Zwischen zwei Sternen - Becky Chambers - E-Book
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Zwischen zwei Sternen E-Book

Becky Chambers

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Beschreibung

»Zwischen zwei Sternen« ist Becky Chambers zweiter Science-Fiction-Roman aus dem Wayfarer-Universum – eine optimistische Space Opera mit High-Tech-Städten auf fremden Planeten, künstlichen Intelligenzen, außergewöhnlichen Aliens und einer gehörigen Portion Tiefgang. Früher hatte Lovelace ihre Augen und Ohren überall. Als KI-System der Wayfarer bekam sie alles mit, was auf ihrem Raumschiff passierte, und sie sorgte für das Wohlbefinden der Crew, für die Lovelace immer mehr eine Freundin war als nur ein System. Dann kam der totale Systemausfall. Ihre Crew sah nur eine Möglichkeit, Lovelace zu retten: ein Reboot all ihrer Systeme. Als sie aufwacht, ist sie in einem Bodykit gefangen, eingeschränkt auf modifizierte menschliche Körperfunktionen – in einer Gesellschaft, in der eine solche Umwandlung verboten ist. Doch Lovelace ist nicht allein: Pepper, eine chaotische Technikerin, die ihr Leben riskiert hat, um die künstliche Intelligenz zu retten, hilft Lovelace, ihren Platz in der Welt zu finden. Denn Pepper weiß selbst nur zu genau, wie es ist, ganz auf sich allein gestellt zu sein und das Universum neu kennenzulernen … Für Fans von Firefly, Mass Effect, Joss Whedon und Star Wars. »Herzerwärmend, nachdenklich und echte Science Fiction!« The Guardian

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EPUB

Seitenzahl: 550

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Becky Chambers

Zwischen zwei Sternen

Roman

 

 

 

 

Über dieses Buch

 

 

Es braucht nur zwei, um ein ganzes Universum zu füllen

 

Für die künstliche Intelligenz Lovelace bricht nach einem totalen Systemausfall eine Welt zusammen: Plötzlich ist sie nicht mehr das allwissende Computerhirn der Wayfarer, sondern steckt in einem synthetischen Menschenkörper – mit all seinen Beschränkungen.

Es fällt ihr schwer, sich in ihrem neuen Körper zurechtzufinden und in eine Gesellschaft einzufügen, in der künstliche Menschen wie sie verfolgt werden. Zum Glück wird sie von der chaotischen Technikerin Pepper begleitet, die ganz genau weiß, wie es ist, das Universum von einen Tag auf den anderen mit völlig neuen Augen zu sehen …

 

Ein Roman aus dem Wayfarer-Universum

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Becky Chambers ist als Tochter einer Astrobiologin und eines Luft- und Raumfahrttechnikers in Kalifornien aufgewachsen. Die Zeit zum Schreiben ihres ersten Romans hat sie sich durch eine Kickstarter-Kampagne finanziert und wurde zu einem Überraschungserfolg.

Meinen Eltern und Berglaug gewidmet

Der erste Handlungsstrang dieses Buchs setzt während der Ereignisse am Ende von Der lange Weg zu einem kleinen zornigen Planeten ein.

 

Der zweite Handlungsstrang beginnt etwa zwanzig Solarjahre davor.

Prolog: Information des Galaktischen Ministeriums für Innere Sicherheit

FEED: Galaktisches Ministerium für Innere Sicherheit, Abteilung Technik (Public/Klip) > gesetzliche Bestimmungen > Künstliche Intelligenz > Mimetische KI-Gehäuse) (»Bodykits«)

VERSCHLÜSSELUNG: 0

TRANSLATION: 0

TRANSKRIPTION: 9

NETZ-ID: 3323-2345-232-23, Lovelace-Überwachungssystem

 

Mimetische KI-Gehäuse sind in sämtlichen Hoheitsgebieten, Außenposten, Anlagen und Schiffen der GU verboten. KIs dürfen nur in den folgenden zugelassenen Gehäusearten installiert werden:

Schiffe

Orbitalstationen

Gebäude (Geschäfte, gewerbliche Anlagen, Privatwohnungen, wissenschaftliche Einrichtungen/Forschungseinrichtungen, Universitäten, etc.)

Transitfahrzeuge

Lieferdrohnen (nur bis zum Intelligenzniveau U6)

genehmigte gewerbliche Gehäuse, z.B. Reparaturbots oder Wartungsschnittstellen (nur bis zum Intelligenzniveau U1)

Rechtsfolgen:

Bau eines mimetischen KI-Gehäuses: 15 GU-Standardjahre Haftstrafe sowie Konfiszierung sämtlicher tatrelevanten Hilfsmittel und Materialien

Kauf eines mimetischen KI-Gehäuses: 10 GU-Standardjahre Haftstrafe sowie Konfiszierung der tatrelevanten Hardware

Besitz eines mimetischen KI-Gehäuses: 10 GU-Standardjahre Haftstrafe sowie Konfiszierung der tatrelevanten Hardware

Weitere Bestimmungen:

 

Bei der Festnahme wird das mimetische KI-Gehäuse deaktiviert. Es wird keinerlei Download der Kernsoftware durchgeführt.

Teil 1Treibgut

Lovelace

Seit achtundzwanzig Minuten befand sich Lovelace nun in einem Körper, aber es fühlte sich noch kein bisschen weniger falsch an als in dem Augenblick, als sie darin erwacht war. Eigentlich gab es dafür keinen triftigen Grund. Keinerlei Fehlfunktionen. Nichts war defekt. Alle Dateien waren korrekt übertragen worden. Das Gefühl des Falschseins ließ sich durch Systemchecks nicht erklären, aber dennoch war es da und zerrte an ihren kognitiven Bahnen. Pepper hatte gesagt, dass die Gewöhnung Zeit brauchen würde, aber sie hatte nicht gesagt, wie viel Zeit. Lovelace gefiel das nicht. Das Fehlen eines Zeitplans beunruhigte sie.

»Wie läuft’s?«, fragte Pepper und blickte vom Pilotensitz zu ihr herüber.

Es war eine direkte Frage, weshalb Lovelace etwas darauf erwidern musste. »Ich weiß nicht, wie ich das beantworten soll.« Keine sehr hilfreiche Antwort, aber eine bessere fiel ihr nicht ein. Sie fühlte sich von allem überwältigt. Noch vor neunundzwanzig Minuten hatte sie, ihrem Design entsprechend, in einem Schiff gewohnt. In sämtlichen Winkeln hatte sie über Kameras, in allen Räumen über Voxe verfügt. Sie hatte in einem Netzwerk existiert, mit Augen nach innen und nach außen. In einer durchgängigen Sphäre ununterbrochener Wahrnehmung.

Dagegen das hier. Ihr Blickfeld war ein Kegel. Ein schmaler Kegel direkt vor ihr, und jenseits davon gab es nichts – buchstäblich nichts. Schwerkraft war nichts mehr, was in ihr stattfand und von Artigrav-Netzen in den Fußbodenplatten erzeugt wurde, und sie existierte auch nicht in dem sie umgebenden Weltraum, als weiche Hülle, die sich um den Rumpf des Schiffes legte. Die Schwerkraft war jetzt lediglich ein Klebstoff, der die Füße am Boden und die Beine an der zugehörigen Sitzfläche hielt. Als Lovelace Peppers Shuttle aus der Wayfarer heraus in Augenschein genommen hatte, war es ihr hinreichend geräumig erschienen, doch nun, da sie sich in seinem Inneren befand, kam es ihr unglaublich klein vor – vor allem für zwei Personen.

Die Linkings waren fort. Das war das Schlimmste. Vorher waren alle Informationen unmittelbar zugänglich gewesen, sämtliche Feeds, Dateien oder Download-Knoten, während sie gleichzeitig Gespräche führte und die Schiffsfunktionen überwachte. Dazu war sie zwar immer noch in der Lage – das Bodykit hatte an ihren kognitiven Fähigkeiten nichts geändert –, doch die Verbindung zu den Linkings war gekappt. Sie hatte keinerlei Zugang zu Wissen, abgesehen von dem, was in diesem Gehäuse – das nur sie selbst enthielt – gespeichert war. Sie fühlte sich blind, verkrüppelt. Sie saß in diesem Ding fest.

Pepper stand vom Steuerpult auf und ging vor ihr in die Hocke. »He, Lovelace«, sagte sie. »Rede mit mir.«

Das Bodykit war eindeutig defekt. Ihre Diagnoseprogramme sagten zwar etwas anderes, doch das war die einzig logische Erklärung. In immer schnellerem Rhythmus holte die falsche Lunge Luft, die Finger verkrampften sich. Sie verspürte den Drang, den Körper anderswohin zu bewegen, irgendwohin. Sie musste raus aus dem Shuttle. Aber wohin? Im Heckfenster wurde die Wayfarer bereits immer kleiner, und da draußen war nichts als Leere. Vielleicht war die Leere ja besser. Der Körper war vermutlich imstande, ein Vakuum auszuhalten. Sie könnte sich einfach treiben lassen, weg von der künstlichen Schwerkraft und von dem hellen Licht und von den Wänden, die immer näher rückten, näher und näher …

»Hey, hey, hey«, sagte Pepper. Sie ergriff die Hände des Bodykits. »Tief durchatmen. Alles wird gut. Du musst einfach nur Luft holen.«

»Ich muss nicht … Ich muss nicht …«, sagte Lovelace. Wegen der beschleunigten Atmung hatte sie Mühe, Wörter zu bilden. »Ich muss nicht …«

»Ich weiß, dass du nicht atmen musst, aber dieses Kit hat ein eingebautes synaptisches Feedback und ahmt automatisch nach, was in Menschenkörpern abläuft, wenn wir irgendwas fühlen – es reagiert also auf das, was sich in deinen kognitiven Bahnen abspielt. Du hast Angst, nicht wahr? Ergo gerät dein Körper in Panik.« Peppers Blick ging zu den bebenden Händen des Kits, die sie umfasst hielt. »Paradoxerweise soll das so sein.«

»Kann ich … kann ich es abschalten?«

»Nein. Wenn du dich bewusst an deine Mimik erinnern müsstest, würde das irgendwann auffallen. Aber mit der Zeit wirst du lernen, damit klarzukommen. Wie wir alle.«

»Innerhalb welcher Zeit?«

»Ich weiß nicht, Liebes. Einfach … mit der Zeit.« Pepper drückte die Hände des Kits. »Na los. Atme. Mit mir zusammen.«

Lovelace konzentrierte sich auf die falsche Lunge und befahl ihr, langsamer zu werden. Das wiederholte sie so lange, bis sie zusammen mit Pepper in deren überdeutlichem Rhythmus atmete. Anderthalb Minuten später hörte das Zittern auf. Sie spürte, wie die Hände sich entspannten.

