Der Mädchenwald - Sam Lloyd - E-Book
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Der Mädchenwald E-Book

Sam Lloyd

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Beschreibung

...und auch so bitterkalt. Auf dem Weg zum Jugendschachturnier wird die 13-jährige Elissa entführt. Als sie erwacht, liegt sie in einem dunklen Keller. Ihre Situation scheint aussichtslos - bis Elijah ihr Verlies entdeckt und sie heimlich zu besuchen beginnt. Elijah ist ein Einzelgänger, der mit seinen Eltern in einer abgeschiedenen Hütte im Wald lebt. Er kennt keine Handys und kein Internet, aber er weiß, es ist nicht richtig, dass Elissa gefangen gehalten wird; er weiß, er sollte jemandem davon erzählen. Aber er weiß auch, dass sein Leben aus den Fugen geraten wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Denn Elissa ist nicht die erste, die in den Mädchenwald gebracht wurde. Während draußen die Polizistin DI MacCullagh alle Hebel in Bewegung setzt, um das Mädchen zu finden, erkennt Elissa, dass ihr nur mit Elijahs Hilfe die Flucht gelingen kann. Doch der Junge ist sehr viel cleverer, als er zu sein vorgibt. Und er hat längst begonnen, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen...

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Seitenzahl: 509

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Ähnliche


Sam Lloyd

Der Mädchenwald

Thriller

 

 

Aus dem Englischen von Katharina Naumann

 

Über dieses Buch

… und auch so bitterkalt.

 

Elijah ist ein Einzelgänger, der mit seinen Eltern in einer Hütte im Wald lebt. Er kennt keine Handys und kein Internet, aber er weiß, es ist nicht richtig, dass in dem Keller unter der Erde ein Mädchen gefangen gehalten wird; er weiß, er sollte jemandem von seiner Entdeckung erzählen. Aber er weiß auch, dass sein Leben aus den Fugen geraten wird, wenn die Wahrheit ans Licht kommt. Denn die 13-jährige Elissa ist nicht die erste, die in den Mädchenwald gebracht wurde.

Elissa erkennt, dass ihr nur mit Elijahs Hilfe die Flucht gelingen kann. Doch alle Versuche, den Jungen während seiner täglichen Besuche zu manipulieren, schlagen fehl. Denn er ist sehr viel cleverer, als er zu sein vorgibt. Und er hat längst begonnen, das Spiel nach seinen eigenen Regeln zu spielen ...

Vita

Sam Lloyd wuchs im englischen Hampshire auf. Schon als kleiner Junge dachte er sich Geschichten aus und baute sich Verstecke in den umliegenden Wäldern. Heute lebt er mit seiner Frau und drei kleinen Söhnen in Surrey.

Für Rae und John Carrington,

die freundlichsten, lustigsten und skandalösesten Schwiegereltern, die man sich nur wünschen kann.

Teil I

Elijah

Tag 6

I

Als sie wieder ins Zimmer kommen, sitze ich nicht mehr auf dem Stuhl. Stattdessen habe ich mich auf den Tisch gesetzt und lasse die nackten Beine baumeln. Ein rosafarbenes Pflaster klebt auf meinem Knie. Eigenartig, dass ich mich nicht daran erinnere, wie die Wunde zustande gekommen ist.

Sie ziehen die Augenbrauen hoch, als sie bemerken, dass ich mich umgesetzt habe, aber niemand sagt etwas dazu. Der Tisch ist am Boden festgeschraubt, sodass er nicht umkippen und mich verletzen kann. Mit zehn Jahren habe ich mir einmal das Bein gebrochen, als ich im Mädchenwald herumrannte. Ich bin fast daran gestorben, aber das war vor zwei Jahren. Jetzt bin ich viel vorsichtiger.

«Wir sind jetzt wohl fertig, Elijah», sagt einer von ihnen. «Freust du dich schon auf zu Hause?»

Ich schaue mich um. Zum ersten Mal bemerke ich, dass das Zimmer keine Fenster hat. Vielleicht liegt das an den Leuten, die sich hier normalerweise aufhalten – böse Menschen, nicht solche wie jetzt bei mir. Diese hier sind Polizisten, auch wenn sie keine Uniformen tragen. Vorhin hat mir der, der mir eine Cola gebracht hat, erzählt, dass sie Spielkleidung tragen. Vielleicht hat er auch nur einen Witz gemacht. Für einen Zwölfjährigen habe ich einen ziemlich hohen IQ, aber solche Scherze habe ich noch nie so richtig verstanden.

Einen Moment lang vergesse ich, dass sie mich immer noch beobachten und auf eine Antwort warten. Ich schaue auf und nicke, dabei baumele ich heftiger mit den Beinen. Warum sollte ich mich auch nicht auf zu Hause freuen?

Mein Gesicht verändert sich. Ich glaube, ich lächele.

II

Wir sitzen im Auto. Papa fährt. Zauber-Annie, die auf der anderen Seite des Mädchenwalds lebt, sagt, dass die meisten Kinder heutzutage ihre Eltern Mum und Dad nennen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich das früher auch getan habe. Ich weiß auch nicht, warum ich irgendwann zu Mama und Papa übergegangen bin. Ich lese eine Menge Bücher, hauptsächlich, weil wir kein Geld für neuere Sachen haben. Vielleicht liegt es daran.

«Haben sie dich befragt?», will Papa wissen.

«Worüber?»

«Oh, einfach so.»

Er wird vor einer Kreuzung langsamer, obwohl er Vorfahrt hat. Immer schön vorsichtig, so ist Papa. Immer in Sorge, dass er einen Fahrradfahrer oder jemanden anfahren könnte, der gerade seinen Hund Gassi führt.

«Sie haben mich nach euch gefragt», sage ich.

Auf dem Beifahrersitz wendet Mama den Kopf und sieht ihn an. Papas Aufmerksamkeit bleibt auf die Straße gerichtet. Er hält das Lenkrad ganz sanft, die Handgelenke hat er angewinkelt. Das lässt ihn ein bisschen wie einen bettelnden Hund aussehen, und plötzlich muss ich an den Arthur-Sarnoff-Druck denken, der an unserer Wohnzimmerwand hängt. Er zeigt einen Beagle, der gegen eine Gruppe fieser Hunde mit Zigarren im Maul Billard spielt. Das Bild heißt Hey! One Leg on the Floor!, weil der Beagle auf einem Tritt steht, und das ist Mogeln. Mama hasst das Bild, aber ich mag es. Es ist das einzige Bild, das wir haben.

«Was haben sie dich denn gefragt?»

«Ach weißt du, über Papa, so Zeugs. Was du arbeitest, welche Hobbys du hast, solche Sachen.» Ich beschließe, ihre anderen Fragen noch nicht zu erwähnen, meine Antworten ebenfalls nicht. Erst brauche ich noch ein bisschen Zeit zum Nachdenken. In den letzten Tagen ist eine Menge passiert, und ich muss das erst einmal verdauen. Manchmal kann das Leben ziemlich verwirrend sein, selbst für ein Kind mit einem hohen IQ.

«Und was hast du ihnen gesagt?»

«Ich habe gesagt, dass du Gärtner bist. Und dass du Dinge reparierst.» Ich mache eine Falte in das rosafarbene Pflaster auf meinem Knie und zucke zusammen. «Ich habe ihnen von der Krähe erzählt, die du gerettet hast.»

Wir fanden die Krähe eines Morgens draußen vor der Hintertür. Sie flatterte und hatte einen gebrochenen Flügel. Papa pflegte sie drei Tage lang, fütterte sie mit in Milch getunkten Brotstückchen. Am vierten Tag kamen wir nach unten, und sie war fort. Krähenknochen, sagte Papa damals, wachsen viel schneller wieder zusammen als Menschenknochen.

III

Wir kommen zum Stadtrand. Weniger Gebäude, weniger Menschen. Auf dem Bürgersteig entdecke ich zwei Jungen, die Schuluniformen tragen: graue Hosen, braune Jacketts, abgewetzte schwarze Schuhe. Sie sehen aus, als wären sie ungefähr in meinem Alter. Ich frage mich, wie es wohl ist, Unterricht in der Schule zu haben statt zu Hause. In unserem Haus gibt es kein Buch, das ich nicht mindestens zehnmal gelesen habe, daher bin ich mir ziemlich sicher, dass ich gut wäre in der Schule. Zauber-Annie sagt, ich hätte einen beachtlichen Wortschatz für mein Alter. Es gab mal einen Dramatiker, der sechzigtausend Wörter kannte. Ich würde ihn gern schlagen, wenn ich kann.

Wir rasen vorbei, und ich lege die Handfläche ans Fenster. Ich stelle mir vor, wie sich die Jungen umdrehen und mir zuwinken. Aber sie tun es nicht, und dann sind sie auch schon fort.

«Hast du auch über mich gesprochen?», fragt Mama.

Ihr Gesicht ist immer noch zur Seite gewandt. Mir fällt auf, wie hübsch sie heute aussieht. Wenn die tiefstehende Sonne durch die Wolken bricht, leuchtet ihr Haar auf wie Piratengold. Sie sieht aus wie ein Engel oder wie eine von diesen königlichen Kriegerinnen, von denen ich gelesen habe: Boudicca vielleicht, oder Artemis. Ich möchte am liebsten nach vorn klettern und mich auf ihren Schoß setzen. Stattdessen verdrehe ich in gespielter Verzweiflung die Augen: «Ich bin doch kein kompletter Tölpel. Nur weil ich mich dieses eine Mal verlaufen habe.»

Tölpel ist mein neues Lieblingswort. Letzte Woche war es Schwadroneur, ein altes Wort für eine ausnehmend geschwätzige Person. In jedermanns Leben sollte es ein paar Schwadroneure geben, am besten zusammen mit ein paar Tölpeln, die ihnen Gesellschaft leisten.

