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Willkommen an Bord der Wayfarer! Becky Chambers hat mit ›Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten‹ eine zutiefst optimistische Space Opera geschrieben, die uns den Glauben an die Science Fiction (im Besonderen) und an die Menschheit (im Allgemeinen) zurückgibt. Als die junge Marsianerin Rosemary Harper auf der Wayfarer anheuert, wird sie von äußerst gemischten Gefühlen heimgesucht – der ramponierte Raumkreuzer hat schon bessere Zeiten gesehen, und der Job scheint reine Routine: Wurmlöcher durchs Weltall zu bohren, um Verbindungswege zwischen weit entfernten Galaxien anzulegen, ist auf den ersten Blick alles andere als glamourös. Die Crewmitglieder, mit denen sie nun auf engstem Raum zusammenlebt, gehören den unterschiedlichsten galaktischen Spezies an. Da gibt es die Pilotin Sissix, ein freundliches und polyamoröses reptilienähnliches Wesen, den Mechaniker Jenks, der in die KI des Raumschiffs verliebt ist, und den weisen und gütigen Dr. Chef, der einer aussterbenden Spezies angehört. Doch dann nimmt Kapitän Ashby den ebenso profitablen wie riskanten Auftrag an, einen Raumtunnel zu einem weit entfernten Planeten anzulegen, auf dem die kriegerische Rasse der Toremi lebt. Für Rosemary verwandelt sich die Flucht vor der eigenen Vergangenheit in das größte Abenteuer ihres Lebens. ›Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten‹ wurde für zahlreiche Preise nominiert, u.a. für den Kitschies Award, den Baileys Women's Prize for Fiction und den Arthur C. Clarke Award.
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Seitenzahl: 670
Becky Chambers
Roman
Als die junge Rosemary Harper auf der Wayfarer anheuert, wird sie von äußerst gemischten Gefühlen heimgesucht – der ramponierte Raumkreuzer hat schon bessere Zeiten gesehen, und der Job scheint reine Routine: Wurmlöcher durchs All zu bohren, um Verbindungswege zwischen weit entfernten Galaxien anzulegen, ist auf den ersten Blick alles andere als glamourös.
Die Crewmitglieder, mit denen sie nun auf engstem Raum zusammenlebt, gehören den unterschiedlichsten galaktischen Spezies an. Da gibt es die Pilotin Sissix, ein freundliches und polyamouröses reptilienähnliches Wesen, den Mechaniker Jenks, der in die KI des Schiffes verliebt ist, und den weisen und gütigen Dr. Koch, der einer aussterbenden Spezies angehört.
Doch dann nimmt Kapitän Ashby den Auftrag an, einen Raumtunnel zu einem weit entfernten Planeten anzulegen, auf dem die kriegerische Rasse der Toremi lebt. Für Rosemary verwandelt sich die Flucht vor der eigenen Vergangenheit in das größte Abenteuer ihres Lebens.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert. Derzeit arbeitet sie an einem zweiten Buch im Wayfarer-Universum.
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[Widmung]
[Motto]
Transit
Eine Beschwerde
Ankunft
Ein Hinweis
Die Tunneler
Technische Einzelheiten
Blindstoss
Der Auftrag
Port Coriol
Das Schwinden
Einführung in die harmagianische Kolonialgeschichte
Zirp
Der letzte Krieg
Kedrium
Nest, Feder, Haus
25. Oktober
Häresie
Hedra Ka
Sieben Stunden
Hard Reset
Bleiben und Gehen
Der Ausschuss
Zu guter Letzt
Danksagung
Meiner Familie, Nest und Feder
Erhoben von der Erde,
Das Leben durch die Schiffe,
Die Hoffnung bei den Sternen.
Exodanisches Sprichwort
Tag 128, GU-Standard 306
Als sie in der Kapsel die Augen aufschlug, erinnerte sie sich an dreierlei. Erstens – sie reiste gerade durchs All. Zweitens – sie würde bald eine neue Stelle antreten, bei der sie es nicht vermasseln durfte. Drittens – sie hatte einen Regierungsangestellten bestochen, damit er ihr eine neue Identität verschaffte. Nichts davon war neu, aber auch nicht gerade das, woran sie denken wollte, während sie aufwachte.
Eigentlich hätte sie gar nicht wach sein dürfen, noch mindestens einen weiteren Tag lang nicht, aber das hatte man eben davon, wenn man einen Billigflug buchte. Billigflüge bedeuteten billige Kapseln, die mit billigem Brennstoff flogen, und billige Medikamente für die Narkose. Seit dem Start hatte sie mehrmals beinahe das Bewusstsein wiedererlangt, war aber jedes Mal nach kurzer Verwirrung wieder weggedämmert. In der Kapsel war es dunkel, und es gab keinerlei Navigationsdisplays. Sie hätte unmöglich sagen können, wie viel Zeit bei jedem Erwachen verstrichen oder wie weit sie schon gereist oder ob sie überhaupt losgeflogen war. Bei dem Gedanken wurde ihr beklommen und übel.
Ihr Sehvermögen kehrte so weit zurück, dass sie das Fenster erkennen konnte. Die Sichtklappen waren heruntergelassen, so dass kein Licht hereindringen konnte. Es gab ohnehin keines, wie sie sehr wohl wusste. Sie befand sich weit weg von allem. Hier gab es keine Planeten, keine Raumschiffe, keine funkelnden Orbiter. Nichts als Leere, grauenhafte Leere, und hin und wieder ein paar Felsbrocken.
Das Triebwerk heulte auf, während es zu einem weiteren Sprung durch den Zwischenraum ansetzte. Das Narkosemittel fing wieder an zu wirken, zog sie zurück in einen unruhigen Schlaf. Beim Eindösen dachte sie noch einmal an den Job, an die Lügen, an das selbstgefällige Gesicht des Beamten, als sie die Credits auf sein Bankkonto geschaufelt hatte. Ob es wohl genug gewesen waren? Hoffentlich. O Gott, hoffentlich. Sie hatte schon viel zu viel bezahlt, für Fehler, an denen sie gar keinen Anteil gehabt hatte.
Ihre Augen schlossen sich, als die Narkose sie übermannte und die Kapsel ihren Flug fortsetzte.
Tag 129, GU-Standard 306
Das Leben im Weltall war alles andere als leise. Damit rechneten Planetarier nie. Wer auf festem Boden groß geworden war, brauchte einige Zeit, um sich an das Klicken und Summen auf einem Schiff zu gewöhnen, an die allgegenwärtige Geräuschkulisse, die mit dem Leben in einer Maschine einherging. Für Ashby waren diese Geräusche jedoch so normal wie sein eigener Herzschlag. Das Seufzen des Luftfilters über seinem Bett sagte ihm, wann es Zeit zum Aufwachen war. Wenn die äußere Hülle von Felsbrocken getroffen wurde, verriet ihm das vertraute Prasseln, welche davon so klein waren, dass man sie ohne weiteres ignorieren konnte, und welche Probleme machen würden. Am statischen Rauschen des Ansibles konnte er erkennen, in welcher Entfernung sich sein Gesprächspartner befand. Das waren die Geräusche, mit denen man als Spacer lebte und die ihm ins Gedächtnis riefen, wie verletzlich er war, wie weit weg vom nächsten Raumhafen. Sie erinnerten ihn daran, wie zerbrechlich das Leben war. Doch die Geräusche bedeuteten auch Sicherheit. Verstummten sie, dann gab es womöglich keinen Luftaustausch mehr, die Triebwerke standen still oder das Artigrav-Netz hielt einen nicht länger am Boden. Stille gehörte zu der Leere da draußen. Stille war gleichbedeutend mit Tod.
Es gab noch andere Geräusche, die nicht von dem Schiff selbst, sondern von seinen Bewohnern herrührten. Selbst in den endlosen Gängen der Siedlerschiffe konnte man das ferne Echo von Gesprächen und Schritten auf den Stahlfußböden hören oder das schwache Gepolter eines Techs, der irgendwo durch die Wand kletterte, um einen unsichtbaren Schaltkreislauf zu reparieren. Ashbys Schiff, die Wayfarer, war einigermaßen geräumig; im Vergleich mit dem Siedlerschiff seiner Kindheit war es allerdings winzig. Als er die Wayfarer gekauft und eine Crew angeheuert hatte, hatte sogar er sich erst an die engen Quartiere gewöhnen müssen. Inzwischen empfand er die ständigen Geräusche der Leute, die um ihn herum arbeiteten, lachten und sich abmühten, jedoch als tröstlich. Das Weltall war ein einsamer Ort, und angesichts der sternenbesprenkelten Leere überkam selbst den abgebrühtesten Spacer zuweilen ein Gefühl von Ehrfurcht und Demut.
Ashby war froh über jede Störung. Wenn man in dieser Branche arbeitete, dann tat es gut, nicht allein zu sein. Wurmlöcher zu bohren war kein sonderlich glamouröser Beruf. Die Interspace-Passagen, die die ganze Galaktische Union durchzogen, wurden von allen als normal und selbstverständlich wahrgenommen. Ashby bezweifelte, dass irgendjemand mehr Gedanken auf das Tunneln verschwendete als auf eine Hose oder eine warme Mahlzeit. Doch es war Ashbys Job, über Tunnel nachzudenken, und zwar gründlich. Und wenn man das allzu lange tat – wenn man sich vorstellte, wie das eigene Schiff wieder und wieder in den Raum hinein und hinaus glitt wie eine Nähnadel durch Stoff … nun, dann war man froh über ein bisschen lautstarke Gesellschaft.
Jetzt saß Ashby in seinem Büro, las einen Newsfeed und trank dazu eine Tasse Mek, als ein bestimmtes Geräusch ihn zusammenzucken ließ. Schritte. Corbins Schritte. Corbins aufgebracht klingende Schritte, unmittelbar vor seiner Tür. Ashby seufzte, schluckte seinen aufkeimenden Ärger hinunter und verwandelte sich in den Captain. Er setzte eine neutrale Miene auf und spitzte die Ohren. Um mit Corbin zu sprechen, bedurfte es erhöhter Aufmerksamkeit und einer guten Portion Gelassenheit.