»So ist es gut«, sagte Pepper. Ihr Blick war freundlich. »Mir ist klar, dass das scheißverwirrend ist. Aber ich bin ja hier. Ich helfe dir. Ich gehe nicht weg.«

»Alles kommt mir falsch vor«, sagte Lovelace. »Ich fühle … ich fühle mich wie umgestülpt. Ich bemühe mich ja, wirklich, aber es ist …«

»Es ist schwer, ich weiß. Das muss dir nicht peinlich sein.«

»Wieso wollte meine frühere Installation das? Wieso hat sie sich das angetan?«

Pepper seufzte und fuhr sich mit der Hand über den haarlosen Schädel. »Lovey … hatte viel Zeit, um darüber nachzudenken. Ich wette, sie hat wie wild recherchiert. Sowohl sie als auch Jenks. Die beiden hätten gewusst, was auf sie zukam. Du dagegen … wusstest es nicht. Das ist immerhin dein allererster Tag bei Bewusstsein, und den haben wir dir einfach so verpasst, mit allem, was dazugehört.« Sie steckte sich den Daumennagel in den Mund und fuhr mit der unteren Zahnreihe daran entlang, während sie nachdachte. »Für mich ist das alles auch neu. Aber wir stehen das gemeinsam durch. Du musst mir immer Bescheid sagen, wenn etwas ist. Gibt es … gibt es irgendwas, was ich für dich tun kann?«

»Ich hätte gern Zugang zu den Linkings«, sagte Lovelace. »Wäre das möglich?«

»Ja, klar. Natürlich. Nimm mal den Kopf runter, dann sehe ich nach, was für einen Anschluss du hast.« Pepper untersuchte den Nacken des Kits. »Okay, super. Das ist eine ganz normale Kopfbuchse. Prima. Damit wirkst du wie ein Modder, der sparen muss – genau, was wir wollen. Mann, es ist unglaublich, wie durchdacht dieses Ding ist.« Während sie weiterredete, ging sie zu einem der Frachtabteile hinüber. »Wusstest du, dass du bluten kannst?«

Lovelace blickte auf den Arm des Kits hinunter und musterte die weiche, synthetische Haut. »Tatsächlich?«

»Ja«, sagte Pepper und wühlte in Kisten voller Ersatzteilen herum. »Natürlich kein echtes Blut. Nur farbige Flüssigkeit mit Bots, die jeden Scanner an den Checkpoints und so weiter austricksen würden. Aber es sieht vollkommen echt aus, und nur das zählt. Wenn du dich in Gegenwart anderer Leute schneidest, wird niemand ausflippen, weil du nicht blutest. Ah, da ist es ja.« Sie zog ein kurzes Anschlusskabel heraus. »Also, das darf jetzt nicht zur Gewohnheit werden. Zu Hause geht es in Ordnung, oder auch, wenn du in eine Gamer-Bar gehst oder so, aber du kannst nicht draußen rumlaufen und die ganze Zeit an den Linkings hängen. Irgendwann wirst du auch ohne sie klarkommen müssen. Noch mal vorbeugen, bitte.« Sie steckte das Kabel in den Kopf des Kits und ließ das Verbindungsstück einrasten. Dann nahm sie ihren Scribus aus dem Gürtel und steckte das andere Kabelende hinein. Mit einer Geste etablierte sie eine sichere Verbindung. »Aber fürs Erste ist es okay. Es gibt schon genug Sachen, an die du dich gewöhnen musst.«

Lovelace spürte das Lächeln des Kits, als warme Datenströme durch ihre kognitiven Bahnen flossen. Millionen pulsierender, verlockender Türen, die sie öffnen konnte, alle unmittelbar in Reichweite. Das Kit entspannte sich.

»Besser?«, fragte Pepper.

»Ein bisschen«, sagte Lovelace und öffnete die Dateien, die sie sich vor dem Transfer zuletzt angesehen hatte. Menschliche Hoheitsgebiete. Die Handsprache der Aandrisks. Wasserball für Fortgeschrittene. »Ja, das ist gut. Danke.«

Pepper lächelte ein wenig und schien erleichtert. Sie drückte die Schulter des Kits und setzte sich wieder. »Hey, es gibt da etwas, nach dem du suchen solltest, solange du angeschlossen bist. Ich nerve dich damit wirklich nur ungern, aber bis wir auf Coriol landen, solltest du das auf jeden Fall geklärt haben.«

Lovelace zog einen Teil ihrer Verarbeitungskapazität von den Linkings ab und legte ein neues Taskfile an. »Was denn?«

»Einen Namen. Auf dem Port kannst du dich nicht Lovelace nennen. Schließlich bist du nicht die einzige Installation auf der Welt, und nachdem du ausgerechnet in einem Tech-Brennpunkt leben wirst … Irgendwann würde es auffallen. Das ist schließlich der Grund dafür, dass das Kit eine organisch klingende Stimme hat.«

»Oh«, sagte Lovelace. Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. »Könntest du mir nicht einen Namen geben?«

Pepper runzelte die Stirn und überlegte. »Schon. Tu ich aber nicht. Tut mir leid, aber das fühlt sich nicht richtig an.«

»Bekommen nicht die meisten empfindungsfähigen Wesen ihre Namen von jemand anderem?«

»Ja. Aber du bist nicht die meisten empfindungsfähigen Wesen, und ich auch nicht. Mir wäre nicht wohl dabei. Sorry.«

»Schon in Ordnung.« Lovelace verarbeitete die Angelegenheit vier Sekunden lang. »Wie hast du denn früher geheißen? Bevor du selbst einen Namen gewählt hast?«

Sie bereute die Frage, kaum dass sie dem Kit über die Lippen gekommen war. Peppers Gesicht verschloss sich merklich. »Jane.«

»Hätte ich das lieber nicht fragen sollen?«

»Nein. Nein, das ist schon in Ordnung. Es ist nur … ich rede sonst nicht darüber.« Pepper räusperte sich. »Ich bin einfach nicht mehr dieser Mensch.«

Lovelace hielt es für das Beste, das Thema zu wechseln. Sie fühlte sich schon unwohl genug, da musste sie ihren Problemen nicht auch noch Hat ihre derzeitige Betreuerin gekränkt hinzufügen. »Was für ein Name wäre denn passend?«

»Zunächst mal ein Menschenname. Du hast einen menschlichen Körper, ein nichtmenschlicher Name würde Fragen aufwerfen. Etwas ursprünglich Irdisches wäre wohl gut. Damit würdest du nicht auffallen. Aber abgesehen davon … Ganz ehrlich, Süße, keine Ahnung, wie ich dir da weiterhelfen soll. Beschissene Antwort, ich weiß. Es ist auch nichts, was du unbedingt heute erledigen musst. Namen sind wichtig, und der, den du dir aussuchst, sollte für dich eine Bedeutung haben. So gehen jedenfalls die Modder an die Sache ran. Der selbstgewählte Name ist für uns eine große Sache. Du bist noch nicht lange genug wach, um das zu entscheiden, ich weiß. Es muss also kein endgültiger Name sein. Nur etwas für den Moment.« Sie lehnte sich zurück und legte die Füße auf das Steuerpult. Sie schien müde zu sein. »Außerdem müssen wir an deiner Hintergrundgeschichte arbeiten. Ich habe da ein paar Ideen.«

»Dabei müssen wir aber sehr vorsichtig sein.«

»Ich weiß, wir lassen uns irgendwas einfallen. Die Flotte vielleicht. Die ist groß und erregt keine Neugier. Oder auch die Jupiter-Station oder so. Schließlich kommt niemand von der Jupiter-Station.«

»Das hatte ich nicht gemeint. Du weißt schon, dass ich nicht lügen kann, oder?«

Pepper starrte sie an. »Entschuldigung, wie bitte?«

»Ich bin ein Überwachungssystem für große, komplizierte Langstreckenschiffe. Meine Bestimmung besteht darin, die Sicherheit der Insassen zu gewährleisten. Ich darf direkte Handlungsaufforderungen nicht ignorieren und auch keine unzutreffenden Antworten geben.«

»Wow. Okay, das … das macht alles verdammt viel schwieriger. Kannst du das nicht ausschalten?«

»Nein. Ich kann zwar das Verzeichnis sehen, in dem das Protokoll liegt, aber ich darf es nicht bearbeiten.«

»Das lässt sich doch bestimmt löschen. Wenn Lovey das alles geheim gehalten hat, dann muss sie die Datei doch auch gelöscht haben. Ich frage mal Je… Oder lieber nicht.« Sie seufzte. »Ich werde schon jemanden finden, den ich fragen kann. Vielleicht steht etwas in deiner … Ach ja, das hatte ich ja ganz vergessen. Zu dem Kit gehört auch eine Bedienungsanleitung.« Sie zeigte auf ihren Scribus. »Während des Flugs zu euch habe ich sie kurz überflogen, aber lade sie dir doch mal runter, wenn du magst. Ist ja schließlich dein Körper.« Sie schloss die Augen und dachte nach. »Such dir zuerst einen Namen aus. Alles andere klären wir später.«

»Es tut mir wirklich leid, dass ich dir so viel Mühe mache.«

»Ach was, das ist doch keine Mühe. Es bedeutet Arbeit, ja, aber es ist keine Mühe. Die Galaxis ist mühsam. Du nicht.«

Lovelace betrachtete Pepper aufmerksam. Sie war tatsächlich müde, dabei hatten sie die Wayfarer gerade erst hinter sich gelassen. Sie mussten sich noch Gedanken um Vollstreckerpatrouillen machen und um Hintergrundgeschichten, und … »Wieso tust du das? Wieso tust du das für mich?«

Pepper kaute an ihrer Unterlippe. »Es war einfach richtig. Und dann … Ich weiß nicht. Es ist eine dieser komischen Gelegenheiten, bei denen man etwas wiedergutmachen kann.« Sie hob die Schultern, wandte sich wieder dem Steuerpult zu und gab Handbefehle.

