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**Von rabenschwarzen Schatten geküsst** Auf der Flucht vor der falschen Zarin wird der Attentäter Juran mehr und mehr zu Vasilisas Fels in der Brandung. Durch ihn lernt sie nicht nur ihr Land und dessen Bewohner von einer ganz anderen Seite kennen, sondern auch sich selbst. Doch der magische Pakt, der Juran und sie aneinander bindet, lässt Vasilisa an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zweifeln. Wird er wirklich bis zum Schluss an ihrer Seite stehen? Schließlich gilt es noch immer, das Reich von ihrer bösen Schwester zu befreien und die Regentschaft zurückzugewinnen… Tauch ein in die unwiderstehlich düstere und magische Welt der Zaren mit Isabel Clivias Fantasy-Reihe »Der Kuss der Krähe«. //Dies ist ein Roman aus dem Carlsen-Imprint Dark Diamonds. Jeder Roman ein Juwel.// //Alle Bände der magischen Fantasy-Dilogie: -- Zarenthron (Der Kuss der Krähe 1) -- Zarenfluch (Der Kuss der Krähe 2) -- Der Kuss der Krähe: Alle Bände der magischen Fantasy-Dilogie in einer E-Box!// Die »Der Kuss der Krähe«-Dilogie ist abgeschlossen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Dark Diamonds
Jeder Roman ein Juwel.
Das digitale Imprint »Dark Diamonds« ist ein E-Book-Label des Carlsen Verlags und publiziert New Adult Fantasy.
Wer nach einer hochwertig geschliffenen Geschichte voller dunkler Romantik sucht, ist bei uns genau richtig. Im Mittelpunkt unserer Romane stehen starke weibliche Heldinnen, die ihre Teenagerjahre bereits hinter sich gelassen haben, aber noch nicht ganz in ihrer Zukunft angekommen sind. Mit viel Gefühl, einer Prise Gefahr und einem Hauch von Sinnlichkeit entführen sie uns in die grenzenlosen Weiten fantastischer Welten – genau dorthin, wo man die Realität vollkommen vergisst und sich selbst wiederfindet.
Das Dark-Diamonds-Programm wurde vom Lektorat des erfolgreichen Carlsen-Labels Impress handverlesen und enthält nur wahre Juwelen der romantischen Fantasyliteratur für junge Erwachsene.
Isabel Clivia
Der Kuss der Krähe 2: Zarenfluch
**Von rabenschwarzen Schatten geküsst** Auf der Flucht vor der falschen Zarin wird der Attentäter Juran mehr und mehr zu Vasilisas Fels in der Brandung. Durch ihn lernt sie nicht nur ihr Land und dessen Bewohner von einer ganz anderen Seite kennen, sondern auch sich selbst. Doch der magische Pakt, der Juran und sie aneinander bindet, lässt Vasilisa an der Aufrichtigkeit seiner Gefühle zweifeln. Wird er wirklich bis zum Schluss an ihrer Seite stehen? Schließlich gilt es noch immer, das Reich von ihrer bösen Schwester zu befreien und die Regentschaft zurückzugewinnen …
Buch lesen
Vita
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© privat
Als Kind hat Isabel Clivia den Duden gelesen, um so viele Wörter wie möglich zu kennen. Nach zwei Tagen und der Erkenntnis, dass Wörterbücher nicht ganz so spannend sind wie Romane, hat sie es jedoch aufgegeben. Was das Schreiben betrifft, ist ihre Ausdauer glücklicherweise etwas größer. Angeblich lassen sich ihre ersten Schreibversuche auf Fanfiction-Portalen finden, aber die Existenz solcher Geschichten wird sie für immer bestreiten.
Für meine wundervollen Eltern. Weil Helden nicht nur in Büchern zu finden sind.
Mascha
Niemand kam leicht über den Tod hinweg, weder über den eines geliebten Menschen noch über den eines gläubigen Idioten, von dem man fast getötet worden wäre.
Immer noch traurig?
Mascha las die geschwungenen Worte auf Jekaterinas Tafel mehrmals, bevor sie sich dazu in der Lage sah, zu antworten. Obwohl das aufmunternde Lächeln ihrer Bediensteten sicher nett gemeint war, hob es nicht ihre Stimmung.
Sie nickte.
Vasilisa hätte wegen ihres Verhältnisses zu Anton in jedem Fall getrauert, also war es nur natürlich, dass sie das auch tat. Doch die Niedergeschlagenheit musste sie zu ihrer eigenen Überraschung nicht einmal spielen. Dieser dämliche Gardist hatte krude Ansichten vertreten, aber das hatte man ihm bestimmt anerzogen. Kaum jemand konnte sich gegen Überzeugungen wehren, die ihm ein Leben lang eingetrichtert worden waren.
Jekaterina erhob sich aus dem Sessel, der ihrem eigenen gegenüberstand, kniete sich vor sie und legte ihr eine Hand aufs Bein. Ihre grünen Augen waren so gütig und voller Mitgefühl, dass Mascha nicht anders konnte, als ihre Hand zu ergreifen.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Ich wollte nicht, dass es so kommt.«
Das ist nicht Ihre Schuld, schien die Bedienstete mit ihrer verständnisvollen Miene zu erwidern.
Aber es war sehr wohl ihre Schuld. Hätte sie sich nicht in das Leben ihrer Schwester eingemischt und ihren Körper gestohlen, wäre Anton noch am Leben.
»Ich hätte es verhindern können.«
Jekaterina legte den Kopf schief. Manchmal wirkte es, als hätte ihr liebliches Gesicht seine ganz eigene Stimme, die jedes Wort, das sie hätte sprechen können, überflüssig machte.
Sie wischte über die Tafel, griff nach dem Stück Kreide und schrieb erneut etwas.
Vielleicht hilft Spielen?
Mit dem Zeigefinger deutete sie auf das große Klavier, das mitten im Schlafgemach stand.
Nicht das schon wieder. Mascha hatte gehofft, dass niemand sie mehr darauf ansprechen würde, jetzt, nachdem Anton tot war. Vasilisa hatte oft auf diesem Ding gespielt, genau wie ihr Vater. Was auch sonst, schließlich war sie in jeder Hinsicht sein Ebenbild.
»Nein«, lehnte sie ab. »Keine Ahnung, ob ich überhaupt je wieder spielen will.«
Die roten Augenbrauen ihres Dienstmädchens hoben sich. So seltsam Maschas Antwort ihr jetzt vorkommen mochte, auf diese Weise würde bald keiner mehr fragen, warum sie plötzlich nicht mehr spielte. Anton hatte erzählt, dass Vasilisa immer für ihn auf dem Klavier gespielt hatte. Jetzt, da er tot war, konnte sie behaupten, ihre Liebe zur Musik wäre mit ihm gestoben. Oder irgendetwas ähnlich Dramatisches.
Ein Klopfen an der Tür hielt Jekaterina davon ab, etwas Neues auf die Tafel zu schreiben. Wobei Klopfen untertrieben war, vielmehr handelte es sich um ein Poltern, so als wollte der Störenfried der Tür Gewalt antun. Inzwischen wusste Mascha, wer sich auf die Art und Weise ankündigte.
Auch Jekaterina schien das klar zu sein, denn sie versteckte die Tafel unter dem Sessel und sprang hektisch auf. Jetzt stand sie stocksteif da, die Hände vor ihrem Körper verschränkt, mit einer Miene, die so ausdruckslos wirkte, als hätte es das tröstende Lächeln nie gegeben.
»Rein mit Ihnen!«, rief Mascha.
Makarov kam hereingerauscht, mit seinen üblich festen Schritten, wie ein Soldat, der durch schwer zugängliches Gelände stapfte, aber seltsamerweise mit mehr Eleganz. Er senkte den Kopf zum Gruß. »Hoheit.«
»General.«
»Ich muss mit Ihnen sprechen.«
»Was gibt es?«
Er warf Jekaterina einen Seitenblick zu. »Fräulein Arsenijova, würden Sie uns einen Moment entschuldigen?«
»Sie bleibt«, entschied Mascha, bevor die Bedienstete auch nur einen Schritt machen konnte. »Sie ist absolut vertrauenswürdig.«
Es sah aus, als würde Makarov protestieren wollen, doch er nahm lediglich einen tiefen Atemzug und zuckte mit den Schultern, als wäre es die Diskussion nicht wert. »Nun«, sagte er. »Es ist ja nicht so, als könnte sie etwas ausplaudern oder Geheimnisse verraten.«
Er hatte das nicht als Witz oder Beleidigung gemeint, dafür waren ihm die Worte viel zu nüchtern über die Lippen gekommen, aber Jekaterina schaute dennoch betreten zu Boden. Manche Worte verletzten auch dann, wenn sie nicht mit der Absicht gesprochen worden waren, jemandem wehzutun.
Mascha sah ihn abwartend an. »Was ist Ihr Anliegen?«
»Das Mädchen zieht es weiterhin vor, zu schweigen.«
»Sie befragen sie noch immer?«
»Wieder«, korrigierte er.
»Ich verstehe nicht, warum Sie sie überhaupt hierher gebracht haben. Sie hat ihre Aufgabe erfüllt, indem sie uns zu dieser Attentäterin geführt hat.«
»Aber die ist entkommen«, meinte er finster. Es klang, als gäbe er ihr die Schuld daran.
Kein Wunder, Anton konnte er schließlich nicht dafür verantwortlich machen.
In gewisser Weise war es tatsächlich ihr eigener Fehler gewesen, dass Vasilisa hatte entkommen können – aber woher hätte sie ahnen sollen, dass dieser verdammte Schatten sich auch in seiner menschlichen Gestalt Flügel wachsen lassen konnte?
