Ein Gebet für die achtsam Schreitenden - Becky Chambers - E-Book

Ein Gebet für die achtsam Schreitenden E-Book

Becky Chambers

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Beschreibung

Nach einem aufreibenden Abstecher in die Berge kehren Geschwister Dex und der Roboter Helmling in die Zivilisation zurück. Dex ist ein Teemönch von einigem Ansehen; Helmling wiederum wurde von seinesgleichen ausgeschickt, um die Welt jenseits der Wildnis zu erkunden. Und die Neugier des Roboters kennt keine Grenzen: Er möchte unbedingt wissen, wie die Menschen leben und lieben, er möchte an ihrer Arbeit und an ihren Vergnügungen teilhaben. Dabei schließt er neue Freundschaften, lernt neue Denkweisen und erfährt am eigenen Leibe, wie vergänglich das Dasein sein kann. Der zweite Band eines Doppelromans, der uns mit der Frage konfrontiert: Wenn wir alles haben, hat es dann überhaupt noch eine Bedeutung, mehr zu wollen?

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Seitenzahl: 165

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Aus dem

amerikanischen Englisch

übersetzt von Karin Will

Impressum

Titel der Originalausgabe: A Prayer for the Crown-Shy

Erstmals erschienen 2022 bei Tor.com in New York

© 2022 by Becky Chambers

© der Übersetzung 2024 by Karin Will

© dieser Ausgabe 2024 by Carcosa Verlag, Wittenberge

Alle Rechte vorbehalten

Carcosa Verlag ist ein verschwistertes Imprint von

Memoranda Verlag | Hardy Kettlitz | Ilsenhof 12 | 12553 Berlin

www.carcosa-verlag.de | www.memoranda.eu

Lektorat: Hannes Riffel

Korrektorat: Lena Richter

Umschlaggestaltung: s.BENeš [www.benswerk.com]

E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

ISBN: 978-3-910914-12-4 (Buchausgabe)

ISBN: 978-3-910914-13-1 (E-Book)

Für alle, die nicht wissen, wohin sie gehen

Gepriesen seien die Eltern.

Gepriesen sei Trikilli, Göttin der Verbindungen.

Gepriesen sei Grylom, Gott des Unbelebten.

Gepriesen sei Bosh, Gott des Kreislaufs.

Gepriesen seien ihre Kinder.

Gepriesen sei Chal, Gott der Konstrukte.

Gepriesen sei Samafar, Göttin der Mysterien.

Gepriesen sei Allalae, Gott der kleinen Annehmlichkeiten.

Sie sprechen nicht, und doch kennen wir sie.

Sie denken nicht, und doch ehren wir sie.

Sie sind nicht wie wir.

Wir stammen von ihnen ab.

Wir sind das Werk der Eltern.

Wir tun das Werk der Kinder.

Ohne Konstrukte wirst du nur wenige Geheimnisse enträtseln.

Ohne Kenntnis der Geheimnisse werden deine Konstrukte scheitern.

Finde die Kraft, nach beidem zu streben, denn dies sind unsere Gebete.

Und sei dabei offen für Annehmlichkeiten, denn ohne sie wirst du nicht stark bleiben.

Aus den Einsichten der Sechs,

1 | Die Straße

Wer sich in die Wälder absetzt, steht vor folgendem Problem: Sofern man nicht gerade zu einem sehr speziellen, seltenen Menschentyp gehört, wird man sehr schnell begreifen, warum die Menschen besagte Wälder verlassen haben. Häuser wurden aus gutem Grund erfunden, genau wie Schuhe, Sanitäranlagen, Kissen, Heizungen, Waschmaschinen, Farben, Lampen, Seife, Kühlschränke und all die anderen unzähligen Dinge, ohne die sich Menschen ein Leben nur schwer vorstellen können. Für Geschwister Dex war es wichtig – lebenswichtig – gewesen, sire Welt so zu sehen, wie sie war, ohne diese ganzen Konstrukte; auf einer instinktiven Ebene zu begreifen, dass es im Leben unendlich viel mehr gab als das, was sich zwischen vier Wänden abspielte, dass jeder Mensch tatsächlich nur ein Tier in Kleidern war und damit den Naturgesetzen und den Launen des Zufalls unterworfen wie alles, was jemals im Universum gelebt hatte und gestorben war. Doch sobald ser mit dem Wagen die Wildnis verließ und auf der Landstraße fuhr, empfand Dex unbeschreibliche Erleichterung darüber, wieder auf die andere Seite der Gleichung zu wechseln – auf jene Seite, wo Menschen ihr Dasein so bequem gestalteten, wie es die Technik auf nachhaltige Weise zuließ. Hier blieben die Räder von Dex’ Ochsenbike nicht mehr im rissigen Asphalt der alten Ölstraße stecken. Der schwer beladene Doppeldeckerwagen wurde nicht mehr durchgeschüttelt, weil ser sich damit über chaotischen, von kriechenden Wurzeln und mäandernden Furchen zerrissenen Untergrund quälen musste. Hier gab es keine Äste, die sich in sirer Kleidung verfingen, keine umgestürzten Bäume, die sihm Probleme bereiteten, keine namenlosen Weggabelungen, die sihn zum Stehenbleiben zwangen. Stattdessen gab es cremefarbenen Straßenbelag so glatt wie Butter und ebenso warm, gesäumt von Schildern, die Menschen gemacht hatten, damit andere Menschen wussten, in welche Richtung sie fahren mussten, wenn sie sich ausruhen und essen und nicht allein sein wollten.