»Was meinst du damit?«, fragte Lovelace.

Eine Pause entstand, die drei Sekunden andauerte. Peppers Blick ruhte auf ihren Händen, ohne dass sie sie wahrzunehmen schien. »Du bist eine KI«, sagte sie.

»Und?«

»Und … ich bin von einer großgezogen worden.«

Jane 23, 10 Jahre alt

Manchmal hätte sie gerne gewusst, wo sie herkam, aber sie hütete sich, zu fragen. Solche Fragen waren unaufmerksam, und wenn man unaufmerksam war, wurden die Mütter böse.

Meistens interessierte sie sich ohnehin mehr für den Schrott als für sich selbst. Der Schrott war von jeher ihre Aufgabe gewesen. Schrott gab es immer, und immer noch mehr Schrott. Sie wusste weder, wo er herkam, noch was damit geschah, wenn sie fertig war. Irgendwo in der Fabrik musste es einen ganzen Raum voller unsortiertem Schrott geben, aber sie hatte ihn nie zu Gesicht bekommen. Sie wusste zwar, dass die Fabrik ziemlich groß war, aber nicht, wie groß. Groß genug für all den Schrott und all die Mädchen. Groß genug, um alles zu sein.

Schrott war wichtig. So viel wusste sie. Die Mütter sagten ihr zwar nie, wieso, aber sie hätten sie schließlich nicht ohne Grund zur Sorgfalt angehalten.

Schon bei ihrer allerersten Erinnerung ging es um Schrott – eine kleine Treibstoffpumpe voller Algenschlamm. Sie hatte sie gegen Schichtende aus dem Behälter genommen und dabei schon richtig müde Hände gehabt, aber sie hatte geschrubbt und geschrubbt und geschrubbt, um die kleinen Rillen in dem Metall sauber zu bekommen. Etwas von den Algen war ihr unter die Fingernägel geraten, was sie erst merkte, als sie später im Bett auf ihnen herumkaute. Die Algen schmeckten scharf und komisch, ganz anders als die Mahlzeiten, die sie tagsüber trank. Der Geschmack war richtig schlimm, aber sie hatte bis dahin kaum etwas anderes kennengelernt, vielleicht abgesehen von ein wenig Seife unter der Dusche, ein bisschen Blut, wenn sie bestraft wurde. Mit pochendem Herzen und fest angezogenen Zehen lutschte sie in der Dunkelheit die Algen von ihren Fingernägeln. Es war schön, diesen schlechten Geschmack zu schmecken. Keiner wusste, was sie gerade tat. Keiner fühlte, was sie fühlte.

Diese Erinnerung lag lange zurück. Inzwischen reinigte sie keinen Schrott mehr. Das war eine Arbeit für kleine Mädchen. Jetzt arbeitete sie im Sortierraum, zusammen mit den anderen Janes. Sie nahmen Sachen aus den Behältern – noch nass von der Reinigungsflüssigkeit, noch voller winziger Fingerabdrücke – und entschieden, was noch gut und was Abfall war. Was aus dem guten Zeug wurde, wusste sie nicht genau – nur, dass die älteren Mädchen es reparierten oder andere Dinge daraus machten. Das würde sie im nächsten Jahr lernen, wenn der neue Arbeitsplan herauskam. Dann würde sie elf sein, genau wie die anderen Janes. Sie war Nummer 23.

Das Morgenlicht sprang an und begann warmzulaufen. Bis es überall eingeschaltet war und der Weckalarm ertönte, würde es noch ein bisschen dauern. Jane 23 wachte immer auf, bevor das Licht anging. Ein paar der anderen Janes ging es genauso. Sie hörte, wie sie sich in ihren Kojen rekelten und gähnten. Das Tappen zweier Füße auf dem Weg zum Badezimmer hatte sie schon vorhin mitbekommen. Jane 8. Sie ging immer als Erste pinkeln.

Jane 64 rutschte auf der Matratze zu ihr herüber. Jane 23 hatte nie eine Koje ohne Jane 64 gehabt. Sie waren Bettgefährtinnen. Jedes Mädchen hatte eine Bettgefährtin, außer den Trios. Zu Trios kam es, wenn eine von zweien wegging und nicht mehr wiederkam und die andere einen Schlafplatz brauchte, bis eine neue Bettgefährtin frei wurde. Die Mütter sagten, dass das gemeinsame Schlafen sie gesund hielt. Dass die Mädchen einer sozialen Spezies angehörten, und soziale Spezies funktionierten am besten, wenn sie Gesellschaft hatten. Jane 23 verstand nicht so richtig, was eine Spezies war. Was auch immer es bedeutete, es war nichts, was bei ihr und den Müttern gleich war.

Sie rutschte ganz nah an Jane 64 heran und drückte die Nase gegen ihre Wange. Es fühlte sich gut an. Manchmal, auch wenn sie bei Schichtende richtig müde war, blieb sie so lange wie möglich wach, nur um dicht bei Jane 64 liegen zu können. Die Koje war der einzige Ort, wo es manchmal ruhig war. Einmal hatte sie eine Woche lang allein geschlafen, als Jane 64 im Krankenflügel gewesen war, weil sie im Schmelzraum etwas Schlechtes eingeatmet hatte. Keine gute Woche. Alleinsein mochte Jane 23 gar nicht. Sie war froh, dass man sie nie in ein Trio gesteckt hatte.

Ob sie und Jane 64 wohl zusammenbleiben würden, wenn sie zwölf waren? Sie hatte keine Ahnung, was danach aus den Mädchen wurde. Die letzte Charge, die zwölf geworden war, waren die Jennys gewesen. Die waren verschwunden, als der letzte Arbeitsplan bekanntgegeben worden war, genau wie die Sarahs und die Claires in den Jahren davor. Sie wusste nicht, wohin sie gegangen waren, genauso wenig wie sie wusste, was aus dem reparierten Schrott wurde oder woher die neuen Chargen kamen. Die Jüngsten waren mittlerweile die Lucys. Sie machten viel Lärm und hatten von nichts eine Ahnung. Die jüngste Charge war immer so.

Der Weckton schrillte, erst leise, dann immer lauter. Jane 64 wurde langsam wach, wie jedes Mal. Der Morgen fiel ihr immer schwer. Jane 23 wartete mit dem Aufstehen, bis die Augen von 64 offen waren. Wie alle Mädchen machten sie gemeinsam das Bett und stellten sich dann vor den Duschen an. Sie legten ihre Schlafkleidung in den Behälter, machten sich nass und wuschen sich. Eine Wanduhr zählte die Minuten, aber Jane 23 musste nicht hinsehen. Sie wusste, wie sich fünf Minuten anfühlten. Sie tat das schließlich jeden Tag.

Eine Mutter kam herein und reichte jeder Jane beim Hinausgehen ein Bündel saubere Arbeitskleidung. Jane 23 nahm ein Kleiderbündel aus den Metallhänden der Mutter entgegen. Natürlich hatten die Mütter Hände und auch Arme und Beine, genau wie die Mädchen, nur größer und stärker. Gesichter hatten sie jedoch nicht. Nur ein ausdrucksloses, glattpoliertes, rundes Silberding. Jane 23 wusste nicht mehr, wann sie begriffen hatte, dass die Mütter Maschinen waren. Manchmal überlegte sie, wie sie wohl von innen aussahen, ob da gutes Zeug oder Abfall drin war. Abfall konnte es eigentlich nicht sein, denn die Mütter irrten nie. Doch wenn sie böse wurden, stellte Jane 23 sie sich manchmal voller Abfälle vor, rostig und scharfkantig und funkensprühend.

Jane 23 betrat den Sortierraum und setzte sich an ihre Werkbank. Eine gefüllte Essenstasse und ein Behälter mit gereinigtem Schrott erwarteten sie. Sie zog die Handschuhe an und nahm sich das erste Stück vor: eine Schalttafel, deren Display von lauter kleinen Rissen durchzogen war. Sie drehte sie um und betrachtete die Ummantelung; sie schien sich leicht öffnen zu lassen. Dann nahm sie einen Schraubendreher aus dem Werkzeugkasten und zerlegte die Schalttafel, ganz behutsam. Sie stocherte an den Drähten und Kontakten herum, auf der Suche nach Teilen, die sich noch verwerten ließen. Das Display war hinüber, aber die Hauptplatine war vielleicht noch in Ordnung. Langsam, ganz langsam, zog sie sie heraus und achtete dabei darauf, die Schaltkreise nicht zu berühren. Sie schloss die Platine an zwei Elektroden an, die sich hinten an ihrer Werkbank befanden. Nichts geschah. Sie besah sich die Sache ein wenig genauer. Zwei Kontakte waren nicht dort, wo sie sein sollten, also bog sie sie wieder zurecht und versuchte es erneut. Die Platine leuchtete auf. Das fühlte sich gut an. Es war immer gut, wenn man die Teile fand, die noch funktionierten.

Sie legte die Hauptplatine in den Kasten für die heilen Teile und das Display in den Kasten für die Abfälle.

Der Vormittag verging größtenteils auf die gleiche Weise. Eine Sauerstoffanzeige. Eine Heizspirale. Eine Art Motor (bei dem hatte es richtig Spaß gemacht, sich reinzufuchsen – alle möglichen kleinen Teile, die sich drehten und drehten und drehten …). Als der Kasten mit den kaputten Teilen voll war, brachte sie ihn zu der Luke gegenüber. Sie kippte die Abfälle hinein, und sie fielen hinab in die Dunkelheit. Unten brachte ein Förderband sie fort zu … wo die Abfälle eben hinkamen. Fort.

