Ohr. Die Frau hatte ehrlich besorgt gewirkt. Gut, sie war ein Fan und neigte anscheinend dazu, ihren Arbeitgeber zu vergöttern. Aber Sinclairs Verschwinden hatte sie zutiefst erschüttert.
Andererseits hatten sie keine Hinweise auf ein Verbrechen gefunden. Keine Spuren von Gewalt. Keine Einbruchsspuren. Kein Blut. Der Mann war wie vom Erdboden verschwunden. Lupita hatte seit dem Vortag mehrfach versucht, seine Handynummer zu erreichen, war jedoch immer direkt auf der Mailbox gelandet. Das konnte vieles bedeuten. Vielleicht hatte Sinclair das Gerät ausgeschaltet. Oder der Akku war leer. Sie konnte viel spekulieren, aber wenn Sie das Handy nicht in Händen hielt, konnte sie nicht wissen, was genau geschehen war.
Die Tür öffnete sich und die kleine Glocke, die an der Decke angebracht war, bimmelte. Ein Mann Mitte zwanzig erschien im Türrahmen. Er sah Lupita mit einem Ausdruck an, den sie gut kannte. Der Besucher war asiatischer Abstammung. Wahrscheinlich hatte es ihn einige Überwindung gekostet, zur Polizei zu gehen. Als er Lupita sah, entspannten sich seine Gesichtszüge deutlich.
„Guten Tag“, sagte sie und lächelte den Mann freundlich an. „Was kann ich für Sie tun?“
Er trat auf sie zu und erwiderte den Gruß.
„Das hier habe ich am Strand in Porthleven gefunden“, sagte er und legte ein Handy auf den Tisch. Dann holte er etwas aus seiner Tasche und platzierte es daneben. Es war eine Geldbörse. Lupita spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte.
„Wo genau haben Sie das gefunden?“
„Wenn Sie beim Leuchtturm in Richtung Strand abbiegen und die Felsen hinuntersteigen. Ich vermute, dass es dem Besitzer aus der Tasche gefallen ist.“
„Haben Sie jemanden gesehen? Wissen Sie, wem es gehört?“
Der Mann trat einen halben Schritt zurück und hob erschrocken die Hände.
„Ich habe gar nichts gemacht. Ich habe auch nicht reingeschaut. Ich bin ein ehrlicher Bürger. Ich wollte das nur vorbeibringen.“
Nun hob Lupita die Hände und sagte in beruhigendem Tonfall: „Es ist alles in Ordnung. Sie haben richtig gehandelt. Wann haben Sie das gefunden?“
„Heute Morgen beim Joggen. Ich wollte an den Strand runter steigen, da ich gern barfuß im Schlick laufe. Wenn Ebbe ist, habe ich da viel Widerstand und das trainiert viel besser als auf Asphalt.“
„Haben Sie irgendwelche anderen Spuren entdeckt? Vielleicht Fußspuren oder Kleidung oder etwas, das auf den Besitzer des Handys hindeuten könnte?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein, gar nichts. Leider. Ich habe das Handy und die Brieftasche aufgehoben und mit nach Hause genommen. Dann musste ich zur Arbeit. Aber ich habe mir vorgenommen, dass ich gleich danach zu Ihnen komme. Und hier bin ich. Wie gesagt, ich wollte keinen Ärger machen.“
Lupita bestätigte ihm noch einmal, dass er sich absolut korrekt verhalten hatte. Dann verabschiedete er sich und ließ sie alleine zurück. Sie spürte ihr Herz kräftig an ihrem Hals pochen. Eine Brieftasche im kleinen Format und ein Handy. Genau die Dinge, die Adam Sinclair bei sich getragen hatte, als er verschwunden war.