Artis Corbin war zweierlei: ein begabter Algaeist und ein komplettes Arschloch. In seiner ersten Eigenschaft war er für ein Langstreckenschiff wie die Wayfarer unverzichtbar. Eine Treibstoffcharge, die ins Braune kippte, konnte den Ausschlag dafür geben, ob man einen Raumhafen erreichte oder hilflos durchs All trieb. Gut die Hälfte der unteren Decks war angefüllt mit Algentanks, über deren Nährstoffkonzentration und Salzgehalt jemand mit akribischer Sorgfalt wachen musste. Corbins ungeselliges Wesen war hier sogar von Vorteil. Der Mann saß am liebsten den ganzen Tag im Algendepot, wo er über den Anzeigen brütete und sich in das verbiss, was er »optimale Bedingungen« nannte. Ashby erschienen die Bedingungen eigentlich immer ziemlich optimal, aber beim Thema Algen redete er Corbin lieber nicht rein. Seit Corbin sich an Bord befand, waren Ashbys Treibstoffkosten um zehn Prozent gesunken, und außerdem gab es nur wenige Algaeisten, die einen Job auf einem Langstreckenschiff überhaupt angenommen hätten. Schon auf kürzeren Strecken konnten Algen recht heikel sein, aber sie gesund zu erhalten, wenn man länger unterwegs war, erforderte peinliche Genauigkeit und vor allem Ausdauer. Corbin konnte zwar Menschen nicht leiden, aber er liebte seine Arbeit, und die machte er verdammt gut. Für Ashby war er also äußerst wertvoll. Eine äußerst wertvolle Nervensäge.
Die Tür flog auf, und Corbin stürmte herein. Wie immer stand ihm der Schweiß auf der Stirn, und das ergrauende Haar klebte ihm an den Schläfen. Wegen der Pilotin musste es auf der Wayfarer warm sein, aber Corbin hatte seit seinem ersten Tag keinen Hehl daraus gemacht, wie sehr ihm die Standardtemperatur auf dem Schiff missfiel. Auch noch Jahre später verweigerte sein Körper die Akklimatisierung – offenbar aus reiner Gehässigkeit.
Außerdem waren Corbins Wangen gerötet, was von seiner Laune wie von der Treppe herrühren mochte – ein Anblick, an den sich Ashby nicht gewöhnen konnte. Die Menschheit stammte größtenteils von der Exodus-Flotte ab, die sich weit von den Gefilden ihrer angestammten Sonne entfernt hatte. Viele Menschen waren wie Ashby auf den Siedlerschiffen geboren worden, die den ursprünglichen Exilanten gehört hatten. Sein stark gelocktes schwarzes Haar und seine bernsteinfarbene Haut waren das Ergebnis einer generationenlangen Durchmischung auf den riesigen Schiffen. Die meisten Menschen, ob sie nun im Raum oder auf den Kolonien geboren waren, teilten inzwischen diese Merkmale mit den staatenlosen Exodanern.
Corbin dagegen stammte unverkennbar vom Sol-System, obwohl die Leute von den Heimatplaneten sich den Exodanern während der letzten Generationen äußerlich angenähert hatten. Aus dem Schmelztiegel der menschlichen Gene tauchten, selbst in der Exodus-Flotte, immer mal wieder hellere Hauttöne auf. Aber Corbin war praktisch rosa. Seine Vorfahren waren Wissenschaftler gewesen, Pioniere, die die ersten Forschungssatelliten gebaut hatten, die um Enceladus kreisten. Seit Jahrhunderten schon wachten sie dort über die Bakterienflora in den eisigen Ozeanen. Da Sol nur ein trüber Fleck am Himmel des Saturn war, waren den Forschern ihre Pigmente mit jedem Jahrzehnt mehr abhandengekommen. Das Endergebnis war Corbin, ein rosafarbener Mann, wie geschaffen für langwierige Laborarbeit und einen Himmel ohne Sonne.
Corbin warf seinen Scribus auf Ashbys Schreibtisch. Das dünne, rechteckige Pad segelte durch den Pixel-Bildschirm und blieb scheppernd vor Ashby liegen. Mit einer Handbewegung schloss Ashby den Bildschirm. Die in der Luft stehenden Schlagzeilen zerfielen, und die farbigen Pixel stahlen sich, winzigen Insektenschwärmen gleich, zurück in die Projektorboxen beiderseits des Schreibtisches. Ashby betrachtete den Scribus und sah Corbin dann mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Das hier«, sagte Corbin, wobei er mit seinem knochigen Zeigefinger auf den Scribus zeigte, »soll wohl ein Scherz sein.«
»Lass mich raten«, sagte Ashby. »Jenks hat sich mal wieder an deinen Aufzeichnungen zu schaffen gemacht?«
Corbin runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Ashby konzentrierte sich auf den Scribus und verbiss sich nur mit Mühe ein Lachen bei der Erinnerung daran, wie Jenks sich letztes Mal in Corbins Scribus gehackt und die peniblen Aufzeichnungen des Algaeisten durch dreihundertzweiundsechzig verschiedene Aufnahmen von Jenks ersetzt hatte, nackt wie am Tag seiner Geburt. Besonders gut hatte Ashby das Bild gefallen, auf dem Jenks die Flagge der Galaktischen Union in der Hand hielt. Eine Art würdevolle Dramatik hatte darin gelegen.
Ashby nahm den Scribus und drehte ihn um, so dass der Bildschirm nach oben zeigte.
Von: Captain Ashby Santoso (Wayfarer, GU-Tunneler-Lizenz Nr. 387–97456)
Re: Lebenslauf Rosemary Harper (GU-Verwaltungszertifikat Nr. 65–78–2)
Ashby erkannte die Datei wieder. Es war der Lebenslauf der neuen Verwaltungsassistentin, die am morgigen Tag eintreffen sollte. Wahrscheinlich lag sie gerade festgeschnallt und narkotisiert in einer Kapsel, bis ihre lange, beengte Reise zu Ende war.
»Wieso zeigst du mir das?«, fragte Ashby.
»Aha. Du hast es also tatsächlich gelesen«, sagte Corbin.
»Ja, natürlich. Ich hatte euch allen doch schon vor einer Ewigkeit gesagt, dass ihr euch die Datei anschauen sollt, um euch vor ihrer Ankunft einen Eindruck zu verschaffen.« Es war Ashby schleierhaft, worauf Corbin hinauswollte, aber das war seine übliche Masche. Erst mal meckern, die Erklärung kam dann später.
Corbins Entgegnung war vorhersehbar, noch ehe er den Mund aufmachte: »Ich hatte keine Zeit dazu.« Für gewöhnlich ignorierte Corbin alle Aufgaben, die nichts mit seinem Labor zu tun hatten. »Was zum Teufel hast du dir dabei gedacht, ein so junges Mädchen an Bord zu holen?«
»Ich hatte mir gedacht«, sagte Ashby, »dass ich eine ausgebildete Verwaltungsassistentin brauche.« Nicht einmal Corbin konnte das bestreiten. In Ashbys Aufzeichnungen herrschte allgemeines Chaos, und ein Tunnelerschiff benötigte zwar nicht unbedingt eine Bürokraft, um seine Lizenz zu behalten, aber das GU-Beförderungsministerium hatte ziemlich deutlich durchblicken lassen, dass Ashby sich mit seinen ständig verspäteten Berichten keine Freunde machte. Ein weiteres Crewmitglied zu bezahlen und durchzufüttern war zwar kein Klacks, aber nach reiflicher Überlegung hatte Ashby Sissix’ Drängen nachgegeben und das Ministerium gebeten, ihm eine Fachkraft zu schicken. Wenn er weiter versuchte, zwei Jobs auf einmal zu machen, würden die Geschäfte darunter leiden.