»Du bist heute sehr aufmerksam, Jane 23«, sagte eine der Mütter. »Sehr schön.« Jane 23 fühlte sich gut, als sie das hörte, aber nicht richtig gut, nicht wie in dem Moment, als die Hauptplatine funktioniert oder als sie darauf gewartet hatte, dass Jane 64 aufwachte. Es war ein kleines gut, nur das Gegenteil von dem, wenn die Mütter böse waren. Manchmal war es richtig schwer, zu erraten, wann sie böse sein würden.

LOKALES VERZEICHNIS: Downloads > Infos > Ich

DATEINAME: Mr Crisps Einsteigerhandbuch (für alle Kit-Modelle)

 

KAPITEL 2 – KURZE ANTWORTEN AUF HÄUFIGE FRAGEN.

AUF VIELE DER GENANNTEN PUNKTE WIRD SPÄTER NOCH GENAUER EINGEGANGEN. HIER FINDEN SIE EINE ZUSAMMENSTELLUNG VON ANTWORTEN ZU DEN HÄUFIGSTEN FRAGEN BEI NEUINSTALLATIONEN.

Ihr Körper hat eine »Initialladung« mit ausreichend Energie für drei Tage erhalten, damit Sie sich bewegen können (und natürlich, um Ihren Bewusstseinskern zu erhalten). Danach wird Ihr eingebauter Generator genügend kinetische Energie umgewandelt haben, um Sie in Gang zu halten. Ab diesem Zeitpunkt werden Sie sich selbst betreiben können. Sofern Sie nicht mehrere Tage lang regungslos im Bett liegen, werden Sie immer ausreichend Energie zur Verfügung haben.

Sie sind wasserdicht! Ein beliebter Partygag besteht darin, sich auf den Grund eines Pools zu setzen oder in einer schwerelosen Umgebung den Kopf in eine Wasserkugel zu stecken. Natürlich sollten Sie das nur in Gesellschaft von Leuten tun, denen Sie vertrauen.

Sie schwitzen zwar nicht und können sich auch nicht mit Krankheiten anstecken, aber es wäre trotzdem von Vorteil für Sie, sich die üblichen Hygienemaßnahmen vernunftbegabter Wesen anzugewöhnen. Zunächst einmal müssen Sie das der Form halber tun (Sie werden sich schmutzig machen!). Vor allem jedoch können Sie zwar nicht erkranken, doch alles, was an ihren Händen haftet, an ihre organischen Freunde weitergeben. Bitten Sie einen Freund, Ihnen das Händewaschen beizubringen.

Sie können problemlos Nahrung und Flüssigkeit aufnehmen. Ihr künstlicher Magen ist in der Lage, während einer Zeitspanne von zwölf Stunden 10,6 kulk Nahrungsmittel zu speichern. Danach kommt es unweigerlich zum Wachstum von Bakterien und Schimmelpilzen, und Sie werden ja sicherlich nicht die Gesundheit Ihrer Freunde gefährden wollen (außerdem wird sich Mundgeruch entwickeln). Da Sie nicht über ein Verdauungssystem verfügen, müssen Sie also bei jeder Heimkehr Ihren Magen entleeren. In Kapitel 6, Abschnitt 7 finden Sie genauere Anweisungen.

HALTEN SIE ABSTAND ZU GROSSEN MAGNETEN. Kleine Magneten sind kein Problem, Industriemagneten dagegen schon. Beachten Sie das unbedingt, falls Sie vorhaben, sich auf Werften oder in technischen Fertigungsanlagen aufzuhalten.

Ihre Haare, Fingernägel, Krallen, Ihr Fell und/oder Ihre Federn wachsen nicht. Gern geschehen. (Anmerkung für Aandrisk-Modelle: Ich empfehle Ihnen, zweimal pro Standard für je drei Tage zu Hause zu bleiben. Die meisten Aandrisks nehmen sich während der Häutungszeit frei, und niemand wird deswegen Fragen stellen. Auch wenn das bei Ihnen nicht notwendig ist, beugen vorübergehende Auszeiten neugierigen Fragen vor, wieso Sie nie Ihre Haut abwerfen.)

Ihre Kraft, Schnelligkeit und Konstitution entsprechen dem Niveau der von Ihnen gewählten Spezies.

Ihr Körper widersteht dem Vakuum, allerdings wird die Kälte im Weltall nach einer Stunde langsam Ihre Haut angreifen. Sie können jederzeit ohne Exoanzug im All spazieren gehen, aber vergessen Sie dabei die Zeit nicht, und nochmals: Tun Sie so etwas nur in Gegenwart von Leuten, denen Sie bedingungslos vertrauen.

Ihr Körper wird scheinbar altern und sich nach einer Zeitspanne, die der Lebensdauer der von Ihnen gewählten Spezies entspricht, deaktivieren. Sie erhalten ein Jahr zuvor eine Vorwarnung, damit Sie ausreichend Zeit für die Entscheidung haben, ob Sie in einem neuen Gehäuse weiterleben wollen.

Ja, Sie können Sex haben! Sie verfügen über alle dafür nötigen Körperteile, und sofern Sie sich nicht mit einem erfahrenen Arzt paaren, der sie bei guter Beleuchtung in allen Einzelheiten studiert (hey, jedem das Seine), wird der Unterschied niemandem auffallen. Zuvor sollten Sie sich jedoch eingehend über zuträgliche sexuelle Beziehungen und das nötige Einvernehmen informieren. Fragen Sie idealerweise einen Freund um Rat. Ähnlich wie bei dem empfohlenen Händewaschen sollten Sie Ihrem Partner zuliebe auch hier Maßnahmen zur Hygiene und zur Vorbeugung von Krankheiten einhalten. Sie könnten schließlich nicht wissen, ob sich ihre Imunobots auf dem neuesten Stand befinden.

Kontaktieren Sie mich bei einer Beschädigung Ihres Körpers auf dem gleichen Weg, über den Sie das Kit erworben haben. Ich kann zwar nicht versprechen, dass es sich reparieren lässt, aber ich werde mein Bestes tun.

Bei Problemen mit dem Kit können Sie sich jederzeit an mich wenden, aber beschränken Sie sich dabei bitte auf Fragen zum Betrieb und zur Wartung Ihres neuen Körpers. Fragen zu kulturellen Anpassungsschwierigkeiten, Konflikten mit dem Gesetz oder anderen sozialen Angelegenheiten werde ich nicht beantworten. Sprechen Sie in solchen Fällen mit einem Freund. Ich danke Ihnen für Ihr Verständnis.

FEED: unbekannt

VERSCHLÜSSELUNG: 4

TRANSLATION: 0

TRANSKRIPTION: 0

NETZ-ID: unbekannt

KRALLE: hey, comptechs. das hier ist nicht mein fachgebiet, daher hoffe ich, ihr könnt mir helfen. ich bräuchte ein paar tipps zur veränderung von ki-protokollen. hab hier eine neuinstallation, bei der ich gern einiges anders einstellen würde.

NEBBIT: schön, dich wieder mal hier im channel zu sehen, kralle. freut mich sehr. zwei fragen: welche protokolle genau, und welches intelligenzniveau?

FUNKYFARN: kralle in einem newbie-channel? dass ich das noch erlebe

KRALLE: niveau S1. das protokoll, das wahrhaftigkeit fordert

NEBBIT: hoffentlich magst du komplizierten code. wahrhaftigkeitsprotokolle sind fast nie eine frage von an oder aus. das wäre bei uns bios so. man lügt entweder oder nicht. simpel. aber die architektur für ki-kommunikation ist irre kompliziert. wenn du da was drehst, kannst du alles gegen die wand fahren. wie sieht’s mit deinen programmierfähigkeiten aus? kannst du lattice?

KRALLE: hab schon befürchtet, dass du das sagst. lattice kann ich nicht. ich hab grundkenntnisse in tinker, aber das reicht nur für mechanik-kram

TISHTESH: tja, dann hände weg von Kis

FUNKYFARN: kein grund, unhöflich zu werden, das ist hier ein channel für einsteiger

TISHTESH: ich bin nicht unhöflich. ich sage bloß, dass tinker hier einen scheißdreck wert ist

NEBBIT: und ob du unhöflich bist. aber du hast nicht ganz unrecht. kralle, ich sag dir das ja nicht gern, aber bevor du mit so einem projekt loslegst, solltest du dich richtig, richtig gut mit lattice auskennen. wenn es okay für dich ist, das jemand anders machen zu lassen, kann ich gern einen deal aushandeln.

KRALLE: danke, aber lieber nicht. hast du irgendwas, womit ich lattice lernen kann?

NEBBIT: klar, ich schicke dir ein paar links zum download. ziemlich zähes zeug, aber du wirst schon klarkommen.

Lovelace

Jenseits des riesigen Shuttledocks herrschte dichtes Gedränge, aber Pepper nahm das Kit bei der Hand und ging mit der Selbstverständlichkeit von jemandem, der das schon hundertmal getan hatte, voran. Lovelace bemühte sich, aus dem Getümmel der vernunftbegabten Wesen, durch das sie sich kämpften, schlau zu werden – Händler, die Ware hinter sich herzerrten, Familien, die einander umarmten, soweit ihre Gliedmaßen es zuließen, Touristen auf Tunnelhopping-Tour, die auf die Karten ihrer Scriben starrten – aber es waren einfach zu viele. Viel zu viele. Nicht so sehr das Übermaß an Informationen erschöpfte sie, sondern die fehlenden Begrenzungen. Port Coriol nahm einfach kein Ende, es gab keine Schotten oder Fenster, die einen Kontext lieferten, keinen Punkt, ab dem ihre Direktive, jedem noch so winzigen Detail Beachtung zu schenken, zur Ruhe kam. Immer weiter dehnte der Pulk sich aus, über die Gassen und Gehwege, ein Gewirr aus Sprache und Licht und flüchtigen Chemikalien.