Ich schaue erneut aus dem Fenster. Diesmal sehe ich nur Felder. «Ich hoffe, Gretel geht es gut.»

«Gretel?», fragt Papa.

Sofort habe ich ein komisches Gefühl im Bauch, eine schmierige Glitschigkeit, als wäre da eine Schlange in mir, die sich windet und ringelt. Gretel, fällt mir wieder ein, ist ein Geheimnis. Ich schaue hoch und fange Papas Blick im Rückspiegel auf. Er hat die Brauen zusammengezogen. Meine Hände beginnen zu zittern.

Ich sehe Mama an. Eine Ader an ihrem Hals pulsiert. «Es gibt keine Gretel, Elijah», sagt sie. «Ich dachte, das hättest du verstanden.»

Die Schlange schlängelt sich in meinem Bauch. «Ich … ich meine doch Zauber-Annie», stammele ich hektisch. «Das ist mein Spitzname für sie. Hab ich mir mal ausgedacht. Nur so aus Quatsch.»

Papas Augen schweben im Rückspiegel. «Ich finde, Zauber-Annie passt besser zu ihr als Gretel», sagt er. «Oder nicht, Sportsfreund?»

Ich habe einen sauren Geschmack im Mund, als hätte ich in einen Käfer oder in eine Kröte gebissen. Ich fahre mit der Zunge über meine Zähne und schlucke. «Ja, Papa.»

IV

Bei uns zu Hause ist es nicht wie in den Städten, die ich bei Zauber-Annie im Fernsehen gesehen habe. Es gibt hier keine hoch aufragenden Wohnblocks oder Reihen moderner Häuser – nur Wälder, Felder, Scheunen, Kuhställe und das Herrenhaus, das Rufus Hall heißt. Über das Land verstreut stehen ein paar Stein-Cottages, so wie unseres. Man nennt sie Dienst-Cottages, weil dort früher das Personal wohnte.

Hinter dem Mädchenwald liegt der Knöchelchensee. So heißt der See nicht wirklich – ich glaube, er hat gar keinen Namen. Aber ich habe einmal im Uferschilf drei winzige Knochen gefunden, durch Gelenke verbunden. Sie sahen aus wie die Knöchelchen im Zeigefinger eines kleinen Kindes. Ich habe sie in meine Sammlung von Andenken und seltsamen Funden gelegt, die ich in einer Tupper-Dose unter einem losen Dielenbrett in meinem Zimmer aufbewahre.

Nicht weit vom See liegt der Ort, den ich Schrottstadt nenne. Es ist eigentlich eher ein Lager als eine Ortschaft, eine bunt gemischte Ansammlung von Trucks und Wohnwagen, die vor langer Zeit hier abgestellt wurden und jetzt zu verrostet sind, als dass sie noch wegfahren könnten. Ich habe nie kapiert, warum die Meuniers die Schrottstadt-Leute auf ihrem Land wohnen lassen, aber sie tun es.

Die Meuniers leben oben in Rufus Hall, die beiden ganz allein in einem riesigen Haus. Leon Meunier verbringt die meiste Zeit in London. Aber wenn er auf seinem Anwesen ist, sehe ich ihn oft, dann fährt er mit seinem schwarzen Land Rover Defender herum und macht ein Gesicht, als hätte er Angst, dass ihm der Himmel auf den Kopf fällt. Es wäre toll, einmal das Haus und seine Gärten zu erkunden, aber Papa erlaubt es nicht.

Wir halten vor unserem Haus. Mama senkt auf dem Beifahrersitz den Kopf. Ob sie wohl betet? Ich merke, dass meine Hände aufgehört haben zu zittern. Ich öffne den Gurt und lege die Hand auf den Türgriff, aber natürlich kann ich nicht raus. Meine Eltern haben immer noch die Kindersicherung eingeschaltet, obwohl ich schon zwölf Jahre alt bin.

Ich warte ab, bis Papa mir die Tür öffnet. Dann winde ich mich aus meinem Sitz. Er geht mit schweren Schritten den Gartenweg entlang, die Schultern hochgezogen, als lastete das Leid der ganzen Welt auf ihnen. Mama und ich gehen hinter ihm her.

Die Fenster unseres Cottages sind dunkel, sie geben keinerlei Hinweis darauf, was sich dahinter verbirgt. Es gibt keinen Briefkasten, darum wird die Post an die Meuniers ausgeliefert. Papa bekommt nur selten Briefe, Mama nie. An unserer Tür hängt keine Hausnummer, weil wir nicht in einer richtigen Straße wohnen. Wenn mir jemals jemand schreiben wollte, müsste er auf den Umschlag schreiben: Elijah North, Gamekeeper’s Cottage, C/O LORD MEUNIER OF FAMERHYTHE, Rufus Hall, Meunierfields. Das ist eine Menge Text.

Ein umgekehrtes Hufeisen hängt über der Tür, damit es uns ein wenig Glück einfängt. Ich gehe darunter hindurch ins Haus.

V

Ich stehe in meinem Zimmer am Fenster. Wir sind seit zwanzig Minuten zu Hause, und ich will unbedingt raus, aber ich darf nicht, noch nicht.

Ich höre, wie die Hintertür aufklappt, und trete näher an die Fensterscheibe. Unten im Garten kommt Papa in Sicht. Er zieht ein Päckchen Mayfairs aus seiner Brusttasche und zündet sich eine an. Er lehnt sich gegen den Kohlenschuppen und bläst eine Rauchwolke in den Himmel. Ich gehe in den Flur, schleiche die Treppe hinunter und durch die Eingangstür nach draußen.

Von unserem Cottage bis zum Mädchenwald sind es nur fünf Minuten zu Fuß. Ich schaffe es in der Hälfte der Zeit, indem ich den Pfad neben dem Brachfeld entlangrenne. Der Himmel lastet wie eine Stahlplatte auf der Landschaft. Der Tag fühlt sich schwer an, als drohte ihn sein eigenes Gewicht zu zerdrücken.

Ich bin schon beinahe dort, als ich das Geschrei höre. Ich fahre herum und sehe eine Krähenfamilie, die sich im Brachfeld zankt. Irgendetwas hat ihr Interesse geweckt – vermutlich die Überreste eines Hasen oder Fasans, die ein Fuchs übrig gelassen hat. Die Leibspeise von Krähen, habe ich einmal gelesen, ist Aas.

Ziemlich eklig.

VI

Es ist kühl im Mädchenwald, was merkwürdig ist, weil kaum ein Wind geht. Wasser tropft unablässig vom Laub herunter, das kommt vom Regen heute Morgen. Unter meinen Turnschuhen ist der Waldboden ganz weich und feucht.

Das Brachfeld ist jetzt von den Bäumen verdeckt, und das Geschrei der Krähen dringt nur noch gedämpft herüber. Vor mir nehme ich eine Bewegung wahr. Das könnte alles Mögliche sein, aber es gibt nur einen, vor dem ich mich fürchte. Meine Eltern haben ihn auf dem Weg nach Hause nicht erwähnt, und ich habe extra nicht nachgefragt. Manchmal habe ich Angst, dass seine Macht über mich stärker wird, je öfter ich seinen Namen ausspreche – und dass damit auch seine Grausamkeit stärker wird.

Vielleicht ist Grausamkeit nicht ganz das richtige Wort. Einmal habe ich im Fernsehen in Zauber-Annies Wohnwagen einen Weißen Hai die Meeresoberfläche durchbrechen und einen Babyseehund in zwei Teile beißen sehen. Es sah grausam aus, aber das war es gar nicht – es war seine Natur. Der Hai hatte Hunger, und der Babyseehund war seine Beute. Die anderen kleinen Seehunde blieben am Ufer, sobald sie die Rückenfinne des Hais im Meer auftauchen sahen, was wieder einmal beweist, wie wichtig gute Instinkte sind. Gute Instinkte sind etwas, worüber ich ziemlich oft nachdenke.

Jetzt, im Mädchenwald, gehe ich langsamer. Ich habe schon Hirsche zwischen diesen Bäumen gesehen, aber ihr Fell gleicht sich so perfekt den Farben des Waldes an, dass ich oft nur ihre Augen bemerke. Doch die plötzliche Bewegung eben war kein Hirsch.

Ich überlege, zurück zum Brachfeld zu rennen und von dort aus wieder nach Hause. Aber das geht auf keinen Fall. Ich bin aus einem bestimmten Grund hergekommen, einem Grund, der zu wichtig ist, um mir jetzt in die Hosen zu machen.

Schlechte Instinkte.

Obwohl mein Herz bis zum Hals schlägt, verdrehe ich die Augen. Vor drei Wochen war mein Lieblingswort noch melodramatisch. Das ist jetzt ziemlich treffend. Ich weiß nicht genau, ob ich schlechte Instinkte habe. Aber ich bin in der Nähe dieses Waldes aufgewachsen und habe dabei gelernt, zweimal hinzusehen, bevor ich meinen Augen traue.

Ich wappne mich innerlich und mache einen Schritt vorwärts. Kein erschrockenes Rehkitz oder Dachs bricht aus dem Unterholz. Keine Eule oder Habicht steigt aus dem Laub über mir hinauf. Ich mache noch einen Schritt, dann einen dritten und schaue mir über die Schulter, um sicherzugehen, dass sich hinter mir nichts anpirscht.

Minuten später trete ich auf die Lichtung, und plötzlich ist mein Mund so trocken wie die Fingerknöchelchen in meiner Sammlung von Andenken und seltsamen Funden.

VII

Es ist ein ziemlich trister Ort, nicht der beste Platz für ein Cottage, was vermutlich der Grund dafür ist, dass es jetzt verfällt. Papa hat einmal erzählt, dass hier früher der leitende Gärtner des Anwesens wohnte, als die Vorfahren der Meuniers noch einen beschäftigten. Was das Cottage so gruselig macht, ist die Tatsache, dass es exakt genauso aussieht wie unseres, bis hin zum Hufeisen über der Tür. Das Hufeisen hier ist allerdings verrostet. Und es hat dem Haus ganz sicher kein Glück gebracht.

