Der liebestolle Beagle und die 45 Nachthemden - Dr. med. vet. Ulrike Werner - E-Book

Der liebestolle Beagle und die 45 Nachthemden E-Book

Dr. med. vet. Ulrike Werner

4,8

  • Herausgeber: mvg
  • Kategorie: Lebensstil
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Frau Doktor, Sie sind unsere letzte Rettung! Wir haben schon alles versucht!" Diese Sätze kennt Ulrike Werner nur zu gut. Die Berliner Tierärztin hat sich auf Verhaltensmedizin und Tierverhaltenstherapie spezialisiert. Ihre Praxisräume sind immer dort, wo sie gebraucht wird: vor Ort. Wenn Hundebesitzer nicht mehr weiter wissen oder Haustierärzte um Hilfe bitten, kommt Ulrike Werner vorbei und findet dabei das eigentliche Problem: Weshalb nur wird der süße Welpe Knut in der Großstadt zum beißwütigen Bello? Warum will die Schäferhündin Blanca bei Sturm aus dem Fenster springen? Und weshalb knabbert Karlchen alles an und zerlegt die ganze Wohnung? 26 faszinierende Geschichten von Hundebesitzern und ihren "Sorgenkindern" und wie sie mit der fachkundigen Hilfe von Dr. Werner wieder zueinanderfinden.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 251

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (52 Bewertungen)
42
10
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

[email protected]

1. Auflage 2014

© 2014 by Lardon Media AG, Berlin. Lizenzausgabe mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlaggestaltung: Pamela Machleidt, München

Umschlagabbildung: shutterstock

Autorenfoto: Dr. Jörg Werner

E-Book-Umsetzung: Georg Stadler, München

ISBN Print 978-3-86882-499-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-642-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-643-4

www.mvg-verlag.de

Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Karl­chen, ein ­grö­ßen­wahn­sin­ni­ger Zwerg
Das ge­fähr­li­che Win­ter­vi­rus
Ku­schel-Eis­bär Knut
Cora on Tour
Ron­ja kennt kei­ne Gren­zen
Ein Chi­ne­se in Dres­den
Ge­sich­ter ma­chen Mo­ses Angst
Eine Mama für Persinese Ted­dy
Lucky hat Lisa-Ma­rie zum ­Fres­sen gern
Max und Mo­ritz, zwei ­klei­ne Terroris­ten
Zwei Hun­de vom Grabbeltisch
Ein ris­kan­ter Stunt
Ein Tolt­eke in der Ba­de­wan­ne
Hundetausch am Ku’damm
Pina und Col­ada
Und wo war noch gleich die Tür?
Gefangen im eigenen Kopf
Lady, die Wie­der­ho­lungs­tä­te­rin
Mi­se­rab­le Seel­sor­ge­rin und gute ­Fa­mi­li­en­hel­fe­rin
Flor­ence und ihre An­ge­stell­ten
Anarcho-Agi
Der liebestolle Bea­gle und die 45 Nacht­hem­den
Cho­col­ata und die En­kel­kin­der
Gold­esel Miro
Ame­lie woll­te Klas­sen­bes­te wer­den
Ein paar Ge­dan­ken zum Schluss
Glos­sar

»Ich danke meinem lieben Mann Jörg dafür, dass er mit mir gemeinsam durchs Leben geht.«

Vorwort

Ein Vor­wort? Le­sen Sie gern Vor­wor­te? Mich lang­wei­len sie zu­meist. Also fas­se ich mich kurz, denn ich habe et­was mit Ih­nen vor.

Hier­mit, lie­ber Le­ser, lie­be Le­se­rin, lade ich Sie herz­lich ein, mich in mei­nem Pra­xis­au­to zu 24 Haus­be­su­chen zu be­glei­ten.

Sie wol­len wis­sen, mit wem Sie auf die Rei­se ge­hen? Mein Name ist Ul­ri­ke Wer­ner, ge­bo­re­ne Gie­ser. Als Tier­ärz­tin füh­re ich mit gro­ßer Lei­den­schaft eine mo­bi­le Pra­xis für Ver­hal­tens­me­di­zin und Ver­hal­tens­the­ra­pie in Ber­lin und Bran­den­burg. Ja, Sie ha­ben rich­tig ge­le­sen: Psy­cho­the­ra­pie für Vier­bei­ner un­ter deut­schen Dä­chern. Bis­wei­len wer­den Sie auch mei­nen drei Hun­den Vi­tus, Jarda und Mo­ses be­geg­nen, mei­nen Hel­fern auf vier Pfo­ten.

Ich wäre ir­gend­wann ge­platzt, wenn ich die­ses Buch nicht ge­schrie­ben hät­te. Denn das, was ich tag­täg­lich er­le­be, ist un­ter­halt­sam, ko­misch, ver­rückt, tra­gisch, ab­son­der­lich, manch­mal trau­rig oder skur­ril, oft kaum zu glau­ben – und nie lang­wei­lig!

Nein, dies ist kei­nes der üb­li­chen Hun­de­er­zie­hungs­bü­cher. Es rich­tet sich nicht aus­schließ­lich an Hun­de­hal­ter und Hun­de­lieb­ha­ber. Es ist auch ge­schrie­ben für Nicht-Hun­de­hal­ter, Hun­de­has­ser und für Men­schen, de­nen Hun­de re­la­tiv egal sind, die aber er­fah­ren möch­ten, was Men­schen so al­les mit ih­ren Haus­tie­ren an­stel­len.

Oft er­le­be ich Hun­de, die mehr für »ih­ren« Men­schen sein sol­len als nur ein fröh­li­cher, gu­ter, vier­bei­ni­ger Freund und Be­glei­ter; die als Pro­jek­ti­ons­flä­che für un­ge­still­te Sehn­süch­te die­nen und da­her viel zu viel tra­gen und er­tra­gen müs­sen.

Be­glei­ten Sie mich also zu den Zwei­bei­nern und ih­ren vier­bei­ni­gen Hal­tern – sor­ry, ich mein­te na­tür­lich, zu den Vier­bei­nern und ih­ren zwei­bei­ni­gen Hal­tern.

Und nun bit­te ein­stei­gen! Vi­tus, Jarda und Mo­ses sind schon an Bord.

Ul­ri­ke Wer­ner,

im Winter 2014

Karl­chen, ein ­grö­ßen­wahn­sin­ni­ger Zwerg

Ein Kol­le­ge aus Ber­lin-Wilm­ers­dorf rief mich ei­nes Mor­gens an. Es ging um ei­nen sei­ner Pa­ti­en­ten, der drin­gend mei­ne Hil­fe brauch­te. Die Be­hand­lungs­mög­lich­kei­ten in sei­ner Pra­xis sei­en im Fall von Karl­chen, dem Yorks­hire-Ter­ri­er-Zwerg­da­ckel-Mix von Hans P., aus­ge­schöpft. Viel­leicht käme ich da wei­ter, mit ei­nem Haus­be­such und mei­nem ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen An­satz.

