Inhaltsverzeichnis
Impressum 2
Einleitung 3
Ein Foto aus
Louis’ Familienalbum 5
Todesanzeige auf dem Fax 8
Unmut 13
Der letzte Anruf 16
Beileidsschreiben 27
Der ‚Brief‘ 41
Postskriptum 400
Nachwort der Adressatin 414
Nachbemerkung 423
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
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© 2020 novum Verlag
ISBN Printausgabe: 978-3-99064-759-2
ISBN e-book: 978-3-99064-760-8
Lektorat: Marie Schulz-Jungkenn
Umschlagfotos: Rattanachai Singtrangarn, Mohamed Ali | Dreamstime.com
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh
www.novumverlag.com
Einleitung
Haben wir nicht in Marienbad einmal darüber gesprochen, dass es ein Verharren im Barbarischen ist, das Ende jedes Lebens der so genannten Natur zu überlassen? Der Natur ist es egal, wie wir leiden. Uns nicht. Wir müssen uns im prekären Fall dafür entscheiden dürfen, das Unzumutbare nicht durch kulturellen Firnis zumutbar erscheinen zu lassen. Und Schluss!
J. W. von Goethe
Ein Foto aus
Louis’ Familienalbum
Sonntag, es schneite und der Schnee blieb liegen, mindestens 15 Zentimeter hoch, der Wind war stürmisch und die Kälte beißend. An den geplanten Ausflug in die Berge war nicht zu denken, nein, ich nistete mich zu Hause ein, entfachte ein Kaminfeuer und stellte mich auf einen Lesesonntag ein, wie es einige gab in letzter Zeit, denn wir hatten einen strengen Winter, der sich offensichtlich noch nicht verabschiedet hat. Pech für viele, nicht aber für den Bücherwurm, der sich auf weitere ersprießliche Lektüre freut. Ich weiß nicht mehr genau, weshalb ich plötzlich die Idee hatte, in meinem Familienalbum zu blättern und was ich darin suchen wollte. Egal, ich stieß unvermutet auf ein Bild, das mich festhielt, ohne erkennbaren Grund, es sei denn … ja, vielleicht! Ich betrachtete es mit Interesse: Ja natürlich, ich erinnere mich sehr wohl an diese Szene …
Es war ein Bild aus der Wohnküche eines Ferienhauses, das wir vor vielen, vielen Jahren für eine Woche mieteten, um Winterferien zu verbringen, und zwar zusammen mit der noch jungen Familie eines Cousins, namens Stan, mit Frau und dem erstgeborenen Kind namens Simonetta. Mit dabei waren deren frischgebackene Großmutter, Martina, sowie meine eigene Familie, die damals bereits vierköpfig war. Es war eine gewöhnliche Szene einer gelangweilten Familie: Die noch versammelte Belegschaft nämlich, welche nach dem Frühstück – die Teller waren schon aufgestapelt, die Tassen leer – noch plaudernd am Tisch sitzen geblieben ist, weil, wohl wetterbedingt, keine Eile angesagt war und keiner wusste, was zu unternehmen sich am ehesten noch anbot … im Vordergrund Martina mit rauchender Zigarette, graumelierten Haaren und Brille, vermutlich sprechend, daneben die Mutter meiner Kinder mit der Zweitgeborenen auf dem Schoß und an der Stirnseite des Tisches die ebenfalls frischgebackene Mutter, Stans Frau, mit Simonetta auf den Armen, Letztere höchstens einige Monate alt, schlafend, satt. Auf der anderen Tischseite saß Stan mit meiner ältesten Tochter auf den Knien, die ihren reichlich abgenutzten Bären namens „Schwarzes Bébé“ herzte.
Es sieht alles sehr friedlich aus, zufriedene Gesichter allenthalben, ernsthaft indes der Gesichtsausdruck Martinas, die gerade dabei war, irgendetwas ‚ganz richtig zu sagen‘, nicht erinnerlich indes, worum es dabei ging; ‚Eizes‘ – eines ihrer Lieblingswörter – für die Erziehung wohl? Die Familienidylle, so es denn eine war, schien ungetrübt, sicher aber sind damals Bande neu geknüpft worden, die alsdann lange halten sollten, wenngleich nicht in dieser harmonischen Form. Dieser kritische Gedanke schoss mir augenblicklich durch den Kopf, als ich das Bild betrachtete.
Weshalb mich gerade dieses Bild – ich war ja der Fotograf und sah die Szene aus derselben Perspektive wie damals – in seinen Bann zog, war mir nicht klar. Es war eine Momentaufnahme, die ich seinerzeit erfrischend fand und nun als Erinnerungsbild an vergangene Zeiten zur Kenntnis nahm, wenngleich ich dabei ein eigenartiges Gefühl hatte, führte ich doch wenige Tage davor mit der nunmehr betagten Martina ein langes Telefongespräch, dessen Inhalt mich wohl noch immer beschäftigte, denn die Zeit zwischen der auf dem Bild festgehaltenen Szene und dem Telefonat, rund dreißig Jahre, hat, vermöge zahlreicher, teils einschneidender Vorfälle, vieles verändert, das der lockeren Atmosphäre auf dem beschriebenen Bild nicht nur widerspricht, sondern geradezu von gegensätzlicher Art ist. Die Familien zerfielen in ihre „Einzelteile“, um es kurz zu sagen, und sorgten immer mal wieder für heiße Köpfe.
Es war offenbar kein Zufall, vielleicht sogar ein seherischer Akt, so man sich eine derartige Fähigkeit zubilligen möchte, dass ich mich eingehend mit diesem Bild beschäftigte, der folgende Montag verschaffte Klarheit …
Todesanzeige auf dem Fax
Nach einer schlaflosen Nacht brach der Montag an, ein gewöhnlicher Montag, wie es mindestens deren 52 pro Jahr gibt, wobei nahezu jeder dem vorangehenden wie auch dem nachfolgenden gleicht wie ein Ei dem anderen. Montag also und sonst nichts; Montage sind ohnehin unbeliebt, doch hartnäckig wiederholen sie sich Woche für Woche, als wären sie einem Pendel der Ewigkeit verpflichtet. Nach einem ersprießlichen Wochenende, sei es aktiver oder passiver Natur, meist ziemlich entspannt, stellt man sich unwillkürlich wieder darauf ein, hektische und zuweilen auch aufregende Stunden durchzustehen, auch stets abzuarbeiten, was anfällt, kurzum, sich in der gewohnten Arbeitswelt wieder zurechtzufinden, das Los des Normalbürgers, dessen sich zu entschlagen, nie gelang. Das ist somit der Normalfall und mitunter gelingt es auch auf Anhieb, sich umzustellen, zuweilen braucht man vielleicht einen Moment, um den Unmut über die allzu rasch dahineilende Zeit zu überwinden, den Unmut vielleicht auch, die Muße, durch das Müssen zu ersetzen.
Nun, man nimmt es zunächst gelassen hin, betritt das Büro, um sich am Arbeitsplatz niederzulassen, betrachtet etwa mit einem schiefen Blick, vielleicht sogar etwas verdrießlich den Stapel von Papieren, den es zu erledigen gilt, weiß indes, dass kein Weg daran vorbeiführt, und beginnt, zunächst noch im Tempo der Freizeit, wohl gemächlich, dann mit zunehmendem Eifer und speditiv, Stück um Stück zu erledigen. Die Maschine läuft an, tut ihren Dienst, wie jeden Montag und alle weiteren Werktage auch, Gewohnheit und Routine greifen Platz.
Doch dieser Montag hatte einen besonderen „Geruch“, war nicht wie sonst, nicht nur, weil er rein zufällig der letzte Tag im kurzen Monat Februar war, sondern weil zudem irgendetwas in der Luft lag, etwas, das nicht auf Anhieb erkennbar war. Ich fühlte mich nicht wohl in meiner Haut, kaute noch an jenem eigenartigen Telefongespräch herum, das ich am Freitagabend führte, es wollte mir nicht aus dem Kopf gehen, mir schwante Unheil. Nun ja, die liebe Cousine, mit welcher ich zeitlebens einen recht intensiven Kontakt pflegte, ist mittlerweile in die Jahre gekommen und körperlich angeschlagen, lebte allein in ihrem Haus und hatte reichlich Sorgen, derer sie nicht Herr wurde. Sie rief mich an, um mich offiziell über einen ungewöhnlich hässlichen Brief ihres jüngeren Sohnes zu informieren, den sie selbigen Tages erhielt, in Tat und Wahrheit jedoch aus einem ganz anderen Grund, der sich mir nicht unmittelbar erschloss. Sie las ihn nicht in seiner ganzen Länge vor, erläuterte aber – teilweise, wie sich später herausstellen sollte – dessen Inhalt, der wie immer vorwurfsvoll und anklagend, ja teilweise sogar bösartig war, denn das Verhältnis zu ihm war aus bislang unerfindlichen Gründen massiv gestört. Er habe nun, so dessen wichtigste Eröffnung, ein ziemlich brisantes Detail, das einiges erkläre, „endlich“ in reichlich despektierlicher Formulierung zum Ausdruck gebracht und als widerlich bezeichnet, um es ihr mit nötigender Wirkung unter die Nase zu reiben, ja, sie zu beleidigen und zu demütigen. Sie glaube nun zu wissen, weshalb er sie verachte, doch … nebbich! Genaueres wolle sie darüber nicht aussagen, denn sie fand es beschämend und bringe sie in arge Verlegenheit, da sie überrumpelt worden sei und nicht wisse, wie sie reagieren soll, sie sei verunsichert, wolle ein- oder zweimal darüber schlafen, ehe sie sich zu einer Antwort durchringe.