Corbin verschränkte die Arme über der Brust und rümpfte die Nase. »Hast du mit ihr geredet?«
»Wir haben vor einem Tagzehnt über Sib gechattet. Sie scheint ganz in Ordnung zu sein.«
»Sie scheint ganz in Ordnung zu sein«, wiederholte Corbin. »Das ist ja mal erfreulich.«
Seine nächsten Worte wählte Ashby mit mehr Bedacht. Es handelte sich hier schließlich um Corbin, den König der Wortklauberei. »Das Ministerium hat sie genehmigt. Sie ist bestens qualifiziert.«
»Dann hat da wohl jemand zu viel Smash geraucht.« Erneut stach Corbin mit dem Zeigefinger nach dem Scribus. »Sie hat keinerlei Langstreckenerfahrung. Soweit ich das sehe, hat sie nie an einem anderen Ort als auf dem Mars gelebt. Sie kommt frisch von der Universität …«
Ashby zählte an den Fingern ab – auch er beherrschte dieses Spiel. »Sie ist für den ganzen GU-Verwaltungskram ausgebildet. Sie hat ein Praktikum bei einer planetarischen Transportfirma gemacht, wo sie die gleichen Basisqualifikationen benötigt hat wie bei uns. Sie spricht fließend Hanto, mit Gesten und allem Drum und Dran, was uns wirklich ein paar Türen öffnen könnte. Sie kann ein Empfehlungsschreiben ihres Professors für interspeziäre Beziehungen vorweisen. Und was das Wichtigste ist: Bei unserem kurzen Gespräch wirkte sie auf mich wie jemand, mit dem ich zusammenarbeiten kann.«
»Sie hat so etwas noch nie gemacht. Wir befinden uns mitten im Nirgendwo, kurz vor einem Blindstoß, und du nimmst ein Kind an Bord auf.«
»Sie ist kein Kind, sie ist nur jung. Und jeder fängt mal irgendwo an, Corbin. Bei dir war das bestimmt nicht anders.«
»Weißt du, was mein erster Job war? Ich habe im Labor meines Vaters Probenbehälter gespült. Selbst ein dressiertes Tier hätte diese Arbeit machen können. So sollte der erste Job sein, und nicht …« Er verhaspelte sich. »Darf ich dich daran erinnern, was wir hier tun? Wir fliegen durch die Gegend und stoßen Löcher durch den Raum, und zwar buchstäblich. Das ist keine ungefährliche Arbeit. Schon Kizzy und Jenks jagen mir eine Scheißangst ein. Ich kann meinen Job nicht machen, wenn ich ständig Angst haben muss, dass irgendein unbedarfter Neuling den falschen Knopf drückt.«
Das war das Alarmsignal – »Ich kann unter solchen Bedingungen nicht arbeiten« –, was darauf hindeutete, dass Corbin kurz davorstand auszuflippen. Es wurde Zeit, ihn wieder auf Spur zu bringen. »Corbin, sie wird keinerlei Knöpfe drücken. Sie wird nichts Komplizierteres tun, als Berichte zu verfassen und sich um den Verwaltungskram zu kümmern.«
»Und sie wird sich mit den Grenzwachen auseinandersetzen und mit der planetarischen Streife und mit zahlungssäumigen Kunden. Wir haben es nicht immer nur mit netten Leuten zu tun. Nicht alle sind vertrauenswürdig. Wir brauchen jemand, der sich durchsetzen kann, der mit schnöseligen Hilfssheriffs fertig wird, die meinen, sie würden die Vorschriften besser kennen als wir. Jemand, der bei den Lebensmitteln zwischen einem echten Unbedenklichkeitsstempel und einer billigen Schmugglerfälschung unterscheiden kann. Jemand, der Ahnung von dem Leben hier draußen hat, niemand, der frisch von der Uni kommt und sich in die Hosen macht, sobald der erste Vollstrecker der Quelin bei uns andockt.«
Ashby stellte seine Tasse ab. »Also ich brauche jemanden, der meine Aufzeichnungen in Ordnung hält. Ich brauche jemanden, der unsere Termine verwaltet, der dafür sorgt, dass wir vor dem Passieren einer Grenze alle nötigen Impfungen und Scans haben, und der bei meinen Abrechnungen durchsteigt. Es ist ein komplizierter Job, aber kein schwieriger – nicht, wenn sie so gut organisiert ist, wie es in ihrem Empfehlungsschreiben steht.«
»Das ist doch todsicher ein Standardbrief. Bestimmt hat dieser Professor für jeden hasenfüßigen Studenten, der ihn angebettelt hat, das gleiche Schreiben losgeschickt.«
Ashby zog eine Augenbraue hoch. »Sie hat an der Universität von Alexandria studiert, genau wie du.«
Corbin schnaubte höhnisch. »Ich war auf der naturwissenschaftlichen Fakultät. Das ist etwas anderes.«
Ashby lachte kurz auf. »Sissix hat recht, Corbin, du bist wirklich ein Snob.«
»Sissix kann von mir aus zur Hölle fahren.«
»Ja, das hast du ihr ja gestern Abend gesagt. Ich habe euch im Gang gehört.« Corbin und Sissix würden einander irgendwann noch umbringen. Sie waren noch nie gut miteinander ausgekommen, und keiner von ihnen war auch nur im Geringsten daran interessiert, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Hier bewegte Ashby sich auf sehr dünnem Eis. Er und Sissix waren schon vor der Wayfarer befreundet gewesen, aber solange er Captain war, durfte er sie und Corbin als Mitglieder seiner Crew nicht unterschiedlich behandeln. Bei ihren ständigen Streitereien zu vermitteln war eine heikle Angelegenheit. Meistens versuchte er, sich ganz herauszuhalten. »Was war es denn dieses Mal – oder will ich das lieber nicht wissen?«
Corbins Mund zuckte. »Sie hat meinen letzten Pack Dentalbots genommen.«
Ashby blinzelte. »Du weißt doch, dass im Frachtraum riesige Kisten voller Dentalbots stehen.«
»Aber nicht mit meinen Dentalbots. Du kaufst diese billigen Allerweltsbots, von denen man wundes Zahnfleisch bekommt.«
»Ich benutze diese Bots jeden Tag, und meinem Zahnfleisch geht es bestens.«
»Meines ist aber empfindlich. Wenn du mir nicht glaubst, dann lass dir doch von Dr. Koch meine zahnärztlichen Unterlagen zeigen. Ich brauche meine eigenen Bots.«
Hoffentlich sah man ihm nicht an, wie weit unten auf seiner Prioritätenliste dieses Klagelied rangierte, dachte Ashby im Stillen. »Ich kann zwar verstehen, dass dich das ärgert, aber wir reden hier schließlich nur über eine Packung Dentalbots.«
Corbin war entrüstet. »Die sind alles andere als billig! Sie hat es nur getan, um mir eins auszuwischen, da bin ich mir sicher. Wenn diese selbstsüchtige Echse nicht …«
»He!« Ashby richtete sich auf. »So nicht. Dieses Wort will ich nicht noch einmal von dir hören.« Unter den speziesistischen Schimpfwörtern war »Echse« zwar sicher nicht das schlimmste, aber doch schlimm genug.
Corbin presste die Lippen zusammen, als wollte er sich weitere Bosheiten verkneifen. »Tut mir leid.«
Ashby war aufgebracht, aber im Grunde war das der ideale Verlauf eines Gesprächs mit Corbin: Man isolierte ihn von der Crew, ließ ihn schimpfen, wartete, bis er zu weit ging, und putzte ihn dann runter, solange er Reue zeigte. »Ich rede mit Sissix, aber du musst umgänglicher werden. Und ganz egal, wie wütend du bist, für solche Ausdrücke ist auf meinem Schiff kein Platz.«
»Ich habe nur ein bisschen die Beherrschung verloren, das ist alles.« Corbin war offenbar immer noch wütend, doch selbst er war zu klug, um die Hand zu beißen, die ihn fütterte. Zwar wusste er um seinen Wert für die Crew, aber letzten Endes war es Ashby, der die Credits auf sein Bankkonto überwies. »Wertvoll« war nicht dasselbe wie »unersetzlich«.
»Mal ein bisschen unbeherrscht zu sein ist ja schön und gut, aber du gehörst zu einer gemischten Crew, und das musst du im Kopf behalten. Besonders, wenn jemand Neues an Bord kommt. Und was das angeht, tut es mir ja leid, dass du wegen ihr Bedenken hast, aber offen gestanden geht dich das nichts an. Rosemary wurde vom Ministerium vorgeschlagen, aber ihre Einstellung geht auf meine Kappe. Falls sie sich als Fehlentscheidung erweist, suchen wir uns jemand anderen. Aber bis es so weit ist, geben wir ihr erst mal alle eine Chance. Was immer deine Vorbehalte sein mögen, ich erwarte von dir, dass du ihr das Gefühl gibst, willkommen zu sein. Eigentlich …« Auf Ashbys Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Corbins Miene wurde argwöhnisch. »Was denn?«
Ashby lehnte sich zurück und verschränkte die Finger. »Corbin, meiner Erinnerung nach wird unsere neue Assistentin morgen um etwa siebzehneinhalb hier eintreffen. Nun, um Punkt siebzehn habe ich einen Sibchat mit Yoshi, und du weißt ja, wie gern er redet. Wenn Rosemary andockt, werde ich vermutlich noch nicht fertig sein, und jemand wird sie herumführen müssen.«
»O nein.« Corbin machte ein gequältes Gesicht. »Lass Kizzy das machen. Die steht auf so was.«
»Kizzy hat mit dem Luftfilterwechsel in der Krankenstation alle Hände voll zu tun, und ich bezweifle, dass sie bis morgen fertig ist. Jenks hilft ihr, er fällt also aus.«
»Dann eben Sissix.«
»Mmm. Sissix muss für den morgigen Stoß noch alles Mögliche vorbereiten. Sie wird vermutlich keine Zeit haben.« Ashby grinste. »Du wirst das bestimmt super hinkriegen.«
Corbin sah seinen Arbeitgeber verdrießlich an. »Manchmal gehst du mir wirklich auf den Sack, Ashby.«
Ashby griff nach seiner Tasse und schlürfte die letzten Tropfen. »Ich wusste ja, dass ich mich auf dich verlassen kann.«
Tag 130, GU-Standard 306
Rosemary massierte sich, während der Wandautomat ihren Becher füllte, den Nasenrücken. Sie fühlte sich noch immer einigermaßen benommen von der Narkose, und die Aufputschmittel, die das ausgleichen sollten, bewirkten bis jetzt nur Herzrasen. Liebend gern hätte sie ihre Glieder gestreckt, doch solange die Kapsel noch in Bewegung war, konnte sie den Sicherheitsgurt nicht lösen, und der Platz hier erlaubte sowieso nicht mehr, als aufzustehen und auszusteigen. Stöhnend lehnte sie den Kopf zurück. Seit dem Start waren beinahe drei Tage vergangen. Solartage, rief sie sich ins Gedächtnis. Keine Standardtage. An diese Unterscheidung musste sie sich gewöhnen. Längere Tage, längere Jahre. Aber es gab Dringlicheres für sie als kalendarische Feinheiten. Sie war erschöpft, hatte Hunger, ihre Glieder waren steif, und sie konnte sich nicht erinnern, dass sie in den dreiundzwanzig Jahren ihres Lebens – Solarjahre, nicht Standardjahre – jemals so dringend hatte pinkeln müssen. Der unwirsche äluonische Angestellte am Raumhafen hatte ihr erklärt, die Narkose dämpfe den Harndrang, aber er hatte kein Wort darüber verloren, wie es sich anfühlen würde, wenn die Wirkung nachließ.
Rosemary malte sich den langen Beschwerdebrief aus, den ihre Mutter nach einer solchen Reise verfasst hätte. Unter welchen Umständen wäre ihre Mutter überhaupt in einer Kapsel geflogen? Rosemary konnte sie sich nicht einmal beim Betreten eines öffentlichen Raumhafens vorstellen. Es hatte sie ja schon überrascht, sich selbst an einem solchen Ort wiederzufinden – in dem schmuddeligen Wartebereich mit seinen flimmernden Pixel-Postern und dem schalen Geruch nach vergammelten Algen und Reinigungsflüssigkeit. Unter all den Exoskeletten und Tentakeln hatte sie sich wie ein Alien gefühlt.