Er be­rich­te­te mir, dass Hans P., ein freund­li­cher, ziem­lich über­ge­wich­ti­ger äl­te­rer Herr, be­reits seit Jah­ren mit sei­nem Hund in die Pra­xis kom­me. Au­ßer re­gel­mä­ßi­gen Zahn­sa­nie­run­gen in Nar­ko­se habe es bis­lang kei­ne nen­nens­wer­ten Prob­le­me ge­ge­ben. Karl­chen stam­me aus dem Tier­heim, Hans P. habe ihn nach dem Tod sei­ner Frau zu sich ge­holt. Ei­gent­lich habe der Hund ein freund­li­ches We­sen, aber Hans P. be­kla­ge sich in letz­ter Zeit im­mer öf­ter da­rü­ber, dass Karl­chen in der Woh­nung ran­da­lie­re, selbst wenn er ihn dort nur kurz al­lei­ne lie­ße.

Mit sei­nen zar­ten sechs Ki­lo­gramm Kör­per­mas­se habe es die­ser Zwerg ge­schafft, zwei So­fas und eine Mat­rat­ze aus­ei­nan­der­zu­neh­men, Vor­hän­ge he­run­ter­zu­rei­ßen, Tep­pi­che an­zu­knab­bern so­wie eine alte Ak­ten­ta­sche und di­ver­se Kabel zu zer­bei­ßen. Ach ja, und er habe im­mer wie­der schlei­mi­gen Dick­darm­durch­fall, der ein­fach nicht in den Griff zu be­kom­men sei. Wohl ein Fall für den See­len­klemp­ner, wie mich mein Kol­le­ge gern scherz­haft nennt. Hans P. wür­de sich bei mir mel­den.

Tags da­rauf rief die­ser an. Ich sei sei­ne letz­te Ret­tung. Na­tür­lich, das bin ich im­mer. Er schil­der­te mir die Zer­stö­rungs­wut sei­nes Hun­des, und al­les hör­te sich noch deut­lich schlim­mer an als von mei­nem Kol­le­gen be­schrie­ben. Wir ver­ein­bar­ten ei­nen Ter­min für die da­rauf­fol­gen­de Wo­che. Den ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen Fra­ge­bo­gen konn­te er nicht von mei­ner Home­pa­ge he­run­ter­la­den, denn er hat­te kein In­ter­net – so et­was Neu­mo­di­sches käme ihm nicht ins Haus!

Kein Pro­blem. Für sol­che Fäl­le gab es im­mer noch die Post.

Ich be­rei­te­te mich gründ­lich vor. Die Ver­dachts­di­ag­no­se lau­te­te: »Se­pa­ra­ti­ons­pho­bie; Typ: Zer­stö­ren«, also Tren­nung­sangst. Mal se­hen, was die Vor-Ort-Anam­ne­se ans Licht brin­gen wür­de.

Hans P. brauch­te viel Zeit, ehe er mir die Tür öff­ne­te. Ge­schätz­te 140 Ki­lo­gramm be­we­gen sich lang­sam. Karl­chen hin­ge­gen war sehr schnell. Ver­dammt schnell: Er zwäng­te sich durch die Tür, stell­te sich vor mich hin, grumm­elte ein­mal kurz, hob das Bein, pin­kel­te mich an, scharr­te wild mit den Hin­ter­bein­chen auf dem Tep­pich im Flur, wetz­te zu­rück, hol­te ei­nen gro­ßen Kunst­stoff­kno­chen, der etwa drei­mal so groß wie er selbst zu sein schien, und prä­sen­tier­te sei­ne Beu­te.

Was für ein Kerl, dach­te ich! Wow! Ein grö­ßen­wahn­sin­niger Zwerg! Hans P. hat­te das Harnmar­kie­ren sei­nes schnel­len Hünd­chens an mei­nem Ho­sen­bein nicht be­merkt, lä­chel­te mich an und sag­te: »Er freut sich im­mer so über Be­such!« Wir setz­ten uns ins Wohn­zim­mer und be­gan­nen mit der Anam­ne­se.

Sei­ne Woh­nung bot ein Bild der Zer­stö­rung. Kaum ein Mö­bel­stück, das nicht an­ge­knab­bert oder an­ders­wie be­schä­digt war: die Sitz­ge­le­gen­hei­ten, alle Stuhl- und Tisch­bei­ne, die Vor­hän­ge, die Bett­de­cken bis hin zu den Tisch­de­cken. Aber Hans P. war des­halb nicht böse auf Karl­chen. Er war eher be­sorgt um sei­nen klei­nen Prin­zen. Was hat­te er bloß, der Klei­ne?

Für die Anam­ne­se hat­te ich zwei­ein­halb Stun­den ein­ge­plant. Sie ver­lie­fen je­doch völ­lig an­ders als er­war­tet. Karl­chen kratz­te an der Ter­ras­sen­tür. So­fort be­weg­te sich Hans P. dort­hin und ließ Karl­chen hi­naus in den Gar­ten. Nur we­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter flitzte Karl­chen zu­rück in die Kü­che und schnapp­te sich sei­nen Blech­fut­ter­napf. Hans P. mar­schier­te hin­ter­her und füll­te den Napf mit Fleisch­wurst.

Kaum war das Fres­sen er­le­digt, be­gab sich Karl­chen zum an­ge­knab­ber­ten Sofa und bell­te auf­for­dernd. Wo­rauf sich Hans P. aus dem Ses­sel er­hob, zum Sofa hi­nü­ber­ging und dort den Klei­nen aufs So­fa­kis­sen hob. Dort thron­te Karl­chen dann – für die nächs­ten 15 Mi­nu­ten. Dann sprang er wie­der he­run­ter, hol­te sei­nen Stoff­ha­sen und ver­such­te, ihn Hans P. auf den Schoß zu le­gen. Die­ser mach­te be­reit­wil­lig mit.

Als Karl­chen kurz da­rauf kei­ne Lust mehr zum Spie­len hat­te, schnapp­te er mal kurz nach Hans P. – und trug dann sei­nen Stoff­ha­sen zu­rück ins Körb­chen. Was wür­de Karl­chen wohl als Nächs­tes ein­fal­len? Nun be­gann er wie­der an der Ter­ras­sen­tür zu krat­zen, und das Spiel ging von vor­ne los. Hans P. öff­ne­te ihm die Tür, ging dann in Rich­tung Kü­che, um sich ein Glas Was­ser zu ho­len. Doch Karl­chen fand den Gar­ten nun nicht mehr so in­te­res­sant. Lie­ber lief er sei­nem Herr­chen un­ent­wegt vor den Fü­ßen hin und her, so­dass die­ser dau­ernd aus­wei­chen muss­te.