Ich, als Vertrauensperson, als die sie mich seit einiger Zeit schon betrachtete und öfters mal beanspruchte, wunderte mich dennoch über ihr Zaudern, denn wir waren es gewohnt, jeweils das Kind beim Namen zu nennen, sodass ich sogar einige ihrer intimsten Geheimnisse kannte. Ich sprach sehr lange mit ihr, wusste derweil am Ende des Gesprächs nicht, was sie mit dem Telefonat wirklich bezweckte, weil ich den appellativen Aspekt ihrer teils provokativen Aussagen nicht richtig erfasste. Während des ganzen Wochenendes hatte ich ein mulmiges Gefühl, zog mehrfach in Erwägung, zurückzurufen, um mehr über ihre Befindlichkeiten zu erfahren, verwarf aber die Idee immer wieder und verhielt mich schließlich zurückhaltend, blieb aber nervös und besorgt. Instinktiv erahnte ich, dass sich irgendetwas Besonderes abspielte, konnte indes nicht wissen, dass dem tatsächlich so war und wie tragisch es sein würde. Immer wieder drehten sich meine Gedanken um ihren Appell, immer wieder war ich beunruhigt, immer wieder zuckte meine Hand, um zum Telefonhörer zu greifen, immer wieder hielt ich mich zurück, Unruhe und Besorgnis beherrschten die Freitage, ja, im Laufe der folgenden Woche wollte ich mir Klarheit verschaffen, sie vielleicht sogar besuchen, wie ich es gelegentlich tat, nicht zuletzt, um Tacheles zu reden.
Ich drückte mich herum, blickte schief auf das wartende Arbeitspensum, erhob mich wieder vom Sessel, ging einige Schritte in Richtung Türe, kehrte wieder um, weil ich nicht wusste, was ich dort wollte, setzte mich erneut hin und versuchte, noch einmal von vorne zu beginnen, ohne Lust und Impetus, weil’s eben sein musste. Was war los? Ganz so schlimm war bisher der Arbeitsbeginn zum Wochenanfang noch nie und nur die Tatsache, dass der Februar zu Ende war und die Hoffnung auf Frühling zu keimen begann, konnte auch nicht der Grund des unverständlichen Hemmnisses sein, das ich damals empfand. Nein, es musste etwas anderes sein als sonst, etwas, das mich irgendwie blockierte, doch was?
Ich schaute mich um, erkannte nichts Außergewöhnliches, hörte den Anrufbeantworter ab, keine Besonderheiten – das Übliche bloß – und blätterte den Papierstapel mal provisorisch durch, besichtigte ihn sozusagen im Schnelldurchlauf und fand zunächst nichts Besonderes, nichts, das den üblichen Rahmen gesprengt hätte: Berichte, Formulare, Befunde … Alltägliches nur. Ich tat dasselbe noch und noch und noch einmal, fühlte mich irgendwie dazu gedrängt, als ahnte ich, dass der Stapel etwas Wichtiges enthielte, … und da fand ich plötzlich mitten drin ein Blatt, das meine Aufmerksamkeit erregte:
Eine Todesanzeige auf einem simplen Faxpapier … nein, so was Prosaisches gab’s noch nie! Unerhört, schockierend!
Ich zog es raus und war erschüttert und fassungslos zugleich: Die anscheinend unverhofft verstorbene Person – ich musste zweimal hinschauen, ehe ich erfasste, was ich in der Hand hielt, denn es betraf ausgerechnet jene Cousine, mit welcher ich mich während des ganzen Wochenendes beschäftigte – war also schon tot, als ich mich unaufhörlich fragte, ob ich sie anrufen sollte, um ihr sozusagen noch einmal den „Puls“ zu fühlen und nachzufragen, was sie denn auf dem Herzen habe … ich hätte sie nicht mehr erreicht, das war mir schlagartig klar … betrüblich; Versagensangst beschlich mein Gewissen … habe wohl nicht gut hingehört!
Nun ja, sie hatte für mich und meine Lebensgestaltung eine ganz besondere Bedeutung und die reichlich nüchterne Benachrichtigung drei Tage nach ihrem Todestag, dem Tag nach dem beunruhigenden Telefonat mithin, wirkte wie ein Schlag ins Gesicht … Ich musste mich erst vom Unmut erholen, welchen dieser schäbige Zettel hervorrief, dann erst versuchte ich, von den nächsten Verwandten jemanden telefonisch zu erreichen, um nachzufragen, was sich denn im Einzelnen ereignet habe, hatte ich doch reichlich Gründe anzunehmen, dass es sich hier um einen außergewöhnlichen Fall handeln musste; ich erreichte niemanden und ich blieb allein mit meinen Zweifeln sowie einer Art Schuldgefühl, weil ich zuvor anscheinend zu wenig sensitiv war, um zu wittern, dass sie Abschied nehmen wollte, ja, zur Kenntnis nehmen musste, dass mein hölzerner Realitätssinn offenbar nicht zuließ, den tieferen Sinn, der sich hinter den Worten verbarg, aufzuspüren. Erst Tage später erfuhr ich, wie sich das Ganze abspielte, und wurde auch über die zeitlichen Gegebenheiten informiert. Keiner wollte gewusst haben, dass ich mit der Verstorbenen im Vorfeld des traurigen Ereignisses zahlreiche Gespräche führte und dies zum letzten Mal auch kurz davor.
Ich nahm das Blatt, las es langsam mehrmals durch und dabei fiel mir einiges auf: Etwa, dass sie am Tag der Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags geboren wurde, genau 5 Jahre nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo, welche zur Ursache des Ersten Weltkriegs outriert wurde – ein Nebenbefund, der die Familiengeschichte jedoch tangierte –, vielmehr aber die Kürze und lakonische Form der Anzeige, eine Art Kurzform, welche frostiger nicht hätte ausfallen können; ich war entrüstet und fühlte mich veranlasst, mich intensiver mit der Angelegenheit zu befassen, umso mehr, als ich eben bereits zuvor mit einigen Details, welche in diesem Zusammenhang erwähnenswert sind, konfrontiert wurde …
Und so sah der schäbige Zettel aus, den ich nun in der Hand hielt:
Nach einem langen und erfüllten Leben ist
Unsere Mutter und Großmutter
Martina Borg-Naiger
(*28. Juni 1919)
am 26. Februar 2005 in Frieden von uns gegangen
Die Trauerfamilie
Unmut
Kein Brief mit schwarzem Rand oder auch ohne, nein, ein banales Fax! Kurz, unscheinbar, nichtssagend … eine unverbindliche Mitteilung an die Öffentlichkeit bloß, emotionslos und knapp: Eine Frau, welche offensichtlich Kinder und Enkel hatte, hat das Zeitliche gesegnet, hartherzig, inhaltslos, beinahe unanständig und despektierlich … ein Wunder nur, dass nicht etwa geschrieben stand, man sei froh, dass sie endlich ein Einsehen hatte und uns von ihrer desolaten Existenz erlöst habe.
Wer ist wie und weshalb von uns gegangen, wessen erfülltes Leben – von wegen – ist damit zu Ende gegangen, wer ist die Trauerfamilie, wer gehört dazu, wer nicht … Sicherlich, sie war Mutter und Großmutter, aber auch Tante und Cousine sowie vor allem eine geschätzte Freundin zahlreicher Leute, vieler Künstler und Wissenschaftler, eine Frau also, deren Bedeutung und Beliebtheit weit höher einzuschätzen ist, als aus diesen frugalen Worten hervorgeht. Das Leben sei erfüllt gewesen, inwiefern denn? Eine Floskel, die man gemeinhin benutzt, mehr nicht, ausdrucksloses Geschwätz! Auch lang soll es gewesen sein, wohl zu lang in den Augen jener Person – wer mag es denn gewesen sein? –, der diese Anzeige verfasste. Ja wer, so fragte ich mich, hat denn darüber zu entscheiden, wie lange ein Leben dauern soll und wann es zu lange wird, das zu beurteilen, ist doch unstreitig Privatsache, im höchsten Fall dem Ermessen des jeweiligen ‚Besitzers‘ allein überantwortet, oder etwa nicht?
Unverständlich also! Was mag dahinterstecken, welche Tragödien und Misshelligkeiten werden durch diese Todesanzeige verschleiert? Und was heißt denn in Frieden, wessen Frieden? … aus meiner Sicht eine glatte Lüge, denn … Wer war wohl dabei, als sie starb, wer hat sie in den Tod begleitet, um sich legitimiert zu fühlen, eine solch dämliche Aussage zu machen? Ja, natürlich, auch dies eine gängige Floskel, vielleicht ein frommer Wunsch nur, um die Misstöne, welche dem Schicksalstag vorangingen, zu übertönen.
Sie sei von ‚Uns‘ gegangen … wer ist mit ‚Uns‘ gemeint, wen hat sie denn verlassen, wem wird sie fehlen? … eine Todesanzeige also aus dem Theater-Fundus, jener Ansammlung abgedroschener Schablonen, welche man im Zweifelsfall der Kiste entnimmt, um sich möglichst ungeschoren aus der Affäre zu ziehen, ja, eine lästige Pflicht zu erfüllen, welche die Gesellschaft einfordert.