Kein bisschen Glas ist mehr in den Fenstern. Die Zweige einer Esche ragen aus dem Raum, der wohl das Wohnzimmer war. Ein paar Ziegel sind vom Dach verschwunden, geplündert, um damit andere Gebäude auf dem Anwesen zu reparieren. Papas Werk, ohne Zweifel – er hasst es, wenn nützliche Dinge verkommen. Die noch vorhandenen Ziegel sind mit Vogeldreck befleckt und von Moos bewachsen, sodass das Cottage aussieht, als hauste dort ein böser Zauberer. Über allem hängt ein Klogeruch, der sich mit dem Gestank von etwas noch Faulerem mischt.

Hätte ich doch nur meine Jacke angezogen. Im Mädchenwald ist es kühl, aber dort, wohin ich gehe, ist es kalt, schmutzig und dunkel. Ich schaue mich noch einmal auf der Lichtung um. Ich sehe blutende Bäume, Farngestrüpp, einen metallenen Himmel, der wie die Klinge einer Guillotine über mir hängt.

In der Nähe der Haustür finde ich einen Fleck auf dem Waldboden, der aussieht, als hätte man die toten Blätter dort aufgewühlt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich beim letzten Mal eine Holzkiste mit altem Werkzeug vor dem Eingang gesehen habe. Jetzt ist sie nicht mehr da, aber nirgends, wo sie gestanden haben kann, ist ein Abdruck auf der Erde. Vielleicht täuscht mich meine Erinnerung aber auch.

Ein Schrei durchdringt die Stille. Von einem Baum auf der anderen Seite der Lichtung aus fixiert mich mit einem glänzenden Auge eine Elster. Ich denke an den alten Reim: Eine Elster fürs Leid. Ich klatsche in die Hände, aber die Elster schlägt nur mit den Flügeln, fliegt nicht davon. Ein paar Augenblicke später höre ich ein Antwortkreischen. Ich schaue hoch zum eingesackten Dach des Cottages und sehe zwei weitere Vögel dort hocken.

Eine fürs Leid, zwei für das Glück, drei für ein Mädchen.

Eine eiskalte Hand krabbelt mein Rückgrat hinauf. Ich mochte Elstern noch nie. Einmal habe ich eine erwachsene Elster drei Blaumeisenküken aus dem Nest zerren sehen. Sie tötete sie alle, bevor ich sie wegscheuchen konnte. Ich begrub die Küken unter unserem Lorbeerbaum und bastelte aus zwei Lollistielen und einem Stück Draht ein Kreuz. Das Schlimmste daran war gar nicht zuzusehen, wie die Küken starben, oder ihre Leichen aus dem Gras sammeln zu müssen. Das Schlimmste war zuzusehen, wie die Eltern zu ihrem leeren Nest zurückkehrten, verwirrt herumhüpften und nach ihren Babys suchten. Einer von den beiden flog sogar nach unten und besah sich das Kreuz. Ich weinte und weinte, und als Papa nach Hause kam und wissen wollte, was los wäre, konnte ich ihn nicht einmal ansehen.

Über manche Dinge kann man eben nicht sprechen.

Außerdem würde Papa so etwas niemals verstehen.

Ich schiebe die Erinnerung zur Seite und gehe langsam auf das Cottage zu, wobei ich zu ignorieren versuche, wie mich die leeren Fenster anstarren. Ich betrachte die Stelle, an der das Laub aufgewühlt wurde. Die umgedrehten Blätter glänzen wie Nacktschnecken. Ich frage mich, ob hier wohl jemand eine Falle gegraben hat. Vielleicht verdeckt ein Stück Sackleinen unter dem flachen Laubteppich eine steilwandige Grube. Totfallen nennt man die. Manchmal ragen aus ihrem Grund spitze Stäbe hervor, um alles aufzuspießen, was hineinfällt. Manchmal sind sie leer und zwingen denjenigen, der hineingefallen ist, dazu, auf die Rückkehr des Jägers zu warten. Erst dann weiß er, was das Schicksal für ihn bereithält. Am schlimmsten wäre es, denke ich immer, wenn der Jäger überhaupt nicht zurückkehrte und sein Opfer verhungern oder verdursten ließe.

Zauber-Annie hat mir mal eine schreckliche Geschichte erzählt, über einen Papa-Fuchs, der auf der Jagd nach Nahrung für seine Familie in eine Totfalle fiel. Mama-Fuchs versuchte ihn zu retten, indem sie ihm ein Seil hinunterwarf, aber als sie ihn hochziehen wollte, glitt sie aus und rutschte ebenfalls hinein. Als sie erfuhren, was passiert war, bildeten die fünf Kinder mit ihren Körpern eine Kette, um ihre Eltern zu retten. Der älteste Sohn verbiss sich in einem Baumstamm, während sich seine Brüder und Schwestern ins Loch hinabsenkten. Mama-Fuchs begann, an ihren Kindern emporzuklettern, und sie war schon halb oben, als Papa-Fuchs ihr folgte. Aber das Gewicht von beiden war zu schwer für den ältesten Sohn, und als seine Kiefer nachgaben, fiel seine ganze Familie ins Loch. Er blieb fünf Tage am Rand sitzen und sah zu, wie seine Eltern und Geschwister starben, und dann starb er ebenfalls – nicht vor Hunger oder Durst, sondern an gebrochenem Herzen.

Ich fand die Geschichte in keinem Buch, weshalb ich mich frage, ob Zauber-Annie sie sich vielleicht ausgedacht hat. Oft habe ich versucht mir auszumalen, was passieren würde, wenn ich in eine solche Falle fiele. Papa könnte sich an einem Baum festklammern, aber er hat ja nur Mama, die ihm helfen könnte, und wie sollten sie da tief genug in die Grube gelangen, um mich zu retten?

Darüber kann ich jetzt nicht nachdenken. Da ist keine Totfalle unter diesem Laub. Ich prokrastiniere, was bedeutet, dass ich etwas hinausschiebe, was ich nicht tun will, aber tun muss. Ich schließe die Augen, um mich zu beruhigen, zähle bis zehn und dann wieder rückwärts bis eins. Ich stoße alle Luft aus meinen Lungen und atme wieder tief ein. Schließlich öffnen sich meine Lider.

Merkwürdigerweise scheint das Cottage jetzt näher zu sein, als hätte es sich an mich herangeschlichen, während ich die Augen geschlossen hatte.

Angewidert schüttele ich den Kopf. «Tölpel», murmele ich. «Melodramatischer Tölpel.»

Oben auf dem Dach krächzt eine der Elstern und schüttelt die Flügel.

Ich schleiche auf den Eingang zu. Die Tür steht halb offen und gibt ein schmales Rechteck Dunkelheit preis. Ich drücke mich noch ein wenig draußen herum und sammle Mut. Dann trete ich ein.

VIII

Drinnen ist mehr auf meine Nase als auf meine Augen Verlass, als hätte ich mich, kaum, dass ich die Schwelle überschritten habe, in eine Art Bluthund verwandelt. Ich nehme ein Mischmasch unterschiedlicher Gerüche wahr: Schimmel und Rost, klammer Mörtel und nasse Asche; stockfleckige Vorhänge, feuchter Putz, morsches Holz. Darüber legen sich Gerüche aus einer anderen Zeit, die meine Phantasie mir vorgaukelt: Holzrauch, geräucherter Speck, der Hefeduft von frischem Brot.

So tief im Wald gab es früher keine Elektrizität oder Gas. Wasser musste aus dem Brunnen in der Nähe des Knöchelchensees geholt werden. Licht spendeten Talkkerzen und Lampen, die mit dem Öl gefüllt wurden, das man aus Fisch, Kerosin oder Senf gewann. Zumindest erzählt Papa das.

Jetzt, da mich alte Geister in der Nase kitzeln, trete ich tiefer in die Ruine hinein. Ihr Grundriss ist exakt der gleiche wie der des Cottages meiner Eltern, und das ist verwirrend. Es kommt mir vor, als hätte ich mich in die Zukunft katapultiert und sähe unser Zuhause, wie es nach irgendeiner Katastrophe aussehen könnte: nach einer Alien-Invasion, einer Zombie-Plage oder einem weltweiten Nuklearkrieg.

Die Tapeten hängen wie alte Haut von den Wänden und geben den mit schwarzem Pilz überwucherten Putz darunter frei. Ein Schrank aus zerkratztem Hartholz steht neben der Treppe, flankiert von einer Reihe rostiger Benzinkanister.

Links gähnt der Eingang zum Wohnzimmer. Darin steht die Esche, so seltsam und fehl am Platz, dass sie mir ganz unwirklich vorkommt. Die obersten Äste drücken gegen die Decke. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie hindurchbrechen werden.

Ich gehe durch den Flur zur Küche, und meine Turnschuhschritte klingen ganz abgekoppelt von meinen Bewegungen, wie in einem alten Kinofilm, in dem es eine Verzögerung zwischen Bild und Ton gibt. Einen Moment lang überlege ich, ob ich wirklich hier bin, aber ich müsste schon ziemlich verrückt sein, um mir so eine Situation zusammenzuträumen und mich auch noch selbst in den Mittelpunkt der Geschichte zu set- zen.

Freust du dich schon auf zu Hause, Elijah?

Die Frage des Polizisten im Vernehmungszimmer kommt mir wieder in den Sinn. Aber das hier ist nicht mein Zuhause, nur ein schmutziges Spiegelbild davon. Ich trete in die Küche und wiederhole es in Gedanken:

Das hier ist nicht mein Zuhause.