»Sie denken, das Mädchen kann uns erneut zu ihr führen?«, fragte sie.
»Da bin ich mir sicher. Ich bezweifle, dass sie zufällig jene Verbrecherin gefunden hat, nach der ich gesucht habe. Sie hat diese Person an den verabredeten Treffpunkt geführt, was bedeutet, dass sie freiwillig mit ihr gekommen sein muss. Das spricht für ein gewisses Vertrauensverhältnis, finden Sie nicht auch?«
Gut möglich. Trotzdem steckte Vasilisa noch nicht lange im Körper von Aljona, wieso also war sie mit dieser Person mitgegangen? Es passte nicht zusammen. Und was hatte Juran mit alldem zu tun?
»Haben Sie sie über den Schatten ausgefragt?«
»Sie behauptet, ihn nicht zu kennen.«
»Dann lügt sie«, erwiderte Mascha. »Ich habe ihn dort gesehen. Er hat die Attentäterin mit seiner Magie gerettet.«
Makarov verschränkte die Arme vor der Brust. »Äußerst seltsam.«
»Was Sie nicht sagen.«
»Meines Wissens nach arbeitet Juran allein. Von einer Komplizin habe ich noch nie gehört. Warum schickt er jemand anderen, statt es selbst zu erledigen?«
»Mit es meinen Sie wohl mich.«
»Verzeihung, Hoheit«, entschuldigte er sich mit einem schiefen Grinsen.
»Sparen Sie sich das.«
»Ich betrachte Verbrecher und ihre Denkweise immer abstrakt. Der Schatten ist nicht dafür bekannt, unerledigte Geschäfte zu hinterlassen.«
Mascha faltete die Hände in ihrem Schoß. »Vielleicht geht es ihm nicht ums Geschäft. Wer weiß, diese Frau könnte seine Geliebte sein. Auch der Schatten ist am Ende des Tages nur ein armseliger Mann mit Bedürfnissen, genau wie alle anderen.«
Kein Muskel regte sich in Makarovs Gesicht, so als müsste er sich Mühe geben, zu zeigen, dass nichts, was sie sagte, ihn aus dem Konzept brachte.
»Geliebte? Meinen Sie damit die Attentäterin oder die Hure?«
»Die Attentäterin«, stellte Mascha klar. »Wäre ja ziemlich verrückt, wenn Sie und der Schatten sich dieselbe Hure teilen würden. Für wen das wohl die größere Ehre wäre?«
Sie gestattete sich ein hämisches Lachen.
»Die Hure, nehme ich an. Wir Männer machen uns für gewöhnlich nicht die Illusion, die Einzigen zu sein. So viel Geld ist keine dieser Frauen wert.«
Du verfluchter Mistkerl.
Während sie die Rolle der kühlen, gleichgültigen Herrscherin nur spielte, meinte er diese Worte ernst, und das machte sie krank. Kein Mensch besaß das Recht, so abfällig über eine Frau zu sprechen, die alles dafür tat, um zu überleben – selbst dann nicht, wenn es sich um ein Mädchen handelte, das sie verraten hatte. Männer wie Makarov bildeten sich ein, besser als solche Frauen zu sein, obwohl ihre Besuche bei ihnen nur ihrem eigenen schäbigen Vergnügen dienten. Das sagte mehr über ihren Wert aus als über den der Prostituierten.
»Wenn wir die Attentäterin finden«, begann Mascha, »finden wir auch den Schatten.«
»Dafür brauchen wir zuerst Informationen.«
»Und Sie glauben, das Mädchen kann uns die geben?«
Er nickte. »Sosehr ich es auch bedauere, dass sie mir nach unserer gemeinsamen Zeit nicht zugeneigter ist … Sie weigert sich, mir die Informationen zu geben, die ich will.«
Mascha konnte nicht anders, als darüber zu lachen. »Überrascht Sie das?«
»Nein«, antwortete er kühl und hob einen Mundwinkel. »Ich bilde mir nicht ein, dass irgendetwas von dem, was sie mir zugeflüstert hat, echt gewesen ist. Allerdings hatte ich gehofft, ein entsprechender Anreiz würde ihre Zunge lockern.«
Sie kniff ihre Augen zusammen. »Der da wäre?«
»Eine angemessene Bezahlung im Austausch gegen Informationen über die Attentäterin oder den Schatten.«
»Und? Hat das zum Erfolg geführt?«
»Nein.«
Zum ersten Mal hörte sie die Frustration in seiner Stimme deutlich heraus. Ein Mann wie er, der immer über alles die Kontrolle behielt, schien Misserfolge besonders persönlich zu nehmen.
»Sie hat sich geweigert, mir etwas zu erzählen«, fuhr er fort. »Obwohl ich üblicherweise sehr überzeugend bei meinen Befragungen bin.«
»Wohl nicht überzeugend genug.«
Makarov schob sein Kinn vor. »Nun, sie wollte mit Ihnen sprechen.«
»Mit mir?«
»Ich vermute, sie will sich wichtigmachen, das würde zumindest zu ihr passen. Wenn Sie es wünschen, verschärfe ich meine Methoden. Mal sehen, ob sie dann immer noch Forderungen stellt.«
Ihr gegenüber zog Jekaterina mit dem Finger nervöse Kreise auf der Sessellehne. Was der General da vorschlug, gefiel ihr offenbar nicht, und das war Anlass genug, gründlich über die Sache nachzudenken. Während der letzten Woche war sie so etwas wie Maschas moralischer Kompass geworden. Falls Makarovs Angebot sie also derart beunruhigte, erlaubte sie ihm besser nicht, seine Befragung noch unangenehmer werden zu lassen.
»Das wird nicht nötig sein«, erwiderte Mascha schnell. »Ich suche sie sofort auf. Meinetwegen darf sie sich so wichtig fühlen, wie es ihr passt, solange ich an meine Informationen komme.«
»Pragmatisch wie immer.«
Wie immer.
Diese Worte versetzten ihr einen Stich. Er tat so, als wäre sie noch dieselbe Person wie vorher. Obwohl es sie hätte freuen sollen, dass sie ihre neue Rolle gut spielte, wollte sie nicht wie ihre Schwester sein. Für die Welt musste sie zwar ihren Platz einnehmen, doch der Vergleich tat trotzdem weh.
»Ich verschwende meine Zeit nicht mit Eitelkeiten«, zischte sie. »Das Ergebnis ist das Einzige, das zählt. Ich will diese Attentäterin, ich will den Schatten, und ich will beide tot.«
Makarov nickte. »Seien Sie unbesorgt, Hoheit. Sie werden sie bekommen.«
»Natürlich werde ich das.« Sie erhob sich aus dem Sessel und drückte ihren Rücken durch. »Führen Sie mich zu der Gefangenen. Ich will hören, was sie zu sagen hat.«
»Wie Sie wünschen.«
Der General machte kehrt und Mascha folgte ihm, nachdem sie Jekaterina ein beruhigendes Lächeln zugeworfen hatte. Ich werde ihr nicht wehtun, sollte es ausdrücken, aber sie war unsicher, ob das auch so angekommen war.
Vielleicht würde sie dieses stumme Versprechen nicht halten können. Ihre eigene Zukunft stand auf dem Spiel und es blieb nur die Flucht nach vorn. Falls sie je wieder eine ruhige Nacht erleben wollte, mussten Vasilisa und Juran sterben.
Sie lief mit Makarov auf derselben Höhe und hielt Schritt mit seinem forschen Gang. Inzwischen hatte sie sich vollkommen gegen das Tragen von pompösen Kleidern und hohen Schuhen entschieden, deshalb konnte er ihr nicht davonrennen.
Der Kerker war, anders als der Palast, ein verdammtes Drecksloch. Bisher hatte sie diesen Ort bei ihren Erkundungsgängen gemieden, und jetzt fiel ihr auch wieder ein wieso. Hier war es finster, kalt und ungemütlich. Sogar Tante Lidijas Bruchbude war im Vergleich hierzu fast schon behaglich, obwohl es dort meistens nach Zigarettenrauch stank. Widerwillig atmete Mascha die feuchte Luft ein und rümpfte die Nase.
Hier verbirgt meine gute Schwester also ihre ganz persönliche Folterkammer.
Ihre Schritte hallten von den dicken Mauern wider. Aus einem Impuls heraus fuhr sie mit den Fingern über den rauen Stein. Alles an diesem Ort war golden, glatt und wunderschön, doch dieser Teil des Palasts strahlte etwas Unerbittliches aus.
Zwei Gardisten standen vor einer Tür am Ende des Korridors. Ihre Mienen waren stoisch, so als bestünden sie aus demselben Stein, mit dem man dieses Gewölbe geformt hatte.
»Haben Sie Angst, dass das Mädchen flieht?«, fragte sie Makarov.
»Wohl kaum. Ich bin einfach nur gern gründlich, und so klein ihre Chance auf Flucht auch sein mag, ich bedenke immer alle Eventualitäten. Uns ist schließlich schon einmal eine Attentäterin entwischt.«
»Mithilfe von Magie.«
»Ich weiß«, antwortete er. »Meine Männer arbeiten übrigens daran, sämtliche Raben aus der Stadt zu tilgen, aber diese Tiere sind schlau. Es könnte eine Weile dauern.«
»Weil diese Viecher klüger als Ihre Soldaten sind?«
»Bei manchen kann ich das nicht ausschließen.«
Mascha hob ihre Augenbrauen. »Sie scheinen keine allzu hohe Meinung von Ihren Leuten zu haben.«
Sein ohnehin unfreundlicher Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Ich verlasse mich nicht gern auf andere. Wenn man will, dass die Dinge richtig erledigt werden, muss man sich selbst um sie kümmern, sonst wird man ständig enttäuscht.«
»Genau deshalb bin ich ja jetzt hier«, meinte sie und lächelte spöttisch.