Selbst dieses ‚Uns‘ ist reine Formsache; ehrlicher wäre es gewesen zu sagen, sie ist gegangen, ohne uns zu fragen, weggegangen, ohne um Erlaubnis anzusuchen oder gar geflohen, weil sie es nicht mehr aushielt … es wird der Sache nicht gerecht, wenn man sie ins gutbürgerliche Schema hineinpresst, selbst wenn sie sich dazu nicht mehr äußern kann. Kurzum, es ist alles verlogen, unpassend und frech. Wodurch hat sie sich das verdient?
Ich fühle mich übergangen! Ein Affront, ja fast eine Ohrfeige für mich, der ich diese Frau nicht nur sehr gut kannte, sondern selbst in nahezu letzter Minute – nicht zufällig, wie ich erst dachte – noch Gelegenheit hatte, mit ihr zu sprechen, wohl um ihr einen ‚Freibrief‘ auszustellen, der es ihr erlaubte, alsdann all dies zu vollenden, was wir Wochen und Monate zuvor schon intensiv erörtert haben. Weshalb also wurde sie durch diese kärgliche Anzeige dermaßen entstellt, dass man sie nicht wiedererkannte, weshalb sollten alle Werte, welche mit ihr vergangen sind, unterschlagen werden, ja, wer mochte denn befugt sein, dies zu tun?
Ich war nicht nur erbost, ich war buchstäblich aufgebracht, witterte unschöne Begebenheiten, rechnete mit dem Schlimmsten … nein, nicht etwa kriminelle Machenschaften … oder im weitesten Sinne eben doch; womöglich Ansichtssache? Ich wollte es wissen, doch die Hände waren mir gebunden, guter Rat war teuer; nur durch Nachdenken, das sich auf Gesagtes, vielleicht nebenbei Erwähntes stützt, müsste es mir wohl gelingen, der Sache ein wenig auf den Grund zu gehen, um fühlbare, aber nicht konkrete Unstimmigkeiten zu eruieren, zumindest aber als Annäherung an die größtmögliche Wahrscheinlichkeit herauszuarbeiten. Ja, genau dies wollte ich tun, den Rest danach erledigen, ich hatte auch meine Befindlichkeiten, die erfüllt sein wollten …
•
Und in Gedanken schreibe ich ihr einen letzten Brief:
Martina, Du warst in meinem Leben eine wichtige Person, hast mir viel gegeben, mich vieles gelehrt, mich in meiner Art akzeptiert und geschätzt, ernst genommen auch sowie Vertrauen geschenkt und mir nicht zuletzt auch herrliche Gerichte aus dem alten Kochbuch der Familie gekocht. Ich möchte Dir posthum jene Verehrung entbieten, welche Dir Deine Leute, jene also, die sich mit ‚Uns‘ einbringen wollen, anscheinend verweigern. Mögen sie, jene, die Dich ins Pfefferland wünschten, doch frohlocken, so sie es für angemessen halten, ich meinerseits bin traurig und vermisse Dich!
Adieu also, Adieu für immer, ich werde Dein Andenken ehren …
Dein Louis
Der letzte Anruf
Diese Todesanzeige lag also, wie gesagt, am besagten Morgen auf meinem Papierstapel, der zur gefälligen Bearbeitung von meiner Mitarbeiterin auf meinem Schreibtisch hinterlegt wurde … ich traute tatsächlich zunächst meinen Augen nicht und das hatte seine Gründe. Ist es denn möglich, dass Martina gestorben ist? Ich habe doch vor drei Tagen noch mit ihr gesprochen … völlig normal, sie war so weit gesund und munter – die bekannten Altersgebrechen ausgenommen – sowie angriffig und scharfzüngig wie eh und je, fordernd auch … wir sprachen über Dinge nur, die wir längst abgehandelt und geklärt hatten … es muss wohl am Vorabend ihres Todes gewesen sein, wie ich nachträglich rekonstruieren konnte. Ich stand vor einem Rätsel, war erschüttert und ärgerte mich über meinen fehlenden Spürsinn. Was hatte ich verpasst, welche ihrer Worte waren appellativ, verräterisch vielleicht sogar, wann und wo versagte mein Riecher, der mich sonst selten im Stich ließ? Ich war beschämt!
Was ist geschehen? Welcher Umstand hat zum Tod geführt? Und wenn die Todesanzeige wirklich, ich sage mal in unbescheidener Weise, ‚meine‘ Martina betrifft, wer mag denn diese äußerst kümmerliche und ebenso unangemessene wie abschätzige Form dieser pampigen Todesanzeige abgefasst, ja, so gewollt haben? Wer hätte ein Interesse, mit solch dürftigen und durchweg phrasenhaften Worten diese bedeutende Frau zu verabschieden und ihr die letzte Ehre buchstäblich zu verweigern? Etwa Martina selber – das wäre nicht ganz auszuschließen, entspräche durchaus ihrem Stil – oder die direkten Angehörigen? (Davon lebten nur noch ein abtrünniger Bruder sowie ein missmutiger Sohn und sieben Enkel, von denen einer sie nicht leiden mochte. Und der war es bestimmt nicht, denn er war stinkefaul.)
Und warum, so weiter, weiß ich nichts davon, werde erst nachträglich auf geradezu unpersönliche Art und Weise benachrichtigt? Handelt es sich vielleicht doch um eine andere Person? Nein, Fehlanzeige, stimmt doch das Geburtsdatum genau und der Absender des Faxes – am oberen Rand gerade noch erkennbar – ist mir bekannt; er muss der gesuchte Täter sein, der Tonfall der Anzeige passt zu ihm und seiner Haltung; ja, sie hatte recht, er ist ein ‚Kotzbrocken‘!
Irrtum also ausgeschlossen, ich habe definitiv zur Kenntnis zu nehmen, dass es ‚meine‘ Martina sein muss, welche gestorben ist, vor drei Tagen nämlich, nachdem ich – ich kann es mir nicht oft genug in Erinnerung rufen – am Vorabend noch mit ihr gesprochen habe, gewissermaßen konsultiert wurde, ohne es zu merken. Ein kluger Schachzug vielleicht, um mich ruhig zu stellen … Familiengeschwätz, belangloses Zeug bloß, verhaltene Klagen und unklare Hinweise auf Unstimmigkeiten, nichts wirklich Verräterisches, es ging ja vorwiegend um jenen unseligen Brief, den sie erhielt und sozusagen nebenbei kurz erwähnte, nur ansatzweise kommentierte, dessen wahre Bedeutung derweil unterschlug … weshalb hat sie es getan, es war nicht ihre Art, solches zu tun, aber sie gab sich jede erdenkliche Mühe zu erklären, dass sie sich daraus nichts mache, mimte Gleichmut. Steckte mehr dahinter, als sie zugab, mehr womöglich als sie mir bekannt machen wollte? Es gelang mir jedenfalls nicht, ihre wahre Absicht zu durchschauen, was einen schalen Geschmack hinterließ, schlichtweg blutleer und abgehalftert fühlte ich mich, leer auch mein Kopf …
Eine traurige Nachricht, völlig unerwartet, sie wühlte mich auf, beschämte mich …
Ich frage mich immer wieder, aus welchen Gründen eine ‚Trauerfamilie‘, so es denn tatsächlich eine solche geben sollte, sich dazu veranlasst sehen könnte, eine Todesanzeige so abzufassen, dass die dahingegangene Person bis zur Unkenntlichkeit ‚entstellt‘ wird, die Beschreibung irgendeiner Person wiedergibt, nur nicht der Verstorbenen. Was hat sie denn Schlimmes getan, dass man sie selbst nach ihrem Tode abstrafen wollte, welche Absichten, wessen auch immer, mögen sich hinter einer solch zugeknöpften Bekanntmachung des Ablebens einer über achtzigjährigen Person verbergen? Handelt es sich um ein Werturteil oder um die gleichzeitige Beilegung einer jahrelangen Familienfehde, ja, vielleicht sogar um die Vertuschung ungereimter Vorgänge – kurz, was soll’s?
Nun, ich gebe ja zu, dass ich etwelche Mühe hatte, anzuerkennen, dass es sich bei der Verstorbenen tatsächlich um ‚meine‘ Martina handeln musste, jener Martina, die ich eben zeitlebens verehrt habe und mit welcher ich auch fast zu allen Zeiten, und insbesondere in den letzten Wochen und Monaten, einen intensiven Kontakt pflegte, jene Person mithin, welche mir so viel bedeutete und in meinem eigenen Leben eine wichtige Rolle spielte. Aber genau in jener, vermutlich schweren Stunde, als sie starb, war ich entbehrlich, fast gar inexistent, keine unverzichtbare Kontaktperson mehr – schmerzlich und empörend zugleich! Es gab mich und meine große Zuneigung nur zu Martinas Lebzeiten, zusammen mit ihr erlosch auch meine Zugehörigkeit zur nunmehr als Trauerfamilie getarnten ehemaligen Mischpoche. Hat sie mir zu viel erzählt? Weiß ich zu viel? Muss man die übrigen Verwandten und Freunde – es waren bereits viele verstorben – verschonen, indem man mich draußen im Regen stehen lässt? Warum schreibt man mir nicht einfach einen Brief, dass ich über alles, was mir Martina anvertraut hat, Stillschweigen zu bewahren habe? Das wäre doch die einfachste und sicherste Lösung gewesen, nicht wahr? Oder gibt es noch weitere Gründe für diesen ‚Rausschmiss‘, generelles Misstrauen oder gewisse Befürchtungen etwa, war ich doch bis kurz vor ihrem Tod sozusagen an vorderster Front mit dabei, immer präsent, wenn der Familie etwas zustieß, und es waren keine Kleinigkeiten, die ich mit ihnen, nicht nur Martina selber, zu bewältigen hatte.