Die Menagerie aus vernunftbegabten Wesen, mit der sie zusammen vor dem Schalter Schlange stand, hatte ihr unmissverständlich klargemacht, wie weit sie sich von Sol entfernt hatte. Auf ihrem Heimatplaneten ging es ziemlich kosmopolitisch zu, aber von einem gelegentlichen Diplomaten oder Firmenvertreter abgesehen begegnete man auf dem Mars kaum nichtmenschlichen Reisenden. Ein terrageformter Felsbrocken, bevölkert von einer der unbedeutendsten Arten der Galaktischen Union, war kein besonders gefragtes Reiseziel. Professor Selim hatte sie gewarnt, dass das Studium interspeziärer Beziehungen etwas völlig anderes war, als loszuziehen und tatsächlich mit einer intelligenten Spezies zu reden, doch sie hatte diesen Hinweis nicht richtig begriffen, bis sie sich von unförmigen Bioanzügen und Füßen, die keine Schuhe benötigten, umgeben fand. Sogar das Gespräch mit dem Harmagianer am Ticketschalter hatte sie nervös gemacht. Sie wusste, dass sie ausgezeichnet Hanto sprach (jedenfalls für einen Menschen), aber das hier war nicht mehr die geschützte Umgebung des Sprachlabors an der Universität. Niemand würde behutsam ihre Fehler korrigieren oder ihr einen Fehltritt verzeihen. Sie war jetzt auf sich allein gestellt, und wenn sie weiter Credits auf ihrem Konto und ein Bett zum Schlafen haben wollte, musste sie den Job machen, für den sie, wie sie Captain Santoso versichert hatte, qualifiziert war.
Nur nicht nervös werden.
Nicht zum ersten Mal zog sich ihr Magen zu einem kalten Klumpen zusammen. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich um Credits oder ein Dach über dem Kopf Gedanken gemacht. Doch da ihre Ersparnisse zur Neige gingen und sie alle Brücken hinter sich abgebrochen hatte, konnte sie sich keine Fehler mehr erlauben. Der Preis für den Neuanfang war, dass sie niemanden mehr hatte, der ihr half.
Bitte, dachte sie. Bitte vermassel das nicht.
»Wir beginnen jetzt mit dem Anflug, Rosemary«, zwitscherte der Bordcomputer. »Benötigst du noch etwas, bevor ich mit dem Andocken beginne?«
»Eine Toilette und ein Sandwich, bitte«, sagte Rosemary.
»Entschuldige, Rosemary, ich hatte Schwierigkeiten, dich zu verstehen. Könntest du deinen Wunsch noch einmal wiederholen?«
»Ich habe keinen Wunsch.«
»In Ordnung, Rosemary. Ich öffne jetzt die Sichtklappen. Vielleicht machst du lieber die Augen zu, um sie an externe Lichtquellen zu gewöhnen.«
Folgsam schloss Rosemary die Augen, während die Klappen sich summend öffneten, doch hinter ihren Lidern blieb es dunkel. Sie machte die Augen wieder auf. Die einzige nennenswerte Lichtquelle befand sich in der Kapsel. Wie sie vermutet hatte, gab es da draußen nichts als dunkles Weltall und winzige Sterne. Schließlich befand sie sich mitten im Nirgendwo.
Wie dick wohl die Außenwand der Kapsel war?
Die Kapsel vollführte einen Schwenk nach oben, und Rosemary hob schützend die Hand gegen das grelle Licht, das plötzlich aus den Fenstern des hässlichsten Schiffes fiel, das sie je gesehen hatte. Es war ein unförmiger Klotz, sah man von einer Kuppel ab, die wie ein verkrümmtes Rückgrat aus dem hinteren Bereich hervortrat. Das war kein Schiff für zimperliche Geschäftsreisende, nichts daran war elegant oder inspirierend. Es war größer als ein Personentransporter, aber kleiner als ein Frachtschiff. Die fehlenden Flügel kennzeichneten es als ein Gefährt, das im Weltraum gebaut worden war und sich nie in eine Atmosphäre begeben würde. An der Unterseite befand sich eine gewaltige, komplizierte Maschinerie – metallisch und kantig, mit mehreren Reihen gezahnter Grate, die auf eine dünne, langgezogene Spitze zuliefen. Rosemary wusste zwar nicht viel über Raumschiffe, aber die unterschiedlichen Farben der Außenwand wirkten, als hätte man es stückweise zusammengestoppelt, aus Teilen anderer Schiffe vielleicht. Ein Patchwork-Schiff. Das einzig Vertrauenerweckende daran war die kompakte Bauweise. Dies war ein Schiff, das einiges aushielt und auch schon einiges ausgehalten hatte. Die Schiffe, in denen Rosemary bisher gereist war, waren zwar netter anzuschauen gewesen, aber es war beruhigend, dass sich zwischen ihr und all dem leeren Raum eine dicke, solide Wand befinden würde.
»Wayfarer, hier spricht Kapsel 36-A. Erbitte Andockerlaubnis«, sagte der Computer.
»Kapsel 36-A, hier spricht die Wayfarer«, antwortete eine weibliche Stimme mit exodanischem Akzent. Die Vokale waren weich, die Aussprache ein wenig zu geschliffen. Eine KI. »Bitte bestätigen Sie die Identität ihrer Passagierin.«
»Verstanden, Wayfarer. Ich übermittle jetzt die Passagierdaten.«
Eine kurze Pause entstand. »In Ordnung, Kapsel 36-A. Sie haben die Erlaubnis zum Andocken.«
Wie ein Meeressäuger, der zum Trinken zu seiner Mutter heranschwamm, schwebte die Kapsel neben die Wayfarer. Die rückwärtige Luke glitt in die Andockschleuse der Wayfarer. Rosemary konnte hören, wie die Verriegelung einrastete. Mit einem Zischen weitete sich die Dichtung.
Die Luke öffnete sich. Stöhnend stand Rosemary auf. Ihre Muskeln fühlten sich an, als wären sie kurz vor dem Zerreißen. Sie nahm Reisetasche und Rucksack vom Gepäckständer und humpelte los. Die Schwerkraft auf der Wayfarer unterschied sich ein wenig von der in der Kapsel, genug jedenfalls, um ihren Magen ins Schlingern zu bringen, als sie die Grenze zwischen den beiden überschritt. Das Gefühl hielt nur ein paar Sekunden an, aber zusammen mit der Benommenheit, dem flatternden Puls und ihrer schmerzenden Blase fühlte sie sich jetzt nicht mehr nur unwohl, sondern einigermaßen elend. Hoffentlich war ihr neues Bett weich.
Sie trat in eine kleine Dekontaminierungszelle, die leer war bis auf eine gelb leuchtende Platte, die an einem halbhohen Ständer hing. Die KI sprach durch eine Vox an der Wand. »Hallo! Ich bin mir zwar ziemlich sicher, dass ich weiß, wer Sie sind, aber könnten Sie bitte Ihr Handgelenkpflaster über die Platte streifen, damit ich mich vergewissern kann?«
Rosemary zog den Ärmel hoch, wodurch das Armband zum Vorschein kam, das das kleine Armimplantat an der Innenseite ihres rechten Handgelenks schützte. In dem kaum daumennagelgroßen Stück Technologie steckten jede Menge Daten – ihre ID, ihre Bankverbindung und ein medizinisches Interface, das mit den etwa fünfhunderttausend Imunobots kommunizierte, die in ihrem Blutkreislauf patrouillierten. Wie alle Bürger der GU hatte Rosemary ihr erstes Implantat schon als Kind bekommen (bei Menschen geschah das üblicherweise im Alter von fünf Jahren), doch ihr jetziges Implantat war erst ein paar Tagzehnte alt. Die Haut darum herum glänzte noch und war empfindlich. Das neue Implantat hatte sie fast die Hälfte ihrer Ersparnisse gekostet, was ihr wie Wucher erschienen war, aber sie war kaum in der Position gewesen, deswegen einen Streit vom Zaun zu brechen.
Sie hielt das Handgelenk über die gelbe Platte. Das Licht pulsierte schwach, und zu den Aufputschmitteln gesellte sich ein leichter Adrenalinstoß. Was, wenn bei dem Implantat irgendetwas schiefgegangen war und doch ihre alte Datei ausgelesen wurde? Was, wenn man ihren Namen sah und eins und eins zusammenzählte? Würde das den Leuten hier draußen etwas ausmachen? Würde es eine Rolle spielen, dass sie nichts Böses getan hatte? Würden sie sich von ihr abwenden, genau wie ihre Freunde? Sie zum Mars zurückschicken, zurück zu einem Namen, den sie nicht wollte, und in einen Schlamassel, den sie gar nicht …
Das Pad blinkte in einem freundlichen Grün. Rosemary atmete auf und schalt sich dafür, überhaupt nervös gewesen zu sein. Seit dem Einsetzen hatte das neue Implantat bestens funktioniert. Auf dem Weg hierher hatte sie keinerlei Probleme gehabt, sich auszuweisen oder bei den Zwischenstopps zu bezahlen. Es war unwahrscheinlich, dass der Implantatscanner auf diesem alten Tunnelerschiff Abweichungen erfasste, die den hochmodernen Scannern auf den Raumhäfen entgangen waren. Immerhin, es war die letzte Hürde, die sie hatte meistern müssen. Jetzt galt es nur noch, gute Arbeit zu leisten.
»Da sind Sie also, Rosemary Harper«, sagte die KI. »Mein Name ist Lovelace, und ich bin das Kommunikationsinterface des Schiffes. In dieser Hinsicht ähneln sich wohl unsere Aufgaben, nicht wahr? Sie vermitteln für die Crew, ich hingegen für das Schiff.«
»Das stimmt wohl«, sagte Rosemary ein wenig unsicher. Mit empfindungsfähigen KIs hatte sie nicht viel Erfahrung. Die KIs bei ihr zu Hause waren alle nichtssagend nüchtern und funktionell. In der Universitätsbibliothek gab es eine KI namens Oracle, die allerdings eher von der akademischen Sorte war. Mit einer so freundlichen KI wie Lovelace hatte Rosemary noch nie gesprochen.