IX

Das hier ist nicht meine Küche. Hier brummt kein Kühlschrank, tickt keine Uhr an der Wand. Efeu ist von draußen hereingewachsen und kriecht wie ein Ausschlag über die Decke.

Trotz der kaputten Fenster und der frei zirkulierenden Luft hier drin bemerke ich den schwachen Duft von etwas, das bisher noch nicht da war. Er ist nicht unangenehm, aber ich bekomme einen Riesenbammel. Eine Brise bewegt die Efeublätter und lässt sie flüstern, dann ist der Duft schon verweht.

Zu meiner Rechten liegt die Tür zur Vorratskammer. Als ich die Klinke hinunterdrücke und sie öffne, gibt sie kein Horrorfilm-Quietschen von sich, auch kein Knarren ungeölter Angeln. Die Dunkelheit dahinter ist so tief wie in einer Höhle.

Ich hole meine Taschenlampe heraus und schalte sie an. Der Lichtschein ist schwach und gelb und flackert bei der geringsten Bewegung. Er erhellt einen Boden mit Sprüngen in den Fliesen und die Spinnweben, die wie Lumpen von der Decke hängen. Im hinteren Teil, hinter den Regalen, in denen noch ein paar vergessene Gläser mit Eingemachtem stehen, gähnt ein tiefschwarzes Quadrat, das mein Licht vollkommen schluckt, weil das der Eingang zum Keller ist, in dem ich sie gefunden habe. Der Keller, in dem sie hoffentlich noch ist.

X

An diesem Punkt brauche ich doch meinen ganzen Mut. Polizeiwachen und Totfallen sind im Vergleich zu dem hier gar nichts. Seit ich denken kann, habe ich Angst vor engen Räumen. Immer wieder träume ich, dass ich unter der Erde eingeschlossen bin. Diese Mauern hier sind ziemlich dick, aber die Esche im Wohnzimmer hat die Decke über sich verformt. Wenn das Gebäude zusammenbricht, während ich im Keller bin, wer weiß, ob ich dann lange genug überlebe, bis man mich ausgräbt? Papa würde kommen und nachsehen, daher fürchte ich mich nicht davor, zu verhungern oder zu verdursten, aber wie viel Luft brauche ich? Und wie soll ich zurechtkommen, wenn die Batterien in meiner Taschenlampe leer sind?

Ich gehe zum Eingang des Kellers und beginne schließlich hinabzusteigen. Die Stufen bestehen aus Steinblöcken und sind vor Feuchtigkeit ganz glitschig. Auf halbem Weg nach unten macht die Treppe eine Kehrtwendung, und die graue Öffnung hinter mir verschwindet. Dieser Geruch nach etwas Nicht-ganz-Richtigem wird stärker, ein saubererer Geruch in all dem Verfall.

Bald bin ich am Fuß der Treppe. Der Boden hier ist uneben, teils nur festgetretene Erde, teils fester Stein. In einer Ecke liegt ein Metallfass, das vor lauter Rost ganz orangefarben ist und schon zu zerfallen beginnt. Ich gehe daran vorbei und stehe vor einer Wand, die diesen Teil des Kellers abtrennt von dem, was dahinterliegt.

XI

Die Wand besteht aus der gleichen Verschalung, mit der die Fenster verlassener Geschäfte verrammelt werden, in die Mitte hat jemand eine Tür gesägt und die schlanken Dreiecke zweier großer Scharniere daraufgeschraubt. Das Metall schimmert kalt und hell. Die Türzarge ist zur Abdichtung mit schwarzem Gummi gesäumt. Drei riesige Türriegel sorgen für Sicherheit. Der auf Brusthöhe ist normalerweise mit einem Vorhängeschloss gesichert. Ich trage den Schlüssel in meiner Tasche, aber heute werde ich ihn nicht brauchen. Denn das Vorhängeschloss ist verschwunden.

In meiner Bestürzung fummele ich an der Taschenlampe herum und lasse sie beinahe fallen. Eine verrückte Sekunde lang hüpft der Lichtstrahl um mich herum. Die Schatten flattern von den Wänden wie Fledermäuse. Ich will die Treppe hinauf in den Mädchenwald fliehen, aber ich trage Verantwortung. Ich bin Teil des Ganzen. Was hier unten in diesem Keller geschieht, geschieht meinetwegen.

Ein übler Geschmack ist jetzt in meiner Kehle. Ich greife nach dem obersten Riegel und lasse ihn zurückgleiten. Ich halte inne und neige den Kopf. Habe ich da gerade etwas gehört? Da unten, in der Finsternis? Oder von oben? Ich muss an die Äste der Esche denken, die gegen die Wohnzimmerdecke drücken, und schiebe den zweiten Riegel zurück, bevor ich es mir anders überlegen kann.

XII

Es hat keinen Sinn, herumzutrödeln. Nichts hinter dieser Tür kann mir etwas anhaben. Da bin ich mir sicher. Stattdessen mache ich mir Sorgen, dass ich womöglich etwas so Schreckliches sehe, dass ich es nie wieder aus meiner Erinnerung tilgen kann.

Ich lege die Hand auf den letzten Riegel und schiebe ihn zurück.

Ich zögere.

Lausche.

Kein Geräusch durchdringt die Stille. Kein flüsternder Hauch.

Ich packe den Griff, drehe ihn im Uhrzeigersinn und ziehe. Das Gummi ächzt, als sich die Tür aus ihrem Rahmen löst. Ich trete zurück und blinzele in die Dunkelheit.

Der Geruch, der mir entgegenschlägt, ist derselbe, den ich auch schon oben wahrgenommen habe, aber viel stärker, so scharf, dass mir die Tränen in die Augen treten. Ich erkenne ihn: Bleichmittel.

Kein zitroniges Putzmittel, sondern das Zeug, das einem in die Nase dringt und sich anfühlt, als ätzte es einem die Haare weg.

Die Kammer hat bisher nicht so gerochen. Ich fürchte, dass während meiner Abwesenheit etwas Ungeheuerliches passiert ist. Ich trete ein, leuchte mit meiner Taschenlampe und weiß, dass ich richtigliege.

XIII

Genau wie im ganzen Keller ist der Boden hier mit kleinen spitzen Steinchen bedeckt. Sie drücken durch die dünnen Sohlen meiner Turnschuhe und tun mir weh. Drei Wände, die zum Fundament des Cottages gehören, sind aus grobbehauenem Stein, die vierte besteht aus denselben dicken Holzfaserplatten, die ich schon von außen gesehen habe.

Jemand hat sich mit der Konstruktion eine Menge Mühe gemacht. Die falsche Wand ist dreißig Zentimeter dick. Der Hohlraum ist mit Material zur Schalldämmung in Plastiktüten gefüllt. Jemand hat wohl irgendwann versucht, die Tür von innen zu beschädigen. Tiefe Kratzer ziehen sich durchs Holz.

Ich kann kaum atmen, aber irgendwie schaffe ich es doch zu sprechen. «Gretel?»

Der Name hallt von den Wänden wider. Hier drin klingt meine Stimme tiefer, kehliger, als hätte mich der Keller um fünfzig Jahre altern lassen.

«Gretel», wiederhole ich, und jetzt klingt meine Stimme noch verzerrter. Die Taschenlampe huscht wild durch den Raum. Ich versuche, sie gerade zu halten, richte den Lichtschein direkt in die Mitte der Kammer. In das Fundament hat jemand einen u-förmigen Bolzen versenkt, in dem ein Eisenring hängt.

Bisher war Gretels Kette immer an diesem Ring befestigt. Aber jetzt sind sowohl die Kette als auch das Mädchen fort.

Die Dämpfe des Bleichmittels füllen meine Kehle aus. Mein Magen scheint nach unten zu sacken, und ich muss würgen. Ich leuchte mit der Taschenlampe in der Kammer herum und sehe, dass das Kissen, der Wascheimer und die provisorische Toilette ebenfalls verschwunden sind. Der Boden sieht aus, als hätte ihn jemand gescheuert. Ich will gar nicht darüber nachdenken, was da weggeschrubbt wurde oder was dieser antiseptische Geruch bedeutet.

Das hier ist meine Schuld. Alles.

Es ist zu viel. Meine Taschenlampe fällt klappernd auf den Boden und erlischt. Schwärze strömt herein. Ich verliere jeden Sinn für mich selbst, ich weiß nicht mehr, was wirklich ist und was nicht. Ich höre gedämpfte Schreie und kann kaum glauben, dass es meine eigenen sind. Plötzlich bin ich überzeugt davon, dass ich diesen Raum mit etwas Feindseligem teile, mit etwas, das Klauen und Zähne hat. Ich drehe mich um, renne blind zur Tür, schätze ihre Lage falsch ein und knalle mit der Schulter gegen den Türrahmen, sodass ich zu Boden stürze. Ein scharfer Stein reißt mir das Knie auf. Der Schmerz ist wie ein elektrischer Schlag, der mein Knie hinauffährt und in meinem Hirn explodiert. Wie ein Krebs krieche ich aus der Kammer und immer weiter, bis meine Arme gegen die unterste Kellerstufe stoßen. Die Schwärze wird grau. Der Schatten wird zu Licht. Ich sehe eine efeubewachsene Zimmerdecke, eine pilzüberwucherte Wand. Dann bin ich wieder auf den Knien, diesmal draußen, zurück im Mädchenwald, wo ich die Luft in tiefen Zügen einsauge. Die Bäume stehen um mich herum wie Wölfe, die sich zum Töten zusammengerottet haben. Etwas kreischt in meinen Ohren. Die Elstern sind zurückgekehrt: drei auf einem Zweig in der Nähe, vier auf dem eingesunkenen Cottage-Dach: sieben für ein Geheimnis, das keiner wissen soll.

Ich weiß nicht, was ich denken soll.

Ich weiß nicht, was ich tun soll.