Allein war Geschwister Dex allerdings nicht. Helmling ging neben sihm her, und seine unermüdlichen mechanischen Beine hielten mühelos mit dem Bike Schritt. »Hier ist alles so … gepflegt«, sagte der Roboter erstaunt, während er den Übergang zwischen Straße und Wald betrachtete. »Ich war darauf vorbereitet, aber ich habe es noch nie mit eigenen Augen gesehen.«

Dex warf einen Blick auf die dichten Farne und die von Spinnweben überzogenen Wildblumen, die am Straßenrand wuchsen und von dessen Begrenzung kaum gebändigt wurden. Wenn das als gepflegt durchging, dann wollte ser nicht wissen, was Helmling zu einem Rosengarten oder einem öffentlichen Park sagen würde.

»Oh, und sieh dir das an!« Helmling lief vor dem Ochsenbike her, wobei jeder Schritt klirrte. Er blieb vor einem Straßenschild stehen und stemmte, während er den Text las, die Scharnierhände in die mattsilbernen Hüften. »Ich habe noch nie ein so gut lesbares Schild gesehen!«, rief er über die Schulter. »Und es glänzt.«

»Na ja, wir sind hier ja auch nicht in einer Ruine«, sagte Dex leicht atemlos, während ser das letzte Stück einer kleinen Anhöhe erklomm. Ser fragte sich, ob Helmling wohl auf jeden menschengemachten Gegenstand so reagieren würde. Aber vielleicht war es ja eine gute Sache, wenn jemand das handwerkliche Können beim Straßenbau oder einem schnell gedruckten Straßenschild würdigen konnte. Für die Herstellung dieser Dinge war genauso viel Arbeit und Hirnschmalz nötig wie für alles andere, doch wurden sie von jenen, die sie täglich sahen, nur selten gelobt. Diesen Dingen Respekt zu zollen, war womöglich die perfekte Aufgabe für jemanden, der gar kein Mensch war.

Helmling drehte sich zu Dex um und lächelte so breit, wie es sein kastenförmiges Metallgesicht zuließ. »Das ist hübsch«, sagte er, während er auf das Schild zeigte, auf dem STUMPF – 20 MEILEN stand. »Wunderbar akkurat. Wenn auch ein bisschen autoritär, nicht wahr?«

»Wieso das?«

»Nun, es nimmt dem Reisen die Spontaneität, oder? Wenn man sich nur darauf konzentriert, von A nach B zu reisen, bieten sich keine Gelegenheiten für erfreuliche Zwischenfälle. Aber wahrscheinlich hatte ich bisher nur selten ein richtiges Ziel vor Augen. In der Wildnis gehe ich einfach irgendwohin.«

»Die wenigsten Menschen fahren grundlos zwischen den Dörfern hin und her.«

»Wieso nicht?«, fragte Helmling.