Der General presste seine Lippen aufeinander. Gut so. Er musste lernen, zu verstehen, dass er hier nicht das Sagen hatte, egal, wie sehr er sich das auch wünschte.
»Ich gehe allein«, stellte sie klar und marschierte zur Tür.
Die Gardisten rührten sich nicht. Sie sagten kein Wort, schauten sie nicht an und schienen geistig überhaupt nicht anwesend zu sein. Fast hätte Mascha geglaubt, sie seien Statuen, aber da man sie nicht mit Gold überzogen hatte, gehörten sie wohl nicht zum Inventar.
»Sind Sie sicher?«
Mascha wandte sich um. »Wirke ich auf Sie in irgendeiner Weise von Zweifeln geplagt?«
»Nein.«
»Wunderbar, dann lassen Sie mich allein, General. Ich brauche keinen Mann, der mir die Hand hält, während ich mit einer Gefangenen rede, die sich nicht einmal aussuchen darf, ob sie mir zuhört oder nicht.«
Er nickte knapp.
Makarov war sehr, sehr beherrscht, jedoch sicher nicht entspannt. Sein Unterkiefer war leicht hervorgeschoben und die Lippen bildeten eine harte, bleiche Linie. Ihm gefiel nicht, wie sie mit ihm sprach, aber er musste sich daran gewöhnen. Wenn er eine starke Herrscherin haben wollte, würde er sie bekommen – mit allem, was dazugehörte.
»Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie brauchbare Informationen aus ihr herausbekommen«, sagte er. »Vielleicht spuckt sie bei Ihnen noch etwas anderes als Beleidigungen aus. Und falls nicht, können Sie mir das ebenfalls ausrichten, dann finde ich schon einen Weg, die kleine Sirene zum Singen zu bringen.«
»Das wird nicht nötig sein.«
Sie drückte die Klinke herunter und stemmte sich gegen die massive Tür, die sich dank ihrer geringen Kraft nur langsam bewegte. Dieser Körper war zu zierlich und grazil für einen so groben Ort wie den Kerker.
Nachdem Mascha hineingehuscht war, schloss sie die Tür hinter sich. Finsternis herrschte im Inneren der Kammer, doch an den Wänden brannten einige Fackeln, die Licht spendeten. In der Mitte des Raumes stand ein Holzstuhl, ausgerichtet zur gegenüberliegenden Wand, wo eine junge Frau mit schmutziger Kleidung angekettet war.
Oh, verflucht …
Metallringe waren um ihre Handgelenke geschlossen, an denen aus Eisen gefertigte Ketten hingen. Sie konnte aufstehen und sich bewegen, aber nicht sonderlich gut, so viel stand fest, wenn man die Länge der Ketten bedachte.
Die Gefangene blickte auf. Der Bluterguss in ihrem Gesicht schien frisch zu sein, denn ihre Wange war geschwollen und verfärbt.
Zorn flammte in Mascha auf. Makarov musste das getan haben, dieser verdammte Bastard. Es war eine Sache, jemanden hier einzusperren und ihn zu befragen, aber dass ein gestandener Mann wie er einer jungen Frau ein Veilchen verpasste, damit sie redete, war erbärmlich.
Mascha trat in den Raum und blieb vor ihr stehen, jedoch mit einigem Abstand. »Jelena, nicht wahr?«
Ein Grinsen erschien im Gesicht der jungen Frau.
Seltsam. Seit einer Woche war sie hier gefangen und trotzdem wirkte sie nicht zerbrechlich, so wie Mascha es erwartet hatte.
»Richtig«, erwiderte sie selbstbewusst. »Ich würde dich zwar auch gern ordentlich begrüßen, aber du verdienst keine höfliche Anrede.«
»Was willst du damit sagen?«
»Wir wissen beide, dass du nicht die echte Zarin bist. Ich hab das Gerede von wegen Seelentausch und Magie mitbekommen, falls du’s schon wieder vergessen hast.«
Diese Informationen würden ihr rein gar nichts nutzen, das musste sie selbst erkannt haben.
»Keiner wird dir auch nur irgendwas davon glauben«, erwiderte Mascha und grinste nun selbst.
»Wirklich? Der General schien sehr … interessiert an dem, was ich zu sagen hatte. Er würde gern mehr von mir hören. Und ich halte ihn für paranoid genug, um ihn zumindest über einige Dinge ins Grübeln bringen zu können. Zum Beispiel, dass mit seiner Zarin etwas nicht stimmt.«
Diese kleine, raffinierte Schlange.
»Er ist an Informationen über Juran und seine Komplizin interessiert, nichts weiter.«
»Jurans Komplizin?«, wiederholte sie und schüttelte den Kopf. »Du meinst wohl deine Schwester.« Sie lachte hohl. »Ich hab dich schon immer für eine begnadete Lügnerin gehalten, aber nicht mal du könntest mir weismachen, dass du mit der Zarin verwandt bist. Deine Lügen über ihren Vater hab ich geglaubt, aber das hier geht sogar für dich zu weit. Ich weiß, in deinen Augen warst du immer was Besseres als wir anderen. Die schöne Aljona, die mit ihren dichten schwarzen Wimpern klimpert und jeden um den Verstand bringt.«
»Wag es nicht, so über Aljona zu sprechen!«, rief Mascha zornig. »Du hast keine Ahnung.«
Jelena hob kokett eine Augenbraue. »Sprichst du jetzt in der dritten Person von dir? Bist du in den letzten beiden Jahren endgültig durchgedreht?« Sie seufzte. »Weißt du was? Ich bereue es nicht, dich verraten zu haben. Was ich allerdings bereue, ist, dass ich unwissentlich die Zarin statt dich hintergangen hab.«
»Ich bin nicht Aljona«, sagte Mascha.
»Ach nein? Und wer bist du dann? Die heilige Mutter?«
»Aljona ist tot.«
Ihren eigenen Namen würde sie dieser Person bestimmt nicht verraten.
Jelena schwieg, doch besonders getroffen hatte die Neuigkeit sie offenbar nicht. »Tja, kann nicht sagen, dass das unverdient ist«, meinte sie dann, und diese Reaktion ließ Mascha überdenken, ob das Veilchen in ihrem Gesicht nicht doch gerechtfertigt war. »Tut mir ja leid, dass ich nicht so wirklich verstehe, was hier los ist. Ich bin nur eine ungebildete Hure, du musst es mir nachsehen.«
»Ich sehe dir gar nichts nach.«
Sie schürzte die Lippen. »Eins weiß ich aber genau: Du gehörst nicht auf den Thron.«
Mascha ballte die Fäuste. So langsam kam ihr der Verdacht, diese Person würde ihr nicht verraten, wo sie den Schatten und ihre kleine Schwester fand. »Was willst du?«, fragte sie tonlos.
Jelena lächelte kämpferisch. Beeindruckend, dass sie nach all den Tagen in diesem dunklen, stinkenden Loch noch so vor Selbstsicherheit strotzte.
»Ich will hier raus, was sonst?«
»Unmöglich.«
»Für die Zarin ist doch alles möglich«, erwiderte sie und betonte das Wort Zarin dabei so, als spräche sie über eine Bettlerin. »Wenn du mich freilässt, werde ich Kazimir nichts von alldem erzählen.«
Mascha warf ihr einen düsteren Blick zu. »Ich könnte auch einfach dein jämmerliches Leben beenden. Wie wär’s damit?«
Jelena reckte ihr Kinn. »Darauf lasse ich es ankommen. Sobald ich euch verrate, wo Juran ist, werdet ihr mich ohnehin beseitigen. Sage ich dagegen nichts, wird Kazimir mich mit mehr foltern als diesen paar Ohrfeigen. Und ich würde lieber sterben, als Juran zu verraten. Das hier ist meine einzige Chance und ich werde sie nutzen. Bevor mein Tod aber sinnlos ist, reiße ich dich mit mir. Als Wiedergutmachung sozusagen. Ich schulde Juran eine, nachdem ich ihm dieses Schlamassel eingebrockt hab und er fast wegen mir draufgegangen wäre.«
Unfassbar, wie viel Ehre so ein Miststück haben konnte … Nur Aljona hatte sie bereitwillig verraten.
»Warum schützt du ihn?«
»Ob du’s glaubst oder nicht, Juran ist besser als jeder Mensch, den ich kenne.«
»Das glaube ich tatsächlich nicht.«
Sie lehnte ihren Kopf gegen die Wand. »Ich würde ihn nie verraten, ganz egal, was passiert. Und jetzt entschuldige mich, ich möchte den Aufenthalt in meiner Zelle genießen, solange er anhält. Falls du ihn verkürzen willst, nur zu. Wie du dir vielleicht denken kannst, bin ich nicht besonders gut darin, die Geheimnisse von Leuten zu bewahren, die ich nicht leiden kann.«
»Raffiniertes Luder«, zischte Mascha, aber Jelena lachte nur.
»Man hat mich schon Schlimmeres genannt. Versuch’s das nächste Mal mit Gossenschlampe, das war Aljonas Lieblingsbeleidigung für mich. Komisch, dass sie sich immer für was Besseres gehalten hat, obwohl wir beide derselben Arbeit nachgegangen sind. Hat sich was drauf eingebildet, dass sie mal im Palast gewesen ist. Alles nur, weil sie dem Zaren mal schöne Augen gemacht hat.«
Mascha hätte ihr beinahe selbst eine Ohrfeige verpasst, doch statt ihren Zorn an Jelena auszulassen, trat sie gegen den Holzstuhl, der krachend umfiel.