In­zwi­schen war etwa eine Stun­de ver­gan­gen. Um Punkt 13 Uhr lief Karl­chen zur Woh­nungs­tür. Hans P. stand auf und zog sei­ne Ja­cke an: »Ent­schul­di­gung, dass wir un­ter­bre­chen müs­sen, aber jetzt ist Karl­chens Zeit. Ge­nau um 13 Uhr muss er kurz raus. Wir sind aber in zehn Mi­nu­ten wie­der da.«

Da saß ich nun al­lein in die­ser Woh­nung und muss­te un­will­kür­lich schmun­zeln. Karl­chen, ein Bon­sai-Ter­mina­tor! Tren­nung­sangst hat­te die­ses klei­ne Schätz­chen nun wirk­lich nicht, aber da­für ei­nen mas­si­ven Kon­troll-Kom­plex-Zwang. Bei so et­was wür­de ich auch stress­be­ding­ten Dick­darm­durch­fall be­kom­men!

Hans P. kam schwit­zend zu­rück, ent­schul­dig­te sich noch­mals für die Un­ter­bre­chung und setz­te den Klei­nen wie­der aufs So­fa­kis­sen. »Was kann ich denn nur mit mei­nem Karl­chen ma­chen? Ich bin et­was rat­los, wie …« Er un­ter­brach sich, als das Te­le­fon zu klin­geln be­gann.

»Oh, jetzt wird es schwie­rig!«, mein­te er und be­weg­te sich eher zö­ger­lich auf das Te­le­fon zu, das auf sei­nem Schreib­tisch stand. Has­tig zog er dort sei­ne Pan­tof­feln aus und schlüpf­te schnell in Holz­pan­ti­nen, die dort schon be­reit stan­den. Zeit­gleich sprang Karl­chen vom So­fa­kis­sen hi­nun­ter und ver­such­te wü­tend, von vorn in die Holz­schu­he zu bei­ßen. Er tob­te re­gel­recht. Ich war be­ein­druckt.

Hans P. be­grüß­te sei­ne Schwes­ter am an­de­ren Ap­pa­rat. Als er nach ei­nem kur­zen Ge­spräch den Hö­rer wie­der auf­leg­te, war Karl­chens Wut­aus­bruch au­gen­blick­lich vor­bei. Der Hund schüt­tel­te sich und »be­glei­te­te« Hans P., der nun wie­der sei­ne Pan­tof­feln trug, zum Tisch ­zu­rück.

Die­ser Haus­be­such hat­te so viel Un­ter­hal­tungs­wert, dass ich rich­tig Spaß be­kam, ihn voll aus­zu­kos­ten. Ich schick­te Hans P. nach drau­ßen, ohne Karl­chen.

»Nun tun Sie mal kurz so, als ob Sie ein­kau­fen ge­hen woll­ten. Blei­ben Sie drau­ßen in Sicht­wei­te. Und ich sehe mir hier drin­nen an, was der Hund in Ih­rer Ab­we­sen­heit so al­les an­stellt.«

Hans P. war we­nig be­geis­tert von mei­nem Plan. Es fiel ihm schwer, Karl­chen al­lein zu las­sen.

Ich ver­such­te, die an­ge­spann­te Si­tu­a­ti­on ein we­nig zu ent­schär­fen: »Wenn Sie jetzt nicht ge­hen, habe ich ja gar kei­ne Ge­le­gen­heit, Ihre Kre­dit­kar­ten und Ähn­li­ches zu klau­en!«

Da­mit hat­te ich ihn; er lach­te und zog nun doch da­von.

Mit ei­nem lau­ten ›Klack‹ fiel die Woh­nungs­tür ins Schloss. Hans P. be­fand sich nicht mehr in Karl­chens Kon­troll­be­reich und es trat ein, was ich ge­ahnt hat­te: Karl­chen tob­te. Er knurr­te, sprang an die Woh­nungs­tür, biss in die Fuß­leis­ten, rann­te knur­rend zum Fens­ter, sprang auf die So­fa­leh­ne, biss ins Kis­sen, sprang wie­der hi­nun­ter. Er rann­te in die Kü­che, schlepp­te den Fut­ter­napf durch den Flur, knurr­te den Napf an, riss die Ta­ges­de­cke vom Bett, knurr­te den Klei­der­schrank an und biss zu ­gu­ter Letzt in die hol­län­di­schen Pan­ti­nen.

Ich ging zum Fens­ter und rief Hans P. zu, doch wie­der in die Woh­nung zu kom­men. Ich such­te nach Wor­ten und be­gann zu er­klä­ren, was mir auf­ge­fal­len war. Es wür­de schwie­rig wer­den für Hans P., das war mir klar. Ich be­gann da­mit, dass ich ihm ge­nau be­schrieb, wie ich sei­nen Hund er­lebt hat­te.

»Also, ganz ein­deu­tig: Karl­chen hat­te kei­ne Angst, al­lei­ne zu blei­ben. Ein Hund, der gro­ße Angst hat, wür­de he­cheln, hät­te ver­grö­ßer­te Pu­pil­len, wür­de stark zit­tern und sei­ne Rute ein­klem­men. Win­seln oder Wei­nen wäre auch ty­pisch für solch eine Angst­symptomatik. Aber ich habe nichts der­glei­chen bei Karl­chen fest­stel­len kön­nen. Was ich ge­se­hen habe, war: Wut! Wut! Wut! »Wü­tend sein« ist auch ein Symp­tom, aber für ein ganz an­de­res Pro­blem!«

Hans P. hör­te er­staunt zu.

Ich ver­such­te ihm den Un­ter­schied zwi­schen ei­ner be­hand­lungs­be­dürf­ti­gen Se­pa­ra­ti­ons­pho­bie, also ei­ner krank­haf­ten Tren­nung­s­angst, und ei­nem Kon­troll-Kom­plex-Ver­hal­ten zu er­klä­ren.

Bei Tren­nung­sangst gibt es un­ter­schied­li­che Ty­pen. Es gibt Hun­de, die bel­len und heu­len, an­de­re zer­stö­ren; wie­der an­de­re set­zen un­kont­rol­liert Harn und Kot in der Woh­nung ab. Und im­mer ist Angst bis hin zur To­des­angst die Ur­sa­che für ein sol­ches Ver­hal­ten. Die be­trof­fe­nen Hun­de wol­len die Nähe zu ih­ren Be­zugs­per­so­nen wie­der her­stel­len, in­dem sie de­ren Schu­he an­na­gen, ihre Bril­len­­­e­tuis zer­stö­ren, Fern­be­die­nun­gen oder Han­dys an­knab­bern. Al­les Din­ge, die ihre Be­sit­zer oft in die Hand ­neh­men.

Und wo lie­gen die Ur­sa­chen für die­se Ängs­te? Der Hund als hoch­so­zi­a­les Ru­del­tier ist nicht da­für ge­macht, al­lei­ne ge­las­sen zu wer­den. So wie wir ihn hal­ten, muss er das aber ler­nen. Das muss ihm vom Wel­pen­al­ter an be­hut­sam bei­ge­bracht wer­den.

