Der letzte Mensch. Roman - Mary Shelley - E-Book

Der letzte Mensch. Roman E-Book

Mary Shelley

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Beschreibung

Im Jahre 2089 ist England soeben eine Republik geworden. Die Kinder des abgedankten Königs, Adrian und Idris, freunden sich mit dem Geschwisterpaar Lionel und Perdita an. Es entsteht eine verschworene Gemeinschaft, doch dann sucht eine neue, ausnahmslos tödliche Form der Pest die Erde heim – mit verheerenden Auswirkungen auf die Menschheit, Wirtschaft und Politik. Die Freunde entschließen sich, mit den letzten Überlebenden nach einer neuen Heimat zu suchen … Mary Shelley erzählt in ihrer apokalyptischen Vision einer Pandemie von einer gar nicht allzu weit entfernten Zukunft. Die erste Dystopie der Weltliteratur, verfasst 1826 von der Schöpferin des Frankenstein. – Mit einer kompakten Biographie der Autorin.

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Seitenzahl: 943

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Mary Shelley

Der letzte Mensch

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Irina Philippi
Durchgesehen und mit einem Nachwort von Rebekka RohlederMit einem Essay von Dietmar Dath

Reclam

Englischer Originaltitel: The Last Man (1826)

 

2021, 2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Coverabbildung: Eugen Bracht, Abenddämmerung am Toten Meer (1884) – akg-images

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961837-1

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020725-3

www.reclam.de

Inhalt

Erster Band

Einleitung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 4[a]

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zweiter Band

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Dritter Band

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Zu dieser Ausgabe

Anmerkungen

Nachwort: Pest und Politik

Das Einzelherz verallgemeinern

Zeittafel

Lass nicht den Menschen im Voraus erfahren,

Was ihn und seine Kinder einst bedrohen soll.

Milton, Das verlorene Paradies.

Erster Band

Einleitung

Ich besuchte Neapel im Jahre 1818. Am 8. Dezember jenes Jahres überquerten meine Begleitung und ich den Seebusen, um die Sehenswürdigkeiten zu besichtigen, die verstreut an den Ufern von Baiae liegen. Die klaren und glänzenden Wasser der stillen See bedeckten mit Seetang verflochtene Fragmente alter römischer Villen und funkelten in den Sonnenstrahlen, als wären sie mit Diamanten bestreut; das glasklare blaue Element sah aus, als hätte Galatea es in ihrem perlmutternen Gefährt überflogen oder Kleopatra es für passender als den Nil befunden und als eine Straße für ihr zauberhaftes Schiff gewählt. Obschon es Winter war, schienen die Temperaturen dem ersten Frühlingserwachen angemessener zu sein; und ihre freundliche Wärme trug dazu bei, jene Empfindungen des friedlichen Entzückens zu wecken, die jedem verweilenden Reisenden eigen sind, der sich kaum überwinden kann, die stillen Buchten und sonnenbeschienenen Vorgebirge von Baiae zu verlassen.

Wir besuchten die sogenannten Elysischen Felder und den Lago d’Averno und wanderten durch verschiedene zerstörte Tempel, Bäder und andere klassische Orte, danach betraten wir die düstere Höhle der Sibylle von Cumae. Unsere Lazzaroni trugen flackernde Fackeln, die rot und trübe in den düsteren unterirdischen Gängen leuchteten, deren Dunkelheit sie durstig umgab und immer mehr vom Element des Lichts zu trinken schien. Wir passierten einen natürlichen Torbogen, der zu einem zweiten Gang führte, und erkundigten uns, ob wir diesen nicht ebenfalls besichtigen könnten. Die Führer deuteten auf den Widerschein ihrer Fackeln im Wasser, das dort den Boden bedeckte, und ließen uns unsere eigenen Schlussfolgerungen ziehen, fügten jedoch hinzu, wie schade es sei, da er zur Höhle der Sibylle führe. Unsere Neugierde und Begeisterung wurden von diesem Umstand geweckt, und wir bestanden darauf, die Passage zu versuchen. Wie bei der Verfolgung solcher Pläne üblich, nahmen die Schwierigkeiten bei genauerer Prüfung ab. Wir fanden auf jeder Seite des feuchten Weges genügend »trockenen Boden für die Fußsohle«.

Schließlich gelangten wir in eine große, trostlose dunkle Höhle, welche, wie uns die Lazzaroni versicherten, die Höhle der Sibylle sei. Wir waren äußerst enttäuscht – doch wir untersuchten sie sorgfältig, als ob ihre leeren, felsigen Wände noch immer Spuren eines himmlischen Geschöpfes tragen könnten. Auf einer Seite befand sich eine kleine Öffnung. »Wohin führt sie?«, fragten wir, und: »Dürfen wir hier eintreten?«

»Questo poi, no«, sagte der grimmig und wild aussehende Mann, der die Fackel hielt; »man kann nur eine kurze Strecke vorrücken, und niemand geht dort hinein.«

»Ich will es dennoch versuchen«, sagte meine Begleitung; »sie könnte zu der richtigen Höhle führen. Soll ich alleine gehen, oder willst du mich begleiten?«

Ich signalisierte meine Bereitschaft, weiter vorzudringen, aber unsere Führer protestierten gegen eine solche Maßnahme. In ihrem neapolitanischen Dialekt, mit dem wir nicht sehr vertraut waren, erzählten sie uns, dass es dort Gespenster gebe, dass die Decke einstürzen werde, dass es zu eng sei, um hineinzugelangen, dass es ein tiefes Loch darin gebe, das mit Wasser gefüllt sei, und in welchem wir ertrinken könnten. Meine Begleitung verkürzte den Redeschwall, indem sie dem Mann die Fackel abnahm und wir gingen alleine weiter.

Der kleine Durchgang wurde bald enger und niedriger, und wir mussten ganz gebeugt gehen; dennoch beharrten wir darauf, den Weg weiterzuverfolgen. Endlich betraten wir einen größeren Raum, und die niedrige Decke wurde höher; aber gerade, als wir uns deswegen beglückwünschten, löschte ein Luftwirbel unsere Fackel, und wir wurden in völliger Dunkelheit zurückgelassen. Die Führer haben stets Material für die Erneuerung des Lichts bei sich, wir jedoch hatten nichts – unsere einzige Möglichkeit war, den Weg zurückzugehen, den wir gekommen waren. Wir tasteten uns durch den weiten Raum, um den Eingang zu finden, und nach einiger Zeit hatten wir den Eindruck, dass es uns gelungen sei. Dies erwies sich jedoch als ein zweiter Gang, der offensichtlich anstieg. Er endete wie der erstere, wenngleich in diesem Raum durch ein schwaches Licht, wir konnten nicht sagen, woher es kam, ein düsteres Zwielicht herrschte. Nach und nach gewöhnten sich unsere Augen an diese Düsternis, und wir bemerkten, dass es keinen direkten Weg gab, der uns weiterführte; doch es war möglich, auf einer Seite der Höhle zu einem niedrigen Bogen an der Spitze zu klettern, der einen leichteren Weg versprach und von dem, wie wir nun bemerkten, jenes Licht ausging. Unter beträchtlichen Schwierigkeiten erklommen wir ihn und kamen zu einem weiteren Gang, in dem eine größere Helligkeit herrschte, und dieser führte wie der vorige zu einem weiteren Aufstieg.

Nach einer Abfolge weiterer Aufstiege, die wir allein durch unsere Willenskraft überwinden konnten, erreichten wir eine geräumige Höhle mit einer gewölbten, kuppelähnlichen Decke. Eine Öffnung in der Mitte ließ Tageslicht herein, doch sie war mit Brombeersträuchern und Unterholz überwachsen, die wie ein Schleier den Tag verdunkelten und dem Raum eine sakrale Feierlichkeit verliehen. Sie war geräumig und nahezu kreisförmig, mit einem erhöhten Sitz aus Stein, etwa so groß wie eine griechische Liege, an einem Ende. Das einzige Zeichen dafür, dass hier einmal Leben gewesen war, war das makellose schneeweiße Skelett einer Ziege, die vermutlich beim Grasen die Öffnung auf dem Hügel nicht wahrgenommen hatte und kopfüber hineingefallen war. Seit diesem Unglück waren möglicherweise ganze Zeitalter vergangen; und die Beschädigung, die oben entstanden war, hatte der Wuchs der Vegetation während vieler hundert Sommer ausgebessert.

Die übrige Einrichtung der Höhle bestand aus Haufen von Blättern, Rindenstücken und einer feinen weißen Substanz, die dem inneren Teil der grünen Haube ähnelte, die das Korn des unreifen Maiskorns schützt. Wir waren erschöpft von unseren Anstrengungen, diesen Punkt zu erreichen, und ließen uns auf der felsigen Bank nieder, während uns von oben das Geräusch von klirrenden Schafglocken und der Ruf eines Hirtenknaben erreichten.