Wie konnte diese kleine Schlange es wagen, so von Aljona zu sprechen? Sie wusste überhaupt nichts. Der verfluchte Zar hatte sie zerstört.
Mein eigener verdammter Vater.
Kein Wunder, dass Makarov diese Frau foltern wollte. Sie gab sich reichlich Mühe, jeden bis aufs Blut zu reizen. Trotz allem durfte Mascha nicht zulassen, dass er sie verhörte, immerhin wusste sie zu viel. Mit einer Sache hatte Jelena nämlich recht: Er war kein Mann, der solche Informationen sofort als Humbug abtat. Sie selbst hatte ihm vor allem am Tag der Krönung genug Anlass für Zweifel gegeben, und die mussten nicht weiter genährt werden.
Aber sie hatte einen Plan. Sie würde Jelena freilassen und trotzdem die Informationen aus ihr herausbekommen, die sie von ihr brauchte. Ohne dass sie Makarov etwas verriet. Diese Schlange glaubte vielleicht, schlauer als alle anderen zu sein, doch da lag sie falsch. So einfach würde sie sich nicht erpressen lassen.
Jelena würde ihr, ob sie es wollte oder nicht, Juran auf dem Silbertablett servieren – und Vasilisa gleich dazu.
Vasilisa
Nach einer Woche ließen die Schmerzen endlich nach. Durch ihre Abwesenheit fühlte Vasilisa sich beinahe taub, so sehr hatte sie sich an das quälende Brennen in ihren Muskeln gewöhnt. Ohne die Hilfe von Rajas Medikamenten hätte sie es nicht einen einzigen Tag ertragen.
Jemand klopfte an ihre Tür.
Ächzend richtete sie sich auf und lehnte ihren Rücken gegen das Kopfteil des Bettes. Die Steifheit in ihren Gliedern ließ sich nicht einmal mit Dehnübungen beseitigen. In der letzten Woche hatte sie völlig das Zeitgefühl verloren. Obwohl es bereits Abend war, wurde sie erst jetzt richtig wach.
»Ja?«
Raja betrat das Zimmer. Das dicke schwarze Haar hatte sie zu einem hohen Zopf gebunden und sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, der Vasilisa daran erinnerte, dass sie selbst noch immer keinen anziehen konnte. Dank Maria, die den Druckschmerz an ihrem Hals wieder verstärkt hatte.
»Geht’s Ihnen besser?«, fragte Raja.
»Oh, bitte, nicht diese Förmlichkeit.«
»Tut mir leid, alte Gewohnheit.« Sie grinste schief. »Wäre mir im Traum nicht eingefallen, eine Zarin so persönlich anzusprechen.«
»Ich bin keine Zarin. Nicht hier und auch nirgends sonst, solange ich in diesem falschen Körper gefangen bin.«
Der Körper jener Frau, die ihren Vater auf dem Gewissen hatte. Aljona. Ein Name, der ihr in den letzten Tagen ständig begegnet war. Ungeachtet ihres Todes schwebte sie allgegenwärtig umher, beinahe wie ein Geist, der immer wieder durch unerklärlichen Spuk auf sich aufmerksam machte.
»Man kann dir deine Krone und dein blondes Haar rauben, aber nicht das, was eine Zarin ausmacht. Dazu muss man geboren sein.«
Raja hockte sich auf die Bettkante und musterte sie mit ihren verschiedenfarbigen Augen. Eines braun, das andere blau, was ihr gestern aufgefallen war, als sie zum ersten Mal seit Tagen nicht mehr unter der Wirkung von starken Schmerz- und Schlafmitteln gestanden hatte. In diesem Dämmerzustand hätte Juran sich als ihre tote Mutter ausgeben können und sie hätte ihm geglaubt.
»Deine Augen sind wirklich faszinierend«, sagte Vasilisa. »Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
Ein Lächeln huschte über Rajas volle Lippen, aber ihre Mundwinkel wanderten sofort wieder nach unten, als hätten die Worte sie an eine unliebsame Tatsache erinnert. »Außerhalb von diesem Haus verstecke ich das unter einer Augenklappe. Eins weiß ich nämlich genau: Wenn man nicht ganz normal ist, behält man’s lieber für sich.«
»Dann bist du –«
»Eine Begabte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nicht mehr als du. Ich wurde ohne Gabe geboren, aber mit verschiedenfarbigen Augen. Für die meisten Leute ist das Grund genug, das personifizierte Böse in mir zu sehen.«
Zweifellos. Alles, was nicht der Norm entsprach, galt aus Sicht der Kirche und all ihren Anhängern als abartig. Ein Fluch, der nur die verdorbenen Seelen ereilt, würden die Leute es nennen.
»Es ist eine Laune der Natur«, erklärte Raja und legte die Stirn in Falten. »Eine, die mir das Leben erschwert. Aber einmal hat sie mich auch gerettet.«
»Wie das?«
»Ich stamme aus Kismena. Dort sind Zauberkräfte genauso gefürchtet wie hier, doch anders als in Chossya tötet man die Begabten nicht, aus Angst davor, dass ihre rachsüchtigen Geister einen mit einem üblen Zauber belegen.«
Trotz des typisch kismenischen Aussehens hätte Vasilisa nicht vermutet, dass Raja nicht in Chossya geboren worden war, immerhin sprach sie akzentfrei Chossisch. Viele Familien mit kismenischen Wurzeln lebten seit Generationen hier.
»Und dieser Aberglaube hat dich gerettet?«
»Klingt absurd, oder?«
»Ein wenig«, gab Vasilisa zu. »Darf ich fragen, was passiert ist?«
»Darfst du.« Raja seufzte. »Außer den anderen kennt keiner dieser Geschichte. Ich schätze, irgendwie bist du jetzt eine von uns, also erzähle ich sie dir.«
»Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
»Ich weiß.«
Sie überschlug die Beine und starrte aus dem Fenster. Ihr Blick wirkte jetzt distanziert, als würde sie direkt in die Vergangenheit schauen. Es war ein Vertrauensbeweis, dass sie diese Geschichte erzählen wollte, obwohl sie sich nicht besonders gut kannten.
»Ich komme aus einem kleinen, verschneiten Dorf im Norden von Kismena. Die Winter dort waren noch kälter als hier.«
Vasilisa hob die Augenbrauen. »Wirklich? Das kann ich mir kaum vorstellen.«
»Ja, das hat Irina auch immer gesagt«, erwiderte Raja mit einem schiefen Lächeln, das nicht lange auf ihren Lippen verweilte. »Mein Heimatland ist wild, einsam und gefährlich. Plünderer ziehen das ganze Jahr über in Gruppen umher und überfallen schutzlose Dörfer. Aus so einem Dorf stamme ich. Eines Tages sind diese Barbaren dort aufgetaucht. Meine Eltern waren Apotheker, musst du wissen. Alles, was ich über Kräuter und Medizin weiß, hab ich von ihnen gelernt. Sogar Leute aus den größeren Städten kamen mit ihren kranken Angehörigen zu uns, um Hilfe zu bekommen. Die Plünderer haben alles zerstört. Sie haben uns ausgeraubt und meine Eltern getötet. Mich wollten sie entführen und als ihre Sklavin behalten, aber diese Laune der Natur hat sie daran gehindert. Böse Augen nannten sie es. Keiner von denen hat mich auch nur angefasst. Ein dummer Aberglaube hat mir das Leben gerettet.«
Eine Gänsehaut breitete sich auf Vasilisas Armen aus. Welchen Schrecken hatte Raja damals durchleiden müssen? Hatte sie ihre Eltern sterben sehen, so wie sie selbst dabei hatte zuschauen müssen, wie ihr Bruder Iwan an vergiftetem Essen erstickt war? Solche Dinge mit ansehen und die eigene Machtlosigkeit spüren zu müssen, war an Grausamkeit nicht zu überbieten.
»Wie alt warst du, als das passiert ist?«
»Zwölf.«
»Zwölf?«, wiederholte sie schockiert.
Rajas Miene verriet nichts über ihre Gefühle. »Jung, ich weiß. Aber selbst wenn ich älter gewesen wäre, hätte das nichts geändert. Keine Lebenserfahrung kann dich auf so was vorbereiten.«
»Es mag dir vielleicht nichts bedeuten und auch den Schmerz nicht lindern, aber es tut mir leid, was dir widerfahren ist.«
Meistens nutzte man solche Floskeln aus Verlegenheit, weil man nicht wusste, welche Antwort man sonst geben sollte. Vasilisa meinte ihre Worte ehrlich, trotzdem fühlte sie sich wie jemand, der das nur sagte, um die Stille zu füllen.
»Ich danke dir.«
»Was ist …« Sie stockte. »Was geschah dann?«
»Ich bin über die Grenze nach Chossya geflohen. Nach dem Vorfall wussten die Leute über meine Andersartigkeit Bescheid und mieden mich. Außerdem erinnerte mich in Kismena alles an das, was ich verloren hatte. Also hab ich mir ein Auge abgedeckt und Zuflucht in Waisenhäusern gesucht. Das funktioniert überraschend gut, wenn man das einäugige Mädchen spielt.«
Sie lachte, aber es klang hohl. Rajas Art, mit Verlust umzugehen, schien aus einer gehörigen Portion schwarzem Humor zu bestehen.
»Als ich älter wurde, hab ich die Böden für die Reichen geschrubbt, um Geld zu verdienen. Irgendwann hat das nicht mehr gereicht, deshalb ging ich nach Kazanovsk und bot meine Dienste als Hausmädchen an. So musste ich wenigstens nicht auf der Straße leben.«
Hausmädchen waren keine gewöhnlichen Bediensteten, die nach getaner Arbeit nach Hause gingen, sondern lebten im Haus ihrer Arbeitgeber. Man konnte sie als Leibeigene bezeichnen – höhergestellt als Sklaven, aber dennoch abhängig von ihren Herren. Es war nicht ungewöhnlich, diesen Weg einzuschlagen, um sicherzustellen, dass man ein Dach über dem Kopf und genug zu essen hatte, aber dafür büßte man einen Großteil seiner Freiheit ein.