Sie widmete sich zuerst dem Portemonnaie und öffnete es vorsichtig, nachdem sie Handschuhe angezogen hatte. Es befanden sich die Gegenstände darin, die die Haushälterin beschrieben hatte. Ein Ausweis, ein Führerschein und eine Kreditkarte, ausgestellt auf den Namen Adam Sinclair und etwas Geld. Sie nahm sich als Erstes den Ausweis vor. Sinclair hatte ein Passfoto verwendet, das auch auf den Einbänden seiner Romane zu finden war. Sie erkannte es sofort wieder, denn sie hatte am Morgen seine Bücher gegoogelt. Sein sonnengebräuntes Gesicht war von einer Lockenmähne aus rotblonden Haaren umgeben. Er wirkte jugendlich, dabei war er laut Ausweis schon über vierzig Jahre alt. Entweder hatte er sich gut gehalten oder er hatte einen Teil seiner Tantiemen in einen begabten Schönheitschirurgen investiert.
Als sie erkannte, dass sie mit der Brieftasche nicht weiterkommen würde, widmete sich stattdessen dem Handy. Sie drückte auf den seitlichen Knopf, um es anzuschalten, aber der Bildschirm blieb schwarz. Der Akku musste leer sein. Da es die gleiche Ladebuchse aufwies, wie ihr eigenes Gerät, holte sie ihr Ladekabel und steckte es hinein. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis der Startbildschirm aufleuchtete. Es gab zwei Möglichkeiten, das Telefon zu entsperren. Entweder mit dem Gesicht des Besitzers oder über eine sechsstellige Zahlenkombination. Auf der Polizeischule hatte sie gelernt, dass die meisten Menschen Sperrcodes verwendeten, die alles andere als sicher waren. Sie hoffte, dass Sinclair zu dieser Personengruppe gehörte, und tippte zunächst 123456 ein. Nichts geschah. Sie versuchte, sich an weitere gängige Kombinationen zu erinnern, doch auch 112233, 132465 und 778899 blieben erfolglos. Schließlich probierte sie es mit 654321 und mit einem Mal entsperrte sich der Bildschirm.
Lupita sah sich einer verwirrenden Menge von Apps gegenüber. Offenbar war Sinclair kein großer Verfechter eines Ordnungssystems, denn die Anwendungen waren auf insgesamt fünf Bildschirme verteilt. Sie widmete sich zunächst der Liste der zuletzt angenommenen Anrufe. Sinclair hatte am Abend seines Verschwindens mehrfach mit einer anonymen Nummer telefoniert. Kurzentschlossen tippte sie auf das Hörersymbol daneben und hielt sich das Handy ans Ohr. Eine Computerstimme informierte sie darüber, dass die Nummer nicht vergeben sei. Na super, das würde ihr also nicht weiterhelfen.
Sie öffnete mehrere Messenger-Dienste, fand jedoch keinen Hinweis auf einen Kontakt am Abend von Sinclairs Verschwinden. In der rechten oberen Ecke seiner Mail-App prangte die Zahl 234. Ob das alles Spam-Nachrichten waren?
Sie wollte gerade darauf tippen, als eine in den Farben des Regenbogens pulsierende App ihre Aufmerksamkeit erregte. IQ-VE. Davon hatte sie schon gehört. Das war eine exklusive Dating-App, die dieser exzentrische Milliardär Timothy Nupret entwickelt hatte. Sie hatte darüber in einem Online-Magazin gelesen. Zugang erhielt nur, wer eine ganze Reihe von Auswahlverfahren bestand. Unter anderem musste man über einen IQ-Test nachweisen, dass der eigene Wert über 130 lag. Aber auch weitere Persönlichkeitsfragebögen und nicht zuletzt eine astronomisch hohe Nutzungsgebühr von fünfhundert Pfund pro Monat sollten sicherstellen, dass sich hier nur die Crème de la Crème der paarungswilligen Menschen versammelte. Und Sinclair gehörte offenbar auch dazu.