Darüber hatte Dex bisher noch nie wirklich nachgedacht. Ser lenkte das Bike in die Richtung, die das Schild anzeigte, und Helmling fiel neben sihm in Gleichschritt. »Wenn du um dich herum alles hast, was du brauchst«, sagte Dex, »gibt es keinen Grund wegzufahren. Den Ort zu wechseln kostet viel Zeit und Mühe.«

Helmling wies mit einer Kopfbewegung auf den Wagen, der pflichtbewusst hinter Dex’ Ochsenbike herrollte. »Würdest du sagen, dass du da drin alles hast, was du brauchst?«

Dex entging nicht, wie Helmling seine Äußerung formuliert hatte. Was brauchen die Menschen?, war die schwierige Frage, deretwegen Helmling im Auftrag der Roboter in die Wildnis gezogen war, und Dex hatte keine Ahnung, wie Helmling darauf jemals eine zufriedenstellende Antwort finden sollte. Sihm war klar, dass ser diese Frage unentwegt hören würde, solange sie eben für ihre Reise durch Pangas von Menschen bewohnte Gebiete benötigten, aber anscheinend fing Helmling schon jetzt damit an.

»In materieller Hinsicht ja, mehr oder weniger«, antwortete Dex. »Zumindest was alltägliche Dinge angeht.«

Der Roboter legte den Kopf schief und betrachtete die Kisten, die auf dem Wagendach festgezurrt waren und in denen weitere Gegenstände rumpelten. »Wenn ich das alles mitnehmen müsste, hätte ich wohl auch keine große Lust zu reisen.«

»Du kannst auch mit weniger auskommen, du musst nur wissen, wo du hinfährst«, sagte Dex. »Du musst dir sicher sein, dass du dort, an deinem Ziel, etwas zu essen und ein Dach über dem Kopf bekommst. Genau dafür sind diese Schilder da.« Ser warf Helmling einen vielsagenden Blick zu. »Sonst verbringst du die Nacht in einer Höhle.«

Helmling nickte verständnisvoll. Der schwere Aufstieg nach Hart’s Brow lag schon eine Woche zurück, aber er steckte Dex noch immer in den Knochen, und ser hatte daraus keinen Hehl gemacht. »Da wir gerade davon sprechen, Geschwister Dex«, sagte Helmling, »mir ist nicht entgangen, dass es dem Schild nach noch zwanzig Meilen bis nach Stumpf sind, und …«

»Ja, es wird langsam spät«, stimmte Dex zu. Zwanzig Meilen waren nicht viel, aber sie befanden sich immer noch tief im Wald und waren noch niemandem begegnet. Abgesehen von Dex’ Ungeduld gab es keinen Grund, in der Dunkelheit weiterzufahren, und so sehr sich Dex auch darauf freute, wieder einmal in einer richtigen Ortschaft zu sein, waren sihm Ruhe und Erholung im Moment doch wichtiger.

Sie verließen die Straße an einer einfachen Lichtung, die eigens zu diesem Zweck angelegt worden war, und gemeinsam schlugen Dex und Helmling ihr Lager auf. Was das anging, hatten die beiden in den letzten Tagen stillschweigend eine gewisse Routine entwickelt. Dex sicherte alles, was Räder hatte, Helmling klappte die Küche an der Wagenaußenseite aus, Dex holte Stühle, Helmling machte Feuer. Darüber gab es keine Diskussionen mehr.

Während Helmling den Biogastank an die Feuertrommel anschloss, holte Dex siren Taschencomputer heraus und öffnete sire Mailbox. »Wow«, sagte ser.

»Was ist los?«, fragte Helmling, der gerade den Metallschlauch am Ventil des Gastanks befestigte.

Dex scrollte durch die Nachrichten. Noch nie in sirem Leben hatte ser so viele Mails bekommen. »Eine Menge Leute wollen dich kennenlernen«, sagte ser. Das kam nicht ganz unerwartet. Sobald Dex nach dem Abstieg wieder Empfang gehabt hatte, hatte ser Nachrichten an die Gemeinderäte, die Wildhüter, das Klosternetzwerk und alle anderen Kontakte geschickt, die sihm einfielen. Der erste Roboter, der seit dem Erwachen Kontakt suchte, sollte kein Geheimnis bleiben oder zur Überraschung werden, fand Dex. Helmling war hier, um die Menschheit als Ganzes kennenzulernen, also hatte Dex diese informiert.

Es war wohl nur zu verständlich, dass alle zurückgeschrieben hatten.

»Wir haben eine Menge Einladungen aus der Stadt«, sagte Dex, während ser außen am Wagen lehnte und die Nachrichten durchging. »Ähm … die Universität natürlich, das Stadtgeschichtliche Museum, und – o Mist.« Ser zog die Augenbrauen hoch.

Helmling stellte seinen Stuhl neben die erloschene Feuertrommel und setzte sich. »Was ist?«

»Sie wollen ein Symposium abhalten«, sagte Dex.