Endlich rief meine Begleitung, die einige der verstreuten Blätter aufgenommen hatte, aus: »Dies ist die Höhle der Sibylle; das sind sibyllinische Blätter!« Bei der Untersuchung stellten wir fest, dass alle Blätter und Rindenstücke mit Buchstaben beschriftet waren. Was uns noch mehr erstaunte, war, dass diese Schriften in verschiedenen Sprachen geschrieben waren, von denen meine Begleitung einige nicht erkannte, andere waren altchaldäische und ägyptische Hieroglyphen, so alt wie die Pyramiden. Noch befremdlicher war, dass einige in modernen Sprachen, Englisch und Italienisch, geschrieben waren. Wir konnten in dem schwachen Licht wenig erkennen, doch sie schienen Prophezeiungen zu enthalten, ausführliche Berichte von Ereignissen, die unlängst verstrichen waren, und Namen, die jetzt gut bekannt sind. An vielen Stellen der dünnen, dürftigen Seiten standen Ausrufe des Jubels oder des Wehs, des Sieges oder der Niederlage. Dies war gewiss die Höhle der Sibylle; zwar war sie nicht ganz genau, wie Vergil sie beschreibt, aber das ganze Land war durch Erdbeben und Vulkanausbrüche so erschüttert worden, dass die Veränderung nicht verwunderlich war, obschon die Spuren des Zerfalls durch die Zeit ausgelöscht wurden. Wir verdankten die Erhaltung dieser Blätter wahrscheinlich dem Zufall, der die Mündung der Höhle verschlossen hatte, und der schnell wachsenden Vegetation, die ihre einzige Öffnung dem Sturm unzugänglich gemacht hatte. Wir trafen eine hastige Auswahl derjenigen Blätter, deren Schrift wenigstens einer von uns verstehen konnte; und dann, beladen mit unserem Schatz, verabschiedeten wir uns von der düsteren Höhle und gelangten nach vielen Schwierigkeiten wieder zu unseren Führern.

Während unseres Aufenthalts in Neapel kehrten wir oft, zuweilen allein, in diese Höhle zurück, überflogen die sonnenbeschienene See und fügten jedes Mal unserer Sammlung etwas hinzu. Von dieser Zeit an, wann immer die weltlichen Pflichten mich nicht gebieterisch abberiefen oder meine Gemütsstimmung ein solches Studium verhinderte, befasste ich mich damit, diese heiligen Altertümer zu entziffern. Ihre Bedeutung, wundersam und voller Ausdruck, lohnte mir oft meine Mühe, linderte meine Sorgen und ließ meine Einbildungskraft sich zu waghalsigen Flügen durch die Unermesslichkeit der Natur und des menschlichen Geistes emporschwingen. Für eine Weile war ich während meiner Arbeit nicht einsam; aber diese Zeit ist nun vorüber; und mit der auserkorenen und unnachahmlichen Begleitung in meiner Mühsal ist auch ihr größter Lohn für mich verloren –

Von meinen zarten Zweigen wollte ich

Andere Früchte dir noch zeigen; doch welcher böse Stern

Neidete uns unser Glück, mein teurer Schatz?

Ich lege der Öffentlichkeit meine jüngsten Entdeckungen aus den dünnen sibyllinischen Seiten vor. Da sie verstreut und zusammenhanglos waren, sah ich mich genötigt, Bindeglieder hinzuzufügen und die Arbeit in eine einheitliche Form zu modellieren. Aber die Hauptsubstanz besteht aus den Wahrheiten, die in diesen poetischen Rhapsodien enthalten sind, und aus der göttlichen Intuition, die die cumäische Jungfrau vom Himmel erhielt.

Ich habe mich oft über den Gegenstand ihrer Verse und über das englische Gewand des lateinischen Dichters gewundert. Sie sind so unklar und ungeordnet, dass ich zuweilen dachte, sie verdankten ihre gegenwärtige Form mir und meiner Entschlüsselung. Als würden wir einem anderen Künstler die gemalten Fragmente geben, die das Mosaik von Raffaels Verklärung im Petersdom bilden; er würde sie in einer Form zusammensetzen, deren Art durch seinen eigenen Geist und sein eigenes Talent bestimmt würde. Zweifellos haben die Blätter der cumäischen Sibylle in meinen Händen eine Verzerrung und Verminderung ihrer Güte und Bedeutung erlitten. Meine einzige Entschuldigung dafür, sie so umgewandelt zu haben, ist, dass sie in ihrem ursprünglichen Zustand unverständlich waren.

Meine Arbeit hat lange Stunden der Einsamkeit erhellt und mich aus einer Welt, die ihr einst gütiges Gesicht von mir abgewandt hat, herausgeführt in eine andere, die vor Einbildungskraft und Stärke glüht. Werden meine Leser fragen, wie ich Trost in der Erzählung von Elend und beklagenswerten Wandel finden konnte? Dies ist eines der Geheimnisse unserer Natur, die mich beherrscht und deren Einfluss ich mich nicht entziehen kann. Ich gestehe, dass mich die Entwicklung der Geschichte nicht unberührt gelassen hat und dass ich bei einigen Teilen der Erzählung, die ich getreulich von meinen Materialien übernommen habe, niedergeschlagen, ja sogar gemartert war. Doch solcherart ist die menschliche Natur, dass die Aufregung des Geistes mir lieb war und dass die Einbildungskraft, die Malerin von Stürmen und Erdbeben, oder, noch schlimmer, der stürmischen und zerstörerischen Leidenschaften des Menschen, mein wahres Leiden und endloses Reuen milderte, indem sie diese fiktiven Leiden mit jener Scheinhaftigkeit umhüllte, die dem Schmerz die tödliche Schärfe nimmt.

Ich weiß nicht, ob diese Entschuldigung notwendig ist. Letztlich müssen die Vorzüge meiner Bearbeitung und Übersetzung entscheiden, ob ich meine Zeit und meine unvollkommenen Kräfte wohl angewandt habe, indem ich den zarten und brüchigen Blättern der Sibylle Form und Inhalt gab.

Kapitel 1

Ich stamme aus einer vom Meer umgebenen Gegend, einem wolkenverhangenen Land, das, wenn ich mir die Oberfläche des Globus vorstelle, mit seinem grenzenlosen Ozean und den riesigen Kontinenten, nur als ein unbedeutender Fleck im gewaltigen Ganzen erscheint; und doch übertraf es, was die Geisteskraft anbelangt, Länder von größerer Ausdehnung und Bevölkerung bei Weitem. So wahr ist es, dass der Mensch allein mit seinem Verstand alles Gute und Große für sich schuf und dass selbst die Natur nur seine oberste Dienerin war. England, das weit im Norden des trüben Meeres liegt, sucht mich jetzt in meinen Träumen heim, in Gestalt eines großen und wohlbemannten Schiffes, das die Winde beherrscht und stolz über die Wellen reitet. In meinen Knabenjahren war es für mich die ganze Welt. Wenn ich auf meinen heimatlichen Hügeln stand und sah, wie Ebenen und Berge sich bis zu den äußersten Grenzen meiner Sicht erstreckten, mit den Behausungen meiner Landsleute gesprenkelt und durch ihre Arbeit der Fruchtbarkeit unterworfen, war dieser Ort für mich das Zentrum der Erde, und der Rest ihrer Kugel glich einer Fabel, welche zu vergessen weder meine Vorstellungskraft noch meinen Verstand Mühe gekostet hätte.

Meine Geschicke waren von Beginn an ein Exempel für die Macht, die Wandelbarkeit über den Verlauf eines Menschenlebens ausüben kann. In meinem Falle fiel mir alles beinahe wie eine Erbschaft zu. Mein Vater war einer jener Männer, denen die Natur die beneidenswerten Gaben des Witzes und der Einbildungskraft verliehen hatte und deren Lebensbarke sie dann dem Einfluss der Winde überließ, ohne den Verstand als Steuerruder oder die Urteilskraft als Lotsen für die Reise hinzuzufügen. Er war von unklarer Herkunft; aber die Umstände machten ihn bald in der Gesellschaft bekannt, und sein kleiner väterlicher Besitz wurde bald in der großartigen modischen und luxuriösen Gesellschaft verbraucht, in der er sich bewegte. Während der kurzen Jahre gedankenloser Jugend wurde er von den Beliebtesten aus gutem Hause, und nicht weniger vom jungen Souverän, der sich den Intrigen der Partei und den mühsamen Aufgaben königlicher Geschäfte entzog, verehrt, die in seiner Gesellschaft nie versagende Erheiterung und Aufhellung des Gemütes fanden. Die Impulse meines Vaters, die nie unter seiner eigenen Kontrolle standen, brachten ihn fortwährend in Schwierigkeiten, aus denen ihn allein sein Einfallsreichtum befreien konnte; und der sich anhäufende Berg von Schulden der Ehre und des Handels, der jeden anderen zur Erde gebeugt haben würde, wurde von ihm mit leichtem Sinn und unbezwinglicher Heiterkeit geschultert; während seine Gesellschaft an den Tischen und Versammlungen der Reichen so notwendig war, dass man seine Verfehlungen als lässlich betrachtete und er selbst mit berauschender Schmeichelei empfangen wurde.

Diese Art von Popularität ist, wie jede andere auch, flüchtig: und die Schwierigkeiten jeder Art, mit denen er zu kämpfen hatte, stiegen in einem fürchterlichen Ausmaß verglichen mit seinen geringen Mitteln, sich daraus zu befreien. Zu solchen Zeiten sprang ihm der König bei, der ihm sehr zugetan war, und stellte dann seinen Kameraden freundlich zur Rede. Mein Vater gelobte eifrig Besserung, aber seine gesellige Veranlagung, sein Verlangen nach dem üblichen Maß an Bewunderung und, mehr als alles andere, der Teufel des Glücksspiels, der ihn völlig beherrschte, machten seine guten Vorsätze vergänglich und seine Versprechungen vergeblich. Mit der raschen Auffassungsgabe, die seinem Gemüt eigentümlich war, nahm er wahr, dass seine Macht im strahlenden Kreise im Schwinden begriffen war. Der König heiratete; und die hochmütige Prinzessin von Österreich, die als Königin von England bald die neuesten Moden anführte, sah mit scharfen Augen seine Mängel und mit Verachtung die Zuneigung, die ihr königlicher Ehemann für ihn empfand. Mein Vater fühlte, dass sein Fall nahe war; aber weit davon entfernt, diese letzte Ruhe vor dem Sturm zu nutzen, um sich selbst zu retten, suchte er das vorausgeahnte Übel zu vergessen, indem er dem Gott des Vergnügens, dem betrügerischen und grausamen Schiedsrichter seines Schicksals, noch größere Opfer darbrachte.