Lupita hatte abgesehen von ein paar frustrierenden Tinder-Erlebnissen keine Erfahrungen mit Dating-Apps. Aus Neugier tippte sie auf das pulsierende IQ-VE-Icon. Die App selbst war deutlich weniger bunt gestaltet, der Hintergrund war schwarz, die Schrift grün, so wie auf den Computerbildschirmen aus Filmen, die in den Achtzigern Jahren gedreht worden waren. Auf der Startseite prangte ein Profilbild von Adam Sinclair, darunter fanden sich Links zu persönlichen Angaben, Vermittlungsergebnissen und zu einem Chat. Sie tippte darauf und sah, dass Sinclair sich ausschließlich mit einem anderen Profil namens Tryharder27 ausgetauscht hatte. Sie rief den Chatverlauf auf. Ihr Herz schlug schneller, als sie erkannte, dass die letzte Konversation vorgestern am Abend des Verschwindens des Schriftstellers stattgefunden hatte. Lupita konnte gerade noch das Wort Nacktbaden lesen, als plötzlich der gesamte Text verschwand. Sie runzelte die Stirn und tippte auf das Hauptmenü. Neben dem Link zu den Chats stand nun die Zahl 0. Was sie jedoch noch mehr irritierte, war die Tatsache, dass Sinclairs Profilbild verschwunden war. Im selben Augenblick ploppte eine Mitteilung auf dem Bildschirm auf. Eine Fehlermeldung.
Benutzer unbekannt. Bitte anmelden.
Verdammt, jemand musste das Profil gelöscht haben, während sie es inspiziert hatte. Sie schloss die App und versuchte, sie erneut zu starten, aber wieder erschien die Nachricht
Benutzer unbekannt. Bitte anmelden.
Sie schnaubte leise. Ihr Blick fiel auf die Mail-App. Vorhin war dort die Zahl 234 angezeigt worden, doch nun war nur noch das Icon zu sehen. Jemand musste auch alle E-Mails gelöscht haben.
Das Erste, was Adam Sinclair spürte, als er aus der Ohnmacht erwachte, war ein pochender Schmerz hinter dem rechten Auge, der bis zu seinem Hinterkopf zog und sich dort in ein heißes Brennen verwandelte. Sein Mund fühlte sich an, als ob er mit einem Sandstrahler ausgespült worden sei, und so entwand sich seiner Kehle nur ein kratziges Stöhnen.
Er öffnete vorsichtig die Lider, schloss sie jedoch gleich wieder. Ein grelles Licht blendete ihn und die Beleuchtung entflammte die ohnehin schon vor sich hinsiedende Pein in seinem Kopf wie ein Brandbeschleuniger. Was war denn nur los? Langsam, ganz langsam formierten sich Gedanken in Adams gemartertem Hirn. Wo war er? Er versuchte noch einmal, die Augen zu öffnen, nur einen Spalt breit. Er konnte einen Streifen Boden erspähen. Grauer Beton. Seine Beine waren an einen Stuhl gefesselt. Er blickte zu seinen Armen, auch diese waren an den Handgelenken zusammengebunden, hinter seinem Rücken, der nun ebenfalls zu schmerzen begann, als er ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit rutschte.
Er sah, dass die Lampe, die auf ihn gerichtet war, auf ein Stativ montiert war. Daran lehnte eine Gestalt. Sie trug schwarze Kleidung und ihr Gesicht war von einer schwarzen Maske mit ausgeschnittenen Augenlöchern verdeckt. Sie sah aus wie einer der Dämonen aus seinem Fantasy-Roman. Nur, dass die Hörner fehlten. Adam fragte sich, ob er in der Hölle gelandet war. Wie war er hierhergekommen? Er erinnerte sich nur bruchstückhaft an den Abend zuvor. Bilder vom Strand in Porthleven tauchten in ihm auf. Die Felsen unter dem Leuchtturm. Eine einsame Gestalt in der Gischt. Und dann Schmerz und Dunkelheit.
„Ah, der Literatur-Nobelpreisträger in spe ist erwacht“, hörte er eine Männerstimme sagen. Die maskierte Person trat einen Schritt auf Adam zu.
„Wer sind Sie?“, wollte er fragen, doch aus seinem Mund entwand sich nur ein Krächzen.