Es gibt kaum jemanden, den ich direkt hätte fragen können. Der noch lebende Sohn, federführend vermutlich, den ich aus früheren Zeiten bestens kannte, war mir aus unerfindlichen Gründen – er hatte wohl zufolge einer bestimmten Angelegenheit ein schlechtes Gewissen – nicht wohlgesinnt, obwohl ich ihm indirekt zu seiner existenzsichernden Position verholfen habe; er hat es mir nie gedankt. Die Kontaktnahme, wiederholt versucht, war unmöglich. Eine weitere Cousine dritten Grades, Martinas Enkelin mithin, kannte ich allerdings gut genug, um mich mit ihr in Verbindung zu setzen, wenn ich sie denn nur fände. Dennoch, ich würde es auf meine Art versuchen, Klarheit zu schaffen, etwa dergestalt, dass man allerorten wisse, dass ich dazugehöre, viel mehr über Martina und deren eigentliche Beweggründe wusste als alle anderen, und deshalb einen guten Grund hätte, diesen ziemlich außergewöhnlichen und überdies immateriellen Erbanspruch, nämlich weiterhin als ihr Freund und naher Vertrauter betrachtet zu werden, geltend zu machen. Da die Anwartschaft rein ideell war, rechnete ich mir gewisse Chancen aus, mich wenigstens bei einigen Angehörigen und Freunden, die mich nicht verteufeln wollen, gebührend durchsetzen sowie auch meine Position in Martinas Umfeld behaupten zu können. Aber selbst wenn es mir nicht gelingen sollte, meine Stellung innerhalb dieser Familie zu bewahren, so dürfte dies insofern keine namhafte Rolle spielen, als sich die Vertrautheit, welche mir so wichtig war, tatsächlich nur zwischen Martina und mir abspielte, und dies mit gutem Grund.
Ja, ich weiß recht viel, zu viel vermutlich, wohl als Einziger, als jener Vertraute mithin, für den sie mich hielt; nun, sie hat es angekündigt, des Öfteren schon, dass sie wohl in Bälde einmal … „aber nein, keine Bange“, versicherte sie anlässlich besagten Telefonats, „ich werde dich rechtzeitig ins Bild setzen, denn es liegt mir sehr viel daran, deinen Standpunkt zu kennen und die Sache mit dir gründlich zu besprechen und vor allem: komm doch noch einmal vorbei, unter anderem auch deswegen“ … „Ja natürlich, es eilt ja nicht, oder?“
„Nein, das nicht, aber endlos hinausschieben möchte ich die Debatte nicht. Ich habe genug, es reicht! … genug ist genug, weißt du!“
„Okay, nehme ich so zur Kenntnis und akzeptiere deinen Willen, ungern zwar, aber schließlich mit Wohlwollen, doch ich hätte da noch einige offene Fragen, die Vergangenheit wie auch die Zukunft betreffend, die ich gerne geklärt hätte, ehe dein Wissen nicht mehr verfügbar ist. Ich wäre dir sehr verbunden, wenn du nicht handeln würdest, bevor ich deren Antwort kenne oder zumindest weiß, wie und was du darüber denkst. Es ist nicht ganz unwichtig für mich, Klarheit zu schaffen und offensichtliche Ungereimtheiten sowie Zweifel zu beseitigen, die mich immer wieder beschäftigen. Natürlich bist du nicht im Alleinbesitz der Wahrheit, auch nicht verpflichtet, mir Rede und Antwort zu stehen, es ist an dir, zu entscheiden … ach ja, immer dasselbe, Familienangelegenheiten, Widersprüche, deren Lösung mir am Herzen liegt, Gerüchte, deren Wahrheitsgehalt ich gerne kennen würde, viel schmutzige Wäsche, die ich gerne noch gewaschen sähe, ehe du … du weißt schon, aber dein Bruder und womöglich Mitwisser wurde ja aus der Familie ausgeschlossen, als er die falsche Frau heiratete, und die letzte noch lebende Cousine ist dir nicht gewogen, vielleicht sogar parteiisch oder zumindest an der Mispoche nicht interessiert, somit bist du die einzige Wissensträgerin, die ich ins Vertrauen ziehen kann, bitte, nimm deine Rolle wahr.“
„Ich weiß natürlich, wovon du sprichst, und ich bin auch gerne bereit, mir noch einmal deine offenen Fragen sowie Widersprüche und Zweifel anzuhören, ob ich dir allerdings weiterhelfen kann, weiter als bisher, ist fraglich. Es gibt eben Dinge, die ich nicht mehr weiß, vergessen oder verdrängt habe, einerlei, sie sind ganz einfach nicht mehr verfügbar. Aber trotzdem … mal sehen, was sich machen lässt.
Zudem hab’ ich eben die Nase gestrichen voll – ernsthaft – und dann ist da auch noch der erwähnte Brief meines Sohnes, ein Dauerbrenner offenbar; er wolle sich mit mir aussprechen, einiges klarstellen, versöhnen vielleicht sogar, ich weiß aber nicht, was ich davon halten soll, bisher hat er mich immer nur angeschrien und war für keine konstruktive Aussprache zugänglich. Sein scheinbar uferloser Groll ist unverständlich, seine Abneigung gegen mich, die Mutter immerhin, kaum gerechtfertigt, sowie auch unklar, ja, aller begütigenden Erkenntnisse zum Trotz, die Begründung seines schnodderigen Verhaltes befremdend. Aber ihn noch einmal hier empfangen, mich demütigen lassen, nein, das will ich auf keinen Fall riskieren, ich werde wohl schriftlich antworten, aber was soll ich denn schreiben, mich etwa rechtfertigen, ausführlich Rechenschaft ablegen, etwa einer Verpflichtung nachkommen, die mir aufzuerlegen, er nicht befugt ist, Unsinn, das wird er kaum lesen, oberflächlich höchstens … oder soll ich mich vielleicht nur in Kurzform äußern, auch gefährlich, da wird er wütend und rennt ans Telefon, um mich zu beschimpfen, dergestalt, dass es eben doch so sei, wie er gesagt habe … alles verlorene Liebesmüh, bin ratlos … ‚Hühnerkacke‘ … ich habe keine Lust mehr, Sündenbock zu spielen, keine Lust mehr, überhaupt zu reagieren, ich werde einmal schweigend abwarten, ich habe ja keine Eile, gar keine, verstehst du? Ich brauche mich nicht zu rechtfertigen, ich wusste genau, was ich tat, als mich sein Gehabe so sehr erschreckte, dass ich ihn des Hauses verwies, ich bin mir sicher, richtig gehandelt zu haben.
Weißt du, ich habe so manchen Schritt auf ihn zu getan, er hat alle abgewiesen oder gar nicht zur Kenntnis genommen. Er war beleidigt, weil ich das Unrecht nicht billigte, das er seiner Frau antat, jener liebenswürdigen und äußerst tüchtigen Person, die ich nun mal ins Herz geschlossen habe. Nun aber scheint er auf mich zuzukommen, ein erster Schritt seit Langem, soll er auch den zweiten machen, wenn es ihm denn wirklich ernst sein sollte, mein Argwohn ist derweil geweckt, meine Zurückhaltung statthaft. Ich habe keine Kraft mehr, solche Gefechte durchzustehen, und bin mir auch sicher, dass sie so oder so erfolglos sein werden, steht doch ihr Ausgang von vorneherein fest. Nein, an diesem albernen Krieg werde ich mich nicht beteiligen, bin ich doch stets am Ende die dumme Kuh, die alles vermasselt hat, und Herr Sohnemann der strahlende Sieger, dessen unentwegte Rechthaberei mich langweilt. Ich bin mir deshalb sehr im Ungewissen, ob ich ihm diese Genugtuung noch zu verschaffen bereit bin oder ob ich ihn einfach im Dunklen hängen lassen, ja, ihm gleichsam für den Rest seines Lebens ein gewisses Maß an Zweifeln belassen sollte, damit ihm ein dauerhaft schlechtes Gewissen – hat er denn eines? – die Nächte versaut! Rache? Ja und nein, auch nicht Strafe, er ist ja erwachsen, aber vielleicht eine lehrreiche Lektion, als Antwort auf sein Benehmen einer Mutter gegenüber, welcher er einiges zu verdanken hat. Letztere hat er unzweifelhaft verdient, ja, ist ihm fraglos zu erteilen, damit er sich fortan wie ein Erwachsener benimmt … oder soll ich ihm etwa schreiben, dass er mich ankotzt … wäre zumindest ehrlich!
Also abwarten? Wirklich oder in Tat und Wahrheit warten, bis die gütige Ewigkeit, welche seit jeher den Schleier des Vergessens trägt, Gras über die Geschichte hat wachsen lassen? Flucht vor der Unberechenbarkeit des eigenen Sohnes oder einschlägige Demonstration des unbeirrten Willens, endlich in Ruhe gelassen zu werden? Entlastung, sich dem unverständlichen und durch nichts gerechtfertigten Druck zu entziehen, sich ungerechte und abwegige Anschuldigungen nicht mehr anhören zu müssen, dieser dämonischen Gehässigkeit nicht mehr begegnen zu müssen, ein für alle Mal?“
Ein Redeschwall, der sich gewaschen hat, ein Monolog ihrer Apologie vor dem eigenen Gewissen vielleicht? Kaum aufzuhalten, ihre ausufernden Erklärungen, die buchstäblich aus ihrem Mund purzelten, als wären es Marmeln … ihre Besorgnis war zweifellos weit größer, als sie wahrhaben wollte, die Beteuerung ihrer Lässigkeit gespielt. Sie war im Zentrum getroffen, verheimlichte aber, aus Scham, wie sie vorgab, den wahren Grund ihres Zorns und redete immer wieder um den heißen Brei herum … nicht grundlos, wie es scheint.