Gretel ist fort. Und es ist alles meine Schuld.

Elissa

Tag 1

I

Heute ist Samstag, was bedeutet, dass Schachtag ist, obwohl in Wirklichkeit jeder Tag ein Schachtag ist, denn sie denkt an nichts anderes. Trotzdem ist dieser etwas ganz Besonderes, denn heute findet ein Grand-Prix-Turnier für die Englische Jugend statt, für das sie gefühlt ihr ganzes Leben lang geübt hat.

Die einhundert Pfund Preisgeld für den Gesamtsieger sind nur eine kleine Summe, aber Geld hat sie nie interessiert. Sie besitzt bereits ein Set von Staunton-Schachfiguren, handgeschnitzt aus brasilianischem Rosenholz, das einzige Geschenk von Wert, das ihr Papa ihr jemals gemacht hat. Sie sind dreifach gewichtet und gleiten auf weichem Leder sanft über das Spielfeld. Abgesehen von den Stauntons braucht sie nur ein Schachbrett, und das besitzt sie ebenfalls: eine Platte aus solidem Hartholz mit Intarsien aus Ahorn- und Anegreholz. Ihre Mum hat es ihr in einem Online-Shop gekauft, bald nachdem ihr Papa aufgehört hatte anzurufen. Um es sich leisten zu können, musste Mum vierzehn Tage lang Bohnen aus der Dose essen. Das Einzige auf der ganzen Welt, das Elissa will und nicht hat, ist eine Verabredung mit Ethan Bandercroft aus ihrer Klasse, und die wird sie niemals haben, selbst wenn sie die Siegerprämie gewinnt.

Nein, sie ist aufgeregt wegen des Turniers – so aufgeregt, dass jeder Atemzug sie vom Boden zu heben und wegzutragen droht –, denn der Sieger wird in die englische Nationalmannschaft geladen, um entweder am World Youth Championship oder den World Cadets teilzunehmen. Einen Platz in der Mannschaft zu erringen wäre der Höhepunkt ihrer jahrelangen harten Arbeit.

«Lissy? Schätzchen? Alles in Ordnung da oben? Wir müssen los!»

«Alles in Ordnung, Mum!», schreit sie. «Komme sofort!»

Sie nimmt die grüne Samttasche, in der sich ihre Stauntons befinden. Sie wird sie heute nicht brauchen – bei der Veranstaltung werden sie Wettkampfbretter und -spielfiguren benutzen –, aber sie will sie trotzdem dabeihaben. Sie legt sie in ihren Rucksack zu den anderen Gegenständen, die sie eingepackt hat. Zwei Schachbücher sind darin, das erste von Jeremy Silman und das zweite – Die Schach-Zicke: Frauen im ultimativen Intellektuellen-Sport – von Jennifer Shahade. Außerdem liegen noch eine Flasche Evian und eine Brotbox im Rucksack, gefüllt mit einem in Frischhaltefolie eingewickelten Thunfisch-Sandwich, zwei Satsumas, einer Tüte Ananas-Fruchtgummis und einem Schokoladen-Brownie von Marks and Spencer. Ein zusammenrollbares Schachbrett ist auch noch darin, ein Notizbuch, um ihre Züge zu notieren, und drei Tintenroller, die mit einem Gummiband zusammengehalten werden. Obendrauf sitzt ein gestrickter kleiner Affe, der ein winziges weißes T-Shirt trägt. Er war das Werbegeschenk von einer Teefirma und dient als ihr Maskottchen. Bei früheren Wettbewerben hat sie ähnliche Glücksbringer gesehen: Lego-Figuren, Pokémon-Spielsachen, Hasenfüße. Das kommt ihr alles ein bisschen sinnlos vor, aber sie will sich auf keinen Fall von den anderen Kindern unterscheiden, die sie beim Wettbewerb vielleicht kennenlernt. Deshalb ist der Affe jetzt zwangsrekrutiert worden.

«Aber wenn du mich durcheinanderbringst», flüstert sie und fixiert ihn mit einem, wie sie hofft, unheilvollen Blick, «wenn du irgendetwas tust, was Schande über den guten Namen meiner Familie bringt, dann schaffe ich dich in den Garten, binde dich an den Grill und verbrenne dich.»

Sie starrt in die glänzenden schwarzen Augen des Affen. Falls ihn ihre Warnung beunruhigt, dann lässt er es sich nicht anmerken. Vielleicht nimmt er genau wie sie an, dass ihre Worte nur leere Drohungen sind. Sie steckt ihn in den Rucksack, zieht den Reißverschluss zu und schiebt einen Arm durch den Gurt. Auf dem Weg zur Tür erhascht sie einen Blick auf sich selbst im Spiegel und tritt näher.

Ihre Mum hat das Kleid gekauft. Es ist flaschengrün, die Farbe des Meeres an einem Sommertag. Elissa hätte es sich nicht ausgesucht, aber sie mag es irgendwie, obwohl es sie so mädchenhaft aussehen lässt. Sie könnte ihre normale Kleidung tragen – Jeans, T-Shirt, Sweatshirt –, aber heute wollte sie sich nicht von der Kleiderwahl ablenken lassen, also hat sie ihre Mutter um Beistand gebeten.

Das Kleid hat keine Ärmel. Obwohl sie ein Baumwollunterhemd darunterträgt, sind ihre Arme ganz kalt. Sie tritt an den Schrank und mustert die Strickjacken, die darin hängen. Sie besitzt welche in unterschiedlichen Farben. Damit sie sich schneller entscheiden kann, beschränkt sie sich auf die Wahl zwischen Schwarz und Weiß.

Sofort erkennt Elissa ihren Fehler. Schwarz und Weiß sind die Farben eines Schachbretts und der Figuren, die sich darauf bewegen. Wird ihre Wahl ihr Spiel beeinflussen? Ihr Herz beginnt zu pochen.

Beruhige dich. Es ist egal.

Und doch lähmt sie der Druck, sich entscheiden zu müssen. Sie will nach ihrer Mum rufen, aber plötzlich ist ihr Kiefer wie mit Draht verschlossen.

Schwarz oder Weiß? Schwarz oder Weiß?

Schwarzoderweiß, Schwarzoderweiß, Schwarzoderweiß?

Sie hat das Gefühl, dass sich in ihrem Kopf ein kompliziertes System von Zahnrädern zu drehen beginnt. Das passiert manchmal. Eine Entscheidung, eigentlich alltäglich, macht sie plötzlich ganz hilflos. Ihre Muskeln erstarren, und sie bleibt einfach stehen, schwankt ein wenig, bis etwas sie zurückholt.

Schwarz oder Weiß? Weiß oder Schwarz?

Sie blinzelt. Es ist ein unwillkürliches Blinzeln, eine Reaktion auf trockene Augen.

«Lissy?» Die Stimme ihrer Mutter von unten.

Merkwürdig, dass sie beim Schach, einem Spiel, in dem es die ganze Zeit um schwierige Entscheidungen geht, so etwas nie erlebt. Vielleicht ist das einer der Gründe, warum sie es so liebt.

«Lissy!»

Und dann, einfach so, ist sie wieder da. Ihre Kiefer entspannen sich. Sie stürzt nach vorn und prallt beinahe gegen den Schrank. «Weiß», keucht sie und zerrt die Strickjacke vom Bügel, bevor die Lähmung wieder Besitz von ihr ergreifen kann. Sie wirft einen letzten Blick in den Spiegel. Ihr schwarzes Haar ist ordentlich gebürstet und wird von einem Plastikhaarreifen in der Farbe ihrer Augen zurückgehalten. Sie hat sich immer gewünscht, ihre Augen wären braun, nicht grün. So viele Leute machen darüber Bemerkungen. Sie hat sich mit der Aufmerksamkeit nie wohlgefühlt.

Unten steht ihre Mum im Flur. Sie hat die Autoschlüssel in der Hand. «Okay?»

Elissa nickt.

«Hast du auch alles?»

«Ja.»

«Notizbuch? Stifte? Brotbox?»

«Ja, ja, ja.»

«Affe?»

Sie zuckt zusammen.

Ihre Mum lacht, beugt sich zu ihr hinunter und gibt ihr ein Küsschen. «Du wirst das toll machen. Das Wichtigste ist, Spaß zu haben.»

«Das Wichtigste ist zu gewinnen.»

Ihre Mum neigt den Kopf zur Seite, als stünde sie in einer Kunstgalerie und begutachtete ein besonders eigenwilliges Stück. «Ich bin so stolz auf dich, Lissy», sagt sie. «Ich hab dich so lieb.»

«Hab dich auch lieb», murmelt Elissa. Und es stimmt. Das tut sie wirklich.

Lena Mirzoyan schiebt ihren Mantelärmel hoch und schaut auf die Uhr. «Wir müssen los. Musst du noch mal Pipi?»

«Mum!»

«Okay, entschuldige. Schlechte Angewohnheit. Dann ab mit dir.»

II

Sie sitzen im Auto und fahren die zweispurige Straße entlang. Es läuft ein Song von Adele: Rolling in the Deep. Elissa kennt sich nicht gut aus mit Musik, aber sie kennt Adele, weil Mum ihre CD hat und sie die ganze Zeit hört.

Das Turnier findet in Bournemouth statt, eine Fahrstunde entfernt. Um zehn Uhr beginnt die Anmeldung, aber sie sind schon um sieben zu Hause losgefahren. Das Risiko, so früh am Samstagmorgen in einen zweistündigen Stau zu geraten, tendiert gegen null, aber Lena Mirzoyan lebt in der Angst, ihre Tochter im Stich zu lassen. Daher erreichen sie den Stadtrand von Bournemouth genau zwei Stunden vor Öffnung des Gebäudes, in dem das Schachturnier stattfindet.

Lena wirft einen Blick auf die Uhr im Armaturenbrett des Fiesta und erschrickt. «Wir sind wohl doch ein bisschen zu früh dran.»