Der König, der ein Mann von ausgezeichneten Anlagen war, sich aber leicht führen ließ, war jetzt ein williger Schüler seiner herrischen Gemahlin geworden. Er wurde veranlasst, mit äußerster Missbilligung und schließlich mit Widerwillen auf die Unklugheit und die Torheiten meines Vaters zu blicken. Dessen Anwesenheit konnte diese Wolken zwar zerstreuen; seine warmherzige Offenheit, sein glänzender Witz und sein vertrauensvolles Betragen waren unwiderstehlich: in einiger Entfernung jedoch, während immer neue Geschichten über seine Verfehlungen ins Ohr seines königlichen Freundes gegossen wurden, verlor er seinen Einfluss. Der Königin gelang es mit Geschick, diese Abwesenheiten zu verlängern und Beschuldigungen zusammenzutragen. Endlich wurde der König dazu gebracht, in ihm eine Quelle ständiger Unruhe zu sehen, und kam zu dem Schluss, dass ihm das kurzlebige Vergnügen seiner Gesellschaft langweilige Predigten und peinvolle Erzählungen von Exzessen, deren Wahrheit er nicht widerlegen konnte, einbrachte. Das Ergebnis war, dass er, um ihn zur Vernunft zu bringen, noch einen Versuch wagen und ihn im Falle des Misserfolges für immer abweisen wollte.

Eine solche Szene muss von äußerstem Interesse und angespannter Leidenschaft gewesen sein. Ein mächtiger König, bekannt für eine herausragende Güte, die ihn bis dahin milde gestimmt hatte, und jetzt erhaben in seinen Ermahnungen, die mal als Bitten, mal als Rügen geäußert wurden, bat seinen Freund, sich seinen wahren Interessen zu widmen und sich zu entschließen, jenen Belustigungen zu entsagen, die ihn ohnehin bald verlassen würden, und seine großen Talente auf ein würdigeres Feld zu verlegen, in dem er, sein Souverän, ihm Stütze, Halt und Wegbereiter sein würde. Meinen Vater rührte diese Gewogenheit; für einen Moment schwebten ihm ehrgeizige Träume vor; und er dachte, dass es gut wäre, seine gegenwärtigen Beschäftigungen gegen edlere Aufgaben zu tauschen. Mit Aufrichtigkeit und Eifer leistete er das verlangte Versprechen: Als Unterpfand der fortwährenden Gunst erhielt er von seinem königlichen Herrn eine Geldsumme, um dringende Schulden zu begleichen und ihm zu ermöglichen, unter guter Aufsicht seine neue Laufbahn zu beginnen. In derselben Nacht, noch voller Dankbarkeit und guter Entschlüsse, ging diese Summe, und noch einmal so viel, am Spieltisch verloren. In seinem Bestreben, seine ersten Verluste wiedergutzumachen, riskierte mein Vater den doppelten Einsatz und zog damit eine Ehrenschuld auf sich, die er nicht begleichen konnte. Zu beschämt, um sich wieder an den König zu wenden, kehrte er London, seinen falschen Freuden und dem anhaftenden Elend den Rücken zu und vergrub sich, mit der Armut als seiner einzigen Begleiterin, in der Einsamkeit zwischen den Hügeln und Seen Cumberlands. Sein Witz, seine geistreichen Bemerkungen, der Ruf seiner persönlichen Reize, faszinierenden Manieren und gesellschaftlichen Talente wurden lange in Erinnerung behalten und weitererzählt. Wenn man fragte, wo dieser Liebling der Gesellschaft nun sei, dieser Gefährte der Edlen, dieser helle Lichtstrahl, der die Versammlungen des Hofes und der Heiterkeit mit unerhörter Pracht vergoldete, – hörte man, dass er ein verlorener Mann sei, der in Misskredit geraten sei; nicht einer dachte, dass es ihm zustehe, das anderen gewährte Vergnügen durch echte Dienstleistungen zurückgezahlt zu bekommen, oder dass sein langes Wirken als genialer Unterhalter die Auszahlung einer Pension verdiene. Der König beklagte seine Abwesenheit; er liebte es, seine Sprüche zu wiederholen, die Abenteuer, die sie miteinander erlebt hatten, zu erzählen und seine Talente zu erhöhen – hier aber endete seine Erinnerung.

Derweil konnte mein vergessener Vater nicht vergessen. Er trauerte um den Verlust dessen, was ihm notwendiger war als Luft oder Nahrung – die Aufregung des Vergnügens, die Bewunderung der Edlen, das luxuriöse und geschliffene Leben der Großen. Ein Nervenfieber war die Folge, während dem er von der Tochter eines armen Häuslers gepflegt wurde, unter dessen Dach er wohnte. Sie war lieblich, sanft und außerdem freundlich zu ihm; auch kann es nicht verwundern, dass das frühere Idol der adligen Schönheit, selbst in seinem gefallenen Stande, dem niederen Häusler-Mädchen als ein Wesen von höherer und bewunderungswürdiger Art erscheinen sollte. Die Verbindung zwischen ihnen führte zu der unglückseligen Ehe, deren Spross ich war.

Trotz der Zärtlichkeit und Sanftheit meiner Mutter beklagte ihr Ehemann noch immer seinen herabgewürdigten Stand. Nicht an körperliche Arbeit gewöhnt, wusste er nicht, auf welche Weise er zum Unterhalt seiner wachsenden Familie beitragen könnte. Zuweilen dachte er daran, sich an den König zu wenden; Stolz und Scham hielten ihn für eine Weile zurück; und ehe seine Bedürfnisse so dringlich wurden, dass sie ihn zu irgendeiner Betätigung zwangen, starb er. Für eine kurze Zeitspanne vor diesem Unglück blickte er in die Zukunft und betrachtete voller Angst die verzweifelte Lage, in der er seine Frau und seine Kinder zurücklassen würde. Seine letzte Bemühung war ein Brief an den König, voll berührender Beredsamkeit und gelegentlichem Aufblitzen jenes brillanten Geistes, der ein wesentlicher Teil von ihm war. Er überantwortete seine Witwe und Waisen der Freundschaft seines königlichen Gebieters und war es zufrieden, dass auf diese Weise ihr Wohlstand nach seinem Tode besser gesichert war als in seinem Leben. Dieser Brief wurde der Fürsorge eines Adligen anvertraut, der ohne Zweifel dieses letzte leichte Amt auf sich nehmen würde, ihn dem König in die Hand zu legen.

Er starb verschuldet, und sein geringes Vermögen wurde sogleich von seinen Gläubigern beschlagnahmt. Meine Mutter, mittellos und mit der Bürde zweier Kinder belastet, harrte Woche für Woche und Monat für Monat in gespannter Erwartung auf eine Antwort, die nie kam. Sie hatte nie etwas anderes gekannt als die Hütte ihres Vaters; und das Herrenhaus des Gutsherrn war die vornehmste Art von Großartigkeit, die sie sich vorstellen konnte. Während mein Vater noch am Leben gewesen war, hatte er sie mit den Namen der Königsfamilie und des höfischen Kreises vertraut gemacht; aber solche Dinge, die nicht mit ihrer persönlichen Erfahrung übereinstimmten, erschienen ihr nach dem Verlust dessen, der ihnen Inhalt und Wirklichkeit eingehaucht hatte, vage und phantastisch. Wenn sie unter den gegebenen Umständen auch genügend Mut aufgebracht hätte, sich an die von ihrem Ehemann erwähnten adligen Personen zu wenden, so brachte sie doch der Misserfolg seines eigenen Ansuchens dazu, die Idee zu verbannen. Sie sah daher keinen Ausweg aus der bitteren Not: Ihre fortwährende Sorge, verbunden mit der Trauer um den Verlust des außergewöhnlichen Wesens, das sie weiterhin mit feuriger Bewunderung betrachtete, die harte Arbeit und ihre von Natur aus empfindliche Gesundheit erlösten sie schließlich von der traurigen Endlosigkeit des Mangels und Elends.

Die Lage ihrer verwaisten Kinder war besonders trostlos. Ihr eigener Vater war Emigrant aus einem anderen Landesteil gewesen und schon lange gestorben; sie hatten keinen einzigen Verwandten, der sich ihrer angenommen hätte; sie waren Ausgestoßene, Arme, freundlose Wesen, denen nur das dürftigste Almosen zugestanden wurde, und die nicht einmal als Kinder von Bauern behandelt wurden, sondern als ärmer noch als jener Ärmste galten, der sie im Sterben der knauserigen Wohltätigkeit des Landes als ein undankbares Vermächtnis hinterlassen hatte.