„Ach je, da hat es jemandem anscheinend die Sprache verschlagen. Dabei habe ich ihm doch die Zunge gar nicht herausgeschnitten … noch nicht zumindest.“
Adam spürte, wie ein eiskalter Schauer durch seinen Körper lief. Was sollte das denn bedeuten?
Der Mann trat zu ihm und packte ihn an den Haaren. Sinclairs Kopf wurde nach oben gerissen und der Schmerz hinter seinem rechten Auge explodierte. Der Dämon brachte seine maskierte Fratze vor Adams Gesicht. Er spürte dessen heißen Atem auf der Wange und roch Pfefferminz.
„Nein, mit ihm habe ich etwas ganz Besonderes vor“, sagte der Dämon und Adam hörte ihn kehlig lachen. „Glaub mir, ich und er werden viel Spaß miteinander haben.“
Wieder wurde Sinclairs Kopf zurückgerissen. Instinktiv versuchte er, seine Hand aus der Schlinge zu ziehen. Der Mann schlug ihm daraufhin mit der Faust ins Gesicht und Adam spürte, wie seine Nase brach. Er wusste nicht, was quälender war, das knirschende Geräusch oder der scharfe Schmerz, der gleich darauf einsetzte.
„Na na, so doch nicht“, sagte sein Peiniger. „Wenn er sich wehrt, wird es noch mehr wehtun. Er hat die Wahl.“
Der Dämon legte die Finger an Sinclairs gebrochene Nasenwurzel und drückte fest zu. Adam begann zu schreien.
Daniel lehnte sich an die Wand des Aufzugs und gähnte. Er hatte Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Die halbe Nacht über hatte er wach gelegen und darüber nachgegrübelt, ob er kündigen oder dem Job bei IQ-VE eine Chance geben sollte. Wie so oft hatten Kopf und Bauch ihm zwei unterschiedliche Lösungen vorgeschlagen. Vernünftig wäre es, die Jagd nach den Honeytrappern als willkommene Gelegenheit zu sehen, Helligan von seinen Qualitäten zu überzeugen. Vielleicht würde der CEO dadurch erkennen, dass sie ihn bei der Optimierung ihrer Algorithmen viel gewinnbringender einsetzen könnten als bei der plattforminternen Müllabfuhr. Und dann würde er auch Nupret beweisen können, dass ein promovierter Persönlichkeitspsychologe mehr leisten konnte als seine KI.
Sein Bauchgefühl rebellierte jedoch so sehr gegen diese Vorstellung, dass sich sein Magen zu einem heißen Kloß zusammenkrampfte. Es wollte, dass Daniel kündigte und sofort wieder an die Uni in Roehampton zurückkehrte, in sein kleines Büro in dem baufälligen Fakultätsgebäude, zu den übrig gebliebenen Kollegen, die weiterhin an ihren Projekten forschten. Doch dann schaltete sich wieder der Kopf ein und ließ seine Träume zerplatzen. Es gab keinen Weg zurück an die Uni. Seine Stelle war im Zuge der Sparmaßnahmen gestrichen worden, die der Brexit den englischen Universitäten eingebrockt hatte. Er war auf diesen Job bei IQ-VE angewiesen, so sehr sich sein Bauch auch dagegen sträubte.
Gegen vier Uhr morgens hatte er nach seinem Handy gegriffen und nachdem er drei Partien Go gegen die KI gewonnen hatte, hatte er ein wenig Schlaf gefunden. Nachdem der unbarmherzige Wecker ihn zum Aufstehen gezwungen hatte, hatte er sein Jackett gegen ein Polo Shirt und einen Pulli getauscht und war, den Aktenkoffer in der Hand, zur Arbeit gefahren.
Paul und Chris erwarteten ihn schon. Man konnte über die Aufgaben der Abteilung die Nase rümpfen, aber sie war exzellent ausgestattet. Jeder der drei hatte ein eigenes Büro und für Besprechungen stand ihnen ein mit Computern, mehreren Bildschirmen, einem Beamer, einer Leinwand und einem Flipchart bestückter Raum zur Verfügung. Daniel fühlte sich beinahe ein wenig an eine dieser amerikanischen Krimiserien erinnert. Oder diese Arztserie, in der ein schlecht gelaunter, aber hochintelligenter Mediziner knifflige Fälle gelöst hatte.