«Ein bisschen?»

«Oh Lissy, tut mir leid. Ich wollte nur kein Risiko eingehen. Ich …»

«Mum, das sollte ein Witz sein. Es macht wirklich nichts. Vielleicht könnten wir etwas frühstücken gehen.»

Lena nickt, Erleichterung breitet sich auf ihrem Gesicht aus. «Ich könnte tatsächlich etwas vertragen. Ich habe zu Hause noch gar nichts gegessen.»

«Warum nicht?»

Sie zuckt die Achseln. «Die Nerven, glaube ich.»

Elissa lacht. «Warum bist du denn nervös?»

«Weil ich weiß, wie viel dir das Turnier bedeutet. Ich will, dass du dich gut schlägst.»

«Glaubst du denn, das werde ich nicht?»

«Ich glaube, du wirst sie alle umhauen.»

«Dann hast du keinen Grund, nervös zu sein.»

Jetzt lacht ihre Mum auch. Sie fahren an einem Schild vorbei: WIDE BOYS RESTAURANT! SIEBEN TAGE DIE WOCHE VON FRÜH BIS SPÄT GEÖFFNET! «Wie wäre es damit? Wollen wir das ausprobieren?»

Normalerweise gehen sie nicht in solche Restaurants. Elissa sagt schnell ja, bevor Lena es sich anders überlegen kann. Als sie auf die Ausfahrtsspur wechseln wollen, schaut sie aus dem Beifahrerfenster und entdeckt einen silbernen BMW, der sich rasend schnell nähert. Ihre Mum bemerkt ihn gerade noch rechtzeitig und lenkt nach rechts, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Laut hupend schießt der BMW vorbei. Elissa sieht für den Bruchteil einer Sekunde ein wutverzerrtes Gesicht. Das Auto setzt sich vor sie. Seine Bremslichter leuchten auf. Keuchend tritt Lena auf die Bremse. Elissas Gurt schneidet in ihre Brust. Der BMW schwenkt nach links und dann wieder nach rechts und spielt ein paar Sekunden mit ihnen. Dann beschleunigt er und rast weiter.

Elissa starrt auf das schrumpfende Kennzeichen: SNP 12.

«Super nerviger Penner», zischt sie durch die zusammengebissenen Zähne.

Lena atmet schwer und wirft einen Blick in den Rückspiegel, um dann die Ausfahrtsspur zu den Wide Boys zu nehmen. Auf dem Parkplatz fragt sie Elissa: «Alles okay mit dir?»

«Klar. Nur so ein Verlierer. Der darf dir nicht den Tag verderben.»

«Diesen Tag?», versetzt ihre Mum. «Keine Chance.»

III

Im Wide Boys wird ein anderer Adele-Song gespielt. Elissa verdreht die Augen, ihre Mum sieht es und grinst.

Das Restaurant ist eingerichtet wie ein amerikanischer Diner aus den 1960er Jahren: Fußboden mit Schachbrettmuster, rote Vinyl-Sitze, gerahmte Bilder von Elvis und Marilyn Monroe an den Wänden. Es riecht nach Putzmittel mit Zitronenduft, frischem Kuchen und gebratenem Speck.

Lena Mirzoyan setzt sich an einen leeren Tisch. «Was möchtest du …»

«Such du aus», sagt Elissa schnell.

Lena holt ihre Brille heraus und liest die Speisekarte.

Ein Paar mittleren Alters setzt sich an den Nebentisch. Elissa beobachtet sie verstohlen. Sie liebt es, Leute zu beobachten und all die kleinen Entscheidungen, die die anderen im Laufe des Tages treffen.

An diesem Morgen zum Beispiel hat sich die Frau neben ihr entschieden, eine Jade-Kette zu tragen. Sie hat beschlossen, Make-up aufzutragen, und einen bestimmten Lippenstift gewählt. Sie entschied sich für Jeans statt Stoffhosen oder einem Rock und für Stiefel statt für Sandalen oder Turnschuhe. Der Mann hat beschlossen, sich zu rasieren, bevor er aus der Tür ging. Elissa weiß das, weil hinter seinem rechten Ohr noch ein Klecks Rasierschaum klebt. Er hat sich außerdem das Haar gekämmt, vermutlich mit irgendeinem Haarpflegemittel, es sieht feucht und ganz leicht klebrig aus. Unter den Nägeln seiner breiten Finger hängt Dreck. Er studiert die Speisekarte und streicht sich mit der Hand den Hals auf und ab, als suchte er nach vergessenen unrasierten Stellen.

«Hör auf damit», zischt die Frau. «Immer musst du dich befummeln.»

Er setzt sich sofort gerade hin, die Hand fällt hinab. Elissa verbirgt ihr Lächeln, indem sie sich abwendet.

Am kleineren Tisch zu ihrer Rechten sitzt ein älterer Mann. Er trägt einen türkisfarbenen Pulli, senffarbene Cordhosen und Schuhe in der Farbe von kandierten Äpfeln. Ein Siegelring glänzt an seinem kleinen Finger. Er hat ein zerlesenes Taschenbuch gegen sein Teekännchen gelehnt: Die Geschichte des Peloponnesischen Krieges von Thukydides. Sein Mund zuckt beim Lesen, dabei kommen spitze, gelbliche Zähne zum Vorschein.

Dann erscheint eine Kellnerin. Sie ist um die fünfzig und hat ihr blondes Haar so glamourös frisiert, dass es unheimlichen Aufwand kosten muss, die Frisur in Form zu halten. An ihrem T-Shirt ist ein Namensschild befestigt: ANDREA. Sie hat bestimmt dreißig Kilo Übergewicht und besteht fast nur aus Brüsten und Hintern, aber sie trägt ihr Gewicht so elegant, dass man sie sich gar nicht anders vorstellen kann.

«Jetzt sieh mal einer diese sagenhaften Augen an», gurrt Andrea und lächelt mit ihren roten Lippen. «Ich wollte auch immer grüne, aber man kann eben nicht alles haben.»

«Sie haben grüne Augen», wendet Elissa ein.

«Oh, glaub bloß nicht alles, was du siehst oder hörst. Ich hab farbige Kontaktlinsen, das ist alles.»

Elissa blinzelt und wirft einen schnellen Blick zu ihrer Mum hinüber. «Man kann die Augenfarbe verändern?»

«Schnucki, du kannst so ziemlich alles verändern, wenn du dich nur genug anstrengst. Durch die Dingerchen seh ich scheiße, aber immerhin hab ich so meine grünen Gucker, auch wenn ich dir vielleicht den falschen Milkshake bringe deswegen.» Andrea zwinkert ihr verschwörerisch zu. «Du solltest mich mal an Halloween sehen. Ich trage dann knallorange Kontaktlinsen, die Schlitzpupillen haben wie bei einer Katze. Die Leute erschrecken sich immer zu Tode.» Sie krümmt ihre Hand zu einer Klaue und miaut. Sie lachen beide.

«Na ja», fährt die Kellnerin fort. «Ich nehme mal an, dass du diese wunderschönen grünen Augen nicht von deiner Mum geerbt hast. Müssen wir deinem Dad dafür danken?»

«Ähm … glaube schon.»

«Leistet er euch hübschen Ladys heute Gesellschaft?»

«Er lebt nicht bei … ich meine, wir haben nicht …»

Elissas Mum räuspert sich. «Ich glaube, dass wir jetzt bestellen können.»

«Sehr gut.» Andrea neigt den Kopf zur Seite. Ihre falschen Augen glänzen. «Was kann ich euch beiden bringen?»

«Wir nehmen das Hound-Dog-Frühstück», sagt Lena. «Kaffee für mich. Orangensaft für meine Tochter.»

Elissa ist ein wenig enttäuscht, als sie das hört. Sie hat sich irgendwie darauf gefreut, dass Andrea ihr den falschen Milkshake bringen würde, aber sie verbessert die Bestellung nicht; allein der Gedanke daran, welchen Milkshake sie stattdessen auswählen sollte, lässt sie schaudern.

«Wie wollt ihr eure Eier?»

«Einmal Rührei, einmal Spiegelei.»

«Kommt sofort.»

Andrea schlendert davon, wobei ihre Oberschenkel in den engen schwarzen Hosen wabbeln.

«Danke», sagt Elissa.

Ihre Mum zieht eine Augenbraue hoch. «Wofür?»

«Dass du für mich bestellt hast. Ich glaube, das hätte ich nicht geschafft.»

«Zu viel Auswahl?»

Sie nickt betreten. «Dann hätten wir vermutlich das Turnier verpasst.»

«Das geht natürlich gar nicht.»

«Hat sie eben wirklich Scheiße gesagt?»

Lena verdreht die Augen. «Deshalb gehe ich nicht gern mit dir in solche Läden», sagt sie, aber ihr Lächeln zeigt, dass sie es nicht so meint.

Bald kehrt Andrea zurück und knallt ihnen den Kaffee und den Orangensaft vor die Nase. Fünf Minuten später kommt sie mit zwei riesigen Tellern. «Wer will die Spiegeleier?»

Elissa hebt die Hand. Es ist viel zu viel für ein dreizehnjähriges Mädchen: Speckscheiben, Eier, Würstchen, Pilze, Bratkartoffeln, eine Grilltomate, Bohnen und ein Stückchen Röstbrot, das fettig glitzert.

«Wow», sagt die Frau mit der Jadekette. «Da hat aber jemand Hunger.»

Elissa versteift sich und überlegt, ob das eine Kritik an ihr war, aber als sie zu der Frau hinüberschaut, lächelt diese.

«Mädchen im Wachstum», bemerkt der Mann mit den schmutzigen Fingernägeln.