»Was ist das?«

»Äh, das ist eine offizielle Veranstaltung, bei der alle Mönche für ein paar Tage im Haus der Sechs zusammenkommen, um …« Dex machte eine unbestimmte Handbewegung. »Es gibt eine Zeremonie und Gespräche und … es ist eine Riesensache.« Ser las die überschwängliche Nachricht und kratzte sich am Ohr. »Oft findet das nicht statt.«

»Ich verstehe«, sagte Helmling, aber seine Stimme klang abwesend, und er sah Dex nicht an. »Es ist nicht so, dass mich das nicht interessieren würde, Geschwister Dex, aber …«

»Ja«, sagte Dex mit einem Nicken, denn ser wusste, was jetzt kam. »Nur zu.«

Helmling beugte sich so weit wie möglich zur Feuertrommel vor, die leuchtenden Augen auf den Apparat darin gerichtet. Er betätigte den Schalter an der Seite, und mit einem leisen Zischen erwachte das Feuer zum Leben. »Hach!«, sagte Helmling entzückt. »Das ist wirklich wunderbar.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, faltete die Hände im Schoß und sah dem Tanz der Flammen zu. »Ich glaube nicht, dass ich mich daran je sattsehen werde.«

Das Vorhandensein von Wärme und Licht war das beiläufige Signal, dass das Lager aufgeschlagen war, und Dex entschied, dass die Mails warten konnten. Ser legte siren Computer beiseite und tat endlich das, worauf ser sich schon seit Stunden freute: Ser zog sire schweißnasse, vor Schmutz starrende Kleidung aus, richtete die Klappdusche, drehte das Wasser auf und trat unter den Strahl.

»Bei allen Göttern«, seufzte ser. Getrocknetes Salz und verkrusteter Straßenstaub schälten sich geradezu von sirer Haut ab und liefen in schmutzigen Windungen in das Grauwasserbecken. Das saubere Wasser brannte in siren Schürfwunden und linderte den Schmerz der zahllosen Insektenstiche, die Dex, obwohl ser es besser wusste, aufgekratzt hatte. Der Wasserdruck war nur mäßig und das Wasser so warm, wie es die Solarverkleidung des Wagens und das Sonnenlicht in den tiefen Wäldern zustande brachten, aber für Dex fühlte es sich trotzdem wie reiner Luxus an. Ser legte den Kopf in den Nacken, ließ das Wasser durch sire Haare rinnen und blickte zum Himmel über den Bäumen hinauf. Die Sterne brachen durch das rosafarbene Blau, und hoch oben schwebte Motans gestreifte Wölbung und lächelte beruhigend auf den Mond herab, auf dem Dex zu Hause war.

Helmling reckte den Kopf um die Wagenecke. »Soll ich Essen machen, während du dich wäschst?«, fragte er.

»Das musst du wirklich nicht«, sagte Dex. Es war sihm immer noch unangenehm, den Roboter Aufgaben wie diese erledigen zu lassen, obwohl Helmling nichts lieber tat als zu lernen, wie Gegenstände benutzt wurden.

»Natürlich muss ich das nicht«, schnaubte Helmling, der Dex’ Zurückhaltung in dieser Hinsicht offenbar albern fand. Er hielt eine Packung getrockneten Dreinbohneneintopf in die Höhe. »Wäre das ein gutes Essen?«, fragte er.

»Das …« Dex gab nach. »Das wäre perfekt«, sagte ser. »Danke.«

Helmling warf den Herd an, und Geschwister Dex betete im Stillen zu dem Gott, dem ser sich hatte weihen lassen. Gepriesen sei Allalae für die Dusche. Gepriesen sei Allalae für die Minzseife, die sich aufschäumen ließ wie ein Baiser. Gepriesen sei Allalae für die Anti-Juckreiz-Salbe, mit der ser sich gleich nach dem Abtrocknen eincremen würde. Gepriesen sei Allalae für …

Ser schürzte die Lippen, denn ser merkte, dass ser sir Handtuch vergessen hatte, als ser unter die Dusche gegangen war. Ser warf einen Blick zu dem Haken an der Wagenseite hinüber, wo es eigentlich hätte hängen müssen. Zu sirer Überraschung hing das Handtuch genau dort, wo es hingehörte. Helmling musste es geholt haben, dachte ser, als er zur Speisekammer gegangen war.

Ein kleines, dankbares Lächeln erschien auf Dex’ Gesicht.

Gepriesen sei Allalae für die Gesellschaft.