»Ist das mit deinen Augen denn niemandem aufgefallen?«, fragte Vasilisa. »Ich weiß, wie engstirnig Gläubige sein können. Hätte einer von denen es gesehen …«
»Das war mir bewusst. Deshalb hab ich mich zu einem besonderen Vermittler begeben«, erklärte sie vielsagend. »Als Aussätzige treibt man sich in interessanten Ecken herum, wo man einiges aufschnappt. Begabte haben mir zu diesem Vermittler geraten. Es scheint nicht unüblich zu sein, als Hausmädchen oder Hausdiener zu arbeiten, wenn man über besondere Fähigkeiten verfügt. So gelangt man außer Reichweite von Leuten, die einem Böses wollen. Der Adel hat viele Geheimnisse. Offiziell würden sie Begabte hinrichten lassen, ohne mit der Wimper zu zucken, aber trotz allem beschäftigen sie solche Leute, weil sie von Nutzen sein können.«
»Ist das wahr?«
»Absolut.«
Diese Worte hörte Vasilisa zum ersten Mal. Jeder, der dem Adel angehörte, galt als Vorzeigegläubiger. Viele von ihnen stützten sogar die These der Geistlichen, dass Begabte die Schuld am Zauberrausch trugen. Traurigerweise überraschte diese Doppelmoral sie nicht einmal.
»Maxim Sergejev ist ein wenig anders gewesen«, sagte Raja. »Er wollte das Prestige, um unter seinesgleichen anzugeben, aber als jemand, der die Magie verabscheut, wollte er sich keine echte Begabte ins Haus holen. Also entschied er sich für mich. Sozusagen eine Andersartige ohne Risiko.«
»Und so hast du Irina kennengelernt?«
Sie nickte. »Erst konnte ich sie nicht leiden, aber ihre Schwestern waren noch viel schlimmer. Haben mich durchs Haus gescheucht wie einen Hund. Die eine, Jelisaweta, hat mich gehasst, weil ich ihren Vater immer darauf aufmerksam gemacht hab, wenn sie sich aus dem Haus schleichen wollte. Sie verstand das nicht. Dachte, ich müsste zu ihr halten, dabei wusste sie, was Maxim getan hätte, wenn ich ihm nicht gehorche.«
Vasilisa konnte es sich vorstellen. Maxim Sergejev war ein Mann, der keine Fehler tolerierte – von niemandem. Während der Sitzungen des Bojarenrats hatte es immer wieder Auseinandersetzungen zwischen ihm und Sascha gegeben. Obwohl er seine Wut niemals offen zeigte, erkannte man sie an der hervortretenden Ader auf seiner Stirn, die ärgerlich vor sich hin pochte, während er so tat, als wäre er ganz ruhig.
»Aber du und Irina versteht euch blendend, oder nicht?«
»Das war nicht immer so«, gab Raja mit einem schiefen Lächeln preis. »Sie hat mir damals die Sprache und das Lesen beigebracht. Maxim wusste nichts davon. Er wollte, dass ich einfach nur seine Befehle befolge. Nicht die Sprache zu beherrschen, bedeutete gleichzeitig, nicht lauschen oder schnüffeln zu können. Ich glaube, Irina ging es damals gar nicht um mich, sondern darum, ihrem Vater eins auszuwischen – auf meine Kosten. Aber ich hab trotzdem dabei mitgemacht, weil ich nicht nur eine hilflose Bedienstete sein wollte. Unwissenheit hab ich immer gehasst. Ich war Irina dankbar, deshalb hab ich für sie eine Salbe hergestellt, um ihre von den Schuhen geschundenen Füße zu behandeln. So haben wir uns langsam angefreundet.«
Das klang nach einem ungewöhnlichen Freundschaftsbeginn. Was Maxim betraf, wusste Vasilisa, dass er keine angenehme Person war. Er gab sich zwar stets höflich und freundlich, aber seine herrische Art und dieser krankhafte Ehrgeiz, der ihm aus jeder Pore drang, erinnerten sie an Kazimir. Ehrgeiz galt in Adelskreisen als Synonym für gefährlich.
»Gut, dass sie eine Freundin wie dich hatte«, sagte Vasilisa.
»Ich verdanke ihr eine ganze Menge. Sie hat mir die Freiheit wiedergeschenkt, indem sie Juran gebeten hat, auch mich zu retten. Na ja, sie hat drauf bestanden. So, wie sie eben ist.«
Vasilisa lächelte. Das konnte sie sich gut vorstellen.
»Wie habt ihr Juran getroffen?«
»Ich sollte dir das womöglich gar nicht verraten, aber Irina wollte ihren Verlobten umbringen lassen.«
»Was?«
Sie hatte nicht einmal gewusst, dass ihr Vater sie mit jemand anderem hatte verheiraten wollen, nachdem die Verlobung mit Sascha gescheitert war.
»Um sicherzugehen, dass sie den Richtigen dafür findet, hat Irina ihren ganzen Schmuck verhökert und den berüchtigten Schatten kontaktiert. Aber dann … Tja, Juran wollte das Geld nicht. Er meinte, sie sei kein Mensch, der für den Tod bezahlt. Statt ihren Auftrag zu erfüllen, hat er ihr angeboten, sie aus ihrem goldenen Gefängnis zu befreien, damit sie ihre Talente anders nutzen kann. Irina hat nicht lange überlegt und Juran überredet, mir ebenfalls zu helfen.«
Vasilisa stockte der Atem. Also hatte Irina ihren Verlobten töten lassen wollen und so Juran kennengelernt? Warum hatte er den Auftrag nicht angenommen?
»Was ist mit ihrem Verlobten passiert?«
Raja seufzte. »Ein anderer Attentäter hat ihn nur Tage später erstochen, womit Juran wohl schon vorher gerechnet hat.« Sie erhob sich vom Bett. »Tja, eigentlich wollte ich nur wissen, wie’s dir geht, aber irgendwie hast du’s geschafft, dass ich dir meine halbe Lebensgeschichte erzähle.«
Das erinnerte sie an Jurans Worte. Sie besitzen die unangenehme Eigenschaft, mir Wahrheiten zu entlocken, die ich nie habe aussprechen wollen.
»Es geht mir gut«, antwortete Vasilisa, und zum ersten Mal seit Tagen entsprach das der Wahrheit. »Die Schmerzen sind weg. Ich spüre die Magie auch wieder in mir.«
Ihre Befürchtung, Eteris Mittel könnte die Kräfte für immer auslöschen, hatte sich glücklicherweise nicht bewahrheitet. Gestern waren sie zu ihr zurückgekehrt, erst schwach, jetzt wieder stärker. Innerhalb weniger Tage hatte sie sich so sehr an jene Macht gewöhnt, die sie eigentlich hätte verabscheuen sollen. Inzwischen wollte sie nichts davon mehr missen. Wer würde schon freiwillig das Fliegen aufgeben? Sie hätte sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können, jemals dazu in der Lage zu sein.
»Das ist gut«, sagte Raja. »Es zeigt, dass Tarasovas Mittel nicht dauerhaft wirkt. Dann gibt es Rettung für wen auch immer sie in ihrer Anstalt gefangen hält.«
Vasilisa krallte ihre Finger in die Matratze. Wenn es stimmte, was Maria behauptet hatte, experimentierte Eteri mit Begabten statt nur mit Geisteskranken. Aus irgendeinem Grund glaubte sie ihrer Schwester.
»Ich will wissen, was sie da oben macht.«
»Ja, das will ich auch«, stimmte Raja zu.
»Es geht mir besser, also darf ich keine Zeit verlieren. Ich will morgen zur Anstalt.«
Raja musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Bist du dir sicher?«
Sie nickte. »Gleich morgen früh. Wir haben schon zu viel Zeit vergeudet.«
»Zeit, die du gebraucht hast.«
Das hatte sie in der Tat. Die Schmerzen hatten sie an den Rande des Wahnsinns gebracht, und ohne die Fähigkeit, sich in eine Krähe zu verwandeln, war sie nutzlos, immerhin konnte sie nicht einfach dort hinaufmarschieren und das Gebäude betreten.
»Ich muss das mit Juran besprechen.«
»Wenn du willst, gebe ich ihm Bescheid, dass du mit ihm reden möchtest«, schlug Raja vor.
»Danke, das wäre wunderbar.«
In der letzten Woche hatte sie fast kein Wort mit Juran gewechselt. Nicht mehr, seit er sie hierher zurückgebracht und ihr gesagt hatte, warum er sie unterstützte. Vielleicht ging er absichtlich auf Abstand, schließlich hatte er zugegeben, dass er in ihrer Nähe etwas empfand, das über normale Sympathie hinausging – was auch immer das sein mochte. Er war immer nur kurz aufgetaucht, um sich zu vergewissern, ob Eteris Mittel weiterhin wirkte, und dann sofort wieder verschwunden.
Sie vermisste ihn. Das machte ihr beinahe mehr Angst als alles andere.
Vasilisa ließ sich seufzend zurück in die Kissen fallen. Als Maria vor einigen Tagen ihren Körper gestohlen hatte, war da nur ein einziger Gedanke in ihrem Kopf gewesen: so schnell wie möglich in ihr altes Leben zurückzukehren. Jetzt beherrschten sie eintausend andere Dinge.