„Lass gut sein, beruhige dich, wir werden ja sehen, was sich ergibt, aber auch dies eilt nicht, ich werde in Bälde kommen, bestimmt.“
„Du hast recht, erst mal darüber schlafen, wie gesagt, die Emotionen sich setzen lassen und mit Besonnenheit an die Sache herangehen, das ist wohl angesagt, aber lass mich trotzdem nicht allzu lange warten.“
Der Appell war im Grunde nicht zu überhören, die Eile beschlossene Sache, ich hab’ es nur nicht wahrgenommen, nicht vollumfänglich jedenfalls, denn ich glaubte ganz fest daran, dass sie mich noch einmal sehen und sprechen wollte, ehe sie …
Und dann überstürzten sich die Ereignisse; besonnenes Abwarten, gelassenes Verweilen und Gedanken heranreifen zu lassen, bis sich die Gemüter wieder abgekühlt haben, all dies war offenkundig nicht mehr erwünscht, die Zumutbarkeit erschöpft. War es vielleicht sogar ihre Antwort auf den unverschämten Brief, den sie unerledigt zu den Akten legen wollte, oder trefflicher gesagt, ihre Unlust, überhaupt darauf zu reagieren, oder hatte sie womöglich noch andere Gründe für ihre Eile, die sie selber vor wenigen Tagen noch für unangebracht hielt und rundweg ausschloss? Hat sie der ungeduldige Peiniger bedrängt, eventuell sogar angerufen und abgekanzelt, weil er ihr Stillschweigen nicht ertrug, ihr Nichteintreten brandmarkte und einmal mehr seiner lädierten Würde Ausdruck verleihen wollte? Ich möchte schon gerne wissen, was letztendlich dahintersteckt, aber sie ist gegangen, ohne Aufhebens und leise, unbemerkt von allen anderen – ihr ureigener Plan vielleicht, um das Vorhaben nicht zu gefährden? Keiner wird es je erfahren. Ohne Begleitung – so ihr letzter Wille – wurde sie ins Krematorium gebracht und soll offenbar, gemäß ihrem eigenen Wortgebrauch, im Grab des Unbekannten auf Nimmerwiedersehen ‚verscharrt‘ worden sein; keine Abdankung, keine Abschiedsworte, nichts … Unbehelligt von allen, auch von mir, will sie wohl ihre letzte Ruhestätte gestaltet wissen; sie war hier, lebte ihr schwieriges Leben, ging, als es ihr nicht mehr gefiel, und wollte keine Spuren hinterlassen; im Grunde typisch für ihre Lebensauffassung, durch welche sie die eigene ‚Wenigkeit‘ kaum zu bewältigen vermochte, geschweige denn sie allenthalben geltend zu machen. Keiner soll sie mehr finden, weder um sich zu entschuldigen, noch um sich zu beklagen, auch nicht, um ihr posthumen Ruhm zuzuerkennen.
Obwohl sie zu Lebzeiten sehr wohl verstand, sich ab und an in Szene zu setzen, war sie im Grunde genommen äußerst bescheiden, unaufdringlich, dezent. Ihr Abgang trägt daher alle Züge ihrer Enthaltung, ihrer besonderen Art auch, sich selber nicht so wichtig zu nehmen, ja, sich zuweilen sogar in Selbstpersiflage zu üben, ihrer Manier auch, sich immer mal wieder zugunsten anderer im Hintergrund aufzuhalten, nicht aufzudrängen und ihre Nebenrolle zu spielen, gewissermaßen einer Fügung folgend, die ihr anscheinend zugedacht war. Ich hätte ihr einen anderen, einen weit schöneren Abgang gewünscht, sie sich offenbar nicht, hat sie ihn doch wunschgemäß gestaltet. Es war ihre Version von Ende und Ableben, genauso wie es auch ihre beste Freundin tat, wie sie mir wiederholt berichtete. Sie hat sich endlich einen Traum erfüllt, den einzigen und letzten, und ließ sich nicht mehr dreinreden. Und wie so oft finden die letzten Stunden des Hierseins in Abgeschiedenheit statt und keiner wird je wissen, welcher Art die Gedanken und Gefühle gewesen sein mochten, kurz bevor sie den ‚Schierlingsbecher‘ leerte.
Ich rufe an, wie so oft, mehrmals, früh, spät, mittags …
Es meldet sich niemand. Tagelang lasse ich nicht locker …
und dann antwortet doch eines Tages die Stimme einer Enkelin, der Tochter ihres bereits verstorbenen Sohnes, dem älteren der beiden …
Sie weiß Bescheid … ich auch! Nur wenige Worte wurden ausgetauscht, sie hing sehr an ihrer Großmutter, mehr als ihre Geschwister, wusste wohl mehr über alle widrigen Umstände, und wollte einstweilen nicht darüber sprechen, vertröstete mich auf später, ich akzeptiere, halte mich kurz.
Ein eiliges Gespräch nur, wir verstehen uns gut, denn vieles ist evident, auch ohne, dass es angesprochen wurde. Ja, auch sie weiß einiges, wenigstens über die letzten Sorgen Martinas, über ihre Behinderungen, den Überdruss und ihre Peiniger, doch sie verzichtet auf deren Nennung. Sie verrät mir indes, was und wie sie es getan hat, kurz und bündig. Auch sie war überrascht von der plötzlichen Eile … nein, eine stichhaltige Erklärung dafür hatte auch sie nicht zur Verfügung. Vom Brief des Sohnes, ihres ungeliebten Onkels, wusste sie, von Martinas Zwiespalt wenig und nichts, sie hat es offensichtlich für sich behalten. Als wir das kurze Gespräch beendeten, stellte ich fest, dass ich vergaß ihr mein Beileid auszusprechen, ich schämte mich.
Ich bin sehr betroffen, sehr traurig und habe das Bedürfnis, durch ein Kondolenzschreiben, dieser meiner Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Ich schrieb deshalb an diese Enkelin, obwohl ich sie nur flüchtig kannte, denn Martinas jüngerer Sohn, Mike, den ich einst jahrelang unterrichtete, ihm löffelchenweise Latein, Mathematik, Biologie und dergleichen mehr einflößte, sowie auch ihr Bruder, Marvin, waren mir zu fremd; sie wussten auch nichts von unserer Verbundenheit, waren zu fern jedenfalls, um mit ihnen zu kommunizieren. Es wurde ein langer, sehr langer Brief, eine Art Beichte gar, welche, wie sich herausstellen sollte, meine eigene Person ebenso betraf wie Martina selber … und letzten Endes auch ihren älteren Sohn, Stan, mit dem ich einst einen lebhaften Kontakt pflegte, der Vater nämlich der Adressatin, welcher seit einigen Jahren nicht mehr lebte und der Mutter, wie auch den Nachkommen, vor allem eben dieser einen Tochter, Simonetta, sehr fehlte.
Ich sandte ihn an Martinas Adresse und weiß deshalb nicht, ob sie ihn je erhielt und las, denn eine Reaktion blieb einstweilen aus.
Beileidsschreiben
Liebe Simonetta,
ich habe das Bedürfnis, Dir noch nachträglich – d. h. nachdem Du wohl recht turbulente Zeiten durchgestanden hast – einige Zeilen zukommen zu lassen, die mir sehr am Herzen liegen. Dabei warne ich Dich: Mache Dich bitte schon im Voraus darauf gefasst, dass es viele werden könnten, denn es verbleiben zahlreiche ‚Restposten‘, die ich gerne verarbeiten möchte, nachdem ich während sehr langer Zeit – seit meiner Studienzeit in Basel nämlich, wo Martina einen Großteil ihres Lebens verbrachte – jahrzehntelang also, mit Deiner Großmutter einen recht intensiven Kontakt pflegte und während der letzten Monate auch mit ihren gewagten Plänen konfrontiert, im Grunde gar diesbezüglich konsultiert wurde, und infolgedessen auch eine konkrete Stellungnahme dazu abzugeben befugt bin. Ich wusste sehr viel über ihr Leben, über Hochs und Tiefs, auch über ihre Vorlieben und Qualen, welch Letztere sie mir teilweise ausführlich schilderte. Weshalb sie allerdings gerade mich als Zuhörer ausgewählt hat, ist nicht ohne Weiteres verständlich, wenngleich einige Hinweise auf mögliche Motive vorliegen, über die noch zu berichten sein wird. Zunächst aber möchte ich noch einige Einzelheiten über ihr Ableben in Erfahrung bringen, denn für meine Begriffe ging alles sehr schnell, zu schnell sogar, was doch einige Fragen aufwirft.