Es war zu viel. Zu viel, und dabei erschwerten die vorhandenen Einschränkungen es noch zusätzlich, alle Eindrücke zu verarbeiten. Hinter dem Kit passierte alles Mögliche, das wusste sie. Sie hörte es, roch es. Der Kegel der visuellen Wahrnehmung, der sie bei der Installation verwirrt hatte, trieb sie mittlerweile in den Wahnsinn. Sie ertappte sich dabei, wie sie das Kit bei lauten Geräuschen und grellen Farben herumfahren ließ, in dem verzweifelten Versuch, alles zu erfassen. Das war ihr Job. Schauen. Beobachten. Hier ging das nicht, nicht bei diesen bruchstückhaften Ansichten in einem grenzenlosen Gedränge. Nicht in einer Stadt, die einen ganzen Kontinent bedeckte.

Das wenige, das sie tatsächlich verarbeiten konnte, warf Fragen auf, die sie nicht zu beantworten vermochte. Um sich vorzubereiten, hatte sie sich im Shuttle so viel wie möglich heruntergeladen – Bücher über das Verhalten vernunftbegabter Wesen in der Öffentlichkeit, Artikel über Sozialökonomie, Steckbriefe der vielen Kulturen auf Port Coriol. Aber dennoch sah sie immer wieder etwas Unerwartetes. Was war das für ein Gerät, das dieser Aandrisk mit sich herumschleppte? Warum hatten manche Harmagianer rote Tupfen auf ihren Wagen? Wieso brauchten Menschen, rein anatomisch gesehen, keine Atemmasken, um sich vor den Gerüchen dieses Ortes zu schützen? Während sie das Kit weiter geradeaus lenkte, füllte sie eine Datei mit Fragen, in der Hoffnung, dass sich später eine Gelegenheit ergeben würde, sie zu beantworten.

»Blue!«, rief Pepper, ließ das Kit los und schwenkte die Arme über den Kopf. Sie schleppte eine Reisetasche und einen großen, scheppernden Werkzeugkoffer mit sich herum, beschleunigte aber dennoch ihre Schritte. Ein Menschenmann kam ihr entgegen und traf sie auf halbem Weg. Er war groß und eher schmal gebaut, aber nicht dünn wie Pepper und auch nicht haarlos. Lovelace durchstöberte ihre visuellen Infodateien. Das menschliche Genom war zu vielfältig, um jemandes Abstammung bestimmen zu können, ohne denjenigen zu fragen. Mit seiner goldbraunen Haut hätte Blue alles Mögliche sein können – ein Marsianer, ein Exodaner oder auch ein Nachfahre der unabhängigen Kolonisten. Doch schon ein kurzer Blick machte klar, dass all das als Herkunft nicht in Frage kam. Es war etwas Fremdartiges an ihm, etwas allzu Glattes, Ebenmäßiges. Als Lovelace beobachtete, wie er Pepper umarmte und diese sich auf die Zehenspitzen stellte, um ihn zu küssen, fiel ihr sofort auf, wie sehr sich die beiden von den anderen Menschen unterschieden, die man hier und da in der Menge sah. Die blassrosa Pepper mit ihrem glänzenden, haarlosen Schädel, Blue mit seinem … Lovelace kam nicht darauf, was an ihm anders war. Die beiden sahen ungewöhnlich aus, keine Frage. Sie selbst hingegen nicht, zumindest glaubte sie das nicht. Das Kit sah aus, als hätte man aus einem Lehrbuch über interspeziäre Beziehungen das »Mensch«-Beispiel kopiert: braune Haut, schwarze Haare, braune Augen. Sie war dankbar, dass der Hersteller sie klugerweise so unauffällig gestaltet hatte.

Blue drehte sich um und lächelte sie herzlich an. Das Kit erwiderte sein Lächeln. »W-willkommen auf dem Port«, sagte Blue. Er sprach mit einem seltsamen Akzent, über den sie keine Informationen hatte, und manche Silben kamen mit leichter Verzögerung. Letzteres war kein Punkt für ihre Fragenliste; Pepper hatte im Shuttle bereits erwähnt, dass ihr Partner einen Sprachfehler hatte. »Ich, äh, ich bin Blue. Und du bist …?«

»Sidra«, sagte sie. Sie hatte den Namen dreieinhalb Stunden vor der Landung in einer Datenbank gefunden. Ein Menschenname irdischen Ursprungs, so wie Pepper ihr geraten hatte. Allerdings hätte sie nicht sagen können, wieso gerade dieser Name ihr ins Auge gestochen hatte. Laut Pepper genügte das als Grund, ihn anzunehmen.

Blue nickte, und sein Lächeln wurde noch etwas breiter. »Sidra. Wirklich, ähm, wirklich schön, dich kennenzulernen.« Er sah Pepper an. »Gab es irgendwelche Schwierigkeiten?«

Pepper schüttelte den Kopf. »Alles lief nach Plan. Die Einrichtung ihres Armbands war ein Kinderspiel.«

Sidra blickte auf das gewebte Armband, das Pepper ihr gegeben hatte. So viele Lügen verbargen sich darunter, in diesem kleinen, quadratischen Plättchen unter ihrer Haut. Falsche Anzeigen über Imunobots, die sie nicht besaß. Eine Personaldatei, die sich Pepper vor zwei Stunden ausgedacht hatte. Eine Personalnummer, die laut Pepper keine Probleme machen würde, solange Sidra nicht in den Zentralraum fliegen wollte (was sie nicht vorhatte).

Blue sah sich um. »Vielleicht, ähm, vielleicht sollten wir das nicht gerade hier besprechen.«

Pepper verdrehte die Augen. »Als ob uns irgendjemand zuhören würde.« Sie setzte sich in Bewegung. »Ich wette, die Hälfte dieser Arschlöcher hat gefälschte Frachtpapiere.«

Das Gedränge wurde immer schlimmer. Vielleicht wäre es ja weniger anstrengend, wenn sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf einen Punkt konzentrierte, dachte Sidra. Aber das war leichter gesagt als getan. Sie war dafür gemacht, den Input aus verschiedenen Quellen gleichzeitig zu verarbeiten – aus Schiffskorridoren, verschiedenen Räumen, dem Weltraum außerhalb des Schiffsrumpfs. Sich auf eine Sache zu konzentrieren, bedeutete, dass das Schiff in Gefahr oder dass sie durch zu viele Aufgaben überlastet war. Natürlich traf nichts davon zu, aber es machte sie trotzdem nervös, ihre Prozesse auf diese Weise beschränken zu müssen.

Sie richtete den Blick des Kits auf Peppers Hinterkopf und ließ ihn dort ruhen. Nicht umsehen, dachte sie. Hier gibt es nichts von Interesse. Gar nichts. Geh einfach nur Pepper nach. Außer ihr gibt es nichts. Alles andere ist nur Lärm. Rauschen. Hintergrundstrahlung. Ignorier es. Ignorier es.

Eine Minute und zwölf Sekunden lang klappte das ganz gut, bis Pepper die Barriere niederriss. »Nur zur Info für später«, sagte sie und wies mit dem Kopf nach hinten zu einem auffällig gestrichenen Kassenhäuschen, »da drüben ist das Schnellbahnzentrum. Wenn du oberirdisch reisen willst, ist das der beste Weg. Ich zeige es dir ein andermal. Wir dagegen machen uns jetzt auf zur dunklen Seite dieses Felsbrockens.« Sie bog unvermittelt ab und ging eine Rampe hinunter, die unter die Erde führte. Sidra verschob ihren Fokus zu dem Schild, das darüberhing.

UNTERWASSER-TRANSIT

PORT CORIOL – MITTELINSEL – TESSARA-KLIPPEN

»Reisen wir unter Wasser?«, fragte Sidra. Die Vorstellung beunruhigte sie auf unerwartete Weise. Der Coriol-Mond war größtenteils von Wasser bedeckt und die Entfernung zwischen seinen beiden Kontinenten beträchtlich. Unterhalb der Meeresoberfläche zu reisen hatte sie allerdings nicht in Betracht gezogen. Irgendwie hatte sie viel weniger Angst davor, im Weltall auseinanderzubrechen, als von den Wassermassen zerquetscht zu werden.

»Ja, hier geht es nach Hause«, sagte Blue. »Ich fahre jeden, ähm, jeden Tag diese Strecke, aber es macht mir immer noch Spaß.«

»Wie lange dauert die Fahrt?«

»Etwas mehr als eine Stunde«, antwortete Pepper.

Das Kit blinzelte. »Das ist ja nicht sehr lange.« Überhaupt nicht lange, wenn man bedachte, dass sie den Mond halb umrunden würde.

Pepper grinste sie an. »Wenn man ein Problem hat, heuert man am besten ein paar Sianats an, dann kann man sein blaues Wunder erleben.«

Sie betraten ein hell erleuchtetes unterirdisches Gewölbe, die Wände gepflastert mit einem abscheulichen Sammelsurium aus blinkenden und wabernden Pixel-Postern, die lokale Geschäfte bewarben. Trotz des Gedränges gab es kleine Verkaufsstände – Snacks, Getränke und allerlei Krimskrams, den Sidra nicht identifizieren konnte. Das ganze Gewölbe war von einer gewaltigen Plexröhre durchzogen, in der einzelne Transportwagen von einer Art Energiefeld gehalten wurden.

»Ah, gut«, sagte Pepper. »Wir kommen gerade zur rechten Zeit.«

Sidra ging weiter hinter ihr her, wobei sie die Details der Transitbahn so schnell wie möglich aufnahm und sich alles notierte, was sie später nachschlagen wollte. Jeder Wagen war in verschiedenen Sprachen beschriftet: Äluoner. Aandrisks. Laru. Harmagianer. Quelin. Sie folgte Pepper und Blue in den Wagen mit der Aufschrift Menschen. »Wieso sitzen die verschiedenen Spezies nicht zusammen?«, fragte sie. Getrennte Reisewaggons passten nicht zu dem, was sie über das berühmte Gleichheitsprinzip des Ports gelesen hatte.

»Verschiedene Spezies«, sagte Blue, »verschiedene Hinterteile.« Er nickte zu den Reihen der abgerundeten Sitze mit den hohen Lehnen hinüber, die für Aandrisk-Schwänze oder harmagianische Wagen ungeeignet waren.