Sinnlose Gewalt gegen Magiebegabte, der Zauberrausch, korrupte Wachen, Eteris Anstalt, Selbstjustiz durch Gläubige, die Lügen ihrer eigenen Familie und ihrer Berater, eine Halbschwester, die sie hasste – und Juran.
Irgendwie musste sie einen Weg finden, all diese Probleme zu lösen, bevor eines davon sie in den Abgrund stürzte, an dem sie schon seit Jahren entlangtänzelte.
Juran
Wenige Minuten nachdem Raja ihn darüber informiert hatte, dass Vasilisa mit ihm sprechen wollte, stand er vor ihrer Zimmertür. Er fühlte sich wie ein unterwürfiger Hund, der alles tat, was sein Besitzer von ihm verlangte, doch obwohl das an seinem Stolz hätte kratzen sollen, machte ihm das wenig aus.
Juran klopfte.
»Es ist offen!«
Er trat ein und schloss die Tür leise hinter sich.
Vasilisa stand am Fenster, ihre Hände ruhten auf dem Fensterbrett. Nach all den Tagen, an denen sie so gelitten hatte, tat es gut, sie außerhalb des Bettes zu sehen.
Wie es schien, ging sie davon aus, dass er ihrer Einladung sofort gefolgt war, denn sie drehte sich nicht um. In diesem Verhalten blitzte die Arroganz einer Zarin auf, weshalb er sich dazu entschloss, sie aus der Reserve zu locken.
»Du willst deinem Gast nicht in die Augen sehen?«
Sie fuhr herum und legte die Stirn in Falten. »Seit wann sprechen wir denn so direkt miteinander?«
»Ich dachte, es wäre an der Zeit.«
Er verstand noch immer nicht, warum sie ihn von Anfang an so förmlich angeredet hatte, schließlich war sie die Zarin und er nur ein Attentäter.
Ihr Blick hielt seinen gefangen. »Etwa, weil es seltsam ist, eine Person höflich anzureden, nachdem man sie geküsst hat?«
Juran biss sich auf die Unterlippe. Gefährliches Thema.
Im Gegensatz zu ihm sprach sie solche Dinge unverblümt aus, weil eine mächtige Person wie sie sich nicht damit zufriedengab, dass man ihr auswich. Eine Eigenschaft, die er an ihr mochte, obwohl sie zu unangenehmen Gesprächen führte.
»Die formellen Umgangsformen haben wir zweifellos hinter uns gelassen«, bestätigte er.
»Der Schatten und die Zarin.« Sie seufzte und wandte sich wieder dem Fenster zu. »Wäre ein interessantes Theaterstück.«
»Man würde es in der Luft zerreißen«, erwiderte er ernst. »An Dramatik erfreuen die Leute sich zwar, aber nicht an Dingen, die sie als falsch erachten.«
Vasilisa fuhr ein weiteres Mal zu ihm herum, jetzt mit angespanntem Kiefer und Feuer in Aljonas kalten Augen. »Wie wir beide in den letzten Tagen gesehen haben, sind viele Dinge auf dieser Welt schrecklich falsch, aber nicht ein einziger Mensch schert sich darum.«
All jene Missstände, die er ihr an wenigen Tagen gezeigt hatte, waren seit Jahren ein Teil seines Lebens gewesen, während sie nur die Spitze einer Kathedrale voller Unrecht gesehen hatte. Kazanovsk war nicht so golden und prunkvoll, wie es auf den ersten Blick wirkte.
»Wir sollten uns nicht an schlechten Vorbildern orientieren«, meinte er.
»Ich orientiere mich nicht an dem, was andere für vertretbar halten.«
»Findest du das nicht egoistisch?«
Vasilisa lächelte bitter. »Jeder von uns ist ein Egoist, oder nicht? Sonst hätte Maria nicht meinen Körper gestohlen, du hättest mir nicht deine Hilfe angeboten und ich hätte sie nicht angenommen.«
Das stimmte allerdings. Er hatte sie aus dem Proshchay-Gefängnis gerettet, weil er sich an Maria rächen und diese verfluchte Stadt verändern wollte. Obwohl ihn seine Vernunft davon hätte abhalten sollen, begab er sich wieder und wieder in die Nähe der Zarentochter, weil sie ihm die Hoffnung schenkte, etwas anderes sein zu können als der skrupellose Schatten. Im Gegenzug hatte sie seine Kräfte angenommen – trotz ihrer eigenen Gesetze, die Magienutzung unter Todesstrafe stellten.
Wir sind alle Heuchler.
Man tat immer das, was man selbst für das Beste hielt, egal, mit welchen fadenscheinigen Gründen man das zu rechtfertigen versuchte. Gutes zu tun war leicht, solange man selbst davon profitierte.
»Dir scheint es besser zu gehen«, stellte er fest.
Während der letzten Woche hatte er sie stets im Bett angetroffen, entweder schlafend oder benebelt von Rajas Medizin. Du bist ein schöner Anblick so früh am Morgen, hatte sie vor drei Tagen bei Sonnenuntergang gemurmelt, als sie überraschend aus ihrem Schlummer erwacht war, und dann hatte sie selig vor sich hin gelächelt. Wie Kirill, wenn er betrunken war und Irina anhimmelte. Vermutlich erinnerte sie sich nicht einmal mehr daran.
»Ja, die Schmerzen sind verschwunden.«
»Das ist gut.«
»Und ich spüre meine Kräfte wieder.«
Darauf erwiderte er nichts, weil er nicht einschätzen konnte, ob sie sich darüber freute. Sie hatte die Magie ein Leben lang verabscheut. Man hatte sie gelehrt, dass Begabungen ein Fluch waren und dass all jene, die ihn in sich trugen, sterben mussten. Für ihren Thron hatte sie entgegen ihrer Überzeugungen gehandelt. Doch was nun?
Er beobachtete sie stumm. Wie dachte sie wirklich über die Magie, jetzt, nachdem sie selbst davon Gebrauch gemacht und gesehen hatte, was man Begabten in diesem Land antat? Zwar hatte sie behauptet, etwas verändern zu wollen, aber solche Aussagen ließen sich in Fassungslosigkeit und Schock nur allzu leicht treffen.
»Ich bin froh darüber«, gab sie ihm zu verstehen. »Die Magie ist jetzt ein Teil von mir und ich werde nicht länger zulassen, dass man sie zum Anlass nimmt, Menschen zu verletzen oder zu töten. Das ist es doch, was dich beschäftigt, nicht wahr?«
»Du bist eindeutig zu gut darin, anderer Leute Gedanken zu erraten.«
»Jahrelange Übung«, erwiderte sie und schenkte ihm dieses warme Lächeln, von dem er nicht genug bekam. »Anfangs hast du es mir nicht leicht gemacht, aber ich habe das Gefühl, deine kühle Maske ist neuerdings ein wenig verrutscht.«
Fühlt sich eher an, als hättest du sie mir aus dem Gesicht gerissen.
Er verlagerte sein Gewicht vom einen auf den anderen Fuß. »Warum sollte ich herkommen, Majestät?«
Beim Klang dieses Titels hob sie eine Augenbraue. »Fangen wir wieder damit an?«
»Wir haben nie aufgehört.«
Diese Sticheleien würde er sich nicht nehmen lassen, egal wie kindisch das auch sein mochte. Er genoss es, sie damit zu reizen, denn die Provokationen lenkten sie zumindest für einen flüchtigen Moment von ihren Problemen ab.
Vasilisa schaute ins Leere. »Ich habe dich aus einem Grund hergebeten.«
»Wirklich? Dann bin ich also nicht hier, weil du einfach nur meinen Anblick genießen wolltest?«, fragte er zynisch.
»Dafür müsste ich keine Ausrede erfinden.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Nein, ich wollte etwas mit dir besprechen. Ich möchte mir Zugang zu Eteris Anstalt verschaffen. Gleich morgen früh.«
Das hatte er sich bereits gedacht, aber die Vorahnung machte das Ganze nicht angenehmer.
»Und ich soll dir dabei helfen?«
»Du wirkst nicht begeistert«, stellte sie fest.
»Ich könnte vor dir auf die Knie fallen und dir für diese wunderbare Idee danken, aber ich würde es vorziehen, dich nicht zum Narren zu halten.«
»Kluge Entscheidung.«
»Ja, so bin ich. Ein weiser Mann.«
Das war allerdings eine Lüge, denn genau jetzt, in diesem Augenblick, wollte er zu ihr hinübergehen und sie küssen. Ein unmöglicher Wunsch, nicht nur, weil sie nicht sie selbst war. Für jede Situation, in der er die Beherrschung verlor, würde der Schmerz umso zerstörerischer auf ihn einwirken, wenn er sie ziehen lassen musste.
»Ich weiß, wie gefährlich es ist«, sagte Vasilisa. »Trotzdem muss ich mir ein eigenes Bild von den Zuständen da oben machen. Ich war seit Jahren nicht mehr dort, weil mein Vater und mein Bruder Eteri vertraut haben. Aber nachdem Maria all diese Dinge erzählt hat, muss ich herausfinden, was da wirklich vor sich geht.«
»Hast du denn noch nicht genug Hässlichkeit gesehen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es geht nicht darum, ob ich genug habe. Natürlich wäre es leichter, die Augen zu schließen, mir die Hände auf die Ohren zu pressen und so zu tun, als wäre mein Zarenreich ein Paradies für jedermann. Aber das ist es nicht, also darf ich mir das nicht vormachen. Ich muss mir das ansehen.«
Er wich einen Schritt zurück, statt dem Drang nachzugeben, einen nach vorn zu machen. Ihre Worte zeigten ihm, wie richtig es gewesen war, sie zu retten, und dass er sein Herz, so schwarz und verkümmert es auch sein mochte, an die Richtige verloren hatte.