So ist es wohl verständlich, dass mich die verwirrende Angelegenheit, deren Hergang mir nur lückenhaft bekannt ist, sehr beschäftigt, und ich muss immer wieder daran denken, was mir Martina in der letzten Zeit alles gesagt und erläutert, ja nicht zuletzt auch anvertraut hat, sei es, um sich einen gewissen Rückhalt zu verschaffen oder lediglich, um ihr Vorhaben plausibel zu machen oder gar zu rechtfertigen. Dabei entluden sich Emotionen, die sich jahrelang aufgestaut haben, sozusagen vulkanartig, und ergossen sich wie glühende Lava über die restlichen Trümmer ihres Lebens – so ihre eigenen Worte – und die gleichzeitig ausgestoßenen Aschewolken sollten die Misshelligkeiten der Vergangenheit, welche mehr Unheil anrichteten, als verkraftbar war, bis zur Unkenntlichkeit vertuschen … und, wenngleich ihre dramatisch überhöhte Schilderung vielleicht etwas zu relativieren ist, so spricht sie doch Bände, nicht wahr? Nein, sie hat nicht etwa geweint, sie war gefasst und stark, aber hart in ihrem Urteil und zuweilen gar unerbittlich, was mich doch sehr erstaunte; ja, sie ließ die Zügel buchstäblich schießen und die Geständnisse purzelten Wort für Wort über ihre Lippen, als läse sie aus ihrem Tagebuch vor. Es schien, als ob der letztmögliche Zeitpunkt gekommen wäre, sich all des Ballastes zu entledigen, den sie seit Jahren duldsam und nahezu klaglos mit sich herumtrug. Nein, es war beileibe keine Abrechnung, aber eine Art Befreiungsschlag, ein anscheinend letzter Aufschrei vor dem gänzlichen Verstummen, wohl um ihr Leben in ein anderes, allenfalls etwas helleres Licht zu rücken und aus dem leidigen Schattendasein – sie hat es offenbar zumeist so wahrgenommen – gewissermaßen zu befreien. Alle Klagen und Vorhalte sowie Widerreden und Berichtigungen, die sie aus den finsteren Abgründen emporzog – so darf ich es wohl berechtigterweise nennen – habe ich zwar mit Erstaunen, aber dennoch genauestens und mit einiger Sicherheit auch in ihrer ganzen Dimension erfasst, wortwörtlich entgegengenommen und definitiv registriert, ja, ihre Schimpftirade, die dadurch entstand, war so erschütternd, dass mir wohl nichts Wesentliches entgangen sein dürfte.
Des Weiteren hat sie mir so viel gewichtige Dinge, ja bislang unbekannte Fakten zur Kenntnis gebracht, dass ich nicht umhinkomme, Dir einige davon anzuvertrauen, wohl wissend, dass vermutlich auch Du eingeweiht warst, zumindest in mancherlei Hinsicht, denke ich mal, hast Du doch während der letzten Monate einige Abende mit ihr verbracht, und ich gehe nicht davon aus, dass dies schweigend geschah. Es geht mir beileibe nicht darum, mit diesen Erkenntnissen zu hausieren, aber ich meine, dass sie Dich mindestens teilweise etwas angehen, denn einige bislang sorgsam verwahrte Geheimnisse betreffen keinen Geringeren als Deinen Vater und damit auch Dich selber. Dabei möchte ich ausdrücklich festhalten, dass ich nicht etwa der Postbote bin, der irgendwelche Meldungen zu überbringen hat, und auch keinen solchen Auftrag entgegengenommen habe, aber ich war ja gleichsam bis zum (? vor-) letzten Augenblick mit dabei, habe auch eifrig versucht, sie noch ein wenig zum Bleiben zu überreden, nicht zuletzt, um sie noch einmal in eine Debatte über ihr Vorhaben zu verwickeln, doch all meine Bemühungen schlugen offensichtlich fehl. Auch dieser Umstand veranlasst mich, meine Gefühle und auch Erkenntnisse aufzuschreiben und all jenen mitzuteilen, die irgendwie involviert sind, was bei Dir unstreitig der Fall ist, mithin meine Art Abschied zu nehmen, nachdem mir eine echte Verabschiedung nicht vergönnt war.
Die letzte Diskussion hinterließ noch einige offene Fragen wie auch etliche Vereinbarungen, welche zu treffen noch anstanden, doch dann hat sich alles so rasch und unter Ausschluss der übrigen Familie abgespielt und überdies ohne Rücksichtnahme auf all diese unerledigten Vorhaben, sodass Letztere nun sinnentleert im Raume stehen bleiben, ja gewissermaßen zu reiner Makulatur werden. Welche Gegebenheiten mochten sie veranlasst haben, alle Versprechen und Ankündigungen zu ignorieren und sie unerfüllt außer Acht zu lassen. Weshalb denn diese kaum nachvollziehbare Eile? Kennst Du vielleicht den triftigen Grund? Oder wäre vielleicht sogar diese Entwicklung absehbar gewesen, wenn man noch besser hingehört hätte. Aber auch ich stand draußen in der kalten Nacht, mit gesenktem Kopf und Tränen in den Augen, nachdem ich eben noch dachte, etwas Ruhe in den aufgewühlten Geist gebracht zu haben. Es war nicht der Fall, ihre tödliche Sehnsucht war stärker, ihr Wille und ihre Kraft, ihr Vorhaben zu beenden, durch nichts zu brechen. Für sie war die Situation reif, um endlich zu gehen, endgültig und lautlos, nicht zuletzt auch, um den ungnädigen Sohn ein letztes Mal zu bestrafen.
Ruhig, heimlich und lächelnd sowie sorgsam darauf achtend, dass niemand stört oder gar eingreift, hat sie sich davongemacht, auf dem Stuhl neben dem Bett ihre Kleider sorgsam zusammengefaltet, als ob sie am nächsten Tag verreisen würde, doch keiner sollte in der Lage sein, die Art und das Ziel ihrer geplanten Reise zu erahnen. Verständlich und unheimlich zugleich sowie auch irgendwie typisch für diese Frau, die sich selber nicht so wichtig nahm und ihren eigenen Tod als Befreiung vom täglichen Joch, dessen Gewicht in allerletzter Zeit noch zulegte, betrachten wollte. Dennoch für mich in dieser Form, und insbesondere binnen weniger Stunden nach einem Gespräch voller verbindlicher Versprechen, völlig unerwartet, aber nicht minder mutig und wohl angesichts ihrer Gefühle und ihrer betrübten Stimmung hinreichend angemessen. Ja was soll ich denn sonst sagen, es geht ja nicht um mich und meine Person, es geht nicht darum, ob meine Botschaft angekommen und durchgedrungen ist, es geht um sie, ihre eigene Werteskala und ihren unwiderruflichen Beschluss, nicht jämmerlich dahinsiechend und anderen zur Last fallend zu verenden – ‚verrecken‘, hätte sie selber wohl gesagt, denn sie war in dieser Hinsicht nicht zimperlich. Es widerstrebte ihr zutiefst, sozusagen im Vorzimmer zur Hölle – ihre Worte – auf ihren natürlichen Abgang zu warten, nicht wissend, welch schreckliche Alternative sie sich allenfalls dabei einhandeln würde. Ja, Abgang ist der richtige Ausdruck, den hat sie lebenslänglich geübt und, wie sie selbstironisch meinte, als einziges Element ihrer ansonsten verpatzten Schauspielerei auch meisterhaft beherrscht. Aber das Drehbuch ihres letzten Abgangs hat sie selber verfasst und auch inszeniert, als ob sie sich wenigstens ein Mal – ein letztes Mal mithin – dem Diktat eines beliebigen Textautors entziehen wollte.
Ja, sie hat es angekündigt und erfüllte sich ihren letzten Wunsch … sie hat es geschafft, ich ziehe meinen Hut!
Dennoch bin ich unendlich traurig, dass sie sich nicht davon überzeugen ließ, ihre vielen Neigungen, von denen, nach Abzug der wenigen Behinderungen, die sie belästigten, noch einige übrig blieben, weiterhin zu nutzen, ja, auszuleben und zu genießen, denn aus meiner – offensichtlich unmaßgeblichen – Sicht war noch längst nicht aller Tage Abend. Ich wäre ja verfügbar gewesen und hätte ihr dabei so gerne beigestanden, soweit möglich, geholfen, die Unbilden des Alters erträglich zu machen, wenn sie es denn gewollt hätte. Doch diesen Aufschub, der ihr anscheinend zu wenig bedeutete und die vielen Betrübnisse ihrer letzten Tage nicht aufwogen, wollte sie mir – uns? – nicht gewähren, wer weiß, weshalb? Natürlich hätte dies nicht zuletzt auch bedeutet, dass sie sich mit ihren zeitlebens verwalteten Problemen vielleicht noch etwas eingehender hätte befassen, ja sich noch einige Zeit mit ihnen hätte herumschlagen müssen, was ihr dem Anschein nach zu peinlich oder beschwerlich erschien … nein, es gab offensichtlich keinen Grund mehr, diesen unsinnigen ‚Kram‘ aufzuarbeiten, wozu denn, zu wessen Gunsten oder Wohlgefallen? Alles Schnee von gestern, breitgetreten und schmutzig! Doch gerade diesen offensichtlich unerträglichen Ballast hat sie vermutlich gegen die leichtgewichtigeren Süßigkeiten des Verbleibens abgewogen und dabei festgestellt, dass sich die Waage niemals wieder ins Gleichgewicht verbringen ließe … und damit sind wohl die Würfel gefallen. Jedenfalls scheint sie erkannt zu haben, dass jeder Aufschub in keinem akzeptablen Verhältnis zu ihrem endgültigen Entscheid stehen würde, indem sie einen zu hohen Preis für wenig Annehmlichkeiten bezahlen, mithin eine unausgewogene Aufrechnung von ‚Pro und Kontra‘ gutheißen müsste.