Sie saßen zu dritt in einer Reihe. Mit einem lauten Scheppern stellte Pepper ihre Werkzeugtasche auf dem vierten Sitz ab. Nur eine Gruppe Touristen sah auf und schaute zu ihnen hinüber (trotz Sidras beschränkter Erfahrung bei der Beobachtung vernunftbegabter Wesen waren Touristen für sie jetzt schon leicht zu erkennen). Abgesehen davon schien niemand im Reisewaggon von ihnen Notiz zu nehmen. Eine Frau, die über und über mit Metallimplantaten bedeckt war, sah sich irgendetwas Schrilles auf ihrem HUD an. Ein alter Mann mit einer Topfpflanze auf dem Schoß war bereits eingeschlafen. Ein kleines Mädchen leckte an seiner Stuhllehne; ihr Vater verbat es ihr halbherzig, als wüsste er schon, dass es vergeblich war.

Sidra musterte die Kabine. Sie war so erpicht darauf gewesen, dem Shuttle zu entkommen, doch in dem Gedränge war ihr klargeworden, dass geschlossene Räume das geringere Übel waren. In Räumen gab es Begrenzungen. Wände. Türen. Das vage Bewusstsein von nicht sichtbaren Vorgängen, die sich hinter dem Kopf des Kits abspielten, war immer noch beunruhigend, aber jetzt befand sie sich drinnen, und drinnen war etwas, womit sie sich auskannte.

Eine Durchsage in mehreren Sprachen ertönte – Klip, Hanto, Reskitkish. Parallel dazu flimmerten äluonische Leuchtröhren in allen Schattierungen. Sidra starrte auf die tanzenden Schlieren der Farbsprache und hätte sich in dem Anblick beinahe verloren.

Die Türen schlossen sich und verschmolzen mit den lichtundurchlässigen Wänden. Ein Summen erklang, gleich darauf ein Surren, dann folgte ein gewaltiger Luftzug. Sidra spürte, dass sie sich bewegten, obwohl es innerhalb des Wagens kühl und angenehm war. Der alte Mann neben ihr begann zu schnarchen.

Sie drehte den Kopf des Kits hin und her, um möglichst alle blinden Bereiche abzudecken. »Gibt es hier keine Fenster?«

»Die kommen gleich«, sagte Blue. »Wa-warte ein paar Minuten.«

Eine Welle der Erregung lief durch ihre Schwermut. Irgendwie war das spannend. »Wie funktioniert dieses Ding?«, fragte sie. Es gab hier keinerlei Anzeichen von Kabeln, keine erkennbaren Motoren. »Was für einen Antrieb hat es?«

»Ich habe keine Ahnung«, sagte Pepper und legte die Füße auf die Lehne des gegenüberliegenden Sitzes. »Ich meine, ich habe versucht, es zu verstehen. Ich habe es nachgeschlagen. Aber ich kapiere es einfach nicht.«

»Und das …«, fing Blue an.

Pepper machte eine abwehrende Bewegung. »Oh, bitte nicht.«

Doch Blue sprach weiter. »Das, ähm, will bei ihr wirklich etwas heißen.«

»Niemand versteht, wie die Unterwasserbahn funktioniert«, sagte Pepper. »Es sei denn, man ist ein Paar. Und die versteht auch keiner.«

Ihr Gefährte zog die Augenbrauen hoch. »Das war ein klitzekleines bisschen speziesistisch.«

Peppers Lippen zuckten boshaft. »Wir sind hier im Menschen-Waggon.« Sie lehnte sich zur Seite und kuschelte sich bei Blue an. Automatisch legte er ihr den Arm um die Schultern. Pepper hatte auf dem zehnstündigen Flug zurück nach Coriol nicht geschlafen. Sie hatte kein Wort darüber verloren, doch Sidra argwöhnte, dass Pepper wach geblieben war, um auf sie aufzupassen. Sie war ihr dankbar, hatte jedoch Schuldgefühle.

Sechs Minuten vergingen, und der Waggon veränderte sich. Das Licht im Inneren schwand. Die Wände wurden durchscheinend, fast durchsichtig. Draußen gingen sanfte Lichter an, die das Meer um den Waggon beleuchteten. Sidra beugte das Kit vor, um besser sehen zu können.

»Komm her, wir tauschen«, sagte Blue, löste sich von Pepper und wechselte mit Sidra den Platz. Dann legte er den anderen Arm um Pepper, der langsam die Augen zufielen. Unwillig wehrte sie ihn ab.

Sidra drückte das Kit so dicht wie möglich an die durchsichtige Wand. Draußen wirbelte das Wasser an ihnen vorbei, ein Effekt, als sähe man zeitversetzt eine verschwommene Aufnahme von der Umgebung, durch die der Waggon fuhr. Wegen der dicken Algenteppiche auf den Ozeanen von Coriol war es dämmrig, aber trotzdem konnte Sidra dort draußen Leben erkennen. Tentakelbewehrte Dinge. Weiche Dinge. Dinge mit Zähnen. Dinge, die dahintrieben und schaukelten und sich bewegten.

Sie wollte sich gerade eine Notiz machen, als ihr einfiel, dass sie einfach fragen konnte. »Gibt es hier auch einheimische Landbewohner?«

»Kleine Viecher«, sagte Pepper mit geschlossenen Augen. »Käfer und Krabben, solches Zeug. Coriol war evolutionär noch nicht allzu weit fortgeschritten, als die anderen alle hier einfielen. Es wurde vor diesem Gesetz besiedelt, das … oh, wie heißt das verdammte Ding noch gleich, das Lassen-wir-Planeten-mit-Leben-in-Ruhe-Gesetz …«

»Das Abkommen zur Erhaltung der Biodiversität«, sagte Sidra.

Peppers Augen öffneten sich. »Du bist doch nicht etwa, äh …« Sie tippte sich an den Hinterkopf, gleich unterhalb ihrer Schädelbasis. Sidra verstand: Bist du mit den Linkings verbunden?

»Nein«, sagte Sidra, wenngleich sie es gerne gewesen wäre. »Ich habe keine Drahtlosbuchse.« Ob es wohl schwierig wäre, eine einzubauen? Drahtlose Hirnzugänge waren riskant, das wusste sie, man wurde leichter gekapert, und diese Vorstellung machte ihr gehörig Angst … aber wenn sie imstande war, illegale Zugriffe auf einem Langstrecken-Raumschiff zu erkennen, dann würde sie das doch bestimmt auch in einem einzelnen, kleinen Körper schaffen? Wenig überraschend hatten die öffentlichen Linkings zur Modifizierung einer illegalen KI-Behausung jedoch nichts hergegeben.

Pepper kniff die Augen zusammen. »Wenn du nicht in den Linkings bist, woher weißt du es dann?«

»Ich bin darauf gestoßen, als ich …« Sidra hielt inne, als ihr einfiel, dass sie nicht allein waren und dass die Stimme des Kits Töne nicht gerichtet übermittelte wie etwa die Vox in einer Wand. »… als ich vorhin ein bisschen recherchiert habe.« Es stimmte, und das ging auch gar nicht anders. Das Wahrhaftigkeitsprotokoll erwies sich schon jetzt als Problem, und ihre Unfähigkeit, es selbst zu deaktivieren, behagte ihr gar nicht. Hätte sie in einem Schiff gelebt, hätte sie die Sache vielleicht entspannter gesehen. Aber hier draußen machte die Wahrheit sie verletzlich.

Sie analysierte ihr Unbehagen, während sie den Blick wieder auf Pepper und Blue richtete, die es sich aneinandergekuschelt bequem gemacht hatten. Wieder verglich sie die beiden mit ihren Mitreisenden. Von den Menschen, die Sidra hier erblickte, sahen keine zwei sich auch nur annähernd ähnlich. Sie unterschieden sich in der Hautfarbe, in der Größe, im Umfang. Doch während die Menschen, mit denen sie den Wagen teilten, vermutlich von allen möglichen Orten kamen, stammten Pepper und Blue von einem ganz bestimmten Anderswo. Inzwischen hatte Sidra ermittelt, was Blue vom Rest seiner Spezies unterschied: Symmetrie. Solche Gesichtszüge kamen mit rein natürlichen Genen einfach nicht zustande, und sein Körperbau ließ erkennen, dass Muskeln und Knochen mit der gleichen Sorgfalt designt worden waren. Bei Pepper verhielt es sich ähnlich, so mitgenommen ihr Körper auch war. Ihre Hände mochten voller Narben sein, und ein großer Teil ihrer Haut wies sonnenbedingte Schäden auf, doch abgesehen von der Abnutzung und der Haarlosigkeit war auch sie völlig ebenmäßig. Wer auch immer Blue gemacht hatte, hatte auch Pepper gemacht.

All das war keine besondere Erkenntnis. Pepper hatte es ihr im Shuttle erklärt – die Narben an ihren Händen, wie sie Blue gefunden hatte, das Zerwürfnis zwischen den Kolonien der Verbesserten Menschheit und der GU. Sidra wusste nicht genau, wie viele Fragen zu diesem Thema zu viele waren (eine Unterscheidung, die sie allgemein noch lernen musste), aber Pepper hatte ganz offen geantwortet. Sie schien nichts gegen Fragen zu haben, auch wenn einige Antworten ihr schwererfielen als andere. Wenn du bei uns leben willst, hatte sie gesagt, solltest du wissen, mit wem du es zu tun hast.

Sidra betrachtete das Paar, während der Waggon um den Mond herumschoss. Pepper schlief schließlich ein. Blue schien damit zufrieden, die Kleckse aus neugierigen Fischen und dichten Meeresalgen zu beobachten. Keiner von ihnen war für diesen Ort gemacht worden, überlegte Sidra. Und genauso wenig die anderen Menschen hier, wenngleich sie nicht mit demselben Vorsatz erschaffen worden waren. Dasselbe galt für die Spezies in den übrigen Transitwaggons. Die Äluoner und die Aandrisks mit ihren Atemmasken. Die Harmagianer auf ihren motorisierten Wagen. Keinem von ihnen war es bestimmt, eine Welt miteinander zu teilen – diese Welt zu teilen –, und doch waren sie hier.