An­ders liegt der Fall bei ei­nem Hund mit Kon­troll-Kom­plex-Zwang. Er zer­stört auch, aber ein­fach nur, weil er wü­tend da­rü­ber ist, dass sich sein Be­sit­zer aus sei­nem Kont­roll­be­reich ent­fernt. Solch ein Hund zeigt kei­ner­lei Angst­symptomatik.

Er ist ein­fach bloß au­ßer sich und tobt – so wie Karl­chen. Und das sind nur die Symp­to­me!

Die ei­gent­li­che Ur­sa­che ist, dass Karl­chen den gan­zen Tag ›agiert‹ und Hans P. auf sein Hünd­chen ›re­a­giert‹. Im­mer muss Karl­chen sa­gen, was als Nächs­tes zu tun ist. Und dann ge­horcht Hans P. Er ori­en­tiert sich an Karl­chen, nicht um­ge­kehrt. Durch die­ses Ver­hal­ten wer­den dem klei­nen Kerl eine gan­ze Men­ge Jobs auf­ge­tra­gen. Er muss das Le­ben ei­nes ge­stan­de­nen Man­nes or­ga­ni­sie­ren – und ist da­mit na­tür­lich völ­lig über­for­dert. Das führt dann auch zu dem chro­ni­schen stress­be­ding­ten Dick­darm­durch­fall.

Und wie war das mit den Beiß­an­grif­fen auf die Füße sei­nes Be­sit­zers? Beim Te­le­fo­nie­ren war al­les an­ders. Wenn Hans P. etwa mit sei­ner Schwes­ter te­le­fo­nier­te, schenk­te er Karl­chen nicht mehr 100 Pro­zent sei­ner Auf­merk­sam­keit, und das, ob­wohl er sich noch in sei­nem Kont­roll­be­reich be­fand! Das konn­te Karl­chen nun über­haupt nicht er­tra­gen.

Hans P. wuss­te sich mit den Holz­schu­hen zu hel­fen. Wie er mir ge­stand, te­le­fo­nier­te er schon seit vier Jah­ren nur noch in Holz­schu­hen.

Ja, mein Wilm­ers­dor­fer Kol­le­ge hat­te recht: Dies war ein Fall für den Ve­te­ri­när-See­len­klemp­ner. Hans P. und ich be­spra­chen Maß­nah­men, die das Welt­bild von Bon­sai-Ter­mina­tor Karl­chen na­tür­lich ge­hö­rig ver­än­dern wür­den. Aber ich hat­te lei­se Zwei­fel, ob Hans P. wirk­lich ernst­haft Ver­än­de­run­gen woll­te.

Konn­te er Re­geln auf­stel­len, kla­re Gren­zen set­zen, künf­tig in je­der Le­bens­la­ge als Ers­ter agie­ren? Da­mit Karl­chen sich ent­span­nen und auf ihn re­a­gie­ren konn­te? Mei­ne Zwei­fel ver­stärk­ten sich noch, als er mir, schon beim Ge­hen, an der Tür ein­ge­stand: »Ach, Frau Dok­tor, wenn Sie wüss­ten, wie vie­le Jah­re ich un­ter mei­ner ver­stor­be­nen Frau zu lei­den hat­te … Die war ja so do­mi­nant!«

Viel mehr konn­te ich hier mo­men­tan nicht aus­rich­ten. Aber wie so oft dach­te ich an die Grün­dung ei­ner Dop­pel­pra­xis: Gleich am Ein­gang soll­ten zwei Schil­der ste­hen. Auf dem ei­nen stün­de ge­druckt: »Die Zweib­ei­ner bit­te rechts den Gang hi­nun­ter, ers­te Tür links zum Kol­le­gen auf die Couch«; auf dem an­de­ren Schild: »Die Vier­bei­ner bit­te links den Gang hi­nun­ter, drit­te Tür rechts zum Aus­gang und mit Frau Dr. Wer­ner in den Wald.«

Das ge­fähr­li­che Win­ter­vi­rus

Als mich der Vor­sit­zen­de ei­nes lo­ka­len Schä­fer­hund­ver­eins an­rief, war ich wirk­lich über­rascht. Tra­di­ti­o­nel­le Hun­de­sport­ler ha­ben ei­gent­lich nie Fra­gen, we­der zur Hal­tung noch zum Ver­hal­ten der Tie­re. Sie wis­sen im­mer al­les bes­ser, und es gilt der Satz: »Das ha­ben wir schon im­mer so ge­macht!« Aber in die­sem Fall war der Lei­dens­druck wohl so groß, dass die Ver­eins­mit­glie­der über ih­ren Schat­ten ge­sprun­gen wa­ren. Sie hat­ten sich an die Tier­ärz­te­kam­mer des Lan­des Bran­den­burg ge­wandt, und die­se hat­te mich emp­foh­len. Das er­fuhr ich, als mich der Vor­sit­zen­de des Ver­eins an­rief.

»Gu­ten Tag, Frau Dr. Wer­ner. Wir sind eine klei­ne Orts­grup­pe hier im Sü­den Bran­den­burgs, fast schon in Sach­sen. Tja, wir ha­ben ein Pro­blem mit un­se­ren Deut­schen Schä­fer­hun­den. Die füh­ren wir schon seit Jah­ren er­folg­reich auf Aus­stel­lun­gen und Prü­fun­gen, und wir ha­ben auch Er­folg ver­spre­chen­de Nach­zuch­ten.«

Der Stolz in sei­ner Stim­me war nicht zu über­hö­ren: »Na ja, wir sind zwar ein klei­ner Ver­ein, aber man kennt un­se­re Hun­de! Elf Hun­de­füh­rer und zwölf ge­mel­de­te Hun­de sind bei uns im Ver­ein. Wir sind eine klei­ne Trup­pe. Wir ha­ben aber nun den Ver­dacht, dass un­se­re Hun­de im­mer in den Win­ter­mo­na­ten ein ge­fähr­li­ches Vi­rus be­kom­men, das die Tie­re stark schwächt, so­dass sie ei­nen deut­li­chen Leis­tungs­ab­fall zei­gen. Nur zwei von ih­nen las­sen kei­nen Leis­tungs­ab­fall er­ken­nen. Die ge­hö­ren un­se­rem Kas­sen­wart; er führt zwei Rü­den. Wir wun­dern uns alle, dass sei­ne Hun­de bei Prü­fun­gen wei­ter sehr gut ab­schnei­den – aber der Rest schwäch­elt ir­gend­wie …«