Zum Glück taucht in diesem Moment eine andere Kellnerin auf und nimmt die Bestellung des Paars auf. Erlöst von ihrer Aufmerksamkeit, säubert Elissa das Messer mit der Serviette. Im Auto war sie noch ganz satt, aber jetzt stirbt sie fast vor Hunger. Beim Essen wandern ihre Gedanken wieder zu dem Turnier. Ihr Kopf wird zu einer Landschaft aus schwarzen und weißen Quadraten, bevölkert von den geschnitzten Figuren Nathaniel Cookes, die jetzt Standard sind. Als sie ihren Teller fast leergegessen hat – alles, abgesehen von einem Ei, den Pilzen und den Bratkartoffeln –, schiebt sie ihn von sich.

Ihre Mum wühlt in ihrer Handtasche nach ihrem Portemonnaie. «Ich geh mal kurz aufs Klo. Kommst du zurecht?»

«Klar.»

Elissa öffnet ihren Rucksack, holt das Buch von Jennifer Shahade heraus und beginnt zu lesen. Ein Grunzen vom Tisch nebenan unterbricht sie. Sie schaut auf. Der Mann mit dem Rasierschaum hinterm Ohr liest den Titel ihres Buches.

«Lustiger Name für ein Buch», sagt er. «Worum geht es darin?»

Sie schaut von dem Mann zu seiner Frau, die sie mitfühlend anschaut, als wollte sie sagen: Ja, Süße, ich weiß, dass er ein bisschen langsam ist. Sei einfach ein bisschen nett zu ihm, ja?

«Darin geht es um Schach.»

«Ha. Na, das war ja nie so meins. Poker schon, davor.»

Elissa nickt. Sie versucht, sich wieder auf das Buch zu konzentrieren und in den Text hineinzufinden, aber sie ist machtlos. «Wovor?», fragt sie.

Der Mann zeigt mit dem Messer auf seine Begleitung und sagt: «Davor … du weißt schon.»

Das Lächeln der Frau wird breiter. Wenn eine Botschaft darin liegt, dann lautet sie vermutlich ungefähr: Siehst du, mit was für einem Mist ich mich hier herumplagen muss?

Elissa wird rot. Das Paar starrt sie weiter an, als erwarteten sie etwas im Austausch für ihr Interesse, also sagt sie: «Ich habe heute ein Schachturnier, in Bournemouth. Das erste in einem Grand Prix.»

Sie lächeln sie zerstreut an und beginnen sich wieder miteinander zu unterhalten, und Elissa sinkt erleichtert zusammen. Sie dreht den Kopf und bemerkt, dass der Mann im türkisfarbenen Pulli sie beobachtet. Er schüttelt den Kopf und wendet sich dann wieder seinem Buch zu. Ob er ihr seine Solidarität für die ungewollte Unterbrechung oder seine Missbilligung für ihre dürftigen Sozialkompetenzen ausdrücken will, kann Elissa nicht sagen.

Eine Minute später kommt ihre Mum vom Klo wieder. Dann ist sie an der Reihe. Sie treffen sich an der Theke und bezahlen die Rechnung. Als sie auf dem Weg nach draußen an ihrem Tisch vorbeikommen, isst das Paar immer noch, aber der Mann im türkisfarbenen Pulli ist fort. Dampf steigt aus seiner verlassenen Tasse auf.

IV

Das Schachturnier findet im Marshall Court Hotel auf dem East Cliff von Bournemouth statt. Weil sie früh dran sind, finden sie sofort einen Parkplatz.

In Elissas Bauch grummelt und rumpelt es. Sie hätte das große Frühstück nicht essen sollen. Sie hat einen komischen Geschmack im Mund, als wären ihre Zähne mit Fett bedeckt. Ein Bild taucht in ihrem Kopf auf: Sie macht den Eröffnungszug ihres ersten Spiels, und als ihre Finger sich von der Schachfigur lösen, hinterlassen sie einen glänzenden Fettabdruck.

«Hast du vielleicht ein Feuchttuch?», platzt sie heraus. «Das ist jetzt wirklich wichtig.»

Ihre Mum nickt und kramt in ihrer Handtasche. Sie holt ein verschlossenes Plastikpäckchen hervor. Elissa öffnet es und wischt sich die Hände sauber.

Sie sitzen eine Weile im Auto und starren das weiß verputzte Gebäude an. Möwen kreisen über ihnen. Schließlich tippt Lena Mirzoyan auf die Uhr im Armaturenbrett.

«Fertig?»

«Fertig.»

«Pokerface?»

«Was?»

«Weiß auch nicht genau – das habe ich mal im Fernsehen gehört.»

«Oh, Mum.»

V

Ein riesiges Whiteboard steht in der Lobby des Marshall Court. Darauf hat jemand geschrieben: SCHACH HIER ENTLANG, und einen Pfeil gemalt, der nach links zeigt. Elissa folgt ihm zu einem breiten Flur, dessen Boden mit wildgemusterter Auslegeware bedeckt ist. An einer Wand steht eine aufgebockte, mit einem Tuch bedeckte Tischplatte voller Schach-Artikel: T-Shirts, Becher, Reisesets, Uhren, selbst ausgedruckte Handbücher und Anleitungen. Eine grauhaarige Frau in einer fuchsiafarbenen Strickjacke sitzt dahinter und lächelt sie an, als sie vorbeigehen. «Kommen Sie gern nachher noch mal vorbei», sagt sie. «Viel Glück, kleines Fräulein.»

Am Ende des Flurs befindet sich der Anmeldetisch. Ein vogelartiger Mann mit einem hervortretenden Adamsapfel steht dahinter. Auf seinen mageren Handgelenken sprießen dunkle Härchen, die wiederum aus den zerschlissenen Manschetten eines rosafarbenen Hemds hervorschauen. Hinter ihm ist der Festsaal, in dem reihenweise Tische stehen.

«Name?», fragt er.

«Elissa Mirzoyan.»

Der Mann fährt mit einem überlangen Fingernagel eine Liste entlang. «Und wen hast du heute mitgebracht, Elissa?»

«Nur meine Mum.»

Er schüttelt theatralisch den Kopf. «Ich würde sagen, dass du einen weit größeren Fanclub verdienst. Hast du deine Eintrittskarte?»

Elissa zuckt zusammen. Sie wendet sich an Lena und fragt: «Könnte ich die Schlüssel haben?»

«Du hast die Eintrittskarte im Auto gelassen?»

Sie nickt und bläst die Backen auf.

«Soll ich mitkommen?»

«Nein. Ich bin in dreißig Sekunden wieder da.»

Elissa nimmt die Schlüssel und rennt durch den Flur zurück. Draußen hat sich ein schlammbespritzter weißer Lieferwagen auf den Parkplatz neben ihr Auto gequetscht. Sie schlüpft durch die Lücke, entriegelt die Beifahrertür des Fiesta, windet sich halb hinein und öffnet das Handschuhfach. Da ist die Eintrittskarte, genau dort, wo sie sie hingetan hat. Als sie sich wieder herauswindet, schaukelt der weiße Lieferwagen sanft auf seiner Federung. Elissa wirft einen Blick durch das Fahrerfenster, kann aber nichts entdecken.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und wirft ganz plötzlich ein dunkles Tuch über den Parkplatz. Elissa bekommt Gänsehaut. Sie hält die Eintrittskarte fest in der Hand und schiebt sich aus der Lücke.

Auf dem hinteren Stoßdämpfer des Lieferwagens – Metall, kein Plastik – ist eine Reihe winziger Dellen zu erkennen, als wäre er das Ziel einer Kleinkaliberwaffe gewesen. Daneben klebt ein gruseliger Sticker. Er zeigt einen Totenschädel mit Hut, der eine Zigarette raucht. In einer Sprechblase steht in großen gotischen Lettern: CHILLAX. Irgendjemand hat irgendwann einmal ein Loch durch die Zigarettenspitze des Totenschädels gebrannt. Jetzt sieht man dort einen kirschgroßen Fleck aus orangefarbenem Rost. Elissa runzelt die Stirn. Sie ist beunruhigt, ohne zu wissen, warum, und hastet ins Hotel zurück.

«Katastrophe abgewendet», bemerkt der Mann mit den haarigen Handgelenken. Seine Augen glitzern, als er ihre Karte nimmt. Sie überlegt einen Moment lang, was er wohl damit meint.

VI

Im Festsaal des Marshall Court stehen Kinder mit ihren Eltern neben den Tischen oder studieren die ausgehängte Liste der Gegnerpaare. Die meisten tragen Wochenendkleidung. Ein paar Internatsschüler tragen ihre Schuluniform.

Elissas erste Gegnerin ist Bhavya Narayan. Als sie sich die Hände schütteln, ist Bhavyas Hand ganz klamm. Aber sie wirkt sehr nett. Ihre Eltern, ein Hindu-Paar, strahlen Elissa genauso freundlich an wie ihre eigene Tochter.

Bhavya hat ein Maskottchen dabei – eine Affenfigur mit vier Armen. «Das ist Hanuman», erklärt sie und stellt sie auf den Tisch. Elissa öffnet ihren Rucksack und holt den Affen heraus. Sie hofft, dass die Familie deswegen nicht beleidigt ist, aber sie hören nicht auf zu lächeln.

Bald verlassen die Eltern den Saal, und das Turnier beginnt. Bhavya wählt eine Damenbauernspiel-Eröffnung. Elissa reagiert ebenso. Als ihr das Damengambit angeboten wird – ein geopferter Bauer auf C4 im Gegenzug für eine bessere Position auf dem Brett –, nimmt sie es an. Die nächsten zwanzig Minuten entspinnt sich ein wilder Kampf um die Mitte. Elissas Herz pocht heftig, aber sie ist nicht angespannt; sie fühlt sich zu keiner Zeit wirklich bedroht, und als Bhavyas Konzentration während eines Gabelangriffs nachlässt, nimmt ihr Elissa ganz lässig die Dame ab. Dieser Zug zerstört das Spiel, und das Mädchen gibt kurz darauf auf. Als die Eltern zurückkommen, schenkt Bhavyas Mutter Elissa einen Plastikbeutel mit selbstgemachten Bananenchips.