Ich, der Ältere der beiden, war fünf Jahre alt, als meine Mutter starb. Eine Erinnerung an die Reden meiner Eltern und die Botschaften, die meine Mutter mir in Bezug auf die Freunde meines Vaters mitzuteilen versuchte, in der vagen Hoffnung, dass ich eines Tages von dem Wissen profitieren könnte, schwebte wie ein undeutlicher Traum durch meinen Verstand. Ich stellte mir vor, dass ich anders und meinen Beschützern und Gefährten überlegen sei, aber ich wusste nicht, inwiefern oder weswegen. Das Gefühl der Verletzung, verbunden mit dem Namen des Königs und der Adligen, hing mir an; aber ich konnte aus jenen Gefühlen keine Schlüsse ziehen, die mir als Anleitung zum Handeln hätten dienen können. Mein erstes wirkliches Wissen über mich selbst besagte, dass ich ein schutzloses Waisenkind in den Tälern und Bergen Cumberlands war. Ich stand im Dienste eines Bauern; und mit einem Stab in der Hand und meinem Hund an meiner Seite hütete ich eine große Schafherde im nahen Hochland. Ich kann nicht viel Gutes über ein solches Leben sagen, und seine Qualen überstiegen bei Weitem seine Freuden. Es lag Freiheit darin, eine Gemeinschaft mit der Natur und eine sorglose Einsamkeit; aber diese, so romantisch sie waren, stimmten nicht mit dem Tätigkeitsdrang und dem Verlangen nach menschlicher Zuneigung überein, die charakteristisch für die Jugend sind. Weder die Aufsicht über meine Herde noch der Wechsel der Jahreszeiten genügten, um meinen regen Geist zu zähmen; mein Leben im Freien und die beschäftigungslose Zeit waren die Versuchungen, die mich früh zu gesetzlosen Gewohnheiten führten. Ich verband mich mit anderen, die wie ich ohne Freunde waren; ich formte sie zu einer Bande, ich war ihr Anführer und Hauptmann. Wir waren alle Hirtenknaben, und während unsere Herden über die Weiden verteilt waren, planten und verübten wir so manchen Schelmenstreich, der uns die Wut und die Rache der Bauern zuzog. Ich war der Anführer und Beschützer meiner Kameraden, und da ich ihnen vorstand, wurden ihre Missetaten gewöhnlich mir angelastet. Doch indem ich heldenmütig Bestrafung und Schmerz in ihrer Verteidigung ertrug, beanspruchte ich als Belohnung Lob und Gehorsam.

In einer solchen Schule erhielt ich einen rauen, aber standhaften Charakter. Der Hunger nach Bewunderung und die geringe Fähigkeit zur Selbstbeherrschung – Eigenschaften, die ich von meinem Vater geerbt hatte, und welche von den Widrigkeiten genährt wurden –, machten mich wagemutig und leichtsinnig. Ich war roh wie die Elemente und ungebildet wie die Tiere, die ich hütete. Ich verglich mich oft mit ihnen, und als ich feststellte, dass meine Hauptüberlegenheit in der Macht bestand, überzeugte ich mich bald, dass es nur die Machtfülle war, bezüglich derer ich den größten Potentaten der Erde unterlegen war. So unbeleckt von hoher Philosophie und von dem unruhigen Gefühl verfolgt, unter meine wahre gesellschaftliche Stellung erniedrigt zu sein, wanderte ich in den Hügeln des zivilisierten Englands umher, ein ebenso ungeschliffener Wilder wie der wolfsgesäugte Gründer des alten Roms. Ich kannte nur ein Gesetz, und zwar das des Stärkeren, und meine größte Tugend bestand darin, mich niemals zu unterwerfen.

Doch man lasse mich ein wenig von diesem Urteil abweichen, das ich über mich selbst gegeben habe. Als meine Mutter starb, übergab sie, zusätzlich zu ihren anderen halbvergessenen und falsch angewandten Lektionen, ihr anderes Kind mit feierlicher Ermahnung meiner brüderlichen Vormundschaft; und diese eine Pflicht erfüllte ich nach besten Kräften, mit all dem Eifer und der Zuneigung, zu der meine Natur fähig war. Meine Schwester war drei Jahre jünger als ich; ich hatte sie als Kleinkind gehütet, und selbst als der Unterschied unserer Geschlechter uns durch verschiedene Beschäftigungen in großem Maße voneinander trennte, blieb sie doch der Gegenstand meiner sorgsamen Liebe. Als Waisen, im vollsten Sinne des Wortes, waren wir die Ärmsten unter den Armen und die Verachteten unter den Unwürdigen. Wo man mir wegen meiner Kühnheit und meines Mutes eine Art von respektvoller Abneigung entgegenbrachte, waren ihre Jugend und ihr Geschlecht, die keine Zärtlichkeit weckten, weil sie ihr als Schwäche ausgelegt wurden, ihr hinderlich und Ursache zahlloser Demütigungen; und ihre eigene Veranlagung war nicht so beschaffen, dass sie die schädlichen Auswirkungen ihres niedrigen Standes hätte mindern können.

Sie war ein einzigartiges Wesen und hatte, gleich mir, viele Eigenarten unseres Vaters geerbt. Ihr Antlitz war voller Ausdruck; ihre Augen waren nicht dunkel, aber undurchdringlich tief; man vermeinte, in ihrem klugen Blick Raum um Raum zu entdecken und empfand, dass ihre Seele ein Universum des Denkens in sich barg. Sie war blass und blond, ihr goldenes Haar kräuselte sich an ihren Schläfen und seine satte Farbe kontrastierte mit dem hellen Marmor darunter. Ihr grobes Bauernkleid, das wenig zu der Kultiviertheit, die ihr Gesicht ausdrückte, passen wollte, harmonierte dennoch auf eine seltsame Weise damit. Sie glich einer von Guidos Heiligen, himmlisch in ihrem Herzen wie in ihrem Äußeren, und Kleidung und sogar Gestalt traten hinter dem Verstand zurück, der aus ihrem Antlitz blitzte.

Obschon sie so liebreizend und voller edler Gefühle war, war das Wesen meiner armen Perdita (denn das war der phantasievolle Name, den meine Schwester von ihrem sterbenden Vater erhalten hatte) nicht gänzlich frei von Fehlern. Ihr Betragen war kalt und abweisend. Wäre sie von Menschen aufgezogen worden, die sie mit Zuneigung behandelt hätten, wäre sie vielleicht anders gewesen; doch ungeliebt und vernachlässigt zahlte sie den Mangel an Güte mit Misstrauen und Schweigen zurück. Sie unterwarf sich denen, die Autorität über sie hatten, doch ihre Brauen waren stets düster zusammengezogen; sie schien von jedem, der sich ihr näherte, Feindschaft zu erwarten, und ihre Handlungen wurden von demselben Gefühl geleitet. Sämtliche Zeit, über die sie frei verfügen konnte, verbrachte sie in der Abgeschiedenheit. Sie wanderte zu den am wenigsten besuchten Orten und erklomm gefährliche Höhen, damit sie sich an diesen entlegenen Stellen in die Einsamkeit zurückziehen konnte. Oft verbrachte sie ganze Stunden damit, auf den Pfaden im Walde auf und ab zu gehen; sie wob Girlanden aus Blumen und Efeu oder betrachtete den flackernden Schatten und die glänzenden Blätter; zuweilen saß sie neben einem Rinnsal und warf, wenn ihre Gedanken zur Ruhe kamen, Blumen oder Kieselsteine ins Wasser, um zu beobachten, wie diese schwammen und jene sanken; oder sie setzte Boote aus Baumrinde oder Blättern ins Wasser, mit einer Feder als Segel, und verfolgte den Kurs ihres Gefährts zwischen den Stromschnellen und Untiefen des Baches. Indessen ersann ihre rege Phantasie tausend Möglichkeiten; sie träumte »von schreckender Gefahr zu See und Land« – sie verlor sich verzückt in diesen selbstgeschaffenen Wanderungen und kehrte mit unwilligem Geist in die trübe Enge des gewöhnlichen Lebens zurück.

Die Armut war die Wolke, die ihre Vorzüge verhüllte, und alles, was in ihr gut war, erstarb aus Mangel am freundlichen Tau der Zuneigung. Sie hatte nicht einmal den gleichen Vorteil wie ich, der ich eine Erinnerung an unsere Eltern hatte; sie klammerte sich an mich, ihren Bruder, als ihren einzigen Freund, doch ihre Verwandtschaft mit mir vergrößerte nur die Abneigung, die ihre Pflegeeltern für sie empfanden; und jeder begangene Fehler wurde von ihnen zu Verbrechen erhöht. Wäre sie in jenem Lebensumfeld aufgewachsen, das die Natur ihr durch die ererbte Zartheit ihres Geistes und ihrer Person eigentlich zugedacht hatte, wäre sie vielleicht ein Gegenstand der Anbetung gewesen, denn ihre Tugenden waren ebenso herausragend wie ihre Fehler. All das Genie, das das Blut ihres Vaters geadelt hatte, entflammte das ihrige; eine großzügige Flut floss in ihren Adern. List, Neid oder Niedertracht liefen ihrer Natur zuwider, ihr Antlitz könnte, wenn es von einem liebenswürdigen Gefühl erleuchtet wurde, einer Königin der Nationen angehört haben, ihre Augen waren strahlend, ihr Auftreten furchtlos.