Und nun er­klär­te er mir, wie man auf mich ge­kom­men war: »Un­se­re Tier­ärz­te mei­nen, dass ei­gent­lich al­les in Ord­nung wäre, und dass sich das mal ein Ver­hal­tens­me­di­zi­ner an­schau­en müss­te; am bes­ten ei­ner, der sich im Hun­de­sport aus­kennt. Wir ha­ben lan­ge im Ver­ein be­ra­ten, und wir sind der Mei­nung, dass wir ei­gent­lich al­les rich­tig ma­chen. So, wie wir es eben seit 30 Jah­ren ma­chen. Aber aus­ge­rech­net un­ser Kas­sen­wart hat da­rauf ge­drängt, Sie an­zu­ru­fen. Ein paar un­se­rer Hun­de ja­gen oft ih­ren Schwanz, und das wäre nicht nor­mal, sagt er. Könn­ten Sie sich das mal an­se­hen? Die Ver­eins­mit­glie­der le­gen auch zu­sam­men!«

Was soll­te das denn sein? Ein an­geb­li­ches Vi­rus, das im Win­ter klei­ne Orts­grup­pen über­fällt? Ein ge­fähr­li­ches Win­ter­vi­rus so­zu­sa­gen? Was war denn da los? Ich hat­te in den letz­ten Jah­ren schon deutsch­land­weit über 600 Hun­de­züch­ter ge­schult – in den Wo­chen­end­se­mi­na­ren ging es um ras­se- und art­ge­rech­te Hun­de­hal­tung so­wie art­ge­rech­tes Hun­de­ver­hal­ten – aber eine klei­ne Orts­grup­pe war in die­ser gan­zen Zeit noch nie an mich he­ran­ge­tre­ten. Wenn über­haupt, dann hat­ten das im­mer die gro­ßen Dach­ver­bän­de über­nom­men. Die­ses Pro­blem im Sü­den Bran­den­burgs klang ir­gend­wie span­nend, an­de­rer­seits war der klei­ne Ort aber auch ver­dammt weit weg … Ich zö­ger­te.

Mein An­ru­fer be­ton­te, er wis­se ja, wie weit der An­fahrts­weg sei, aber sie hät­ten ge­nü­gend Geld in der Ver­eins­kas­se, um mei­ne Ge­büh­ren und das Ki­lo­me­ter­geld zu be­zah­len. Da­ran sol­le es nicht lie­gen! Nun gut, das be­deu­te­te ei­nen Ta­ges­aus­flug Rich­tung Sach­sen. Ich ver­ein­bar­te ei­nen Mitt­wochs­be­such, denn das war au­ßer sonn­a­bends und sonn­tags der­je­ni­ge Tag, an dem es dort Übungs­zei­ten gab, so­dass ich mir die Hun­de bei der Ar­beit an­se­hen konn­te.

Vor Ort stell­te ich schnell fest, dass es zwei Frak­ti­o­nen un­ter den Hun­de­sport­lern gab: Da war zum ei­nen die Grup­pe der Neu­gie­ri­gen und Of­fe­nen – und da­ne­ben die der alt­ein­ge­ses­se­nen Klug­schei­ßer und Skep­ti­ker. Letz­te­re wa­ren zah­len­mä­ßig über­le­gen.

Der Vor­sit­zen­de zeig­te mir ei­ni­ge Auf­nah­men von Prü­fun­gen in­ner­halb der Lan­des­grup­pe, die in die­sem und im letz­ten Som­mer statt­ge­fun­den hat­ten. Alle Hun­de zeig­ten her­vor­ra­gen­de Leis­tun­gen, schie­nen ge­sund und gut ge­pflegt. Nun soll­te ich mir die­sel­ben Hun­de auf dem Platz an­se­hen. Bis auf zwei wirk­ten sie ner­vös, fah­rig und un­kon­zent­riert. Vier der Hun­de, die noch in ih­ren Bo­xen war­ten muss­ten, krei­sel­ten ste­re­o­typ um die ­ei­ge­ne ­Ach­se und bell­ten da­bei un­ab­läs­sig.

Okay! Hier gab es schon die ers­ten Prob­le­me. Ich sah mir die Hun­de bei der Un­ter­ord­nung und im Schutz­dienst an. Die per­fek­te Dres­sur! Wahr­schein­lich kann­ten sie die vor­ge­schrie­be­ne Schritt­fol­ge in- und aus­wen­dig.

Nach mei­ner Er­fah­rung se­hen vie­le Leis­tungs­sport­ler in ih­ren Hun­den blo­ße Sport­ge­rä­te. So hat­te ich es zu mei­ner Hun­de­sport­ler­zeit lei­der oft er­lebt. Er­reich­te mein Deut­scher Schä­fer­hund nur 94 von 100 Punk­ten in ei­ner der Ab­tei­lun­gen, wur­de mir hin­ter vor­ge­hal­te­ner Hand so­gleich zu­ge­flüs­tert, dass man da ei­nen Käu­fer in West­deutsch­land ken­nen wür­de … Mei­ne Ver­eins­kol­le­gen von da­mals fan­den es so­wie­so völ­lig un­pas­send, dass ich mit mei­nem Hund den Weg von der U-Bahn zum Trai­nings­platz auf Rol­lerska­tes zu­rück­leg­te. Aber das mach­te ihm nun mal un­ge­mein viel Spaß – und mir auch!

In die­ser Sze­ne ist es üb­lich, den Hund vom Zwin­ger zum Auto zu brin­gen und ihn dann im Auto oder in ei­ner Ver­eins­box war­ten zu las­sen, bis man mit ihm dran ist. Spä­ter fah­ren alle wie­der nach Hau­se und der Hund kommt vom Auto di­rekt in den Zwin­ger. Das war es dann für ihn.

Was ich an die­sem Mitt­woch im Ja­nu­ar zu se­hen be­kam, war ein­deu­tig: Die Leis­tung die­ser Hun­de war deut­lich schlech­ter als im Som­mer. Sie wirk­ten nicht so ener­ge­tisch und prä­sen­tier­ten sich auch deut­lich schlech­ter. Ich be­sprach mit den Ver­eins­leu­ten, dass ich mir ger­ne die Hal­tung ei­nes je­den Hun­des zu Hau­se so­wie das Fut­ter an­se­hen wol­le, um mir ein Bild vom Le­ben ih­rer Tie­re zu ma­chen. Alle wa­ren ein­ver­stan­den, und da sie auf zwei klei­ne Ge­mein­den ver­teilt wa­ren, soll­te das or­ga­ni­sa­to­risch und zeit­lich kein Pro­blem wer­den.

Es war An­fang Ja­nu­ar, drau­ßen herrsch­ten bit­ter­kal­te zehn Grad mi­nus bei schnei­den­dem Ost­wind. Wir wärm­ten uns zu­nächst in den Au­tos auf und fuh­ren dann zur ers­ten Zwin­ger­an­la­ge. Bro­sco, der Rüde des zwei­ten Ver­eins­vor­sit­zen­den, leb­te in ei­nem zehn Quad­rat­me­ter gro­ßen Zwin­ger, der aus Bau­zäu­nen zu­sam­men­ge­setzt war. Sämt­li­che Sei­ten­wän­de wa­ren of­fen und nicht wit­te­rungs­ge­schützt.