2 | Das Waldland

Die Bäume, die das Dorf umgaben, waren täuschend jung. Majestätisch ragten sie über der Straße auf, höher als alle Gebäude außerhalb der Stadt, und ihre sich kreuzenden Äste schufen ein schillerndes Netz aus Sonnenlicht. Doch das Alter einer Keskenkiefer zeigte sich nicht in der Höhe, sondern in der Breite. In den ersten Jahren brauchten die Schösslinge jede Kalorie, die sie aus Licht und Erde zogen, um sich in die Höhe zu schrauben, dem Schatten am Waldboden zu entkommen und zur Helligkeit darüber zu gelangen. Erst nach vielen Jahren, in denen sie ungefiltertes Sonnenlicht in lebensspendenden Zucker umgewandelt hatten, wuchsen sie allmählich in die Breite und wurden im Lauf der Jahrhunderte zu wahren Giganten. Nach den Maßstäben ihrer Spezies waren die Bäume dort, wo Dex und Helmling gerade angekommen waren, schlanke Teenager, kaum zweihundert Jahre alt.

Nur eines erinnerte noch an die Riesen, die einst in diesem Wald gestanden hatten (und eines Tages wieder dort stehen würden). Dex bremste und stieg von sirem Bike, als sie sich dem Namenspatron des Dorfes näherten: einem riesigen Baumstumpf, so breit wie ein einfaches Haus, dessen mächtiger Stamm in den frühen Tagen des Fabrikzeitalters abgesägt worden war, einer Zeit, in der man ohne lange Überlegung binnen zwanzig Minuten etwas umgebracht hatte, das tausend Jahre lang gewachsen war. Vor dem Baumstumpf stand ein Schrein Boshs – ein Steinsockel, auf dem eine gemeißelte Kugel lag. Unzählige Passanten hatten kleine Bänder daran befestigt, die inzwischen ausgefranst und deren Farben unter dem freiem Himmel verblasst waren. Dex hatte Bänder im Wagen, holte jedoch keines. Ser legte nur die Hand auf den moosbewachsenen Stein und neigte ehrerbietig den Kopf zum Gruß.

Helmling kam hinter sihm her und sah sihm zu. »Darf ich fragen, wieso du das tust, wo Bosh doch gar keine Notiz davon nehmen wird?«, fragte er.

»Der Schrein ist nicht für Bosh«, sagte Geschwister Dex. »Er ist für uns. Für die Menschen, meine ich. Bosh existiert und wirkt unabhängig davon, ob wir ihm Beachtung schenken. Aber wenn wir ihm Beachtung schenken, können wir mit ihm Verbindung aufnehmen. Und wenn wir das tun, fühlen wir uns … na ja, du weißt schon. Heil.«

Helmling nickte. »So fühle ich mich bei allem, was ich in der Wildnis beobachte. Und wahrscheinlich verstehe ich deshalb nicht, was das soll – was nicht böse gemeint ist.«

»Das habe ich auch nicht so verstanden«, sagte Dex. »Aber dann kennst du das Gefühl, das ich meine?«

»Sehr gut sogar. Ich fühle mich allem verbunden, einfach durch die Beobachtung, wie sich die Dinge durch den Kreislauf bewegen. Ich brauche keinen Gegenstand, um dieses Gefühl hervorzurufen.«

»Wir brauchen auch keinen, wenn wir uns darauf besinnen, innezuhalten und hinzuschauen«, sagte Dex. »Aber genau darin liegt der Zweck eines Schreins, eines Götterbilds oder eines Festes. Den Göttern sind sie egal. Diese Dinge erinnern uns daran, dass wir uns nicht im alltäglichen Einerlei verlieren sollen. Wir müssen uns kurz Zeit nehmen, um das große Ganze zu erfassen. Für viele Menschen ist das leichter gesagt als getan – du wirst es ja sehen.« Ser hielt kurz inne und dachte nach. »Weißt du, es ist lustig, wie du das ausgedrückt hast.«

»Wie ich was ausgedrückt habe?«, fragte Helmling.

»Dass du keinen Gegenstand brauchst, um dieses Gefühl zu hervorzurufen.« Dex lachte auf. »Du bist ein Gegenstand, der dieses Gefühl hervorruft. Das Gefühl kommt ja schließlich aus dir.«

Helmlings Linsen bewegten sich, und Dex konnte ein leises Surren in seinem Kopf hören. »So habe ich das noch nie gesehen«, sagte er, legte die Handflächen auf seinen Oberkörper und wurde ganz still.