Obschon wir durch unsere Lage und Gemütsanlagen fast gleichermaßen von den üblichen Formen des sozialen Umgangs abgeschnitten waren, bildeten wir einen starken Gegensatz zueinander. Ich benötigte stets die Anregung durch Gesellschaft und Beifall. Perdita war sich selbst genug. Ungeachtet meiner gesetzlosen Gewohnheiten war ich im Grunde gesellig, wohingegen sie die Abgeschiedenheit suchte. Ich verbrachte mein Leben unter greifbaren Realitäten, sie erlebte das ihre wie einen Traum. Man könnte sagen, ich würde sogar meine Feinde lieben, denn indem sie mich reizten, schenkten sie mir Befriedigung. Perdita mochte ihre Freunde im Grunde nicht, denn sie störten sie in ihren träumerischen Stimmungen. Alle meine Gefühle, selbst die der Freude und des Triumphes, wurden in Bitterkeit verwandelt, wenn ich sie nicht teilen konnte. Perdita nahm noch in der Freude ihre Zuflucht zur Einsamkeit und konnte von Tag zu Tag existieren, ohne je ihre Gefühle auszudrücken oder freundschaftliche Zuneigung in einem anderen zu suchen. Ja, sie konnte lieben und Zärtlichkeit für den Anblick und die Stimme eines Freundes empfinden, während ihr Verhalten doch die kälteste Zurückhaltung ausdrückte. Ihre Empfindung wandelte sich zum Gefühl, und sie sprach erst, wenn sich ihre Wahrnehmung äußerer Gegenstände mit anderen vermischt hatte, die die eigentliche Frucht ihres Geistes waren. Sie war wie ein fruchtbarer Boden, der die Lüfte und Taue des Himmels aufnahm, um sie in den schönsten Formen von Früchten und Blumen wieder ans Licht hervorzubringen; doch dann wieder war sie oft ebenso düster und zerklüftet wie dieser Boden, wurde aufgewühlt und im Verborgenen neu bestellt.

Sie wohnte in einem Häuschen, von dem eine niedrige Grasböschung zu den Wassern des Sees von Ullswater abfiel; ein Buchenwald erstreckte sich den Hügel hinauf, und ein von der Anhöhe sanft hinabfließender, plätschernder Bach lief durch mit Pappeln beschattete Uferwiesen in den See. Ich lebte bei einem Bauern, dessen Haus höher in den Hügeln erbaut war: dahinter erhob sich ein dunkler Fels, in dessen Spalten auf der Nordseite den ganzen Sommer hindurch Schnee lag. Vor Morgengrauen führte ich meine Herde zu den Schafweiden und hütete sie den Tag hindurch. Es war ein mühevolles Leben; denn Regen und Kälte waren häufiger als Sonnenschein; doch ich trotzte den Elementen voller Stolz. Mein treuer Hund bewachte die Schafe, während ich zum Treffpunkt meiner Kameraden und von dort zur Ausführung unserer Pläne schlich. Gegen Mittag trafen wir uns wieder, und wir warfen unsere Bauernkost verächtlich fort, wenn wir Holz für unser Feuer aufschichteten und es zu lodernden Flammen entfachten, die dazu bestimmt waren, das aus den nahe gelegenen Gehegen gestohlene Wild zuzubereiten. Es folgten die Geschichten von haarsträubenden Verfolgungsjagden, Kämpfen mit Hunden, Hinterhalt und Flucht, während wir auf Zigeunerart unseren Kessel umringten. Die Suche nach einem verirrten Lamm oder die Maßnahmen, mit deren Hilfe es uns gelang oder wir bestrebt waren, der Bestrafung zu entgehen, füllten die Stunden des Nachmittags. Am Abend trottete meine Herde in ihren Pferch und ich zu meiner Schwester.

Es geschah in der Tat selten, dass wir, um einen altmodischen Ausdruck zu gebrauchen, ungeschoren davonkamen. Unsere karge Kost wurde oft durch Schläge und Einkerkerung ersetzt. Einmal, als ich dreizehn Jahre alt war, wurde ich für einen Monat ins Bezirksgefängnis geschickt. Als ich herauskam, hatte sich meine Moral nicht verbessert, sondern mein Hass auf meine Unterdrücker verzehnfacht. Brot und Wasser zähmten mein Blut nicht, auch Einzelarrest inspirierte mich nicht mit sanften Gedanken. Ich empfand Wut, Ungeduld und Elend. Meine einzigen glücklichen Stunden waren jene, in denen ich Rachepläne ersann. Diese wurden in meiner erzwungenen Einsamkeit vervollkommnet, so dass ich während der ganzen folgenden Saison, und ich wurde Anfang September aus der Haft entlassen, nie versäumte, mir und meinen Kameraden ausgezeichnete und reichliche Kost zu beschaffen. Das war ein herrlicher Winter. Der scharfe Frost und der schwere Schnee zähmten die Tiere und hielten die Gutsherren an ihren Kaminen. Wir bekamen mehr Wild, als wir essen konnten, und mein treuer Hund bekam durch den Genuss unserer Abfälle ein glänzendes Fell.

So verstrichen die Jahre, und die Jahre vergrößerten nur noch meinen Durst auf die Freiheit und meine Verachtung für alles, was nicht so wild und verwegen war wie ich. Im Alter von sechzehn Jahren war ich zu einem stattlichen Mann herangewachsen; ich war groß und kräftig, darin geübt, meine Stärke zu beweisen und an die Unbilden der Elemente gewöhnt. Meine Haut war sonnengebräunt, meine Schritte waren voll selbstbewusster Kraft. Ich fürchtete niemanden und liebte niemanden. Im Nachhinein blickte ich verwundert darauf zurück, wie ich damals war, wie vollkommen wertlos ich geworden wäre, wenn ich meine gesetzlose Karriere weiterverfolgt hätte. Mein Leben war wie das eines Tieres, und mein Verstand drohte, zu dem eines wilden Tieres zu verkommen. Bis jetzt hatten meine wilden Gewohnheiten mich noch keine üblen Untaten ausüben lassen; vielmehr waren meine körperlichen Kräfte unter ihrem Einfluss gewachsen und aufgeblüht, und mein Geist, der derselben Disziplin unterworfen war, war von allen abhärtenden Tugenden durchdrungen. Aber jetzt stiftete mich meine Unabhängigkeit, auf die ich so stolz war, täglich dazu an, Akte der Tyrannei zu begehen, und die Freiheit wurde zur Zügellosigkeit. Ich stand am Rande der Männlichkeit; Leidenschaften, so stark wie die Bäume eines Waldes, hatten bereits in mir Wurzeln geschlagen und begannen nun, meinen Lebensweg mit ihrem schädlichen Überwuchern zu beschatten.

Ich dürstete nach Unternehmungen jenseits meiner kindlichen Heldentaten und erdachte ungetrübte Träume von zukünftigem Handeln. Ich mied meine alten Kameraden, und so verlor ich sie bald. Sie erreichten das Alter, in dem sie ins Leben entlassen wurden, um den ihnen vorherbestimmten Lebenszweck zu erfüllen; während ich, ein Ausgestoßener, ohne jemanden, der mich führte oder vorantrieb, innehielt. Die Alten begannen, auf mich als ein schlechtes Beispiel zu zeigen, die Jungen, mich als ein Wesen zu betrachten, das von ihnen selbst verschieden war. Ich hasste sie und begann, als die letzte und schlimmste Erniedrigung, mich selbst zu hassen. Ich hielt an meinen wilden Gewohnheiten fest, verachtete sie jedoch zugleich; ich setzte meinen Krieg gegen die Gesellschaft fort und hegte dennoch den Wunsch, dazuzugehören.

Ich rief mir wieder und wieder alles ins Gedächtnis, was meine Mutter mir vom früheren Leben meines Vaters erzählt hatte, ich betrachtete die wenigen Reliquien, die ich von ihm besaß, und sie sprachen von einer größeren Kultiviertheit als dem, was unter den Berghütten zu finden war. Doch nichts von alledem diente mir als Wegweiser zu einer anderen und angenehmeren Lebensweise. Mein Vater war mit Adligen befreundet gewesen, aber alles, was ich von solchen Verbindungen kannte, war die letztendliche Verstoßung. Der Name des Königs – des Mannes, an den mein sterbender Vater seine letzten Bitten gerichtet hatte und der sie grob zurückgewiesen hatte – war nur mit der Vorstellung von Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und äußerster Erbitterung verbunden. Ich war zu etwas Größerem geboren worden, als ich war – und größer würde ich werden; aber Größe ging, zumindest in meiner verzerrten Wahrnehmung, nicht notwendig mit dem Guten einher, und meine wilden Gedanken wurden nicht durch moralische Betrachtungen gezügelt, wenn ich von Rang und Namen träumte. So stand ich auf einem Gipfel, ein Meer des Bösen wogte zu meinen Füßen; ich wollte mich hineinstürzen und mit den Wassern über alle Hindernisse hinweg zum Gegenstand meiner Wünsche eilen – als ein merkwürdiger Einfluss auf die Strömung meines Schicksals einwirkte und ihren ungestümen Lauf zu dem änderte, was im Vergleich dazu den sanften Windungen eines in Wiesen gebetteten Bächleins glich.

Kapitel 2

Ich lebte fernab von den geschäftigen Städten, und der Lärm von Kriegen oder politischen Veränderungen drang nur als ein leiser Nachhall zu unseren Berghütten. England war in meiner frühen Kindheit der Schauplatz bedeutender Kämpfe gewesen. Im Jahre 2073 hatte der Letzte seiner Könige, der alte Freund meines Vaters, aufgrund der sanften Proteste seiner Untertanen abgedankt, und es wurde eine Republik ausgerufen. Dem entthronten Monarchen und seiner Familie wurden große Güter gesichert; er erhielt den Titel Graf von Windsor, und Schloss Windsor, eine alte Residenz mit ausgedehnten Ländereien, gehörte zum ihm zugeteilten Reichtum. Er starb bald darauf und hinterließ zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter.