Sie hatte ja das große Glück, über völlig normale geistige Kräfte zu verfügen, was in ihrem Alter keineswegs selbstverständlich ist. Diese Tatsache allein wäre meines Erachtens Grund genug gewesen, noch ein wenig hierzubleiben, noch mitzukriegen, was sich tut, und wenigstens einiges vom Musikangebot zu genießen, das sich tagtäglich im Radio anbietet, aber offensichtlich empfand sie diese Verlockung als unzureichend, um ihr noch einmal stattzugeben, ja, zu riskieren, ‚Ihm‘, dem geheimnisumwitterten Mann, noch einmal auf diese Art und Weise zu begegnen, doch diesen eher absonderlichen Grund wollte sie uns allen, auch mir gegenüber, verheimlicht wissen.
Hundertmal habe ich ihr empfohlen, ihre Tage mit Musik und Hörbüchern zu bereichern, aber sie weigerte sich hartnäckig, darauf einzugehen, es sei denn mit der Feststellung, dass gerade dieser Umstand, ihr ungetrübtes mentales Vermögen nämlich, ihre Verzweiflung hervorgerufen habe, ja die Angst geradezu geschürt hätte, sie könnte den richtigen Zeitpunkt für ihren Abgang von der verpatzten Szene verpassen. „Sie fühle sich einsam, mit ihrem nach wie vor ungebrochenen Verständnis für kulturelle Belange, und fände kaum mehr Gelegenheit, ihre diesbezüglichen Erkenntnisse auszutauschen und in behaglicher Gemeinsamkeit zu genießen“, machte sie geltend. Und genau dies habe ihr anscheinend auch zeitlebens so sehr gefehlt, dass sie sich meist unterschätzt vorgekommen sei, um nur eines der zahlreichen Bitternisse zu erwähnen, die sie zu beklagen hatte. Fast machte es den Anschein, als ob sie an ihrem eigenen, nahezu unbeschädigten Geist zerbrochen wäre, dem unversehrten Geist mithin, der auf konkrete Wahrnehmung angewiesen wäre, die ihr der Körper jedoch versagte, sodass sie sich nunmehr auf ihr Gespür verlassen musste, „zu mühsam, um sich dieser Pein zu unterziehen“, wie sie betonte. Dem Anschein nach – Hinweise hat sie selber geliefert – hat ihr sogar die weithin ungebrochene Auffassungsfähigkeit und eben rein intuitive Wahrnehmung Angst gemacht, Angst, noch mehr in den Strudel der Depression hineingezogen zu werden und sie handlungsunfähig zu machen, ein Phänomen, das leider als recht dominantes Charakteristikum ihrer Familiengeschichte zu betrachten ist und manch einen vorzeitig in den Tod trieb. Das wusste sie besser als viele andere, hatte sie doch damit wiederholt zu tun und deshalb ausreichend Erfahrung mit hoffnungslosen Situationen, die keiner Rettungsaktion mehr zugänglich waren. Wollte sie sich vielleicht diesem fatalen Prozess entziehen, ja fliehen, ehe sie selbst damit konfrontiert und von der grauen Bestie gänzlich umklammert wurde? Wer, außer ihr selber, mag es wissen?
Ich habe keinerlei Veranlassung, die Glaubwürdigkeit ihrer Verlassenheit und Verzweiflung infrage zu stellen. So wie sie mir ihr Elend geschildert hat, war es zweifellos echt und mit einiger Sicherheit tief empfunden, sodass ich sie nur noch zur Kenntnis zu nehmen habe, um meinerseits davon auszugehen, dass sie es durchaus ernst meinte. Nein, in diesem Falle war nicht die ‚missbrauchte‘ Schauspielkunst, welche ihr des Öfteren unterstellt wurde, am Werk, so viel war klar. Dennoch sei die Frage gestattet: Habe ich all diese Fakten und Umstände unterschätzt, habe ich ihr allzu lange nicht geglaubt und sie nicht ernst genommen, als sie dieses Thema anschnitt? Und hätte ich alles richtig eingeschätzt, hätte ich ihr tatsächlich hilfreich – Hilfe in welcher Beziehung denn – dienlich also zur Seite stehen können, oder hat sie sich eben selber am meisten geholfen, indem sie sich ihren innigsten Wunsch erfüllt hat? Wäre gar die Art meiner Hilfe – darüber habe ich mir allerdings noch keine Gedanken gemacht – willkommen oder eben weit eher kontraproduktiv, ja unerwünscht und völlig deplatziert gewesen? Hätte diese vermeintliche Hilfe nicht eine ganz andere Richtung vorgegeben, die einzuschlagen eben gar nicht mehr zur Debatte stand? Wäre damit nicht die einst gut gemeinte Hilfe zum unsinnigen Diktat pervertiert worden, um sich auf diese Art und Weise selber zur Gegenstandslosigkeit zu deklassieren? Siehst Du, liebe Simonetta, der Zweifel sind viele und ich vermag mich ihrer nicht zu erwehren … ob Du das eine oder andere Rätsel zu lüften imstande wärst? Ich weiß es nicht und lasse es offen, wohl oder übel … aber lass mich wissen, was Du denkst.
Nun, ich spüre Deinen Einwand, Deine Vorbehalte, dennoch sei gnädig, denn es sind ernsthafte Fragen, die mich immer wieder beschäftigen, nicht loslassen wollen – „sinn- und nutzlos“, wirst Du einwenden, „denn sie hat sich ja seit Langem selbstständig gemacht und sich den vielen Angeboten und löblichen Vorschlägen all ihrer Freunde wirksam entzogen; und ihr langersehnter Befreiungsschlag, die höchste Form der Freiheit, wie sie des Öfteren betonte, ist gelungen.“
„Ja, natürlich hast Du recht und ich bin der Letzte, der ihr das Recht auf Selbstbestimmung je absprechen würde, wie käme ich denn dazu, aber ich war einfach bestürzt über die jüdische Hast, die sie anscheinend befiel und veranlasste, diese Welt so eilends zu verlassen, die offensichtlich vergällte Welt, die ihr hinfort mehr Mühe bereitete, als ich, ja vielleicht wir alle, je wahrhaben wollten. Und dennoch hätte ich gerne einige Antworten auf meine pochenden Fragen, mit denen sie mich nun alleinlässt. Nun ja, die Bedenken sind berechtigt, es geht natürlich nicht um mich, spiele ich doch in diesem Stück nur eine Nebenrolle, aber es geht um die Sache an sich, eine Sache zumal, die sich nicht mit einigen Federstrichen aus der Welt schaffen lässt. Außerdem habe ich diese Nebenrolle sehr ernst genommen und bleibe nun sozusagen allein auf der Bühne stehen, weil sie mir das Stichwort für meinen Abgang vorenthielt. Verstehst du nun mein Problem? Wirst Du mir aus der Patsche helfen?
Schön und gut, denkst Du wohl, aber es ist in diesem Zusammenhang völlig bedeutungslos und – da muss ich Dir natürlich vollumfänglich beipflichten – die Sphären, in denen sich Martinas Gedanken bewegten, hatten sich schon sehr weit von meinem ‚bodenhaftigen‘ Standort entfernt. Sie spielte bereits in einer ganz anderen Liga, als ich mir in meiner diesseitigen Position überhaupt vorstellen kann. Ja, die Welt, egal welcher Vorstellung entsprechend, die sie baldmöglichst zu betreten beabsichtigte, ist nicht die Unsere.“
Ich gönne ihr natürlich ihre Ruhe und auch die Anonymität, in der sie nun untertauchen möchte. Es ist wahrscheinlich Trost und Rebellion zugleich, sich bis zur Unkenntlichkeit zurückzuentwickeln, um für niemanden mehr erkennbar zu sein, vielleicht sogar auch ein Schutz vor weiterer Einflussnahme auf ihre Person, derer sie sich ein für alle Mal entziehen wollte.
Dass wir indessen eine ganz wertvolle und kluge Person verloren haben, ist uns allen klar. Dass wir sie in dieser Form und mit diesen Wesens- und Gesichtszügen in Erinnerung behalten dürfen, ist ein Geschenk, das sie uns durch ihre mutige Tat übergeben hat, ein Vermächtnis der besonderen Art, das wir im Grunde ebenso kommentarlos wie dankbar entgegennehmen sollten. Dafür bewundere ich sie sehr.
Nun ja, der intensivierte Kontakt der letzten Monate verhalf uns dazu, über ernsthafte Dinge der persönlichen Sphäre zu debattieren, insbesondere auch über jene besonders schwierige Materie, die letztendlich Platz gegriffen hat und die Gespräche immer wieder dominierte, während sich unsere einstigen Themen erübrigt haben. Sie hat mir vermutlich deshalb – zahlreiche Gespräche waren dazu erforderlich – weit mehr erzählt und klargemacht sowie auch Fehler eingestanden als in all den vielen Jahren davor, während welcher wir uns vor allem über Kunst und Literatur unterhalten haben. Dies hat mir auch in einigen Bereichen buchstäblich die Augen bezüglich meiner eigenen ‚Wurzeln‘ geöffnet, die ja mit denen von Martina bis zu einem gewissen Grad identisch sind. Die markante Persönlichkeit ihrer Mutter war offensichtlich derjenigen meines, mir nicht bekannten Großvaters – deren Bruders – sowie auch meines eigenen Vaters – ihres Vetters – nicht unähnlich, sodass einige Elemente meiner persönlichen Entwicklung wohl auf Erbmerkmale jener Generation zurückgeführt werden können, welche unser beider Ahnengalerie angehört. Diese Erkenntnis soll uns derweil nicht zu irgendeiner Alibiübung verleiten, um etwa unsere Makel auszudeuten, mir aber möglicherweise vertiefte Einblicke in gewisse Zusammenhänge verschaffen, von denen ich bislang wenig und nichts wusste und vielleicht auch heute noch, trotz meines ebenfalls fortgeschrittenen Alters, nützliche Einsichten über die eigene Wesensart vermitteln dürften. Nein, natürlich gehört auch diese ichbezogene Feststellung nicht hierher, doch will ich Dir damit einfach deutlich machen, dass mir, der ich mich seit einiger Zeit intensiv mit unserer Familiengeschichte auseinandersetze, die langen Telefonate mit Martina sehr viel gebracht haben, möglicherweise mehr als ihr selber, wie wir nachträglich nolens volens festzustellen haben. Eine zwar ungewöhnliche Bilanz … und dennoch bin ich glücklich, dass sie mich auserwählte, um eine Art Lebensbeichte abzulegen, eine fast unendliche Abfolge von Geständnissen, zu denen sie meine Fragen animierten und die mich sehr berührten, ja, bisweilen auch direkt betrafen, da sie gemeinsam Erlebtes miteinschlossen. Nein, sie war keinesfalls jene begnadete Künstlerin, für welche wir alle sie hielten, sie war nach eigenem Urteil mittelmäßig, meist überfordert und schließlich so weit von ihrem beruflichen Ursprung entfernt, dass sie nicht mehr aktiv werden konnte. Sie lebte nicht das Leben, das ihr einst vorschwebte, ja wurde zeitweise sogar buchstäblich gelebt, durfte nicht sein, wie sie angedacht war, hatte sich in fremden Gefilden zurechtzufinden und ihr Dasein eben nach dem Drehbuch anderer zu gestalten; eine weitere bittere Klage, die sie mit etwelchem Unmut vorbrachte.