«Puh», macht Lena Mirzoyan, als sie wieder zusammen sind. «Ich war da draußen so aufgeregt. Ich habe mir beinahe in die Hose gepinkelt.»

«Mum!»

«Tut mir leid.»

Aber es tut ihr nicht leid, das sieht man ganz deutlich. Ihre Brust hebt und senkt sich ganz schnell, und das ist ein deutliches Anzeichen dafür, wie stolz sie ist. Elissa berührt ihre Hand. Damit kann sie ihre Dankbarkeit besser zeigen als mit Worten.

Um elf Uhr beginnt ihre zweite Partie. Diesmal ist ihre Gegnerin ein blondes Mädchen namens Amy Rhodes. Amy ist ein kühler Typ. Sie lächelt nicht wie Bhavya. Ihre Eltern ebenfalls nicht. Sie runzeln leicht die Stirn, als sie Elissa mustern. Amy ist ohne Maskottchen gekommen, und sie sieht den Affen mit einem Blick an, den Elissa unverschämt findet. In der Folge genießt Elissa es, sie zu schlagen – nicht so schnell, wie sie könnte, sondern langsam, zermürbend, sie nimmt ihr Figur um Figur ab, bis nur noch der König nackt und verletzlich in einer Ecke des Bretts steht. Hinterher steht Amy wortlos vom Tisch auf.

Als Nächstes spielt Elissa gegen Ivy May, ein Mädchen, dessen Brillengläser so dick sind wie die Böden von Colaflaschen. Sie lässt ihr Peppa-Wutz-Maskottchen ohne jede Spur von Scham auf den Tisch plumpsen. Die Partie ist eine elende Schinderei und endet beinahe im Remis, aber irgendwie kämpft Elissa sich durch.

Zur Mittagszeit geht sie zu ihrer Mum, und zusammen suchen sie sich ein Plätzchen, wo sie sich hinsetzen können. Elissa isst ihr Thunfisch-Sandwich, die Fruchtgummis und eine Satsuma. Sie blättert in ihrem Notizbuch und geht ihre drei Partien noch einmal durch. Sie versucht sich wegen ihrer Fehler nicht allzu viele Vorwürfe zu machen, aber das ist nicht leicht – kleine Unaufmerksamkeiten hätten sie beinahe zwei der drei Siege gekostet.

Ihre dritte Partie beginnt um halb drei. Vorher bittet sie ihre Mum um die Schlüssel und bringt die Brotbox zurück ins Auto. Einen Moment allein zu sein, ohne den Lärm im Festsaal, wird ihr helfen, sich wieder gut konzentrieren zu können.

Elissa setzt sich auf den Beifahrersitz, holt den Affen aus ihrem Rucksack und sieht ihn an. Sie ist sich sicher, dass seine Gegenwart ihr Spiel nicht beeinflusst hat, aber zum ersten Mal hat sie einen anderen Gedanken: Hat er vielleicht das Spiel ihrer drei Gegnerinnen beeinflusst, die sie besiegt hat?

Sie denkt an Bhavyas Kuscheltier und an Ivys Peppa Wutz. Diese Maskottchen hatten keinen Einfluss auf sie – nach einem flüchtigen Blick hatte sie sie schon wieder vergessen. Aber konnte man das auch über ihre Gegnerinnen sagen, die sich der ausdruckslosen gestrickten Affenpuppe gegenübersahen? Ein interessanter Gedanke. Trotzdem will sie nicht nur dank eines psychologischen Tricks gewinnen.

Gleich wird sie gegen eine der Internatsschülerinnen spielen, die in diesem Turnier zahlreich vertreten sind. Bisher haben sie alle makellose Leistungen gezeigt. Elissa zwickt den Affen ins Ohr und sagt: «Ich hätte nichts dagegen, wenn du sie ein kleines bisschen ablenken würdest.» Dann lässt sie ihn zurück in ihren Rucksack gleiten, zu dem Essen, das sie nicht gegessen hat, und steigt aus dem Auto. Als sie sich zum Marshall Court Hotel umdreht und all ihre Kraft für den zweiten Teil des Turniers zusammennimmt, wird der Tag plötzlich zur Nacht.

VII

Einen Moment lang ist es zu verwirrend, als dass sie es verstehen könnte. Der graue Himmel über Bournemouths East Cliff ist fort. Ebenso die weiß getünchte Fassade des Hotels. Auf Elissas Augen und Mund liegt ein Druck, ganz entsetzlich. Ihre Welt kippt, und sie glaubt zu fallen, aber sie geht nicht zu Boden, nicht ganz. Ihre Fersen schleifen über den Asphalt.

Ist das eine Panikattacke? Vielleicht etwas noch Merkwürdigeres – Narkolepsie? Kataplexie? Elissa dreht den Kopf und spürt an ihrem Ohr die unverkennbare Wölbung eines Bizeps. Gleichzeitig begreift sie, dass der Druck auf Augen und dem Mund von Fingern kommt, die daraufliegen. Sie denkt an die Internatsmädchen mit ihren makellosen Leistungen und an die grausamen Streiche, die Kinder gern anderen spielen.

Plötzlich schleifen ihre Schuhe nicht mehr über den Asphalt, sondern tappen darauf herum. Sie ballt die Faust, bewegt den Arm nach vorn und schwingt den Ellenbogen zurück. Direkt an ihrem Ohr hört sie, dass jemand heftig Luft ausstößt. Ein beißender Geruch dringt in ihre Nase, der bittere Gestank kalten Zigarettenrauchs. Der Arm um ihren Hals drückt jetzt fester zu.

Zu stark, als dass es eins der Mädchen sein könnte, die sie heute kennengelernt hat. Und keines von denen ist, da ist sie sich sicher, starke Raucherin.

Schließlich dämmert ihr, was da gerade geschieht.

Sie wird entführt.

Jemand hat sie geschnappt. Will sie verschwinden lassen.

Ihr Kopf ist ganz leer, und sie wird zu einem wilden Wesen. Sie windet sich, tritt, öffnet den Mund und beißt in die Hand ihres Angreifers. Sofort hat sie einen Geschmack auf der Zunge, der noch viel schlimmer ist als alte Zigaretten. Er ist dunkel und schmutzig, eine Schlachthof-Fäulnis, und er schießt ihre Panik in die Stratosphäre. Sie kann nicht atmen, kann nicht schreien. Sie kann nichts hören außer dem verrückten Rauschen ihres Blutes. Ihr Kopf füllt sich mit Silber, als wäre ein Feuerwerkskörper darin explodiert.

Elissas Füße strampeln in der Luft. Ein anderes Geräusch jetzt, oder vielleicht ist es eher die Abwesenheit eines Geräuschs, ein Verstummen des Verkehrs und der Möwen; die Abwesenheit von Wind. Ihre Fersen spüren etwas unter sich. Ein hohles Klopfen. Plötzlich begreift sie, dass sie in einer Art Behälter sein muss, einem aus Metall – oder womöglich in einem Fahrzeug.

Als sie den Oberkörper krampfhaft verdreht, erinnert sie sich an den weißen Lieferwagen und den gruseligen Sticker darauf: den Totenschädel mit dem Hut, der eine Zigarette raucht.

CHILLAX.

Elissa würgt und versucht sich zu beherrschen. Wenn sie sich übergeben muss, kann das Erbrochene nirgends hin. Sie stellt sich vor, wie das Erbrochene aus ihrer Nase dringt, und die Vorstellung ist so erschreckend, dass ihre Muskeln ganz schlaff werden und ihr Kopf vornüberkippt. Sie ist nicht mehr als ein paar Sekunden ohnmächtig, denn als sie wieder zu Bewusstsein kommt, hat sich kaum etwas verändert. Die Finger über ihren Augen rutschen weg, und sie sieht ein schmales Dreieck vom Himmel. Dann ein Quietschen und ein Knall: Die Tür wird zugeschlagen. Das gewährleistet ein gewisses Maß an Ungestörtheit für das, was als Nächstes kommt.

Wieder Atem an ihrem Ohr, etwas höher, aber nur ein Stück. «Ganz ruhig jetzt», sagt eine raue Stimme. «Ganz ruhig.»

Sie will ihre Zähne in die Finger des Fremden schlagen, aber sie kann die Vorstellung nicht ertragen, dass dann sein Blut in ihren Mund dringt.

«Ich hab noch was mit dir vor, Schätzchen», sagt er zu ihr. «Heute stirbst du noch nicht.»

Sie schaudert. Unter ihr schaudert solidarisch der Lieferwagen. In ihrer Verwirrung begreift sie, dass es das Rütteln des Motors ist, der anspringt, gefolgt vom Rasseln des Auspuffs.

Das Geräusch ist ein Bruch, eine Katastrophe. Am anderen Ende des Parkplatzes, durch die Lobby hindurch und den Korridor entlang, im Festsaal, sitzt ihre Mum auf einem gepolsterten Konferenzstuhl und isst ein Thunfisch-Sandwich. Schon jetzt könnte sie auch auf der anderen Seite des Ozeans sein.

Elissa bockt, drischt um sich, nutzt alle Kraft, deren ihre Muskeln fähig sind. Sie versucht, die Hände abzuschütteln, die ihr den Mund zuhalten, und einen Schrei auszustoßen. Wenn sie sich in den nächsten Sekunden nicht befreien kann, ist es zu spät, und dieser Ozean wird unüberwindbar. Sie tritt mit der Ferse gegen das Schienbein des Fremden, rammt ihn immer wieder mit den Ellenbogen. Dann passiert das Unerwartete: Die Hand, die auf ihrem Mund lag, wird weggestoßen.