Die ehemalige Königin, eine Prinzessin des Hauses Österreich, hatte ihren Gatten lange gedrängt, sich dem Unvermeidlichen zu widersetzen. Sie war hochmütig und furchtlos; sie hegte eine Liebe zur Macht und eine bittere Verachtung für ihn, der so leicht sein Königreich aus der Hand gab. Allein um ihrer Kinder willen war sie bereit, der Königswürde beraubt, eine Bürgerin der englischen Republik zu bleiben. Als sie Witwe wurde, widmete sie sich gänzlich der Erziehung ihres Sohnes Adrian, des zweiten Grafen von Windsor, um ihre ehrgeizigen Ziele zu erreichen; und er, der die Milch seiner Mutter eingesogen hatte, sollte mit dem ständigen Ziel vor Augen heranwachsen, eines Tages seine verlorene Krone wiederzuerlangen. Adrian war jetzt fünfzehn Jahre alt. Er war süchtig nach dem Studium und weit über sein Alter hinaus von Gelehrtheit und Talent durchdrungen: Man sagte, dass er bereits begonnen habe, die Ansichten seiner Mutter zu durchkreuzen und republikanische Grundsätze zu hegen. Dem sei, wie ihm wolle, die hochmütige Gräfin vertraute niemandem die Geheimnisse ihres Familienunterrichts an. Adrian wuchs in der Abgeschiedenheit heran und wurde von den natürlichen Gefährten seines Alters und Standes ferngehalten. Einige unbekannte Umstände veranlassten nun seine Mutter, ihn aus ihrer unmittelbaren Obhut fortzusenden; und wir hörten, dass er Cumberland besuchen wollte. Es gingen tausend Geschichten um, welche das Verhalten der Gräfin von Windsor erklärten – keine davon war wahrscheinlich –, aber jeden Tag wurde es gewisser, dass wir den edlen Spross des früheren königlichen Hauses von England unter uns sehen sollten.

Am Ullswater befand sich ein großes Landgut mit einem Herrenhaus, das dieser Familie gehörte. Ein großer Park, geschmackvoll angelegt und reichlich mit Wild bestückt, schloss daran an. Ich hatte oft dieses Gehege geplündert; und der vernachlässigte Zustand des Gutes erleichterte meine Besuche. Als beschlossen wurde, dass der junge Graf von Windsor Cumberland besuchen sollte, kamen Arbeiter, um das Haus und das Grundstück für seinen Empfang vorzubereiten. Die Wohnungen wurden in ihrer ursprünglichen Pracht wiederhergestellt, und der Park, dessen Schäden beseitigt wurden, wurde mit besonderer Sorgfalt bewacht.

Mir war diese Nachricht äußerst unangenehm. Sie weckte all meine ruhenden Erinnerungen, meine verdrängten Gefühle der Verletzung, und gab neuer Rachsucht Auftrieb. Ich konnte meinen Beschäftigungen nicht mehr nachgehen, all meine Pläne und Ideen waren vergessen. Ich schien im Begriff zu sein, mein Leben von Neuem zu beginnen, und das unter keinen guten Vorzeichen. Das Tauziehen, dachte ich, sollte jetzt beginnen. Er würde triumphierend dorthin kommen, wo mein Vater gebrochen Zuflucht gesucht hatte; er würde den unglückseligen Sprössling vorfinden, der seinem königlichen Vater mit solch vergeblichem Vertrauen von elenden Armen anvertraut wurde. Dass er von unserer Existenz wusste und uns aus der Nähe mit derselben Verächtlichkeit behandeln würde, die sein Vater aus der Entfernung und in Abwesenheit geübt hatte, erschien mir als die sichere Folge dessen, was zuvor geschehen war. So sollte ich denn diesen edlen Jüngling treffen – den Sohn des Freundes meines Vaters. Er würde von Dienern abgeschirmt werden. Adlige und deren Söhne waren seine Begleiter. Ganz England war entzückt beim Klange seines Namens, und sein Herannahen war wie ein Gewitter bereits von fern zu vernehmen. Ich hingegen, der ich ungebildet und unbeliebt war, sollte im Urteil seiner höfischen Anhänger als lebender Beweis für die Richtigkeit jener Undankbarkeit dienen, die mich zu dem degradierten Wesen gemacht hatte, als das ich erschien.

Man könnte sagen, dass ich, während ich ganz von jenen Gedanken erfüllt war, wie unter einem Bann stehend den künftigen Wohnsitz des jungen Grafen aufsuchte. Ich beobachtete den Fortschritt der Arbeiten und stand bei den Packwagen, aus denen verschiedene Londoner Luxusartikel hervorgebracht und ins Herrenhaus befördert wurden. Es war Teil des Plans der ehemaligen Königin, ihren Sohn mit fürstlicher Pracht zu umgeben. Ich sah reiche Teppiche und seidene Behänge, goldenen Tand, reich verzierte Gegenstände aus Metall, prunkvolle Möbel und allerlei Beiwerk von hohem Rang, so dass dem Abkömmling eines Königs nichts als königliche Pracht ins Auge fallen sollte. Ich schaute auf diese und wandte meinen Blick meiner eigenen gewöhnlichen Kleidung zu. Woher kam dieser Unterschied? Woher, wenn nicht von Undankbarkeit und Falschheit, von einer Verderbtheit des Vaters des Prinzen, einer Abwendung von jeglichem edlen, mitfühlenden und großzügigen Gefühl. Zweifellos war auch er, dessen Blut eine Beimischung von seiner stolzen Mutter erhalten hatte – war er, der anerkannte Mittelpunkt des Reichtums und des Adels des Königreichs, gelehrt worden, den Namen meines Vaters mit Verachtung auszusprechen und über meine gerechten Ansprüche auf Schutz zu spotten. Ich bemühte mich zu glauben, dass all dieser Prunk nichts als eine blendende Ehrlosigkeit sei und dass er, indem er seine goldgewebte Fahne neben meiner befleckten und zerfetzten aufpflanzte, nicht seine Überlegenheit verkündete, sondern seine Erniedrigung. Und doch beneidete ich ihn. Sein Stall voll schöner Pferde, seine edlen und kostbaren Waffen, das Lob, das ihn überallhin begleitete, die Anbetung, die stets bereiten Diener, der hohe Rang und die hohe Wertschätzung – ich betrachtete sie als mir gewaltsam entwunden und neidete sie ihm alle mit neuer und quälender Bitterkeit.

Um meinem Ärger die Krone aufzusetzen, schien Perdita, die weltabgewandte Perdita, wie zu neuem Leben erwacht zu sein, als sie mir erzählte, dass der Graf von Windsor bald eintreffen würde.

»Und das freut dich?«, bemerkte ich mürrisch.

»In der Tat, Lionel«, antwortete sie. »Ich freue mich sehr darauf, ihn zu sehen. Er ist der Abkömmling unserer Könige, der oberste Adlige des Landes: jeder bewundert und liebt ihn, und man sagt, dass sein Rang sein geringstes Verdienst ist. Er ist großzügig, wacker und gütig.«

»Du hast eine hübsche Lektion gelernt, Perdita«, sagte ich, »und wiederholst sie so wörtlich, dass du indessen vergisst, welche Beweise wir von den Tugenden des Grafen haben. Seine Großzügigkeit uns gegenüber offenbart sich in der Fülle, die wir besitzen, seine Tapferkeit im Schutz, den er uns gewährt, seine Freundlichkeit darin, wie er von uns Notiz nimmt. Sein Rang ist sein geringstes Verdienst, sagst du? Nun, alle seine Tugenden sind nur von seinem Stand abgeleitet. Weil er reich ist, wird er großzügig genannt, weil er mächtig ist, wacker, weil ihm gut gedient wird, heißt es, er sei gütig. Lass sie ihn so nennen, lass ganz England glauben, er sei so – doch wir kennen ihn – er ist unser Feind – unser geiziger, tückischer, ungerechter Feind. Wenn er auch nur mit einem geringen Teil der Tugenden begabt wäre, die du sein Eigen nennst, würde er uns Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sein Vater verletzte meinen Vater – sein Vater, unangreifbar auf seinem Thron, wagte es, ihn zu verachten – ihn, der erst so tief sank, nachdem er sich dazu herabgelassen hatte, mit dem undankbaren König in Verbindung zu treten. Wir, Abkömmlinge des einen und des andern, müssen gleichfalls Feinde sein. Er soll merken, dass ich meine Verletzungen fühlen kann, er soll lernen, meine Rache zu fürchten!«

Ein paar Tage darauf traf er ein. Jeder Bewohner selbst der elendsten Hütte ging aus, um sich zum Volk zu gesellen, das ausströmte, um ihn zu sehen. Selbst Perdita schlich sich, trotz meiner kürzlichen Strafrede, nahe an die Straße heran, um dieses Idol aller Herzen zu sehen. Ich, halb wahnsinnig, nachdem ich etlichen Gruppen Landvolk in ihrem besten Sonntagsstaat, welche die Hügel hinabstiegen, begegnet war, floh zu den wolkenverhangenen Gipfeln und rief aus, indem ich auf die kahlen Felsen um mich her blickte: »Sie rufen nicht, lang lebe der Graf!« Auch als die Nacht anbrach, begleitet von Nieselregen und Kälte, wollte ich nicht nach Hause zurückkehren, denn ich wusste, dass jedes Haus voll des Lobes für Adrian sein würde. Als ich fühlte, wie meine Glieder taub und kalt wurden, diente mein Schmerz als Nahrung für meine wahnsinnige Abneigung; ja, ich triumphierte beinahe darin, weil er mir Grund und Entschuldigung für meinen Hass auf meinen sorglosen Gegner bot. Alles schrieb ich ihm zu, denn ich brachte die Vorstellung von Vater und Sohn so vollständig durcheinander, dass ich vergaß, dass dieser sich unserer Vernachlässigung durch seinen Vater völlig unbewusst sein könnte, und ich rief, indem ich mit der Hand an meinen schmerzenden Kopf schlug: »Er wird davon hören! Ich werde gerächt werden! Ich werde nicht wie ein Hund leiden! Er soll wissen, dass ich, bettelarm und freundlos, wie ich bin, mich nicht zahm der Schmähung beugen werde!«