»Soll ich dich Rosemary nennen?«, fragte Lovelace. »Oder hast du einen Spitznamen?«
»Rosemary ist in Ordnung.«
»Schön, Rosemary. Du kannst Lovey zu mir sagen, wenn du möchtest. Alle nennen mich so. Ein gutes Gefühl, aus der Kapsel herauszukommen, nicht wahr?«
»Du machst dir ja keine Vorstellung.«
»Das ist wahr. Aber du weißt schließlich auch nicht, wie gut es sich anfühlt, wenn meine Speicherbausteine neu kalibriert werden.«
Rosemary ließ sich das durch den Kopf gehen. »Da hast du recht, das weiß ich nicht.«
»Rosemary, ich will ehrlich mit dir sein. Ich habe dich so lange mit diesem Geplauder aufgehalten, damit dir nicht langweilig wird, während ich dich auf Kontaminierungen scanne. Ein Mitglied unserer Crew hat besondere gesundheitliche Bedürfnisse, und ich muss einen gründlicheren Scan durchführen, als es auf einigen Schiffen üblich ist. Es sollte nicht mehr lange dauern.«
Rosemary hatte nicht den Eindruck, lange gewartet zu haben, aber sie hatte keine Ahnung, was eine KI als längere Zeitspanne ansah. »Nimm dir alle Zeit, die du brauchst.«
»Ist das dein ganzes Gepäck?«
»Ja«, sagte Rosemary. Tatsächlich trug sie all ihre Besitztümer bei sich (genau genommen alles, was sie nicht verkauft hatte). Es verblüffte sie immer noch, dass alles in zwei kleine Taschen passte. Nach dem Leben in ihrem riesigen Elternhaus, vollgestopft mit Möbeln, Nippes und Raritäten, verschaffte ihr das Wissen, nicht mehr zu brauchen, als sie tragen konnte, ein erstaunliches Gefühl der Freiheit.
»Wenn du deine Taschen in den Lastenaufzug zu deiner Rechten stellst, kann ich sie für dich zum oberen Mannschaftsdeck transportieren. Du kannst sie jederzeit abholen, wenn du auf dein Zimmer gehst.«
»Danke«, sagte Rosemary. Sie öffnete die Metalltür an der Wand, stellte ihre Taschen in das dahinterliegende Abteil und verriegelte die Tür. In der Wand rauschte es.
»Also, Rosemary, ich bin jetzt fertig mit meinem Scan. Ich sage es wirklich ungern, aber in deinem Organismus befinden sich tatsächlich ein paar Keime, die auf der schwarzen Liste stehen.«
»Was denn für Keime?«, fragte Rosemary. Voller Grauen dachte sie an die schmierigen Geländer und die klebrigen Sitze auf dem Raumhafen. Nicht mal drei Tagzehnte, nachdem sie den Mars verlassen hatte, und schon hatte sie sich irgendeine außerirdische Seuche eingefangen!
»Ach, nichts, was dir weiter schadet, aber es sind Keime, mit denen unser Navigator nicht fertig wird. Bevor du das Schiff wieder verlässt, wird unser Arzt deine Imunobots entsprechend updaten müssen. Fürs Erste muss ich dir einen Dekontaminierungsblitz verpassen. Ist das in Ordnung?«
Lovey klang, als täte es ihr leid, und das aus gutem Grund. Das einzig Positive an einem Dekontaminierungsblitz war, dass er schnell vorüber war. »Okay«, sagte Rosemary und biss die Zähne zusammen.
»Schön tapfer sein«, sagte Lovey. »Blitz in drei Sekunden … zwei … eins.«
Grelles, orangefarbenes Licht erfüllte den Raum. Rosemary spürte, wie es ihren Körper durchdrang. Stechende Kälte breitete sich in ihren Poren, ihren Zähnen und in den Wurzeln ihrer Wimpern aus. Einen kurzen Augenblick war sie sich jeder einzelnen Kapillare bewusst.
»Es tut mir so leid«, sagte Lovey, als der Blitz vorbei war. »Es ist mir wirklich unangenehm, dass ich dir das antun muss. Du siehst aus, als wäre dir übel.«
Rosemary atmete aus, um das Gefühl der tausend kleinen Nadeln loszuwerden. »Ist ja nicht deine Schuld«, sagte sie. »Ich hab mich schon vorher nicht so besonders gefühlt.« Sie hielt inne, weil ihr klarwurde, dass sie gerade einer KI gut zuredete. Es war eine alberne Vorstellung, aber etwas in Loveys Auftreten ließ jede andere Reaktion ein wenig unhöflich erscheinen. Konnte man eine KI überhaupt kränken? Rosemary war sich nicht ganz sicher.
»Ich hoffe, es geht dir bald wieder besser. Soviel ich weiß, steht ein Abendessen für dich bereit, und danach wirst du dich sicher ausruhen können. So, nun habe ich dich lange genug aufgehalten. Du darfst jetzt hindurchgehen. Und ich freue mich, dich als Erste an Bord willkommen heißen zu dürfen.«
Die Vox ging aus. Rosemary drückte die Hand gegen die Türfüllung. Die innere Luke öffnete sich, und dahinter erschien ein blasser Mann mit mürrischer Miene. Als Rosemary eintrat, veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Es war das unaufrichtigste Lächeln, das sie je gesehen hatte.
»Willkommen auf der Wayfarer«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Artis Corbin, Algaeist.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mister Corbin. Ich heiße Rosemary Harper.« Rosemary reichte ihm die Hand. Sein Händedruck war schlaff, seine Haut feucht. Sie war froh, als sie loslassen konnte.
»Corbin genügt vollkommen.« Er räusperte sich. »Möchten Sie …« Er nickte zu der gegenüberliegenden Wand hin, wo sich eine Tür mit dem menschlichem Zeichen für Toilette befand.
Rosemary stürzte darauf zu.
Als sie ein paar Minuten später zurückkehrte, war ihre Laune schon besser. Sie hatte zwar weiterhin Herzflattern, ihre Benommenheit war noch nicht verschwunden, und von den Nachwirkungen des Blitzes taten ihr immer noch die Zähne weh. Doch zumindest eine Beschwerde konnte sie von der Liste streichen.
»Kapseln sind die schlechteste Art zu reisen«, sagte Corbin. »Sie laufen mit gepanschtem Zeug, wissen Sie. Das wird uns noch um die Ohren fliegen. Man sollte sie wirklich besser regulieren.« Rosemary wollte sich gerade eine Antwort zurechtlegen, doch bevor sie dazu kam, sagte Corbin: »Hier entlang.« Sie folgte ihm durch den Korridor.
Innen wirkte die Wayfarer kein bisschen schicker als außen, aber dass kein Gang dem anderen glich, hatte einen gewissen Reiz. Kleine Fenster unterbrachen in regelmäßigen Abständen die Schiffswand. Die Wandpaneele selbst wurden von Bolzen und Schrauben unterschiedlicher Größe zusammengehalten. Auch hier drinnen waren die Wände verschiedenfarbig – kupferbraun auf der einen Seite, stumpfes Messing auf der anderen, dazwischen zum Ausgleich hin und wieder ein helles Grau.
»Interessantes Design«, sagte Rosemary.
Corbin schnaubte verächtlich. »Wenn Sie mit ›interessant‹ meinen, dass es aussieht wie die Steppdecke meiner Oma, dann ja. Die Wayfarer ist ein altes Schiff. Die meisten Tunnelerschiffe sind alt. Kapitäne, die alte Schiffe wieder instandsetzen, anstatt neue zu kaufen, erhalten Prämien. Ashby hat das voll ausgeschöpft. Das ursprüngliche Schiff ist ungefähr fünfunddreißig Standards alt. Es war auf Langlebigkeit hin gebaut, hatte aber nicht den entsprechenden Komfort für die vorgesehene Crew. Ashby hat es mit größeren Quartieren, einem zusätzlichen Frachtraum, Duschen und dergleichen ausgestattet. Natürlich alles aus Bergungen. Um alles neu zu kaufen, fehlt ihm das Geld.«
Rosemary war erleichtert, von den verbesserten Lebensbedingungen zu hören. Sie hatte sich schon auf winzige Kojen und Sanistaub-Duschen eingestellt. »Lovey kam wohl ebenfalls nachträglich hinzu?«
»Ja. Ashby hat sie gekauft, aber sie ist vor allem Jenks’ Liebling.« Ohne dem etwas hinzuzufügen ging Corbin weiter und nickte zur Wand hinüber. »In jedem Raum und an den wichtigsten Kreuzungen befinden sich Voxe. Ganz gleich, wo Sie sind, Lovey hört jede Bitte und leitet die Nachrichten für Sie weiter. Sie werden im ganzen Schiff übertragen, Sie sollten also aufpassen, was Sie sagen. Eine Vox ist ein Hilfsmittel, kein Spielzeug. Außerdem sind überall auf dem Schiff Feuerlöscher. Kizzy kann Ihnen einen Lageplan davon schicken. In der Andockluke, dem Mannschaftsdeck und dem Frachtraum befinden sich Spinde mit Exo-Anzügen. Auf sämtlichen Decks gibt es Notausstiege. Außerdem verfügen wir über ein Shuttle, das über den Frachtraum zugänglich ist. Wenn Sie sehen, dass die Warnlampen an der Wand aufleuchten, laufen Sie zu einem Aufzug, zu einer Ausstiegsluke oder zum Shuttle – je nachdem, was am nächsten liegt.« Vor ihnen gabelte sich der Korridor. Corbin deutete nach links. »Zur Krankenstation geht es da entlang. Keine Spitzentechnologie, aber gut genug, um einen am Leben zu halten, bis wir einen Hafen anlaufen.«
»Ich verstehe«, sagte Rosemary. Sie bemühte sich, nicht zu viel in die Tatsache hineinzuinterpretieren, dass Corbin ausschließlich über Dinge redete, die mit Notfällen oder Verletzungen zu tun hatten.