»Ich helfe dir«, sagte er, bevor er irgendeinen seiner Gedanken laut aussprach und alles noch mehr verkomplizierte. »Aber wir brauchen einen Plan. Die Anstalt wird gut bewacht sein.«
»Ich habe nicht vor, durch den Haupteingang zu spazieren.«
Juran hob einen Mundwinkel. »Zu schade, das hätte ich gern gesehen.«
»Bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Wache mich erschießt, weil ich eine Hochverräterin auf der Flucht bin.«
Er warf ihr einen verständnislosen Blick zu. »Das würde ich niemals zulassen.«
Auf ihre Lippen legte sich jenes Lächeln, das sie auszeichnete, weil es ihr Gesicht zum Leuchten brachte. Manche Menschen besaßen das Talent, andere mit den banalsten Dingen für sich zu gewinnen. Beinahe wie ein Dirigent, der einen Raum mit nur einem einzigen Schwung seines Taktstocks zum Verstummen bringen konnte.
»Nicht einmal du kannst mich vor allen Gefahren beschützen«, sagte sie.
»Ich werde es trotzdem versuchen.«
»Juran …«
»Als dieser Gardist mir das Schwert gegen die Kehle gedrückt hat, hatte ich keine Angst um mein eigenes Leben, sondern nur um dich.«
Vasilisa öffnete ihren Mund, doch was sie auch erwidern wollte, behielt sie für sich.
Er biss sich auf die Zunge. Solche Aussagen musste er sich wirklich verkneifen. Seit er ihr gestanden hatte, dass er ihr sehr wohl nahe sein wollte, fiel es ihm zunehmend schwerer, seine Gefühle zu verheimlichen.
»Wenn du das morgen wirklich tun willst, solltest du jetzt schlafen«, riet er ihr. »Bis morgen denke ich mir einen Plan aus. Ich kann dich vermutlich nicht davon überzeugen, die Sache mir zu überlassen?«
Sie hob einen Mundwinkel. »Du kannst es versuchen, aber deine Chancen auf Erfolg stehen nicht besonders gut.«
»Das war zu erwarten.«
»Oh, gibst du etwa so schnell auf?«, spottete sie.
»Eine Zarin von ihrer Meinung abbringen zu wollen ist verschwendete Liebesmüh.«
Das galt besonders für diese Zarin. Sie besaß einen unbändigen Willen, war stur und stolz und raubte ihm den Schlaf, aber irgendetwas an ihr zog ihn an wie das Licht die Motten. Vielleicht war er ja genau das – ein orientierungsloses Insekt, das immerzu um eine strahlende Lichtquelle kreiste, wohlwissend, dass es sich eines Tages daran verbrennen würde.
»Ich bin froh, dass du mir all die Missstände aufgezeigt hast, die in meiner Stadt vor sich gehen«, sagte sie. »Es reicht nicht, davon zu hören. Man muss es mit eigenen Augen sehen, sonst kann man es beiseiteschieben und einfach weiterleben. Nicht alles in Kazanovsk ist perfekt, das habe ich immer gewusst. Aber das Leid war so weit weg. Man vergisst das Unglück viel zu leicht, wenn es sich nicht direkt vor der eigenen Nase abspielt. Und ich will nicht länger vergessen.«
Juran beobachtete sie mit sorgenvoller Miene. »Das ist nobel, aber du musst auf dich achten. Wenn du stirbst, gibt es niemanden mehr, der etwas an den Zuständen ändern kann – oder will.«
Vasilisa
Am nächsten Morgen bedeckte keine einzige Wolke den strahlend blauen Himmel. Die Sonne ließ die Schneeschicht auf den Dächern wie Diamanten glitzern und die goldenen Kuppeln der Kathedrale leuchteten in der Ferne.
Ein schöner Tag, um in eine Irrenanstalt einzubrechen, dachte Vasilisa zynisch, während sie aus dem Fenster schaute.
Sie zog sich an. In Aljonas Schrank reihte sich schwarzes Kleidungsstück an schwarzes Kleidungsstück. Vielleicht hatte sie sich mit der Wahl dieser Farbe an Jurans Laune anpassen wollen. Seine eigene Kleidung sah oftmals genauso aus und unterstrich sein ernstes Gemüt.
Als sie nach unten ging, knarrten die Treppenstufen entsetzlich laut. Ins obere Stockwerk schleichen konnte sich niemand, das stand fest.
Sie fand Juran, Irina, Raja und Kirill im Wohnzimmer, die alle beim Kamin saßen und miteinander diskutierten. Mit fragender Miene schaute sie in die Runde. »Ist das hier so eine Art Versammlung der Gesetzlosen?«
Irinas Kopf fuhr zuerst herum. »Ah, Jascharova«, grüßte sie Vasilisa mit einem schiefen Lächeln. »Das hat ja gedauert. Wir besprechen gerade deine unfassbar dämliche Idee.«
Vasilisa rollte mit den Augen. »Ich dachte mir, dass du nichts davon halten wirst.«
»Das muss ich zum Glück auch nicht, ich werde nämlich nicht an dieser selbstmörderischen Aktion teilnehmen.«
»Kommst du gar nicht mit uns?«, fragte Kirill überrascht, was dann wohl bedeutete, dass er Juran und sie begleiten würde. »In einem Irrenhaus rumzuschleichen ist doch wahnsinnig aufregend.«
Er lachte über seinen Wortwitz. Als Einziger.
»Für dich vielleicht«, meinte Juran sichtlich genervt.
Irina überschlug ihre Beine. »Ich muss mich um eine andere Angelegenheit kümmern.«
»Ach ja? Was könnte denn wichtiger sein, als mit uns in diese seltsame Anstalt einzubrechen?«
»Etwas, das ich Geht Kirill einen feuchten Dreck an nenne«, erwiderte sie angriffslustig.
Er fuhr sich durch sein braunes Haar, das ohnehin in alle Richtungen abstand. Offensichtlich war Irina heute wieder glänzend aufgelegt. »Und was ist mit dir, Raja?«
»Ich?«, fragte sie seelenruhig und neigte den Kopf. »Wer soll euch denn später wieder zusammenflicken, wenn ich mitkomme?«
»Zusammenflicken? Uns wird’s blendend gehen.«
»Das wird es nicht«, zweifelte Raja. »Irgendwer wird sich verletzen und genau deshalb bleibe ich hier. Um mich auf den Ernstfall vorzubereiten.«
Kirill verschränkte die Arme vor der Brust, als wäre er ein beleidigter kleiner Junge, dem man nicht zutraute, für zehn Minuten ruhig auf seinem Platz sitzen bleiben zu können. »Du bist so eine Fatalistin.«
»Realistin.«
»Im Gegensatz zu dir bin ich ein Optimist und fest davon überzeugt, dass wir das alle ohne einen Kratzer überstehen werden.«
Seine Aussage entlockte Raja nur ein müdes Lächeln. »Ich erwarte stets das Schlimmste. So bleibe ich von bösen Überraschungen verschont und es kommt immer besser als erwartet.«
»Ziemlich traurige Denkweise«, fand Kirill.
Raja zuckte mit den Schultern, als könnte es sie nicht weniger kümmern, was er von ihrem Ansatz hielt. »Das nennt sich Enttäuschungen vorbeugen und es funktioniert sehr gut, aber danke für deine aufrichtige Sorge.«
Kirill versank seufzend im Sessel. Er musste sich von den beiden Frauen so einiges gefallen lassen, das stand fest.
Vielleicht lebte Juran deshalb nicht mehr hier, schließlich ging er Diskussionen gern aus dem Weg. Anders als er genoss Vasilisa die lebendige Atmosphäre im Haus. Im Palast hatte sie ständig darüber nachdenken müssen, was sie sagte und welche Folgen das möglicherweise haben konnte, doch hier lastete dieser Druck nicht auf ihr.
»Also«, begann sie, woraufhin sich sämtliche Blicke auf sie richteten. »Wie lautet der Plan?«
»Kirill, du und ich werden zur Anstalt fliegen«, erklärte Juran. »Wir nehmen Waffen und Betäubungsmittel mit, nur für den Fall, dass wir auf Probleme stoßen. Wenn wir die Rückseite des Gebäudes anfliegen, verhindern wir, dass die Wachen uns kommen sehen und angreifen. Ich nehme an, auch die Gardisten dort oben sind gewarnt und werden sofort auf jeden Vogel schießen, den sie entdecken, deshalb will ich kein Risiko eingehen.«
Sie nickte stumm. Jelena hatte erzählt, Kazimir ließe alle Krähen in der Stadt abschießen. Eine verrückte Idee, die sicher nicht seinem eigenen Verstand entsprungen war. Maria musste es ihm befohlen haben. Das erschwerte die Situation zwar, aber einen Vogel im Flug musste man auch erst einmal treffen.
»Und wie gelangen wir hinein?«
»Wir halten nach geöffneten Fenstern Ausschau«, sagte Juran. »So können wir zunächst Informationen darüber sammeln, was im Inneren vor sich geht. Vielleicht belauschen wir auch das eine oder andere interessante Gespräch.«
»Die Fenster dort hat man vor einiger Zeit vergittern lassen«, gab sie zu bedenken. »Zumindest die der Patienten. Alle anderen können nicht geöffnet werden.«
Juran lächelte, sodass die Narbe auf seiner Wange sich zu einer Art Grübchen verzog, was seinem Lächeln etwas Provokantes verlieh. »Du müsstest doch wissen, wie gut Metallstäbe eine Krähe daran hindern, irgendwo hineinzugelangen.«
Das wusste sie tatsächlich. Wenn die Gitterstäbe genug Abstand zueinander hatten, konnte man sich in Krähengestalt hervorragend zwischen ihnen hindurchzwängen. Genauso hatte er selbst es angestellt, als er im Gefängnis aufgetaucht war, um sie zu retten.