Jeder Tag und jede Stunde vermehrte und vergrößerte diese eingebildeten Fehler. Die Loblieder, die auf ihn gesungen wurden, waren gleich Natternbissen, die sich tief in meine verletzliche Brust bohrten. Wenn ich ihn aus einiger Entfernung sah, auf einem schönen Pferd reitend, geriet mein Blut vor Wut in Wallung. Die Luft schien von seiner Gegenwart vergiftet zu sein, und meine Muttersprache wurde in einen widerlichen Jargon verwandelt, da jeder Satz, den ich hörte, mit seinem Namen und seinem Lob verbunden war. Ich war darauf versessen, dieses schmerzhafte Herzbrennen durch irgendeine Untat zu lindern, die ihm meine Abneigung beweisen sollte. Es war der Gipfel seiner Beleidigung, dass er mir solche unerträglichen Empfindungen bescheren, und sich gleichzeitig nicht dazu herablassen sollte, auf irgendeine Art zu zeigen, dass er sich überhaupt meiner Existenz bewusst war.

Es wurde bald bekannt, dass Adrian große Freude an seinem Park und dem darin lebenden Wild hatte. Er ging nie zur Jagd, sondern verbrachte Stunden damit, die Herden von schönen und fast zahmen Tieren zu beobachten, mit denen der Park bestückt war, und befahl, dass auf sie mehr Sorge als zuvor angewandt werden sollte. Hier war ein Einfallstor für meine Pläne, ihn zu beleidigen, und ich nutzte es mit allem rohen Ungestüm meiner wilden Lebensweise. Ich schlug meinen wenigen verbliebenen Kameraden, die die entschlossensten und gesetzlosesten der Bande waren, das Unternehmen vor, Wilderei auf seinen Ländereien zu betreiben, aber sie alle schraken vor der Gefahr zurück. Ich musste die Rache also alleine wagen. Zuerst wurden meine Raubzüge nicht bemerkt, so dass ich wagemutiger wurde. Fußabdrücke im taubenetzten Grase, abgebrochene Zweige und Blutspuren erregten endlich die Aufmerksamkeit der Wildhüter. Sie hielten besser Ausschau – ich wurde gefasst und ins Gefängnis geschickt. Ich betrat die düsteren Wände in einem Anfall triumphierender Ekstase: »Jetzt fühlt er mich«, rief ich, »und wird es wieder und wieder tun!« – Ich wurde aber nur für einen Tag in Haft genommen, am Abend wurde ich, wie mir gesagt wurde, auf Geheiß des Grafen selbst, wieder in die Freiheit entlassen. Diese Nachricht schleuderte mich von meinem selbst errichteten Gipfel der Ehre herab. Er verachtet mich, dachte ich, aber er wird noch lernen, dass auch ich ihn verachte, und seine Bestrafungen und seine Milde gleichermaßen. In der zweiten Nacht nach meiner Entlassung wurde ich wieder von den Wildhütern gefangen genommen – wieder eingesperrt und wieder freigelassen, und in der vierten Nacht, so hartnäckig war ich, fand ich mich wieder im verbotenen Park. Die Wildhüter waren wegen meiner Hartnäckigkeit wütender als ihr Herr. Sie hatten Befehl erhalten, mich, wenn ich wieder aufgegriffen werden würde, vor den Grafen zu bringen, und angesichts seiner Milde erwarteten sie ein Urteil, das sie für mein Verbrechen als unpassend ansahen. Einer von ihnen, der von Anfang an der Anführer unter denen gewesen war, die mich ergriffen hatten, entschloss sich, zuerst seinen eigenen Groll zu befriedigen, ehe er mich den höheren Mächten übergab.

Der späte Untergang des Mondes und die äußerste Vorsicht, die ich bei diesem dritten Feldzug wahren musste, kosteten mich so viel Zeit, dass mich ein gewisses Angstgefühl erfasste, als ich den Übergang der dunklen Nacht in die Dämmerung wahrnahm. Ich kroch auf Händen und Knien durch den Farn und suchte mich im Schatten des Unterholzes zu verbergen, während die Vögel über mir mit unwillkommenem Gesang erwachten und der frische Morgenwind, der zwischen den Ästen spielte, mich bei jeder Biegung den Schall von Fußtritten vermuten ließ. Mein Herz schlug rasch, als ich mich der Umzäunung näherte; meine Hand legte sich darauf, ein Sprung nur würde mich auf die andere Seite bringen, als zwei Wächter aus einem Hinterhalt auf mich losgingen. Einer schlug mich nieder und fuhr fort, mich mit der Pferdepeitsche zu schlagen. Ich sprang auf – ein Messer lag in meiner Hand; ich fuhr damit auf seinen erhobenen rechten Arm los und fügte ihm eine tiefe, klaffende Wunde in der Hand zu. Die Wut und die Schreie des verwundeten Mannes, die lauten Verwünschungen seines Kameraden, die ich mit gleicher Bitterkeit und Wut beantwortete, hallten durch das Tal. Der Morgen brach mehr und mehr an und wollte mit seiner himmlischen Schönheit so gar nicht mit unserem brutalen und lautstarken Kampf harmonieren. Ich und mein Gegner kämpften immer noch, als der Verwundete ausrief: »Der Graf!« Ich wand mich keuchend vor Anstrengung aus dem herkulischen Griff des Wächters; dann warf ich wütende Blicke auf meine Verfolger und stellte mich mit meinem Rücken an einen Baum, entschlossen, mich bis zum Letzten zu verteidigen. Meine Kleider waren zerrissen, und sie waren, wie auch meine Hände, mit dem Blut des Mannes, den ich verwundet hatte, befleckt; eine Hand hielt die toten Vögel – meine hart verdiente Beute, die andere das Messer. Meine Haare waren verfilzt, mein Gesicht war mit den gleichen Zeichen der Schuld beschmiert, die auf dem tropfenden Werkzeug, das ich umklammerte, gegen mich sprachen, meine ganze Erscheinung war wild und schmutzig. Mit meiner großen und muskulösen Gestalt musste ich wie das ausgesehen haben, was ich wirklich war: der übelste Rohling, der jemals auf Erden wandelte.

Der Name des Grafen erschreckte mich und ließ all das empörte Blut, das mein Herz erhitzte, in meine Wangen schießen. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen und einen hochmütigen, anmaßenden Jüngling erwartet, der, wenn er sich dazu entschlösse, mich zur Rede stellen, mit der ganzen Arroganz der Überlegenheit zu mir sprechen würde. Ich hatte meine Antwort bereits vorbereitet, einen Vorwurf, von dem ich glaubte, dass er ihn ins Herz treffen würde. Er kam unterdessen heran, und sein Aussehen blies, wie mit einem sanften Windhauch, meinen bewölkten Zorn zur Seite: ein großer, schlanker, schöner Jüngling, mit einer Physiognomie, die ein Übermaß an Empfindsamkeit und Kultiviertheit ausdrückte, stand vor mir. Die Strahlen der Morgensonne tönten sein seidiges Haar mit einem goldenen Schimmer und verbreiteten Licht und Herrlichkeit über sein leuchtendes Antlitz. »Was geht hier vor?«, rief er. Die Männer hoben sogleich zu ihrer Verteidigung an; er unterbrach sie und sagte: »Zwei von euch auf einmal gegen einen bloßen Knaben – was für eine Schande!« Er kam auf mich zu: »Verney«, rief er, »Lionel Verney, begegnen wir uns so zum ersten Mal? Wir wurden geboren, um miteinander befreundet zu sein. Willst du nicht, wenngleich uns das Schicksal getrennt hat, die ererbten Freundschaftsbande anerkennen, die uns, wie ich überzeugt bin, zukünftig vereinigen werden?«

Während er sprach, schienen seine ernsten Augen, die auf mich gerichtet waren, direkt in meiner Seele zu lesen: mein Herz, mein wildes rachsüchtiges Herz, fühlte den Einfluss des süßen Wohlwollens in sich sinken, während seine wohlklingende Stimme wie die süßeste Melodie ein stummes Echo in mir weckte, welches das Lebensblut in meinem Körper bis ins Innerste anrührte. Ich wollte antworten, seine Güte anerkennen, seine angebotene Freundschaft annehmen – aber Worte, passende Worte, wurden dem rauen Bergbewohner nicht gewährt. Ich wollte meine Hand ausstrecken, doch ihre Schmutzigkeit hielt mich zurück. Adrian hatte Mitleid mit meiner unsicheren Miene:

»Komm mit mir«, sagte er, »ich habe dir viel zu sagen. Komm mit mir nach Hause – du weißt, wer ich bin?«

»Ja«, rief ich aus, »ich glaube, dass ich dich jetzt kenne und dass du mir meine Fehler verzeihst – mein Verbrechen.«

Adrian lächelte sanft, und nachdem er den Wildhütern seine Befehle gegeben hatte, ging er auf mich zu; er nahm meinen Arm, und wir gingen zusammen zum Herrenhaus.