Aus einem abzweigenden Korridor vor ihnen drangen laute, fröhliche Stimmen. Etwas fiel scheppernd zu Boden. Es folgte eine kurze Auseinandersetzung, dann Gelächter. Corbin kniff die Augen zusammen, als bekäme er Kopfschmerzen. »Ich glaube, Sie werden gleich unsere Techs kennenlernen«, sagte er.
Als sie um die Ecke bogen, lag vor ihnen ein Gewirr aus Kabeln und Drähten auf dem Boden verstreut. Rosemary konnte keinerlei Ordnung darin erkennen. Wie Eingeweide quollen Algenschläuche aus einer Öffnung in der Wandverkleidung. In der Wand selbst werkelten zwei Leute, ein Mann und eine Frau, beides Menschen – oder etwa doch nicht? Bei der Frau, die etwa Mitte zwanzig war, konnte kein Zweifel bestehen: Ihr schwarzes Haar war zu einem schiefen Knoten geschlungen und wurde von einem verblichenen, ausgefransten Haarband zusammengehalten. Sie trug einen völlig verdreckten orangefarbenen Overall, auf dessen Ellbogen mit großen Stichen aufgenähte, hellere Stoffflicken prangten. Auf den Ärmeln befanden sich eilig hingekritzelte Notizen wie »32-B ÜBERPRÜFEN – DRÄHTE ZU ALT?« und »VERGISS DIE LUFTFILTER NICHT, DUMMI« und »ESSEN«. Auf ihrer flachen Nase thronte ein merkwürdiges Brillengestell, an dessen Klappscharnieren pro Auge nicht weniger als ein halbes Dutzend Gläser befestigt waren. Einige waren dick und wirkten wie Vergrößerungsgläser, auf anderen flimmerten winzige digitale Anzeigen. Sie schienen handgefertigt zu sein. Die dunkle, olivfarbene Haut der Frau wirkte, als hätte sie viel Zeit mit natürlichen Sonnenbädern verbracht, doch ihre Gesichtszüge waren unverkennbar exodanisch. Vermutlich war sie auf einer außersolaren Kolonie aufgewachsen – »sonnenfern«, wie man auf dem Mars zu sagen pflegte.
Der Mann dagegen ließ sich nicht so leicht einordnen, auch wenn er im Großen und Ganzen menschlich aussah. Die Zusammensetzung seiner Gesichtszüge, die Figur, Gliedmaßen und Finger waren ein vertrauter Anblick. Die kupferne Hautfarbe ähnelte der von Rosemary, wenn sie auch deutlich dunkler war. Doch obwohl sein Kopf normal aussah, war der Rest von ihm klein, so klein wie bei einem Kind. Außerdem war er stämmig, als hätten sich seine Gliedmaßen verbreitert, dabei jedoch das Längenwachstum verweigert. Er war so winzig, dass er auf die Schultern der Frau passte, und genau dort stand er gerade.
Als wäre sein Äußeres nicht schon auffällig genug, hatte er seinen Körper auf vielfältige Weise verziert. Sein Kopf war an den Seiten rasiert, oben trug er einen lockigen Schopf. Eine Reihe von Piercings zierte seine Ohren, und um seine Arme herum liefen bunte Tätowierungen. Rosemary gab sich alle Mühe, ihn nicht anzustarren. Sie kam zu dem Schluss, dass er ein Mensch war, jedoch ein Gentweak sein musste. Eine andere Erklärung fiel ihr nicht ein. Andererseits, wieso nahm jemand diese Unannehmlichkeiten auf sich, um klein zu sein?
Die Frau sah von ihrer Arbeit auf. »Oh, hurra!«, sagte sie. »Jenks, runter mit dir, wir haben Gesellschaft.«
Der kleine Mann, der sich gerade mit einem lärmenden Werkzeug an der Wand zu schaffen gemacht hatte, wandte den Kopf und schob die Schutzbrille hoch. »Aha«, sagte er und kletterte von der Frau herunter. »Die Neue ist da.«
Noch ehe Rosemary etwas dazu sagen konnte, stand die Frau auf, streifte die Handschuhe ab und zog Rosemary in eine gewaltige Umarmung. »Willkommen zu Hause.« Sie trat zurück, und auf ihrem Gesicht lag ein ansteckendes Lächeln. »Ich bin Kizzy Shao, Mechtech.«
»Rosemary Harper.« Sie bemühte sich, nicht allzu verblüfft zu wirken. »Und danke schön.«
Kizzys Lächeln wurde breiter. »Oh, dein Akzent gefällt mir. Bei euch Marsianern klingt alles immer so weich!«
»Ich bin der Comptech«, sagte der Mann und wischte sich die Hände an einem Lappen ab. »Jenks.«
»Ist das Ihr Vorname oder Ihr Nachname?«, fragte Rosemary.
Jenks zuckte mit den Achseln. »Egal.« Er schüttelte ihr die Hand. Trotz seiner kleinen Hände war sein Griff fester als der von Corbin. »Schön, dich kennenzulernen.«
»Ganz meinerseits, Mister Jenks.«
»Mister Jenks! Das gefällt mir.« Er drehte den Kopf. »He, Lovey. Stell mich mal zu den anderen durch.« In der Nähe ging eine Vox an. »Alle mal herhören«, sagte Jenks wichtigtuerisch. »Auf Anregung unserer Assistentin höre ich ab heute nur noch auf die volle Anrede ›Mister Jenks‹. Ende.«
Corbin beugte sich zu Rosemary hinüber und senkte die Stimme. »Dafür sind die Voxe nicht da.«
»Und?«, sagte Kizzy. »Wie war die Reise?«
»Ich hab schon bessere erlebt«, antwortete Rosemary. »Aber ich bin noch heil, von daher habe ich wohl keinen Grund zum Jammern.«
»Jammere ruhig«, sagte Jenks und zog eine abgenutzte Blechbüchse aus der Tasche. »Kapseln sind eine beschissene Art, sich fortzubewegen. Und ich weiß zwar, dass sie die einzige Methode sind, einen schnell hierherzubringen, aber die Dinger sind brandgefährlich. Noch ein bisschen zittrig von den Stimulanzien?« Rosemary nickte. »Puh. Aber glaub mir, sobald du ein bisschen was im Magen hast, wirst du dich besser fühlen.«
»Warst du schon in deinem Zimmer?«, fragte Kizzy. »Die Vorhänge habe ich gemacht, aber wenn dir der Stoff nicht gefällt, sag einfach Bescheid, dann reiße ich sie wieder runter.«
»Ich war noch nicht dort«, sagte Rosemary. »Aber was du sonst gemacht hast, hab ich schon bewundert. Es kann nicht so einfach gewesen sein, ein derart in die Jahre gekommenes Modell aufzumotzen.«
Kizzys Gesicht strahlte wie eine Glühbirne. »Nein, aber genau deswegen macht es ja so viel Spaß, weißt du! Das ist ein bisschen wie Knobeln – herausfinden, mit welchen Schaltkreisen die alten zusammenarbeiten, Kleinigkeiten einbauen, damit es gemütlicher wird, all die Geheimnisse des alten Systems im Kopf behalten, damit wir nicht in die Luft fliegen.« Sie seufzte zufrieden. »Es ist einfach der beste Job, den es gibt. Hast du schon das Goldfischglas gesehen?«
»Entschuldigung, das was?«
»Das Goldfischglas.« Kizzy strahlte. »Warte einfach ab. Es ist das Aller-allerbeste.«
Corbins kritischer Blick glitt zu dem Comptech hinüber. »Jenks, das kann nicht dein Ernst sein!«
Jenks’ Blechbüchse war mit Rotschilf gefüllt. Soeben hatte er eine kleine, rundliche Pfeife damit gestopft, die er jetzt mit seinem Schweißgerät anzündete. »Was denn?«, fragte er undeutlich durch die zusammengebissenen Zähne. Er sog die Luft ein, was die gehäckselten Fasern zum Glimmen und Qualmen brachte. Ein schwacher Duft nach verbranntem Zimt und Asche stieg Rosemary in die Nase. Sie musste an ihren Vater denken, der das Zeug immer bei der Arbeit paffte, verdrängte die unwillkommene Erinnerung an ihre Familie jedoch schnell wieder.
Corbin hielt sich mit einer Hand Mund und Nase zu. »Wenn du deine Lunge unbedingt mit Toxinen vollpumpen willst, nur zu, aber bitte in deiner Kabine.«
»Entspann dich«, erwiderte Jenks. »Es handelt sich um diese verbesserte Sorte, die die Laru gezüchtet haben, ihre achtklappigen Herzen seien gesegnet. Die ganze Milde des Rotschilfs, aber ohne irgendwelches Gift. Hundertprozentig gesund. Na ja, zumindest nicht ungesund. Solltest du mal probieren, bei schlechter Laune wirkt es wahre Wunder.« Er blies eine Rauchwolke in Corbins Richtung.
Corbins Miene wurde starr, doch er schien nicht entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Rosemary gelangte zu dem Schluss, dass er trotz all seines Geredes über Regeln bei den Techs nicht viel zu melden hatte. »Weiß Ashby von dem Chaos hier?«, fragte Corbin und deutete dabei auf den Boden.
»Keine Angst, du alter Miesepeter«, sagte Kizzy. »Bis zum Abendessen ist alles tipptopp aufgeräumt.«
»Abendessen gibt es in einer halben Stunde«, sagte Corbin.
Kizzy warf die Hände in die Luft und zog eine theatralische Grimasse. »O nein! Wirklich? Ich dachte, Abendessen wäre um achtzehn?«
»Wir haben jetzt siebzehn dreißig.«
»Scheiße!«, sagte Kizzy und verschwand wieder in der Wand. »Rosemary, wir unterhalten uns später, ich muss jetzt arbeiten. Jenks, Marsch, auf meine Schultern!«
»Und hopp!«, sagte Jenks, klemmte sich die Pfeife zwischen die Zähne und kletterte hinauf.
Wortlos marschierte Corbin weiter den Korridor entlang.
»Es war nett, euch kennenzulernen«, sagte Rosemary und eilte Corbin hinterher.