„Guten Morgen, Doktor“, sagte Paul. Chris nickte Daniel zu und öffnete eine bunte Getränkedose.
„Wir können uns gerne beim Vornamen nennen“, sagte Daniel, was ihn jedoch einiges an Überwindung kostete. Nicht, dass es ihm wichtig gewesen wäre, mit seinem Titel angesprochen zu werden. Aber er war es gewohnt, nur bei Menschen, denen er wirklich nahe war, den Vornamen zu verwenden, und Chris und Paul gehörten nicht zu dieser Kategorie.
„Na gut. Dann: Guten Morgen, Daniel“, sagte Paul und grinste breit. „Bereit für unseren ersten Fall?“
„Worum handelt es sich denn?“
Chris setzte sich an den Schreibtisch und begann, auf einer Tastatur herumzutippen. Der Beamer an der Decke sprang an und warf ein Bild auf die Leinwand. Dieses war zunächst unscharf, das Gerät musste sich wohl erst noch aufwärmen. Langsam schälten sich die Umrisse eines Porträtfotos heraus. Nach einer halben Minute war zu erkennen, dass es sich um einen Mann handelte. Daniel schätzte, dass dieser etwa Anfang fünfzig sein musste. Er hatte ein hageres Gesicht und schütteres, hellblondes Haar, das an einigen Stellen bereits von grauen Strähnen durchsetzt war. Seine hellblauen Augen blickten etwas gelangweilt in die Kamera, der Mund war zu einem Lächeln verzogen, das jedoch nicht die Augenwinkel erreichte.
„Ist das ein Profilbild bei IQ-VE?“, fragte Daniel.
Paul kicherte. „Ja. Man sollte es kaum glauben, dass Menschen solche Bilder einstellen, wenn sie den Partner fürs Leben finden wollen.“
„Dir muss er ja nicht gefallen“, sagte Chris.
„Wer ist das?“, fragte Daniel.
„Das ist John Miller“, antwortete Paul. „Und nein, es ist nicht schlimm, wenn du ihn nicht kennst. Er ist Regionalpolitiker für die Konservativen in Cornwall. Wahrscheinlich hat er einfach das Bild genommen, das auch auf seinen Wahlplakaten prangt.“
„Und was sollen wir für diesen John Miller tun?“, fragte Daniel.
„Miller hat uns vor drei Tagen eine Beschwerde geschickt. Offenbar hatte er auf unserer Plattform mit einer Frau geflirtet. Ihr Profilname lautet HeartofCornwall29. Auf jeden Fall haben die beiden anzügliche Fotos ausgetauscht. Miller hat die Nutzerin schließlich dazu gebracht, sich mit ihm zu treffen.“
Daniel ahnte, worauf das Ganze hinauslief. „Zu dem Treffen kam dann aber wahrscheinlich nicht HeartofCornwall29, oder?“
Chris schüttelte den Kopf. „Nein, es muss eine sehr unangenehme Überraschung für Mister Miller gewesen sein, als er an dem kleinen Teich in dem Städtchen Helston, den er als Treffpunkt für sein Rendezvous vereinbart hatte, plötzlich von seiner Ehefrau begrüßt wurde. Noch unangenehmer war die Überraschung, als diese ihn damit konfrontierte, dass sie über den gesamten Chatverkehr verfügte, den er mit HeartofCornwall29 ausgetauscht hatte. Leugnen war also zwecklos. Mister Miller lebt nun im Hotel und hat uns von dort aus eine Beschwerde geschickt. Außerdem hat er gedroht, uns zu verklagen.“
Daniel runzelte die Stirn. „Uns verklagen? Was hat die Plattform denn falsch gemacht?“