Es war nicht sein Rang – nach allem, was ich gesagt habe, wird man sicherlich nicht vermuten, dass es Adrians Rang war, der von Anfang an mein Herz unterwarf und mich meine ganze Seele vor ihm niederlegen ließ. Ich war es auch nicht allein, der seine Vollkommenheit so sehr empfand. Seine Empfindsamkeit und Höflichkeit faszinierten jeden. Seine Lebendigkeit, Intelligenz und seine tätige Güte nahmen alle Welt gänzlich für ihn ein. Schon in diesem jungen Alter war er sehr belesen und durchdrungen vom Geist der hohen Philosophie. Dieser Geist verlieh ihm in seinem Umgang mit anderen einen unwiderstehlichen Ton, so dass er wie ein begabter Musiker wirkte, der mit unfehlbarer Geschicklichkeit die »Leier der Seele« schlug und darauf göttliche Harmonie erzeugte. Körperlich schien er kaum von dieser Welt zu sein; sein schmaler Bau wurde von der Seele, die in ihm wohnte, überlagert; er war ganz Geist. »Man zücke nur ein Schilfrohr« gegen seine Brust, und es hätte seine Stärke bezwungen; aber die Macht seines Lächelns hätte einen hungrigen Löwen gezähmt oder eine Legion bewaffneter Männer dazu gebracht, ihre Waffen zu seinen Füßen zu legen.

Ich verbrachte den Tag mit ihm. Anfangs kam er nicht auf die Vergangenheit oder gar auf irgendwelche persönlichen Vorfälle zurück. Er wollte mich wahrscheinlich Fassung gewinnen lassen und mir Zeit geben, meine zerstreuten Gedanken zu sammeln. Er sprach von allgemeinen Gegenständen und brachte mich auf Gedanken, die ich nie zuvor gedacht hatte. Wir saßen in seiner Bibliothek, und er sprach von den alten griechischen Weisen und von der Macht, die sie über den Geist des Menschen erlangt hätten, und dies nur durch Weisheit und die Kraft der Liebe. Der Raum war mit den Büsten vieler von ihnen geschmückt, und er beschrieb mir ihre Charaktere. Während er sprach, fühlte ich mich ihm ergeben; und all mein vielgerühmter Stolz und meine Kraft wurden durch die honigsüßen Reden dieses blauäugigen Jünglings unterdrückt. Das schmucke und vergitterte Reich der Zivilisation, das ich zuvor aus meinem wilden Dschungel als unerreichbar angesehen hatte, hatte sein Tor von ihm öffnen lassen; ich trat ein, und dabei fühlte ich, dass ich auf heimischem Boden stand.

Als es Abend wurde, kam er auf die Vergangenheit zu sprechen. »Ich habe eine Geschichte zu erzählen«, sagte er, »und muss, die Vergangenheit betreffend, viel erklären. Vielleicht kannst du mir helfen, sie zu verkürzen. Erinnerst du dich an deinen Vater? Ich hatte nie das Glück, ihn kennenzulernen, doch sein Name ist eine meiner frühesten Erinnerungen: Er steht geschrieben in den Tafeln meines Geistes als ein Beispiel für alles, was galant, liebenswürdig und faszinierend im Menschen war. Sein Witz war ebenso berühmt wie die überfließende Güte seines Herzens, welche er in so vollem Maße seinen Freunden einschenkte, dass ach! nur wenig für ihn selbst übrig blieb.«

Ermutigt durch diese Lobrede begann ich, als Antwort auf seine Nachfragen, zu berichten, was ich von meinen Eltern in Erinnerung hatte; und er erklärte jene Umstände, die die Vernachlässigung des testamentarischen Briefes meines Vaters verursacht hatten. Als Adrians Vater, der damalige König von England, in späteren Zeiten spürte, dass seine Lage ernster wurde, beschämte ihn sein Betragen mehr und mehr, immer wieder wünschte er sich seinen früheren Freund, der ihm als Bollwerk gegen den ungestümen Zorn seiner Königin beistehen könnte, als einen Vermittler zwischen ihm und dem Parlament. Seit der Zeit, in der er London in der verhängnisvollen Nacht seiner Niederlage am Spieltisch verlassen hatte, hatte der König keine Nachrichten über ihn erhalten; und als er sich nach Jahren bemühte, ihn aufzuspüren, war jede Spur verwischt. Mit mehr Bedauern als je zuvor klammerte er sich an seine Erinnerung und überantwortete es seinem Sohn, wenn er jemals diesen geschätzten Freund treffen sollte, ihm in seinem Namen jeden Beistand zu leisten und ihm zu versichern, dass seine Zuneigung bis zuletzt Trennung und Schweigen überdauert habe.

Kurze Zeit vor Adrians Besuch in Cumberland legte der Erbe des Edelmannes, dem mein Vater seinen letzten Appell an seinen königlichen Herrn anvertraut hatte, diesen Brief, mit ungebrochenem Siegel, in die Hände des jungen Grafen. Man hatte festgestellt, dass er mit einer Masse alter Papiere beiseitegeschoben worden war, und der Zufall brachte ihn ans Licht. Adrian las ihn mit tiefem Interesse; und fand dort den lebendigen Geist des Genies und des Witzes, über den er so oft reden gehört hatte. Er entdeckte den Namen des Ortes, an den mein Vater sich zurückgezogen hatte, und an dem er starb; er erfuhr von der Existenz von dessen Waisenkindern; und während der kurzen Zeit zwischen seiner Ankunft in Ullswater und unserem Zusammentreffen im Park war er damit beschäftigt gewesen, Nachforschungen über uns anzustellen und eine Reihe von Plänen zu unserem Vorteil zu arrangieren, bevor er sich uns bemerkbar machen wollte.

Die Art, wie er von meinem Vater sprach, schmeichelte meiner Eitelkeit sehr. Der Schleier, den er zart über seine Güte warf, indem er sich auf eine pflichtbewusste Erfüllung des letzten Willens des Königs berief, beruhigte meinen Stolz. Andere, weniger zweideutige Gefühle wurden durch seine versöhnliche Art und die großzügige Wärme seines Ausdrucks ausgelöst. Respekt, wie ich ihn zuvor selten empfunden hatte, Bewunderung und Liebe – er hatte mein versteinertes Herz mit seiner magischen Kraft berührt, und ein Strom der Zuneigung brach unvergänglich und rein daraus hervor. Am Abend trennten wir uns, er drückte meine Hand: »Wir werden uns wiedersehen, komm morgen zu mir.« Ich umklammerte diese gütige Hand; ich versuchte zu antworten; ein eifriges »Gott segne dich!«, war alles, was ich in meinem Unvermögen aussprechen konnte, ehe ich, aufgewühlt von meinen neuen Emotionen, davonstob.

Ich fand keine Ruhe. Es trieb mich in die Hügel; ein Westwind umbrauste sie, und über mir funkelten die Sterne. Ich lief weiter, sorgte mich nicht um äußerliche Gegenstände, sondern versuchte, meinen ringenden Geist durch körperliche Erschöpfung zu ermüden. »Dies«, dachte ich, »ist Macht! Nicht stark in den Gliedern, nicht hart im Herzen und wagemutig sein, sondern gütig und mitfühlend.« – Ich blieb stehen, faltete meine Hände und rief mit der Inbrunst eines Neubekehrten: »Zweifle nicht an mir, Adrian, auch ich werde weise und gut werden!«, und dann, von meinen Empfindungen überwältigt, weinte ich laut.

Als dieser leidenschaftliche Ausbruch vorüber war, fühlte ich mich gelassener. Ich legte mich auf die Erde und begann, indem ich meinen Gedanken freien Lauf ließ, Schicht um Schicht die vielen Fehler meines Herzens aufzudecken, und ich erkannte, wie viehisch, wild und wertlos ich bisher gewesen war. Ich konnte damals jedoch keine Reue empfinden, denn ich dünkte mich neu geboren; meine Seele warf die Bürde vergangener Sünde ab, um ein neues Leben in Unschuld und Liebe zu beginnen. Nichts Schroffes oder Grobes blieb übrig, das es vermocht hätte, die sanften Gefühle, welche die Erlebnisse des Tages ausgelöst hatten, zu erschüttern. Ich war wie ein Kind, das seiner Mutter die Gebete nachlispelte, und meine nachgiebige Seele wurde von einer Meisterhand neu geformt, nach der ich weder verlangte noch ihr widerstehen konnte.

Dies war der erste Beginn meiner Freundschaft mit Adrian, und ich muss dieses Tages als des glücklichsten meines Lebens gedenken. Ich begann jetzt, ein Mensch zu sein. Mir wurde das Überschreiten jener heiligen Grenze gewährt, die die intellektuelle und moralische Natur des Menschen von dem trennt, was Tiere charakterisiert. Meine besten Gefühle waren gefordert, um die Großzügigkeit, die Weisheit und die Geschenke meines neuen Freundes angemessen zu erwidern. Ihm, mit seiner ganz eigenen edlen Güte, bereitete es unendliche Freude, dem lange vernachlässigten Sohn des Freundes seines Vaters, dem Abkömmling jenes begabten Wesens, von dessen Vorzügen und Talenten er von seiner Kindheit an hatte erzählen hören, die Schätze seines Verstandes und seines Vermögens zu schenken.