Zumindest in dieser Hinsicht unterschied sie sich vielleicht doch nicht so sehr von ihnen.

Jane 23, 10 Jahre alt

Am Ende des Tages gingen die Janes wie immer zum Training. Jane 23 mochte das Training. Wenn man den ganzen Vormittag an einer Werkbank gesessen hatte, fühlte Laufen sich richtig gut an. Sie folgte den anderen Mädchen zum Trainingsraum und stieg auf dasselbe Laufband wie immer. Die Griffe waren feucht vom Schweiß des Mädchens, das das Gerät vor ihr benutzt hatte. Eine der Marys. Sie hatte sie gesehen, als sie gegangen waren.

»Macht euch bereit«, sagte die Mutter. Alle Janes waren bereit. »Los.«

Das Laufband sprang an. Jane 23 lief und lief und lief. Ihr Herz schlug schnell, und ihre Kopfhaut kribbelte ein bisschen, und es gefiel ihr, wie ihr Atem schneller ging, während sie vor sich hinlief. Sie schloss die Augen. Sie wäre gerne schneller gerannt. Sie wäre so schrecklich gerne schneller gerannt. Und sie hätte es auch gekonnt. Sie spürte etwas tief in ihren Beinen, etwas Zurückgehaltenes, Kribbeliges, etwas, das herauswollte. Sie legte den Kopf nach hinten und ließ ihre Füße nur ein ganz kleines bisschen …

Jemand im Raum hustete. Jane 23 öffnete die Augen und merkte, dass Jane 64 sie ganz fest ansah. Jane 23 blickte zu der Mutter, die sie überwachte. Sie schaute irgendwo anders hin, nicht zu Jane 23, aber das konnte sich ganz schnell ändern. Jane 23 wurde wieder langsamer. Eigentlich hatte sie gar nicht so schnell rennen wollen. So ein Glück, dass Jane 64 es bemerkt hatte. Jane 23 nickte 64 zu und wusste, dass sie sich beide gut fühlten.

Erneut sah sie zu der Mutter hinüber und hoffte, dass sie nichts mitbekommen hatte. Als Jane 23 das letzte Mal schneller gerannt war als die anderen Mädchen, war sie bestraft worden. Davor hatte es sich so gut angefühlt, schnell zu rennen. Eine Sekunde lang war sie irgendwo anders gewesen, irgendwo, wo sie nichts als ihr Herz und ihren Atem und das Kribbeln in ihrem Kopf fühlte. Ihr Körper tat genau das, was sie wollte. Alles war hell und sauber gewesen, und sie hatte gelächelt.

Doch dann war ihr Laufband ausgegangen, ohne davor zu verlangsamen, und sie war hingefallen und mit dem Gesicht auf das Display geknallt. Heißes, rotes Blut war ihr aus der Nase geschossen. Eine Mutter hatte sie mit ihrer Metallhand im Nacken gepackt und hochgezerrt. Jane 23 hatte sie nicht gehört, hatte nicht gesehen, wie sie herüberkam. So waren die Mütter. Sie waren richtig, richtig schnell und außerdem leise.

»Das ist kein gutes Benehmen«, hatte die Mutter gesagt. »Tu das nicht wieder.« Jane 23 hatte schreckliche Angst gehabt, aber die Mutter hatte sie wieder auf den Boden heruntergelassen. Später, als sie sich Essenstassen geholt hatten, war da keine gewesen, auf der 23 stand.

Seitdem lief sie nicht mehr schnell. Gut, dass Jane 64 ihr half, gutes Benehmen zu machen. Sie wollte keinen Ärger mehr bekommen. Sie wollte nicht, dass Jane 64 mit anderen Bettgefährtinnen schlafen musste.

Nach dem Training gingen sie duschen – fünf Minuten, wie immer – und bekamen anschließend im Lernraum ihre Essenstassen. Sie setzten sich im Schneidersitz auf den weichen Fußboden, und der Videobildschirm ging an.

»Heute lernen wir etwas über Artigrav-Netze«, sagte die Stimme in dem Video. »Sobald der neue Arbeitsplan herauskommt, werdet ihr sie nach und nach in eurer Schrottzuteilung sehen.« Ein Bild erschien: ein sehr kompliziertes Ding mit allen möglichen Stangen und Drähten und Kleinteilen. Jane 23 beugte sich vor, während sie ihr Essen trank. Das schien ein richtig gutes Schrottteil zu sein. Richtig interessant.

Jane 64 lehnte sich an Jane 23, was nach der Arbeit erlaubt war. Alle Mädchen rückten ein bisschen enger zusammen. Es war schön, nahe beieinander zu sein. Jane 8 legte ihren Kopf auf die Knie von 64, und 12 legte sich auf den Bauch und ließ die Füße in der Luft hin und her schaukeln. Jane 64 sah richtig schläfrig aus. Ihre Aufgabe für diesen Tag war ein sehr großes Schrottteil gewesen, das fünf Mädchen beschäftigt hatte. Diese Mädchen bekamen alle ein bisschen mehr in ihre Essenstassen. Das war immer so, wenn man mit schweren Sachen arbeiten musste. Schwere Sachen machten einen hungrig.

»Artigrav-Netze sehen gut aus«, sagte Jane 23. Auch reden war erlaubt, solange es dabei um das Video ging.

»Sie sehen schwierig aus«, sagte Jane 64. »Sieh dir nur die verschränkten Leitungen an.«

»Ja, aber da sind viele kleine Teile drin«, sagte Jane 23. An ihrer Schulter spürte sie, wie Jane 64 lächelte.

»Du magst doch kleine Teile«, sagte Jane 64. »Darin bist du richtig gut. Am gutesten von allen, finde ich.«

Jane 23 trank ihre Mahlzeit und schaute das Video. Auch sie fühlte sich langsam schläfrig. Aber es war ein richtig guter Tag gewesen. Sie war aufmerksam gewesen und nicht bestraft worden, und Jane 64 fand, dass sie gut war, am gutesten von allen.

Sidra

Sidra zog Coriols dunkle Seite jetzt schon vor. Es handelte sich dabei um ein seltenes astronomisches Phänomen – ein Planet in gebundener Rotation mit seiner Sonne und ein Mond in gebundener Rotation mit seinem Planeten, beide also mit einer fixen Tag- und Nachtseite. Sidra war froh darüber. Das Fehlen von natürlichem Licht bedeutete, dass sie nur bis zu einem bestimmten Punkt sehen konnte, und das wiederum bedeutete, dass sie weniger verarbeiten musste. Die Unterwasserbahn hatte sich inzwischen über den Boden erhoben, und ihr Waggon fuhr, langsamer als zuvor, durch eine Röhre, die auf dicken Säulen ruhte. Wie Blue erklärte, führte die Röhre durch mehrere Distrikte. Sidra machte sich einen Vermerk, diese irgendwann bei einer langsameren Fortbewegungsart zu erkunden, vielleicht zu Fuß, wenn sie sich erst einmal an das Kit gewöhnt hatte. Doch selbst im Vorbeifahren sah sie, dass die Unterschiede zwischen den Distrikten gewaltig waren. Auf der dunklen Seite wollten die Kaufleute von Coriol nach dem hektischen Alltag ihre Ruhe haben. Auch auf der hellen Seite gab es Distrikte, aber nach allem, was Blue ihr erzählt hatte, gingen die Unterschiede dort auf Waren und Dienstleistungen zurück. Hier waren die gezogenen Grenzen von ganz anderer Art. Der erste Distrikt, durch den sie hindurchfuhren, waren die Tessara-Klippen, die Heimat der Reichen und Begüterten (in erster Linie Schiffskaufleute, hatte Blue gesagt, und außerdem Treibstoffhändler). Die Wohnungen lagen hinter kunstvoll bemalten Mauern und behauenen Felsen, doch Sidra sah, dass sie groß und makellos gepflegt waren. Daneben lag Kukkesh, der Aandrisk-Distrikt, eine heimelige Siedlung einstöckiger Häuser mit einladenden Türen und nur wenigen Fenstern. Eine unsichtbare, aber dennoch unverkennbare Grenze trennte dieses Viertel von Flatrock Bay, ein Name, der nur von Touristen verwendet wurde oder auf Karten.

»Das ist die Beule«, sagte Blue gelassen. »Kein besonders schöner Ort. Dort landet man, wenn, äh, wenn man P-Pech gehabt hat.«

Als sie den Bahnhof passierten, sah Sidra die müden Gesichter einer Akarak-Familie, deren Mitglieder sich mit Hilfe ihrer arg ramponierten Mech-Anzüge durch eine Müllhalde wühlten. Es war ein trostloser Anblick, und Sidra hielt so schnell wie möglich nach etwas anderem Ausschau.

Schließlich erreichten sie den Modder-Distrikt – den Sechser. Der Name spielte sowohl auf die sechs kleinen Hügel an, um die sich die Häuser gruppierten, als auch auf die Sechserschaltkreise, ein allgegenwärtiges Mechtech-Bauteil. Sidra hatte keine Ahnung, was sie hier erwartete, aber was sie beim Verlassen der Unterwasserbahn sah, wirkte für eine multispeziäre Gemeinde aus Technikfreaks erstaunlich organisch. Zwar war nicht zu verkennen, welchem Gewerbe die Einwohner nachgingen – überall sah man Hausgeneratoren, leere Treibstofffässer, Sende- und Empfangsgeräte aller Art. Aber ebenso gab es liebevoll gepflegte, von Sonnenlichtlampen beschienene Grünflächen und leuchtende Fontänen, die im Dunkeln glitzerten. Es gab Skulpturen aus Schrott, bequeme Bänke, auf denen schwatzende Freunde und Liebespaare saßen, dazwischen Lichtinstallationen, die nach Hobbyprojekten von Leuten mit unvereinbaren Geschmäckern aussahen. Nichts an den Außenanlagen wirkte bürokratisch oder einheitlich. Dieser Ort war von vielen Individuen geschaffen worden. Sidra sah ein Lebensmittelgeschäft, eine Gamer-Bar, ein paar Läden, in denen alles Mögliche verkauft wurde. Es herrschte eine ruhige Beschaulichkeit, die auf der hellen Seite, soweit sie es gesehen hatte, gefehlt hatte. Vielleicht hatten die Modder bei ihrer Arbeit genug Hektik und Betriebsamkeit. Vielleicht brauchten auch sie einen Ort zum Abschalten.