Im Zwin­ger selbst lag Schnee, das Was­ser im Was­ser­napf war ge­fro­ren, und die Hun­de­hüt­te, die im Zwin­ger stand, war an den Sei­ten nur mi­ni­mal mit et­was Sty­ro­por iso­liert. In der Hüt­te selbst – mit ­ei­ner Öff­nung zur Wet­ter­sei­te hin – kroch feuch­te Käl­te an Ecken und Wän­den hoch. Ei­nen wei­chen Lie­ge­platz gab es nicht, eben­so we­nig ein paar La­gen Stroh oder die sonst üb­li­che iso­lie­ren­de Gum­mi­mat­te. Auf eine Wär­me­lam­pe mein­te der Hun­de­hal­ter eben­falls ver­zich­ten zu kön­nen. Der Hund soll­te ja schließ­lich nicht ver­weich­li­chen!

Ich woll­te wis­sen, wie vie­le Stun­den Bro­sco täg­lich im Zwin­ger sei und wie vie­le Stun­den er im Haus ver­brach­te. Die Ant­wort mach­te mich trau­rig: Er war noch nie im Haus ge­we­sen! Die ein­zi­ge Ab­wechs­lung be­stand für Bro­sco da­rin, sich tags­ü­ber ei­ni­ge Stun­den frei auf dem ein­ge­zäun­ten Grund­stück zu be­we­gen. Es gab in die­ser Zeit aber nie­man­den, der sich mit ihm be­schäf­tig­te. Kon­takt zu Art­ge­nos­sen hat­te er auch nicht. Nie­mand ging mit ihm spa­zie­ren; da­für war kei­ne Zeit. Bro­sco war ei­ner der Hun­de, der in der Ver­eins­box stark krei­sel­te.

Als Nächs­tes woll­te ich hö­ren, wel­ches Hun­de­fut­ter er be­kam. Dazu muss man wis­sen, dass Deut­sche Schä­fer­hun­de im Hun­de­sport sehr schlank sind. Das sieht man gern auf Aus­stel­lun­gen. Ich moch­te schlan­ke Hun­de auch sehr. Aber Bro­sco war viel zu dünn! Er be­kam kein Fut­ter, mit dem er sich im Win­ter ein Pols­ter an­fut­tern konn­te. Das war aber bei ei­ner der­art schlech­ten Hal­tung, ins­be­son­de­re ohne Wär­me­lam­pe, zwin­gend not­wen­dig. Der Roh­fett­ge­halt sei­nes Fut­ters war viel zu nied­rig. Sei­ne Ener­gie ging fürs Krei­seln und für die Thermo­re­gu­la­ti­on drauf. Je­des Kind weiß, dass sich ein Wild­tier Win­ter­speck an­frisst, weil es die­se Ener­gie­re­ser­ven in der kal­ten Jah­res­zeit braucht.

Bro­sco hat­te kei­nen war­men Platz und kaum So­zi­al­kon­takt zu »sei­nem« Men­schen. Sei­ne Stresso­ren wa­ren: Lan­ge­wei­le, Ein­sam­keit und Käl­te. Da­für ging ein Groß­teil sei­ner Ener­gie drauf. Wie soll­te er da noch he­raus­ragen­de Leis­tun­gen im Hun­de­sport brin­gen? Eine der ty­pi­schen Ver­hal­tens­stö­run­gen, wie sie durch chro­ni­schen Stress auf­grund von Hal­tungs­feh­lern ent­ste­hen, zeig­te er be­reits: Er war ein Kreis­ler. Er litt an ei­ner Ste­re­o­ty­pie.

Ich no­tier­te mir al­les, was es spä­ter zu be­spre­chen ge­ben wür­de, und wir fuh­ren wei­ter zum nächs­ten Hund. Of­fen­sicht­lich hat­te je­mand aus dem Ver­ein gute Kon­tak­te zum Bau­zaun­han­del. Auch hier war der Zwin­ger aus Bau­zaun­e­le­men­ten zu­sam­men­ge­setzt und nicht wit­te­rungs­ge­schützt. Der Roh­fett­ge­halt in der Ra­ti­on war zu ge­ring und es gab kei­nen Kon­takt zu den mensch­lichen So­zi­al­part­nern, die sich al­le­samt im war­men Haus auf­hiel­ten. Be­we­gung fand nur auf dem klei­nen Grund­stück so­wie drei­mal die Wo­che für we­ni­ge Mi­nu­ten auf dem Hun­de­sport­platz statt, denn es war kalt, und die Ver­eins­mit­glie­der tran­ken lie­ber war­me Ge­trän­ke im Ver­eins­haus und lie­ßen ihre Hun­de in den Bo­xen. Als ob ein Hund Ki­lo­me­ter­geld auf ei­nem Grund­stück sam­meln wür­de!

Auch die­ser Hund war für die Jah­res­zeit viel zu dünn. Sein Ge­wicht wäre völ­lig in Ord­nung ge­we­sen, wenn die Hun­de­hüt­te mit vie­len La­gen Stroh und ei­ner Wär­me­lam­pe aus­ge­stat­tet ge­we­sen wäre, so­dass der Hund nicht un­nö­tig Ener­gie­re­ser­ven ver­braucht hät­te. Was mich am meis­ten är­ger­te, war, dass es ei­nen Zweit­hund gab, ei­nen Par­son Rus­sel Ter­ri­er. Das war der Fa­mi­li­en­hund. Das nied­li­che Kerl­chen leb­te im Haus, mit ihm ging man im Wald spa­zie­ren.

Wir fuh­ren wei­ter. Dies­mal zum Kas­sen­wart, der zwei Rü­den hielt. Sei­ne Hun­de hat­ten schon auf dem Platz deut­lich aus­ge­gli­che­ner ge­wirkt, nicht ner­vös, kei­ne An­zei­chen von Kon­zent­ra­ti­ons­prob­le­men. Ich war ge­spannt. Der Kas­sen­wart galt im Ver­ein ein we­nig als ›mo­der­ner Que­ru­lant‹. Er ar­bei­te­te sei­ne Hun­de nicht über Stra­fe, ver­mied Lei­nen­ruck, Sta­chel­hals­bän­der und Sons­ti­ges, be­lohn­te sie aber – un­ter an­de­rem – mit Le­cker­lis für er­wünsch­tes Ver­hal­ten bei gu­ter sport­li­cher Leis­tung. Sei­ne Hun­de krei­sel­ten nicht.