Dex beobachtete, wie der Roboter vor den Überresten des geraubten Baumes über sich selbst nachdachte, und dabei regte sich auch bei sihm ein Gedanke. »Für manche Menschen wirst du möglicherweise ein überwältigender Anblick sein, weißt du.«

»Wieso?«

»Erzählungen über die vergangene Welt sind das eine«, sagte Dex. »Ein Stück davon zu sehen, ist etwas völlig anderes. Wir haben Ruinen und Dinge wie das da …« Ser nickte zu dem Baumstumpf hinüber. »Aber von einem steinernen Schrein bist du denkbar weit entfernt. Ich habe nie am Erwachen gezweifelt, aber durch die Begegnung mit dir ist es auf eine Weise real geworden, wie das kein Museum je hinbekommen hätte. Ich glaube, durch dich wird den Leuten einiges klar werden, selbst wenn sie dich nur vorbeigehen sehen.«

Helmling verarbeitete das. »Ich hätte nicht gedacht, dass ihnen durch mich etwas klar werden könnte«, sagte er. »Das ist doch das, wonach ich suche.«

»Sicher, aber bei jeder Begegnung kommt es zu einem Austausch, selbst bei der kleinsten. Es ist immer ein Geben und Nehmen.«

»Trotzdem, was du da sagst, ist eine ganz schöne Verantwortung.« Helmling faltete die Hände vor der Brust, und obwohl es Tag war, leuchteten seine Augen. »Was ist, wenn ich es vermassle?«

»So darfst du nicht an die Sache herangehen«, sagte Dex. »Du musst gar nichts tun. Du musst einfach nur du sein. Entschuldige, ich wollte dich nicht nervös machen.«

»Na ja, das hast du aber, Geschwister Dex.« Der Roboter wrang die Hände, und das Surren in seinem Kopf wurde lauter. »Außer dir habe ich noch nie einen Menschen getroffen, und mir ist klar, dass ich genau dafür hier bin, aber jetzt wird mir erst die ganze Tragweite bewusst, und – oh, bestimmt komme ich dir furchtbar töricht vor.«

Dex zuckte mit den Achseln. »Ehrlich gesagt wundert es mich, dass du nach unserem Aufbruch zehn Minuten gebraucht hast, bis du …«

»Zehn Minuten?!«, rief Helmling und schlug die Hände vor das Gesicht. »O nein. O nein.«

»Hey.« Dex legte die Hand auf den Unterarm der aufgewühlten Maschine. Die nackten Metallteile fühlten sich unter der Berührung gleichmäßig warm an. »Keine Sorge. Das wird schon. Du machst das bestimmt großartig.«

Helmling sah sihn mit geweiteten Linsen an. »Meinst du, sie werden Angst vor mir haben? Oder … mich vielleicht nicht mögen?« Er sah an seinem Körper hinunter. »Vielleicht gefällt ihnen nicht, woran ich sie erinnere?«

»Schon möglich«, sagte Dex mit sanfter Aufrichtigkeit. »Aber ich bezweifle sehr, dass viele von ihnen so empfinden werden, und außerdem musst du dir deswegen keine Sorgen machen.«

»Warum nicht?«

Dex lächelte ihn beruhigend an. »Weil ich die ganze Zeit über bei dir sein werde.«

Als Dex und Helmling ungefähr zehn Minuten später um eine Kurve bogen, wurden sie von einer Explosion menschlicher Prachtentfaltung empfangen. An den Ästen hing ein großes Banner, das WILLKOMMEN, ROBOTER! verkündete, in Buchstaben, die aus Stoffresten mit verschiedenen Mustern geschnitten waren. Um die Baumstämme darunter wanden sich Girlanden aus Blumen und Solarlämpchen, die Edelsteinen glichen. Auch frisch geknüpfte Bänder gab es, die in der Luft flatterten, als der Wagen vorbeifuhr.

»Ist das alles für mich?«, fragte Helmling und sah sich erstaunt um.

»Für welchen Roboter soll es denn sonst sein?«, entgegnete Dex.

Helmling sah zu dem Banner hoch, während er darunter hindurch ging. »Es ist sehr … überschwänglich.«

»Sie sind aufgeregt«, sagte Dex. »Sie sind noch nie einem von euch begegnet. Sie wollen viel Tamtam machen.«

»Wegen mir hat noch nie jemand viel Tamtam gemacht«, sagte Helmling. »Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, was ein Tamtam beinhaltet.«