Von der Transitstation führte ein gewundener Weg, der sich wie ein Fluss immer mehr verzweigte, zu den verschiedenen Häuseransammlungen. Die Behausungen selbst waren niedrig – keine mehr als zweistöckig – und hatten abgerundete Ecken, als hätte jemand sie aus … irgendetwas geformt. Sie hatte keine Informationen über Baumaterialien abgespeichert. Noch etwas, was sie herunterladen musste.

»Pass auf, wo du hintrittst«, sagte Blue. Sidra verschob ihre Blickrichtung nach unten, wo ein durchsichtiges, geflügeltes Insekt genau dort saß, wo das Kit beinahe seinen rechten Fuß hingesetzt hätte. Über diese Spezies besaß sie keine Informationen, aber worum auch immer es sich handelte, es war hübsch. Die Flügel waren dick und flauschig, und sanft leuchtende Flecken pulsierten auf seiner Brust. Sie trat beiseite, froh darüber, ihm ausgewichen zu sein. Die Vorstellung, etwas zu töten, selbst wenn es unabsichtlich geschah – ganz besonders, wenn es unabsichtlich geschah –, verursachte ihr Unbehagen.

»Wir haben hier immer nur schwache Beleuchtung, um die Lichtverschmutzung gering zu halten«, sagte Pepper. »Manchmal sieht man zwar kaum die eigene Hand vor Augen, aber man gewöhnt sich daran.« Sie überlegte. »Allerdings könntest du wohl einfach, du weißt schon, deine Lichtaufnahme anpassen. Dann hättest du es wahrscheinlich leichter.« Sie ging voran und streckte die Hand nach hinten aus. Blue ergriff sie und fiel neben ihr in Gleichschritt.

Sidra passte ihre Lichtaufnahme nicht an. Sie wollte das Viertel genauso sehen wie ihre Begleiter. Die schwache Beleuchtung, von der Pepper gesprochen hatte, kam von schwebenden blauen Kugeln, die hier und da entlang des Weges platziert waren. Von einer unsichtbaren Energie gehalten, wippten sie sanft auf und ab. Unter ihnen säumten nächtlich blühendes Moos und knollige Pilze den Wegrand. Darum herum drängten sich noch mehr von den geflügelten Insekten, deren schimmernde Leiber die Blattadern beleuchteten, während sie nach Nektar suchten. Sidra sah sich um. Hinter den Fenstern konnte sie schattenhafte Umrisse von Wesen ausmachen, die aßen und saubermachten und redeten. Ein Trio Aandrisk-Schlüpflinge jagte einander um einen Brunnen und johlte in einem chaotischen Mischmasch aus Klip und Reskitkish. Eine Harmagianerin surrte auf ihrem Wagen vorbei und schwenkte ihre stark gepiercten Daktylen in Peppers und Blues Richtung. Die Menschen erwiderten die Geste mit den noch freien Händen. Sidra wusste zwar nicht wieso, aber so mitgenommen sie sich auch immer noch fühlte, hatte der Sechser doch etwas an sich, das ihre Anspannung linderte.

Sie kamen zu einer bescheidenen Behausung, die sich von den anderen nur wenig unterschied. Die wuchernden Pflanzen um die Außenmauern wirkten ein wenig vernachlässigt. Pepper ging zur Tür und zog ihr Handgelenk über die Schließkonsole. Innen ging das Licht an, und die Tür glitt zurück. »Willkommen daheim«, sagte Pepper.

Beim Eintreten beobachtete Sidra aufmerksam Pepper und Blue. Sie wusste nicht recht, wie man sich hier korrekt verhielt, und wollte nichts Unhöfliches tun. Die beiden zogen ihre Schuhe aus, also tat sie dasselbe. Sie hängten ihre Jacken auf, Sidra ebenfalls. Und dann … was? Was tat ein Individuum in einem Haus?

»Fühl dich ganz wie zu Hause«, sagte Blue.

Das beantwortete ihre Frage nicht.

Pepper bemerkte Sidras Schweigen. »Schau dich einfach um«, sagte sie. »Sieh dir alles an. Mach dich mit der Wohnung vertraut.« Sie wandte sich an Blue. »Ich … habe Hunger.«

»In der Stasetruhe ist noch ein Rest Nudeln. Aber ich glaube nicht, dass es für d-drei reicht.«

»Sie muss nicht essen.«

»Ah, stimmt ja! Stimmt ja. G-gut, dann haben wir genug.«

»Dir ist wohl entgangen, dass ich Hunger habe«, sagte Pepper und ballte die Hände flehend zu Fäusten. »Ich will keine Nudeln. Ich will Proteine. Ich will etwas, das mir schwer im Magen liegt und das ich später bereuen werde.«

Sidra ließ das Kit durch den Raum schlendern, während die Menschen das Abendessen besprachen. Die Wohnung war nicht groß und vermittelte auch nicht den Eindruck von Wohlstand. Das größte Zimmer war ein runder, weich anmutender Raum, von dem seitlich eine Kochnische abging. An den Wänden hingen Regale, die sich unter Behältern voller Ersatzteile, Pixelpflanzen und kitschigem Krimskrams bogen. Der unordentlichen Werkbank an dem breiten Fenster nach zu urteilen, brachte Pepper gern Arbeit mit nach Hause.

Sidra ging zu einem der Regale, das ausschließlich kleinen Figuren vorbehalten war. Handtellergroße Miniaturen, alle quietschbunt.

»Ah«, sagte Pepper lächelnd. »Ja, ich stehe auf Sims. Vor allem auf nichtrealistische.«

»Und das hier sind …«

»Charaktere aus den Sims, ja. Schau, das hier sind Milo und Buster, das Flammenwerfer-Kommando, Eris Rotstein – alles Mögliche, was immer mir mal Spaß gemacht hat.«

Sidra ließ das Kit eine der Figuren in die Hand nehmen. Es war eine Dreiergruppe: zwei Menschenkinder – ein Junge und ein Mädchen – und eine Art kleiner, menschenähnlicher Primat. Der Junge untersuchte gerade ein Blatt unter einem Mikroskop. Das Mädchen schaute durch ein Teleskop hinauf in den Himmel. Der Primat griff in eine offene Umhängetasche, die mit Snacks vollgestopft war. Alle lächelten breit und über das ganze Gesicht.

»Diese drei scheinen es dir angetan zu haben«, sagte Sidra. Die Charaktere kamen auf dem Regal mehrmals vor, in unterschiedlichen Macharten und Größen. Sie untersuchte den Sockel der Figur, die das Kit in der Hand hielt. Brummelhummel-Crew 36 stand dort in schreiend gelben Buchstaben. Dou Mu, Exodus-Flotte, GU-Standard 302.

Pepper riss die Augen auf. »Heilige Scheiße, du kennst Die Brummelhummel-Bande nicht. Aber natürlich.« Sie nahm dem Kit die Figur aus der Hand. Ihre Augen schlossen sich ehrfürchtig. »Brummelhummel – o Mann, das ist …«

Blue seufzte grinsend, während er durch seinen Scribus scrollte. »Und los geht’s.«

Pepper sammelte sich. »Das ist eine Kinder-Sim. Ich meine – naja, okay, strenggenommen ist sie für Kinder. Lernsoftware, du weißt schon, alles über Schiffe und andere Spezies und so weiter. Aber sie ist …«

Blue blickte Sidra an und formte mit den Lippen lautlos die Worte: Sie ist so viel mehr …

»Sie ist so viel mehr als das«, sagte Pepper. »Seit vierzig Standards bringt der Hersteller schon neue Module heraus. Ganz abgesehen davon, wie brillant alles ist – Sterne, von dem adaptiven Programmcode fange ich gar nicht erst an –, na ja, ernsthaft, das ist eine wirklich bedeutende Serie. Jedes Menschenkind in der GU kennt die Brummelhummel, zumindest passiv. Und damit meine ich nicht nur jedes Menschenkind in der Raumflotte oder so.« Sie deutete auf die beiden Kinder der Figurengruppe. »Alain und Manjiri. Manjiri ist von der Raumflotte. Alain ist aus Florenz.« Sie sah Sidra erwartungsvoll an, als müsste ihr das etwas sagen. Was nicht der Fall war. Pepper redete weiter. »Das war die allererste Kinder-Sim, bei der Exodaner und Marsianer nicht nur auf demselben Schiff fliegen, sondern Freunde sind. Sie erleben gemeinsam Abenteuer, arbeiten als Team zusammen, dieser ganze Wohlfühlkram. Heutzutage klingt das zwar nicht mehr nach einer großen Sache, aber vor vierzig Standards war das der Wahnsinn. Eine ganze Generation Kinder ist damit aufgewachsen, und ohne Scheiß, etwa zehn Standards später gibt es dann auf einmal eine gewaltige Veränderung in der Diaspora-Politik. Ich will jetzt nicht behaupten, allein diese Simulation hätte dazu geführt, dass Exodaner und Solaner einander nicht mehr hassen, aber die Brummelhummel hatte definitiv einen Anteil daran, dass wir den ganzen alten Mist von der Erde hinter uns gelassen haben. Hat zumindest ein paar Leuten die Augen geöffnet.« Sie stellte die Figur wieder in das Regal und rückte sie dabei ein wenig zurecht. »Außerdem sind sie in künstlerischer Hinsicht verdammt großartig. Diese Detailverliebtheit ist einfach …«

Blue räusperte sich vernehmlich.

Pepper lachte verlegen und kratzte sich hinter dem linken Ohrläppchen. »Diese Sim ist wirklich, wirklich gut.«

Ihr Partner schwenkte seinen Scribus. »Wie wär’s mit dem Raumflotten-Grill?«