Er hat­te für die bei­den Rü­den ei­nen gro­ßen Zwin­ger von knapp zwan­zig Quad­rat­me­tern ein­ge­rich­tet. Da­rin wa­ren zwei voll iso­lier­te Hun­de­hüt­ten, die mit Stroh und Gum­mi­mat­ten aus­ge­pols­tert wa­ren. Sie wa­ren kom­plett tro­cken. Das Ther­mo­me­ter zeig­te 14 Grad an. Bes­tens, er be­nutz­te Wär­me­lam­pen! Ein gro­ßer be­heiz­ba­rer Was­ser­napf ließ ge­fro­re­nes Trink­was­ser bei die­sen Tem­pe­ra­tu­ren nicht zu. Im Zwin­ger gab es zwei wei­te­re tro­cke­ne Lie­ge­plät­ze so­wie Spiel­zeug zur Be­schäf­ti­gung. Tro­cken­fut­ter muss­ten sich die bei­den aus Fut­ter­bäl­len selbst er­ar­bei­ten. Und nun das High­light: Kam der Kas­sen­wart am frü­hen Nach­mit­tag von der Ar­beit nach Hau­se, ging er mit bei­den Hun­den auf den Fel­dern spa­zie­ren.

Die Hun­de ver­stan­den sich gut und tob­ten viel. Und das Al­ler­bes­te: Zum Abend und über Nacht wur­den sie ins Haus ge­holt – sie durf­ten in der Nähe ih­res Men­schen sein. Auf mei­ne Fra­ge zum Fut­ter er­klär­te er mir: »Wir füt­tern ja hier im Ver­ein alle das glei­che Tro­cken­fut­ter, weil es als Sam­mel­be­stel­lung sehr viel bil­li­ger ist. Ich gebe mei­nen Rü­den in der käl­te­ren Jah­res­zeit al­ler­dings im­mer noch hoch­wer­ti­ges und fett­rei­ches Frisch­fleisch in ei­ner zwei­ten Por­ti­on am Nach­mit­tag dazu. Und zwar Rin­der­stich­fleisch so­wie Rin­der­herz mit Fett. Bei­des ist ja sehr fett­hal­tig. Ir­gend­wie habe ich das Ge­fühl, dass sie das brau­chen. Ma­che ich aber nur im Win­ter. Da ich in der kal­ten Jah­res­zeit so­wie­so nicht auf Aus­stel­lun­gen gehe, ist es auch egal, wenn sie dann et­was mop­peli­ger sind.«

Ich hät­te die­sen Mann knut­schen kön­nen! ­Op­ti­ma­le Hal­tung zwei­er Hun­de, die im Sport ge­führt wer­den: Sie sind zu zweit, er­ar­bei­ten sich ihr Tro­cken­fut­ter, spie­len mit­ei­nan­der, ha­ben Be­we­gung mit ih­rem Men­schen au­ßer­halb des Grund­stücks. Op­ti­ma­le Zwin­ger­gestal­tung mit drei Wän­den, die vor Zug­luft, Käl­te, Re­gen und Schnee schüt­zen. Hun­de­hüt­ten, die voll iso­liert und mit Stroh aus­ge­legt sind. Ein Ther­mo­me­ter zur Kont­rol­le und Wär­me­lam­pen. Täg­lich zwei Füt­te­run­gen, eine da­von mit Frisch­fleisch, das ei­nen er­höh­ten Roh­fett­ge­halt auf­wies.

Die­se Hun­de hat­ten kei­nen Stress mit Ein­sam­keit, Lan­ge­wei­le, Iso­la­ti­on, feh­len­den Art­ge­nos­sen oder Käl­te. Klar, dass die­se bei­den Jungs auch im Win­ter bes­te Leis­tun­gen im Hun­de­sport er­brach­ten.

Die Hal­tung der wei­te­ren acht Hun­de war mi­se­ra­bel. Sie ver­brauch­ten ihre Ener­gi­en für Thermo­re­gu­la­ti­on, hat­ten mas­si­ven Stress durch Ein­sam­keit, feh­len­de So­zi­al­part­ner und un­ge­eig­ne­tes Fut­ter. Ei­ner der Hun­de hat­te noch nicht ein­mal eine Schutz­hüt­te in sei­nem Zwin­ger! Die Er­klä­rung der Hal­te­rin: »So hat mei­ne Groß­mut­ter ihre Hun­de auch im­mer ge­hal­ten. Das macht man so, und die sind auch alle min­des­tens zehn Jah­re alt ge­wor­den. Schließ­lich will ich ja kein Weic­hei.«

Ich er­in­ner­te da­ran, dass es frü­her in den Woh­nun­gen auch kei­ne Zent­ral­hei­zung ge­ge­ben hät­te und dass es eine Tier­schutz-Hun­de­ver­ord­nung gab, und dass …, aber mir wur­de so­gleich das Wort ab­ge­schnit­ten. Die­se Hun­de­sport­le­rin ge­hör­te de­fi­ni­tiv nicht zur Frak­ti­on de­rer, die für Neu­es auf­ge­schlos­sen wa­ren. Gern hät­te ich ihr für die fol­gen­den Näch­te den Haus­schlüs­sel ab­ge­nom­men.

Nach etwa zwei Stun­den fuh­ren wir zum Ver­eins­haus zu­rück. Ich hat­te al­les ge­sam­melt und no­tiert, denn ich woll­te nicht bei je­dem Ein­zel­nen in der Käl­te ste­hen – und mich dau­ernd wie­der­ho­len! Der Kas­sen­wart brach­te mir ei­nen hei­ßen Tee und flüs­ter­te mir im Vor­bei­ge­hen ins Ohr: »Gut, dass Sie ge­kom­men sind! Ich sto­ße hier nur auf Gra­nit. Ei­ner Frau Dok­tor hö­ren mei­ne Ver­eins­kol­le­gen viel­leicht eher zu …«

Und schon ging das Durc­hein­ande­r­ge­brab­bel los: »Was könn­te das für ein Vi­rus sein?« »Ha­ben Sie so was schon mal ge­se­hen?« »Sol­len wir mal eine Blut­pro­be un­se­rer Hun­de in die Tier­arzt­pra­xis schi­cken?« »Gibt es leis­tungs­stei­gern­de Me­di­ka­men­te?« »Ha­ben Sie eine Idee?« »Sol­len wir un­se­re Hun­de här­ter ran­neh­men?«

Ich bat um Ruhe und war er­staunt, wie gut das schon mal klapp­te. Alle wa­ren tat­säch­lich be­reit, mir zu­zu­hö­ren. Ich be­gann: »Nein, Sie wer­den Ihre Hun­de nicht här­ter ran­neh­men! ICH wer­de SIE jetzt mal här­ter ran­nehmen!«

Er­staun­te Ge­sich­ter. Nun wur­de es wirk­lich still. Und weil ich über­haupt kei­ne Lust auf Sät­ze hat­te wie: »… aber das ha­ben wir schon im­mer so ge­macht!«, fuhr ich fort: »Ich wer­de Ih­nen jetzt ganz ge­nau sa­gen, wie Sie Ihre Prob­le­me lö­sen kön­nen. Und zwar wirk­lich ganz ge­nau! Was Sie da­von um­set­zen, ist Ihre An­ge­le­gen­heit. Ich wer­de Sie al­ler­dings auch da­rü­ber in Kennt­nis set­zen, was tier­schutz­re­le­vant ist und was ins­be­son­de­re ge­gen die gel­ten­de Tier­schutz-Hun­de­ver­ord­nung ver­stößt.