»Gleichfalls!«, rief Kizzy. »O verdammt, Jenks! Wegen dir habe ich jetzt Asche im Mund!« Man hörte jemanden spucken, gleich darauf erklang zweistimmiges Gelächter.
»Ein wahres Wunder, dass wir nicht schon alle tot sind«, sagte Corbin zu niemand Bestimmtem. Während sie weiter den Gang entlanggingen, schwieg er. Smalltalk war nicht seine Stärke, so viel hatte Rosemary inzwischen begriffen. So unbehaglich das Schweigen auch war, sie hielt es für das Beste, es nicht zu brechen.
Der Gang bog nach innen ab und führte zur anderen Seite des Schiffes. Am Scheitelpunkt der Krümmung lag eine Tür. »Hier ist der Steuerraum«, sagte Corbin. »Für die Navigation und das Tunneln. Da werden Sie sich wohl kaum aufhalten müssen.«
»Wäre es okay, wenn ich trotzdem reinschaue? Nur zur Orientierung?«
Corbin zögerte. »Unsere Pilotin ist wahrscheinlich gerade bei der Arbeit. Wir sollten sie nicht stör…«
Die Tür ging auf, und eine Aandriskfrau trat heraus. »Dachte ich’s mir doch, dass ich eine neue Stimme gehört habe!«, sagte sie. Sie sprach mit ziemlich starkem Akzent, aber deutlicher, als Rosemary es bei ihrer Spezies je gehört hatte. Nicht, dass sie viel Erfahrung mit Aandrisks gehabt hätte. Sie gehörten zu den drei Gründerspezies der Galaktischen Union und waren in der ganzen Galaxis ein vertrauter Anblick. Zumindest hatte Rosemary das gehört. Die Aandrisk, die vor ihr stand, war die erste, mit der sie je ein Wort wechseln würde. Fieberhaft überlegte sie, was sie sonst noch über die Kultur der Aandrisk wusste. Komplizierte Familienstrukturen. Praktisch keinerlei Vorstellung von Privatsphäre. Körperbetonte Äußerungen von Zuneigung. Promiskuitiv. In Gedanken ohrfeigte sie sich dafür. Das war ein Klischee, das jeder Mensch kannte, ganz gleich, ob er wollte oder nicht, und es hatte einen Beigeschmack von Ethnozentrismus. Sie bilden keine Paare wie wir, schalt sie sich selbst. Das ist nicht das Gleiche. Im Geist sah sie Professor Selim vor sich, der sie streng anblickte. »Allein schon die Tatsache, dass wir den Begriff ›kaltblütig‹ als Synonym für ›herzlos‹ verwenden, spricht Bände über unsere angeborenen Vorbehalte gegenüber Reptilien«, hörte sie ihn sagen. »Messen Sie andere Spezies nicht an unseren gesellschaftlichen Normen.«
Entschlossen, ihrem Professor alle Ehre zu machen, stellte sich Rosemary auf das Wangenreiben ein, von dem sie gehört hatte, oder auch auf eine weitere unerwartete Umarmung. Wie auch immer diese Person sie begrüßen wollte, sie würde sich darauf einlassen. Sie gehörte jetzt zu einer gemischten Crew, und sie würde sich angemessen verhalten, verdammt nochmal.
Doch zu Rosemarys Enttäuschung streckte die Aandriskfrau lediglich eine Krallenhand aus. »Sie müssen Rosemary sein«, sagte sie herzlich. »Ich heiße Sissix.«
Rosemary legte die Finger um Sissix’ schuppige Handfläche, so gut sie es vermochte. Ihre Hände passten nicht recht zusammen, doch sie taten beide ihr Bestes. In Rosemarys Augen war Sissix zu fremdartig, um sie schön zu nennen, aber doch … bemerkenswert. Ja, das war die bessere Bezeichnung. Sie überragte Rosemary um einen ganzen Kopf. Ihr schlanker und geschmeidiger Körper war vom Scheitel bis zur Schwanzspitze von moosgrünen Schuppen bedeckt, die am Bauch ein wenig heller wurden. Ihr Gesicht war flach, sie besaß weder eine nennenswerte Nase noch Lippen oder Ohren, nur Löcher zum Atmen und Hören und einen kleinen Schlitz als Mund. Ein vielfarbiger Federschopf bedeckte ihren Kopf wie eine kurze, fröhliche Mähne. Ihre Brust war so flach wie bei einem menschlichen Mann, doch der Kontrast zwischen ihrer schmalen Taille und ihren muskulösen Echsenbeinen erzeugte die Illusion weiblicher Hüften (Rosemary wusste jedoch, dass dieser Eindruck ebenfalls auf kulturelle Prägung zurückging; männliche Aandrisks waren genauso gebaut wie die weiblichen, nur kleiner). Ihre Beine waren leicht gebeugt, als würde sie zum Sprung ansetzen, und aus ihren Fingern und Zehen wuchsen dicke, plumpe Krallen. Jede davon war mit sanft geschwungenen goldenen Linien bemalt und anscheinend abgefeilt. Sie trug eine weite, tiefsitzende Hose und eine Weste, die mit einem Knopf geschlossen war. Rosemary erinnerte sich daran, dass Professor Selim gesagt hatte, Aandrisks trügen nur Kleidung, damit Angehörige anderer Spezies sich ihnen gegenüber nicht unbehaglich fühlten. Kleider, Akzent und Händedruck ließen darauf schließen, dass Sissix schon lange unter Menschen lebte.
Sissix war nicht das Einzige, was aus dem Steuerraum kam. Eine Woge heißer, trockener Luft strömte durch die Tür. Rosemary spürte die Hitzewellen, die aus dem dahinterliegenden Raum drangen. Selbst hier an der Türschwelle hatten sie etwas Erstickendes.
Corbin kniff die Augen zusammen. »Dir ist schon klar, dass sich Interfaceplatten verziehen, wenn sie zu heiß werden.«
Sissix richtete ihre gelben Augen auf den blassen Mann. »Danke, Corbin. Ich habe ja nur mein ganzes Erwachsenenleben auf Schiffen verbracht, habe also keine Ahnung, wie man die Temperatur einstellt, ohne Schaden anzurichten.«
»Meiner Meinung nach ist dieses Schiff auch so schon heiß genug.«
»Wenn jemand mit mir da drin gewesen wäre, hätte ich die Temperatur schon runtergeregelt. Mal ehrlich, wo ist das Problem?«
»Das Problem, Sissix, ist …«
»Stopp.« Sissix hob die Hand und blickte zwischen Corbin und Rosemary hin und her. »Wieso führst du sie herum?«
Corbin schob das Kinn vor. »Ashby hat mich darum gebeten. Ist schon in Ordnung.« Die Worte klangen unverbindlich, doch Rosemary hörte die gleiche Unaufrichtigkeit heraus, die sie auch bei der Ankunft in seinem Gesicht gesehen hatte. Wieder zog sich ihr Magen zu einem kalten Klumpen zusammen. Zehn Minuten auf dem Schiff, und schon gab es jemanden, der sie nicht leiden konnte. Großartig.
»Ach so«, sagte Sissix. Sie kniff die Augen zusammen, als würde sie über etwas nachdenken. »Ich mache ab hier gerne mit der Führung weiter, wenn du anderes zu tun hast.«
Corbin presste die Lippen zusammen. »Ich will ja nicht unhöflich sein, Rosemary, aber es gibt da tatsächlich ein paar Checks des Salzgehalts, mit denen ich lieber früher als später anfangen sollte.«
»Prima!«, sagte Sissix und legte Rosemary die Hand auf die Schulter. »Dann viel Spaß mit deinen Algen!«
»Ähm, es war nett, Sie kennenzulernen«, sagte Rosemary, während Sissix sie wegführte. Corbin verschwand bereits durch den Korridor. Der ganze Wortwechsel hatte sie verwirrt, doch sie freute sich über die offenkundig nettere Gesellschaft. Sie bemühte sich, Sissix nicht anzustarren – die Art, wie ihre nackten Füße sich beim Gehen krümmten und wie ihre Federn wippten. Alles an ihrer Art sich zu bewegen, faszinierte sie.
»Rosemary, ich möchte mich im Namen der Wayfarer-Crew entschuldigen«, sagte Sissix. »Wer in ein neues Zuhause kommt, hat eine bessere Begrüßung verdient als das, was Artis Corbin zu bieten hat. Bestimmt weißt du inzwischen alles über Notausgänge, aber nichts darüber, wer wir sind und was wir hier machen.«
Unwillkürlich lachte Rosemary. »Woher weißt du das?«
»Weil ich mit diesem Mann zusammenleben muss«, sagte Sissix. »Genau wie du. Aber zum Glück wirst du auch mit dem Rest von uns zusammenleben, und ich finde, wir sind eine echt gute Truppe.« Neben einer Stahltreppe, die sowohl durch die Decke als auch nach unten durch den Fußboden führte, blieb sie stehen. »Hast du überhaupt schon dein Zimmer gesehen?«
»Nein.«
Sissix verdrehte die Augen. »Na komm«, sagte sie und ging die Treppe hinauf, wobei sie darauf achtete, ihren Schwanz von Rosemarys Gesicht fernzuhalten. »Wenn ich weiß, wo ich wohne, geht es mir auf einem neuen Schiff immer gleich besser.«
Die Aandrisk hatte recht. Wie sich herausstellte, lag Rosemarys Zimmer in einer Ecke des obersten Decks. Das einzige Möbelstück war ein kastenförmiges Gestell, das in die hintere Wand eingelassen war und Schubfächer, einen winzigen Schrank und eine Nische beherbergte, in die genau eine Koje hineinpasste. Irgendjemand hatte sich aber bemüht, dem kargen Raum eine menschliche Note zu verleihen (oder die eines anderen denkenden Wesens, wie Rosemary vermutete). In der Koje lagen eine flauschige Decke und ein Haufen bunter Kissen, die eine ansonsten spartanische Pritsche in ein behagliches kleines Nest verwandelten. Die Vorhänge, die Kizzy erwähnt hatte, bestanden aus geblümten Stoff – nein, nicht geblümt, das waren Quallen. Für Rosemarys Geschmack war das Muster ein bisschen zu unruhig, aber mit der Zeit würde sie bestimmt Gefallen daran finden. An einer Wand stand in einem Hydro-Gefäß eine Pflanze mit tränenförmigen Blättern. Daneben hing ein Spiegel mit einem Zettel daran, auf dem in Druckbuchstaben stand: »WILLKOMMEN DAHEIM!« Es war der kleinste, schlichteste, bescheidenste Wohnraum, den Rosemary je gesehen hatte (die schmuddeligen Hotels in den Raumhäfen eingeschlossen). Trotzdem war er, unter den Umständen, perfekt. Sie hätte sich keinen besseren Ort für einen Neuanfang vorstellen können.