Ja, ich habe sie verstanden, auch begriffen, was sie wollte, und auch, weshalb sie sich so entschied, habe ich doch selber gerade auf diesem schwierigen Terrain einschlägige Erfahrungen machen müssen. Ich weiß um die Nöte, die einen derartigen Entschluss begleiten, und kenne dessen Unumstößlichkeit. Keine Kraft dieser Welt kann verhindern, was der gepeinigte Geist plant, niemand und nichts ist in der Lage, ihn seiner unabdingbaren Zielstrebigkeit zu berauben. Ich muss und will ihren Entscheid akzeptieren und habe kein Recht, ihn zu beanstanden, und ich werde versuchen, den schmerzlichen Verlust irgendwie zu verarbeiten. Die Erinnerung an Martina wird mir indessen immer als leuchtendes Bild einer hervorragenden Persönlichkeit erhalten bleiben, die ich seit eh und je sehr geschätzt und bewundert habe. Das ist weit mehr als ein Grabstein auf einem Friedhof, wo die Toten angeblich der ewigen Ruhe teilhaftig werden sollen.
Im Grunde müsste ich Dir spätestens an dieser Stelle mein Beileid aussprechen, aber ich schaffe es nicht, denn aus noch nicht vollends durchschaubaren Gründen kann ich mich dazu nicht durchringen. Es ist schwer zu sagen, weshalb dem so ist, aber vermutlich hat Martinas Tod uns beide in gleichem Maße betroffen gemacht, sodass wir uns doch besser einfach die Hand reichen, um gegenseitiges Verständnis zu signalisieren, ja, uns sozusagen in Trauer verbinden, um den Verlust zu verarbeiten. Ich möchte es derweil nicht verpassen, Dir von ganzem Herzen dafür zu danken, dass Du die letzte Lebensphase Deiner Großmutter so intensiv begleitet hast, und ich bin mir sicher, dass sie sich darüber sehr gefreut hat, selbst wenn gelegentlich kleinere Verstimmungen Platz gegriffen haben – das Positive überwiegt bei Weitem. Sie blieb zwar einsam, aber wenigstens hast Du ihr dabei geholfen, diese Einsamkeit besser zu ertragen.
In diesem Sinne grüßt Dich herzlich
Dein Louis
Diesen Brief habe ich trauergerecht verpackt – Briefumschlag mit schwarzem Rand, der erst beschaffet werden musste – und abgeschickt, doch eine Reaktion blieb bekanntlich aus und etliche spätere Versuche, mit der Adressatin Kontakt aufzunehmen, scheiterten allesamt. Lediglich eine vorgedruckte, wiederum schablonenhafte Danksagung schlich sich eines Tages in meinen Briefkasten, erneut durch die ‚Trauerfamilie‘ unterzeichnet, übliche Floskeln halt, mehr nicht … wir verdanken die vielen Beileidsbekundungen etc. pum, pum …
Eine auch nur minimale Würdigung meiner Zeilen blieb somit aus, was höchstwahrscheinlich einer Absage an meine bescheidene Anwartschaft, als namhafter Partner in Martinas Biografie Einzug zu halten, gleichkam. Auch dieses Mysterium habe ich oft hinterfragt, fand aber keine plausible Erklärung dafür und musste mir ernsthaft die Frage stellen, ob der sorgfältig formulierte Brief denn überhaupt gelesen wurde und natürlich auch von wem: Ja, eine solch beunruhigende Ungewissheit stand unweigerlich im Raum; geriet er vielleicht sogar in falsche Hände … verheerende Vorstellung dies!
Ich war gekränkt, fühlte mich ausgeschlossen und wollte dies nicht hinnehmen, war ich doch – dafür gab’s immerhin zahlreiche Beweise – für die Verstorbene eine wichtige Person wie auch ein häufig konsultierter Gesprächspartner, der schließlich sogar zum Geheimnisträger gekürt wurde. Man – wer denn? – setzte offensichtlich alles daran, mir diese Bedeutung abzusprechen, womöglich gar mit gutem Grund, so man die Sichtweise dieses nicht genannt sein wollenden ‚Man‘ in Betracht zieht. Doch wer wusste schon etwas von der jahrzehntelangen Freundschaft, welche uns beide verband, wer wäre imstande gewesen, auch nur ansatzweise der Realität gerecht zu werden? Sie selber wurde – wir kennen ihre Klage – stets unterschätzt, nicht als jene Person wahrgenommen, die sie in Wirklichkeit war, und dies womöglich durch ihr eigenes ‚Verschulden‘, nachdem sie einst umständehalber ihren Lebensstil vollständig umgestaltete und gewissen Gegebenheiten anpasste, die ihr nicht allzu gut zu Gesicht standen.
Ich war also allein mit meinem Wissen und all den belastenden Kenntnissen, die sie mir aufs Auge drückte, und entschloss mich deshalb, mich hinzusetzen und weitere Briefe zu schreiben, denn die vielen ungelösten Probleme, die zeitweise meine Gedanken vollständig vereinnahmten, machten sich weitgehend selbstständig und suchten nach einer brauchbaren Entschlüsselung, zu deren Auffindung ich mir Angaben von Simonetta erhoffte, die indes ausblieben. Sie wollte, konnte oder durfte nicht antworten, welche der genannten Möglichkeiten tatsächlich verantwortlich zeichnete, blieb ungewiss … und plötzlich war sie unauffindbar; eigenartig!
Auch ihr früheres Versprechen, nach einiger Zeit, dann nämlich, wenn sich die stürmischen Wogen – welche denn? – geglättet hätten, die weitere Familie zusammenzurufen, um ihrer Großmutter zu gedenken, hat sie nie eingelöst, wofür es vermutlich triftige Gründe gab, welche höchstwahrscheinlich außerhalb ihrer Einflusssphäre lagen. Wo also war der Hund begraben? Ich wollte es wissen, dieses Recht nahm ich mir heraus.
So nahm ich schließlich nolens volens das Zepter selbst in die Hand und versuchte, auf mich selbst gestellt, einige Fragen zu klären oder zumindest einer denkbaren Wahrscheinlichkeit zuzuführen, eine Methode, die ich bereits zuvor in Erwägung zog … ob es gelingen wird und ob die Briefform dafür geeignet ist? Egal, ich wusste mir nicht anders zu helfen und verließ mich auf das Endergebnis, welches deutlich machen dürfte, ob ihr Erfolg beschieden sei oder nicht, selbst, wenn ich Gefahr laufen sollte, als Einziger gewisse Teilaspekte ihres Lebens zu kennen, welche sonst keiner nachzuvollziehen in der Lage gewesen wäre.
Der Brief nahm nahezu romanhafte Formen und Dimensionen an und wurde schließlich zur Schilderung der Missgeschicke einer außerordentlichen Frau und deren Nachkommen, insgesamt jedoch zu einer Art Würdigung zahlreicher Umstände und Faktoren einer schwierigen Lebensgestaltung, welche Martinas Andenken dienen soll. Der Text ist hier in seiner Originalversion wiedergegeben und wird so zu ihrer Gedenktafel.
Der ‚Brief‘
Liebe Simonetta‘,
schade, dass ich von Dir nichts mehr gehört habe, ich fühle mich mit meinen Problemen alleingelassen, namentlich jenen Problemen, die ich in meinem Kondolenzbrief angesprochen habe. Ja, es wäre mir an sich sehr wichtig, mich mit Dir darüber unterhalten zu können, und ich frage mich natürlich, weshalb du schweigst … ich denke, es ist nicht deine Art, so zu reagieren, und vermute deshalb dahinter eine Weisung, wessen auch immer, welche Dir den Mund verbietet, es sei denn der Brief hätte Dich gar nicht erreicht. Es soll mich indes nicht kümmern, denn ich fühle mich unabhängig, frei im Gedenken an die Verstorbene, deren Wesenszüge, Probleme und Kümmernisse ich auf meine Art und Weise wahrgenommen habe, und verbitte mir, durch allfällige Feindseligkeiten weiterer Angehöriger, den Mund verbieten zu lassen.