„IQ-VE wirbt damit, dass wir zu hundert Prozent diskret sind“, sagte Paul. „Das ist das Geschäftsmodell von Timothy Nupret. Er garantiert jedem unserer Nutzer absolute Anonymität. Wer möchte, bleibt hier vollkommen unerkannt. Natürlich gibt es bei IQ-VE auch die klassische Partnervermittlung. Die Algorithmen sind darauf spezialisiert, dass Menschen zueinander finden, die gleiche Interessen und gleiche Persönlichkeitsprofile haben. Aber man kann die Plattform genauso gut nutzen, um jemanden für eine kurze und leidenschaftliche Affäre zu finden.“
„Die Nutzerdaten sind unser heiliger Gral“, ergänzte Chris. „Die kann nicht einmal Mr. Helligan einsehen, geschweige denn Minions mit niedrigen Freigabestufen wie wir. Dafür bezahlen unsere Nutzer aber natürlich auch einen entsprechenden Preis. Du kannst dir also bestimmt vorstellen, dass Mister Miller wenig begeistert war, als er feststellen musste, dass die Daten aus dem Chat an seine Frau weitergeleitet wurden.“
Daniel schüttelte den Kopf. „Ich sehe immer noch kein Verschulden unserer Firma“, sagte er. „Es ist doch vollkommen klar, dass die Nutzerin die Daten abgegriffen hat und sie an Millers Frau weitergeleitet hat.“
Nun war es Chris, der den Kopf schüttelte. „So klar ist das nicht“, sagte er. „Miller hat den Verdacht, dass seine Frau es selbst war, die sich als seine Affäre ausgegeben hat. Und dass es ihr gelungen ist, ihn auf der Plattform zu finden. Dass sie dazu in der Lage gewesen sein könnte, sieht er als ein Versäumnis unserer Sicherheitssysteme an.“
Nun verstand Daniel, worauf das Ganze hinauslief. „Wir sollen also einen Imageschaden von der Firma abwenden, indem wir nachweisen, dass es nicht Millers Frau war, die ihm die Falle gestellt hat, sondern eine Nutzerin, der er durch eigenes Verschulden auf den Leim gegangen ist?“
„Jetzt ist der Groschen gefallen“, sagte Paul.
„Und wofür braucht ihr mich? Es müsste sich doch relativ einfach feststellen lassen, wer hinter HeartofCornwall29 steckt.“ Daniel schlug sich gegen die Stirn. „Ah, jetzt verstehe ich es. Ihr habt nicht die Freigabestufe, um auf die Daten der Nutzerin zuzugreifen, und könnt deshalb nicht nachvollziehen, ob Millers Frau oder jemand anderes hinter dem Profil steckt.“
„Man merkt, dass du eine akademische Ausbildung hast“, sagte Paul. „Wir haben nur den Namen. HeartofCornwall29. Unsere Aufgabe ist es nun, herauszufinden, ob es Millers Frau ist oder eine dritte Partei.“
Daniel kniff die Augen zusammen. „Könnte man dafür nicht einmal eine Ausnahme machen?“
Chris schüttelte den Kopf. „Wir haben schon mindestens ein halbes Dutzend Mal mit Helligan geredet. Aber wie gesagt, selbst er hat keinen Zugriff auf die Nutzerdaten und auf die KI und die Algorithmen genauso wenig. Die sind unter Verschluss. Genehmigen könnte das nur Nupret persönlich. Aber der Datenschutz ist seine heilige Kuh. Er wird nicht davon abweichen. Wir müssen uns also klassischer Ermittlungsarbeit bedienen. Und dazu haben wir uns Hilfe erbeten. Du bist jetzt sozusagen unser Profiler.“
Daniel nickte. „Nun wird mir einiges klar. Ich vermute zwar, dass Helligan besser daran getan hätte, einen Kriminalpolizisten einzustellen, aber nun habt ihr eben einen Persönlichkeitspsychologen bekommen. Okay, dann überlegen wir mal, wie wir diese Nutzerin identifizieren können. Wenn es überhaupt eine Nutzerin ist.“
„Es könnte genauso gut ein Kerl in unserem Alter sein, der sich einen Spaß daraus macht, Chaos zu säen.“