Tag 130, GU-Standard 306
Ashby rang sich, während Yoshi über Sib weiterfaselte, ein Lächeln ab. Er hatte den Typen noch nie besonders gut leiden können. Im Grunde war nichts gegen ihn einzuwenden, aber bei den Sternen, er redete einfach ohne Punkt und Komma. Die Besprechung mit dem Beförderungsministerium war sowieso nichts weiter als eine Formalität, eine verbale Bekräftigung, dass Ashby durch keinen Raum stoßen würde, in dem er nichts zu suchen hatte. Zwar wusste er selbst am allerbesten, dass er bei seinem Job höllisch aufpassen musste, doch Yoshi schaffte es jedes Mal, aus einem simplen »Hast du die Flugroute bekommen? Also dann, gute Reise« ein stundenlanges Gespräch zu machen.
Die Pixel, die Yoshi darstellten, flimmerten leicht – eine Folge des Signalverlusts. Yoshi schob die langen Ärmel zurück und rührte in seinem Mek – kaltem Mek, wie Ashby bemerkte, so, wie die Harmagianer ihn mochten. Ashby beherrschte sich gerade noch, über das einstudierte Theater nicht die Augen zu verdrehen. Der kalte Mek, die äluonisch inspirierte Kleidung, der aufgesetzte Zentrumsakzent, aus dem, wenn man sich auskannte, immer noch der marsianische Zungenschlag herauszuhören war. Wodurch sich eben der kleine Bürokrat verriet, der so tun wollte, als wäre er den mächtigen Spezies, unter denen er lebte, gleichgestellt. Ashby schämte sich nicht für seine Abstammung – ganz im Gegenteil –, aber ein Mensch mit offensichtlichen Anzeichen von Größenwahn irritierte ihn.
»Aber genug von mir«, sagte Yoshi und lachte. »Wie läuft es auf der Wayfarer? Ist mit Ihrer Crew alles in Ordnung?«
»Ja, bei uns ist alles bestens«, sagte Ashby. »Und seit heute sind wir sogar eine Person mehr.«
»Ach ja, die neue Verwaltungsassistentin! Ich wollte mich schon nach ihr erkundigen. Ist sie gut angekommen?«
»Genau genommen habe ich sie noch gar nicht kennengelernt. Vorhin habe ich ihre Kapsel andocken hören.«
»Ah, dann will ich Sie nicht zu lange aufhalten.« Ha. »Wissen Sie, Ashby – dass Sie eine Assistentin eingestellt haben, hat Ihnen beim Ministerium einige Pluspunkte eingebracht. Beim Tunneln waren Sie ja schon immer verlässlich, aber damit haben Sie gezeigt, dass Sie sich auch an die Verwaltungsvorschriften halten. Ein kluger Schachzug.«
»Eigentlich ist es einfach Pragmatismus. Ich brauche eine zusätzliche Kraft.«
Yoshi lehnte sich zurück. Sein Gesicht verschwamm, als er sich von der Sib-Kamera entfernte. »Sie sind jetzt schon eine ganze Weile mit Level-drei-Aufträgen beschäftigt. Haben Sie schon mal daran gedacht, eine Klasse höher einzusteigen?«
Ashby zog die Augenbrauen hoch. Yoshi war vielleicht größenwahnsinnig, aber inkompetent war er nicht. Er wusste ganz genau, dass die Wayfarer anspruchsvollere Aufträge gar nicht bewältigen könnte. »Klar, aber dafür sind wir nicht ausgerüstet«, sagte Ashby. Er konnte es sich auch gar nicht leisten. Sein Schiff war für die einfachen Flugbahnen von Einzeltransporten ausgestattet, die meist von einer Kolonie zur nächsten führten. Mit Tunneln für Frachten-Konvois konnte man zwar eine Menge Geld machen, aber für einen stabilen Korridor dieses Ausmaßes brauchte man eine anständige Ausrüstung. Soweit Ashby wusste, gab es kein Schiff in menschlichem Besitz, das solche Jobs ausführte.
»Das stimmt zwar, heißt aber trotzdem nicht, dass Sie sich Grenzen auferlegen sollten«, sagte Yoshi. Betont verstohlen warf er einen Blick über die Schulter, und Ashby unterdrückte erneut ein Augenrollen. Seines Wissens befand sich Yoshi allein in einem abgeschlossenen Raum. »Machen Sie sich darauf gefasst, dass demnächst ein interessanter Job auf Sie zukommt. Von den Dimensionen her wie gehabt, aber – nun ja, ein bisschen anders als sonst.«
Ashby beugte sich ein wenig vor. Es war schwierig, einem Menschen zu vertrauen, der das R bewusst nach Harmagianerart rollte, aber trotzdem würde er einen Hinweis von jemandem, der einen Posten beim Parlament hatte, nicht ignorieren. »Was denn für ein Job?«
»Ich bin nicht befugt, Ihnen zu verraten, worum genau es sich handelt«, erwiderte Yoshi. »Sagen wir einfach, der Auftrag ist etwas aufregender als das, woran Sie gewöhnt sind.« Er blickte Ashby in die Augen. Die Pixel flimmerten. »Von der Sorte, die einem den Weg ebnet.«
Ashby setzte ein, wie er hoffte, verschwörerisches Lächeln auf. »Das ist ziemlich vage.«
Yoshi schmunzelte. »Sie verfolgen doch die Nachrichten?«
»Jeden Tag.«
»Tun Sie das mal weiter, und zwar, sagen wir, während der nächsten fünf Tage. Fürs Erste zerbrechen Sie sich nicht weiter den Kopf. Kümmern Sie sich um Ihre Assistentin, bringen Sie morgen den Stoß hinter sich, und dann … dann werden Sie schon sehen.« Selbstgefällig nahm er einen Schluck von seinem kalten Getränk. »Glauben Sie mir. Sie werden es wissen, wenn es so weit ist.«
Tag 130, GU-Standard 306
Nachdem sie ihre beiden Gepäckstücke verstaut hatte (was Sissix’ Zustimmung fand – »mit leichtem Gepäck zu reisen, spart Treibstoff«), ging Rosemary hinter ihrer Führerin die Treppe hinunter. Ihr stach etwas ins Auge, etwas, das ihr auf dem Weg nach oben nicht aufgefallen war. Jede einzelne geriffelte Metallstufe war sorgsam mit einem dicken Streifen Teppichboden ausgelegt.
»Wofür ist das denn?«, fragte Rosemary.
»Hm? Ach, das ist meinetwegen. Damit ich nicht mit den Krallen in den Rillen hängen bleibe.«
Rosemary zuckte zusammen. »Autsch.«
»Das kannst du laut sagen. Vor ein paar Jahren, bevor Kizzy die Läufer verlegen ließ, habe ich mir eine Kralle glatt abgerissen. Und dabei gefiept wie ein Schlüpfling.« Sie trat auf das nächste Deck hinunter und wies mit einer Kopfbewegung zu den Türen. »Der Aufenthaltsraum ist da drüben. Sportgeräte, Spielkonsole, gemütliche Sofas und so. Auf der Konsole gibt es ein paar ganz gute Außensimulationen, in die du dich einklinken kannst. Alle sind angehalten, sie mindestens eine halbe Stunde pro Tag zu benutzen. Jedenfalls theoretisch. Man vergisst das leicht, aber es tut einem wirklich gut. Auf einer Langstrecke musst du dich um das hier« – sie tippte Rosemary an die Stirn – »am meisten kümmern.«
Sie gingen den Gang entlang, und Rosemary blieb stehen. »Kommt es mir nur so vor, oder wird es hier drin dunkler?«
Sissix lachte leise. »Du hast wohl wirklich noch nie im leeren Raum gelebt, was?«, fragte sie, klang dabei aber ganz freundlich. »In den Gängen und Gemeinschaftsräumen wird es im Lauf des Tages heller und dunkler. Das, was du gerade siehst, ist der Sonnenuntergang, oder jedenfalls eine Annäherung daran. Wenn man mehr Licht braucht, kann man in den einzelnen Räumen jederzeit die Arbeitslampen einschalten, aber die allgemeine Hintergrundbeleuchtung auf dem Schiff hilft uns, im Rhythmus zu bleiben.«
»Ihr haltet euch hier an den Standardtag, nicht wahr?«
Sissix nickte. »Standardtag, Standardkalender. Bist du noch auf Solarzeit?«
»Ja.«
»Lass es während deines ersten Tagzehnts langsam angehen. Die Umstellung kann einem ganz schön zusetzen. Aber offen gestanden, solange du deine Arbeit schaffst und weißt, welchen Tag wir haben, ist es egal, an welches Zeitschema du dich hältst. Wir stehen alle unterschiedlich spät auf und arbeiten zu den merkwürdigsten Zeiten. Besonders Ohan. Die sind Nachteulen.«
Rosemary hatte keine Ahnung, wer Ohan war und was Sissix mit dem Plural meinte, doch ehe sie fragen konnte, blickte Sissix mit einem Lächeln zu der vor ihnen liegenden Tür hinüber. »Du zuerst.«
An der Wand neben der Tür war ein gemaltes Schild angebracht. GOLDFISCHGLAS stand darauf. Die Buchstaben waren von lächelnden Planeten und fröhlichen Blumen eingerahmt. Rosemary war zwar neu auf dem Schiff, doch sie ahnte, dass das Schild Kizzys Werk war.