»Also verschaffen wir uns Zugang über die Patientenzimmer?«
»Das ist zumindest sicherer als alles andere«, meinte er. »Die Gardisten sind vielleicht aufmerksam, aber die Patienten dort sind Geisteskranke – oder sollen es laut offizieller Aussage sein. Wenn die eine Krähe sehen, die versucht, in ihr Zimmer zu gelangen, werden sie glauben, dass sie sich das bloß einbilden. Und selbst wenn nicht, werden die Wachen vermutlich nicht so schnell misstrauisch. Leute, von denen man denkt, sie seien verrückt, nimmt man in der Regel nicht sehr ernst.«
Klingt einleuchtend, dachte sie, während sie beobachtete, wie das Feuer im Kamin vor sich hin zuckte. »Und was wäre, wenn wir nach Begabten suchen?«, wollte sie wissen. »Falls Eteri da oben wirklich welche festhält, könnten die uns mit ihren Fähigkeiten helfen.«
Juran schüttelte den Kopf. »Es wird geradezu unmöglich sein, den Unterschied zwischen einem Begabten und einem normalen Patienten zu erkennen, ganz besonders, wenn man denen dasselbe gegeben hat, was du dank Maria kennenlernen durftest. Eine Gabe kann man niemandem ansehen. Es wäre reines Glück, dort jemanden zu finden, der auch noch hilfreich ist.«
Auch wieder wahr. Keiner von ihnen konnte Begabte so erkennen, wie es diese weißhaarigen Berauschten scheinbar taten. Sie erinnerte sich an die Frau, vor der sie in Kletka geflohen war. Ich kann es hören. Dein Blut. Vasilisa seufzte. Diese Fähigkeit wäre jetzt nützlich gewesen.
»Was tun wir, sobald wir drin sind?«
»Dann kommen meine Wunderwaffen zum Einsatz«, enthüllte Raja.
Juran nickte bestätigend. »Wir bringen die Person, die sich im Zimmer befindet, dazu, eine Wache, einen Pfleger oder wen auch immer zu rufen. Wenn derjenige hereinkommt, verschließen wir die Tür und setzen beide außer Gefecht. Kirill wird sich dann die Kleidung des Personals schnappen und sich in der Anstalt umsehen, während wir die Stellung halten.«
»Warum denn ich?«, warf Kirill ein.
»Weil die Zarin und ich gerade von so ziemlich jedem gesucht werden, der sich eine goldene Nase verdienen will. Dein Gesicht hat man dagegen bereitwillig vergessen, um nicht zugeben zu müssen, dass ein einfacher Dieb spurlos aus dem Proshchay verschwunden ist. Außerdem bist du der bessere Schlossknacker.«
»Warte«, sagte Kirill und hob die Hand. »Hast du mir gerade ein Kompliment gemacht?«
»Nein.«
»Es hat sich aber wie eins angehört.«
»Dann solltest du deine Ohren überprüfen lassen.«
Kirill schien sich nicht an Jurans Kommentaren zu stören. Stattdessen lächelte er verschmitzt vor sich hin. Ein Kompliment aus dem Mund des Schattens war eine echte Rarität, darauf durfte er sich definitiv etwas einbilden.
»Im Übrigen hast du natürlich recht, man nennt mich nicht umsonst den Schlossflüsterer.«
»Niemand nennt dich so«, widersprach Irina genervt.
»Ein Umstand, der einer dringenden Veränderung bedarf, ehrenwertes Fräulein Sergejeva.«
Bei Irinas Blick wäre es sogar Kazimir eiskalt den Rücken heruntergelaufen. »Das Einzige, das einer Veränderung bedarf, ist die Tatsache, dass dir heute noch niemand einen Tritt in den Hintern verpasst hat.«
Er kniff die Augen zusammen und zog einen Schmollmund. »Warum hast du es dir eigentlich zur Aufgabe gemacht, in regelmäßigen Abständen meine Gefühle zu verletzen?«
»Ich treibe dir nur die Eitelkeit aus, Schlossflüsterer.«
»Damit du sie allein für dich beanspruchen kannst?«
»Oh, keine Angst, ich teile sie mir mit unserer Zarin«, sagte Irina mit einem hochmütigen Lächeln auf den Lippen und machte eine lässige Handbewegung in Vasilisas Richtung.
»Was soll das denn heißen?«, rief sie empört, aber Irina lachte bloß.
»Da liegt sie nicht ganz falsch«, meinte Juran.
Vasilisa warf ihm in bester Irina-Manier einen Blick zu, bei dem manch anderer auf seine Knie gesunken wäre und um Vergebung gebettelt hätte, doch er zwinkerte ihr nur amüsiert zu. Der Ärger verflog und an seine Stelle trat ein warmes Kribbeln in ihrer Bauchgegend. Sie starrte ihn noch ein wenig länger an, was die anderen glücklicherweise nicht bemerkten.
Diese widersprüchlichen Gefühle für ihn machten sie wahnsinnig. Sie hätte ihn hassen sollen, diesen Mann, der so viele unaussprechliche Dinge getan hatte, doch er wirkte nicht länger wie der kaltblütige Attentäter, sondern wie jemand, den es wirklich kümmerte, was mit Chossya und seinen Bewohnern geschah.
Du bist ein Rätsel, dachte sie stumm, während sie ihn weiter beobachtete. Und ich zu neugierig, um es ungelöst zu lassen.
»Jedenfalls«, setzte Juran an, »ist das unser Plan. Es würde mich wundern, falls die Psychologin nicht irgendwo ein paar Unterlagen herumliegen hat, die uns verraten, was sie da oben treibt. Wenn Kirill etwas Interessantes sieht, wird er es stehlen. Sollte die Situation brisant werden, stoßen wir dazu. Ist das soweit klar?«
Alle nickten übereinstimmend.
Irina erhob sich als Erste von ihrem Platz und legte Vasilisa eine Hand auf die Schulter. »Viel Glück bei eurem Ausflug ins Reich der Verrückten«, sagte sie. »Und wehe, einer von euch geht dabei drauf, dann werde ich höchstpersönlich auf die Leiche einprügeln, bis sie zu neuem Leben erwacht und sich für ihre Dummheit entschuldigt.«
»Uns wird schon nichts passieren«, versicherte Kirill gut gelaunt.
»Du bist der Letzte, der so etwas versprechen sollte!«, schimpfte sie. »Schon vergessen, wer dir letzte Woche bei diesem absolut ungefährlichen Raub, bei dem nichts schiefgehen kann, den Allerwertesten gerettet hat?«
»Das warst möglicherweise du«, gab er kleinlaut zu.
»Ganz recht.« Irina seufzte. »Bringt euch einfach nicht in Schwierigkeiten.«
»Dasselbe gilt für dich«, mahnte Juran.
Beide tauschten vielsagende Blicke, die darauf hindeuteten, dass Juran genau wusste, was Irina heute vorhatte.
»Ich bin immer vorsichtig. Hoffentlich seid ihr das auch.«
»Das müssen wir sein«, sagte Kirill. »Wir wollen unsere Zarin ja nicht in Gefahr bringen.«
Vasilisa nahm einen tiefen Atemzug. Hier ging es nicht bloß um ihr eigenes Überleben. Sie wollte keinen der anderen verlieren, obwohl sie die vier erst seit wenigen Tagen kannte, denn bei ihnen fühlte sie sich wohl, beinahe gewöhnlich. Hier hatte es niemand darauf abgesehen, sie zu manipulieren, sie einzuschüchtern oder ihr erst zu schmeicheln, um ihr dann ein Messer in den Rücken zu stoßen. Alle setzten ihr Leben für sie aufs Spiel, und das nicht, weil sie es mussten oder weil jemand sie dafür bezahlte, sondern weil sie es so wollten.
»In Ordnung«, sagte sie. »Sollen wir anfangen?«
Sofia
Sie saß mit angewinkelten Beinen auf dem Bett, dessen Matratze sich jede Nacht wie eine Holzplatte anfühlte, die gegen ihren Rücken drückte. Mit dem Kinn zwischen ihren Knien beobachtete sie den Vogel, der draußen vor dem Fenster hockte. Er drehte seinen Kopf von links nach rechts, als würde er ihr eine Frage stellen.
Eine Krähe. Das Omen des Wandels.
Krähen waren Schicksalsvögel. Sie tauchten immer dann auf, wenn sich etwas veränderte.
Mit einem hoffnungsvollen Seufzer sah sie dem Tier dabei zu, wie es sich aufplusterte und zu ihr ins Zimmer starrte. Warum war es so neugierig?
Sofia stand auf und ging zum gekippten Fenster. Sie legte eine Hand auf die eiskalte Scheibe, was die meisten Vögel bereits verschreckt hätte, doch dieser blieb sitzen und schaute sie aus seinen dunklen Augen an, die wie schwarze Perlen im Licht der Morgensonne glänzten.
»Ich wäre gern so frei wie du«, murmelte sie.
Die Krähe legte den Kopf schief.
»Das hier ist mein Grab. Ohne kalte Erde und ohne einen Stein, auf dem mein Name steht. Aber es fühlt sich an, als würde ich in einem Sarg liegen und auf den Tod warten.«
Mit seinem Schnabel klopfte der Vogel gegen das Fensterglas. Sofia erstarrte.
»Kannst du … mich verstehen?«
Wieder tippte er das Glas an. Nein, das war unmöglich. Diese Tiere klopften doch nicht an Fensterscheiben und sie starrten einem Menschen auch nicht so direkt ins Gesicht. Etwas an diesem Vogel war nicht normal.
Ist bloß deine Fantasie, Kleine