Das, wes­we­gen Sie mich kon­tak­tiert ha­ben – der Leis­tungs­ab­fall im Sport – ist le­dig­lich ein Symp­tom. Und wie bei je­der rich­ti­gen Er­kran­kung liegt auch hier ei­nem Symp­tom im­mer eine Ur­sa­che zu­grun­de. Es gibt kein Win­ter­vi­rus, das ein­zel­ne Orts­grup­pen be­fällt! Sie sel­ber sind das ge­fähr­li­che Vi­rus für Ihre Hun­de!«

Ir­gend­wie hat­te ich mir jetzt Res­pekt ver­schafft. Selbst die Frak­ti­on der alt­ein­ge­ses­se­nen Skep­ti­ker zück­te No­tiz­blät­ter und Ku­gel­schrei­ber.

Ich er­klär­te zu­nächst das Wort ›Stres­sor‹ und dass Stress nicht nur be­deu­tet, viel Ar­beit zu ha­ben oder gleich­zei­tig an zwei Or­ten sein zu wol­len. Dass die größ­ten Stresso­ren beim Hund als hoch­so­zi­a­lem Ru­del­tier Hal­tungs­feh­ler sind. Dass dazu eine iso­lier­te Hal­tung zählt, man­geln­de Be­we­gung, ein sub­op­ti­ma­les Füt­te­rungs­ma­na­ge­ment, Schmer­zen und vor al­lem Käl­te. Ich be­ton­te auch, dass das Krei­seln beim Hund eine be­hand­lungs­be­dürf­ti­ge Ver­hal­tens­stö­rung ist. Ich be­schrieb, was da­bei im Hirn­stoff­wech­sel pas­siert und wie hoch der Lei­dens­druck für die Tie­re bei die­sem Zwangs­ver­hal­ten ist. Zwi­schen­fra­gen ließ ich nicht zu. Für eine Dis­kus­si­on hat­te ich zum Schluss Zeit ein­ge­plant.

Und dann sprach ich ohne Punkt und Kom­ma. Nie­mand wag­te eine Zwi­schen­fra­ge. Eine ge­schla­ge­ne Stun­de lang hör­ten alle zu. Vie­le Bli­cke senk­ten sich. Ich sah be­trof­fe­ne Ge­sich­ter und dach­te: »Ja, was trifft, be­trifft!«

Mein Schluss­wort lau­te­te: »Es liegt in Ih­rer Hand, et­was zu än­dern! Die ers­ten Ver­än­de­run­gen be­gin­nen im Kopf!« Der Kas­sen­wart lä­chel­te und nick­te mir zu. Ob sie ihn bei der nächs­ten Mit­glie­der­voll­ver­samm­lung wohl ab­wäh­len wür­den?

Nun soll­te die Fra­ge­run­de be­gin­nen. Ich wapp­ne­te mich für eine un­ge­müt­li­che Dis­kus­si­on mit er­hitz­ten Ge­mü­tern. Doch es ka­men kei­ne Fra­gen. Ei­nen Mo­ment lang war es ru­hig, dann be­gann je­mand zu klat­schen und spon­tan fie­len alle mit ein. Die gan­ze Run­de ap­plau­dier­te. Man be­dank­te sich bei mir fürs Au­gen­öff­nen. Da­mit hat­te ich nun gar nicht ge­rech­net!

Es folg­te der ge­müt­li­che Teil des Ta­ges: Le­cke­re Erb­sen­sup­pe wur­de auf­ge­tischt und wir be­rie­ten da­bei die not­wen­di­gen Ver­än­de­run­gen. Ver­eins­mit­glie­der, die nahe bei­ei­nan­der wohn­ten, woll­ten sich künf­tig an drei Ta­gen in der Wo­che mit den Hun­den, die sich gut ver­tru­gen, zum Spa­zier­gang tref­fen. Ich hol­te di­ver­se Spiel­zeu­ge aus dem Auto, mit de­nen sich die Hun­de Tro­cken­fut­ter er­ar­bei­ten konn­ten, und stell­te sie vor. Nun wur­de die Run­de im­mer lo­cke­rer: Ei­ner der Hun­de wur­de aus der Box ge­holt und ich de­mons­t­rier­te, wie man ihm das Er­ar­bei­ten von Fut­ter mit die­sen Hilfs­mit­teln bei­brin­gen konn­te. Der Hund wirk­te sehr ver­gnügt da­bei, und die Ver­eins­mit­glie­der freu­ten sich über sei­ne Er­fol­ge und feu­er­ten ihn re­gel­recht an.

An die­sem Abend ent­stand ein ge­mein­sa­mes Ver­eins­pro­jekt. Es gab im Ver­ein ei­nen Tisch­ler und Drechs­ler, den Kas­sen­wart. Er war so­fort da­bei, als es da­rum ging, Skiz­zen für ge­eig­ne­te Hun­de­hüt­ten zu er­stel­len, die ge­mein­sam ge­baut wer­den soll­ten. Voll iso­liert. Die Toch­ter ei­nes an­de­ren Ver­eins­mit­glieds hat­te ein ei­ge­nes Pferd in ei­nem Of­fen­stall, sie war künf­tig die Be­zugs­quel­le für wär­men­des Stroh. Drei Mit­glie­der in­te­res­sier­ten sich für Wär­me­lam­pen und wie die Schutz­hüt­ten ge­stal­tet sein muss­ten, da­mit die­se gut zum Ein­satz ka­men.

Ich emp­fahl ein Tro­cken­fut­ter mit ei­nem ho­hen Roh­fett­ge­halt für die Win­ter­mo­na­te, denn ei­ni­ge fan­den das Ver­füt­tern von Frisch­fleisch eke­lig. Wo­rauf­hin ich mir den Hin­weis nicht ver­knei­fen konn­te, dass auch Tro­cken­fut­ter nicht auf Bäu­men wuchs. Die­se Sti­che­lei­en konn­te ich mir in­zwi­schen mit ei­nem Lä­cheln er­lau­ben. Zwei Hal­ter woll­ten da­rü­ber nach­den­ken, ihre Hun­de über Nacht im Vor­raum ih­res Hau­ses schla­fen zu las­sen. We­nigs­tens das.

Ins­ge­samt war ich er­staunt, wie viel Be­we­gung in die­se klei­ne Grup­pe von Men­schen ge­kom­men war. Vie­le Ideen wur­den dis­ku­tiert. Konk­re­te Maß­nah­men wur­den be­spro­chen und ge­plant. Es war ein ge­lun­ge­ner Ar­beits­tag ge­we­sen, und ich hat­te eine köst­lich-def­ti­ge Erb­sen­sup­pe ge­nos­sen. Zu­frie­den fuhr ich am frü­hen Abend nach Hau­se.