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Ein Haus auf den Klippen an der Südwestküste Englands. Auf Mortis Point, hoch über dem sturmumtosten Atlantik, leben Lucy und Daniel mit ihren beiden Kindern. Von den Gezeiten bestimmt, führen sie ein beschauliches Leben – bis zu dem Tag, der alles verändert. Daniels Segelboot wird herrenlos auf See gefunden, kurz nachdem ein Notruf abgesetzt wurde. Von Lucys Mann jedoch fehlt jede Spur. Als Lucy erfährt, dass auch ihre Kinder verschwunden sind, gerät ihr Leben endgültig aus den Fugen. Offenbar befanden Billie und Fin sich ebenfalls an Bord des Bootes. An einen erweiterten Suizid, wie Detective Abraham Rose ihn vermutet, will Lucy nicht glauben. Während sich über dem Meer ein Jahrhundertsturm zusammenbraut, der die Suche nach den Vermissten erschwert, versuchen Lucy und Abraham fieberhaft herauszufinden, was wirklich an Bord geschah. Als sie der Wahrheit näher kommen, wird Lucy klar, dass der eigentliche Albtraum gerade erst begonnen hat …
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Seitenzahl: 525
Sam Lloyd
Ein Boot. Drei Vermisste. Eine fatale Entscheidung
Thriller
Kalt wie das Wasser.
Dunkel wie der Meeresgrund.
Ein Haus auf den Klippen an der Südwestküste Englands. Auf Mortis Point, hoch über dem sturmumtosten Atlantik, wurden früher Schmuggler und Diebe gehängt. Heute führen Lucy und Daniel hier ein beschauliches Leben mit ihren beiden Kindern – bis eines Tages Daniels Segelboot auf dem Meer treibend gefunden wird. Von ihm selbst fehlt jede Spur. Als Lucy erfährt, dass auch ihre Kinder verschwunden sind, gerät ihr Leben endgültig aus den Fugen. Offenbar befanden sich Billie und Fin ebenfalls auf dem Boot. Während sich über dem Meer ein Jahrhundertsturm zusammenbraut, versucht Lucy fieberhaft herauszufinden, was an Bord der Lazy Susan geschah. Je näher sie der Wahrheit kommt, desto klarer wird ihr, dass der eigentliche Albtraum gerade erst begonnen hat …
«Lloyd fängt die erbarmungslose Kraft des Meeres großartig ein. Er ist unübertroffen darin, seine Leser:innen an die finstersten Orte zu entführen.» Metro
«Fesselnd und meisterhaft geschrieben.» The Herald
«Ein neues Thriller-Talent, wie man es selten findet.» Daily Mail
«Teuflisch gut.» Sunday Times
Sam Lloyd wuchs im englischen Hampshire auf. Schon als kleiner Junge dachte er sich Geschichten aus und baute Verstecke in den umliegenden Wäldern. Heute lebt er mit seiner Frau und drei kleinen Söhnen in Surrey. 2020 erschien sein Thriller «Der Mädchenwald».
Katharina Naumann ist Autorin, freie Lektorin und Übersetzerin und lebt in Hamburg. Sie hat unter anderem Werke von Jojo Moyes, Anna McPartlin und Jeanine Cummins übersetzt.
James Shrouder und einer Bibliothek der Erinnerungen gewidmet, vergangenen und vor uns liegenden, lustigen und erschreckenden.
«Der wahre Zweck der Tragödie ist es, den Zuschauer von den Leidenschaften zu reinigen.»
Aristoteles
Das hier wird einer der Briefe, die du nie lesen wirst. Vielleicht deshalb, weil ich ihn verbrennen werde. Vielleicht, weil er mit dem Boot untergehen wird.
Ich habe lange darüber nachgedacht. Wenn es einen anderen Weg gäbe, glaube mir, dann würde ich ihn gehen. Es ist schwierig, wenn zwei Menschen so viel gemeinsam erlebt haben. Es ist so schwer, Schmerzen zuzufügen, selbst solche, die nicht lange anhalten. Und selbst dann, wenn es richtig ist.
Der kommende Sturm wird der schlimmste werden, den du je erleben wirst. Ich bin mir sicher, dass er dir manchmal unerträglich vorkommen wird. Du wirst denken, dass es zu viel ist, dass du nicht die Kraft hast, damit zurechtzukommen. Aber ich kenne dich, Lucy. Deine Stärke kommt tief aus deinem Inneren. Du hast schon harte Zeiten überlebt, und das hier wirst du auch überleben.
Schmerz kann reinigend sein – erinnerst du dich noch, wie du das zu mir gesagt hast? Leiden kann kathartisch sein.
Anfangs wird es dir schwerfallen zu vergeben. Aber nach einem Jahr, vielleicht zweien, wirst du das anders sehen. Du wirst zurückschauen und verstehen, dass ich recht hatte. Dass das hier die beste Lösung ist.
Für uns alle.
Die Nachricht schlägt nicht sauber zu wie die Klinge einer Guillotine. Es wird nichts schnell abgetrennt. So gnädig läuft es nicht ab.
Diese Nachricht enthüllt ihre Schrecken nur Stück für Stück. Und sie kündigt sich zunächst gewaltsam an – durch das nachdrückliche Hämmern von Fäusten gegen die Haustür von Lucy Locke.
Lucy sitzt im Arbeitszimmer über Daniels Laptop gebeugt. Ihr Atem geht pfeifend durch die Zähne, und sie sucht hektisch etwas auf dem Gerät. Auf dem Bildschirm sind die Bilanzen der Firma ihres Mannes zu sehen. Auf dem Schreibtisch liegen Kontoauszüge, Rechnungen und gekritzelte Notizen. Zu ihren Füßen stehen Aktenordner, aus denen Quittungen quellen.
Am liebsten würde sie jeden einzelnen Zettel in den Kamin werfen und ein Streichholz daran halten, aber das würde ihnen auch nicht helfen. Wenn es etwas gibt, das sie übersehen hat, muss sie es unbedingt finden.
Lucys nasses Haar tropft kalt auf ihren Rücken. Das Arbeitszimmer ist nicht geheizt, und das Badehandtuch, in das sie sich gewickelt hat, wärmt nur wenig. Im Flur fällt das Quecksilberbarometer. Bisher ist der Sturm noch nicht losgebrochen. Aber bleigraue Wolken ziehen unheilschwanger vom Atlantik herauf.
Das hier kommt ihr nicht wie das Ende der Welt vor. Nicht ganz, noch nicht. Es ist nicht die erste Krise, die sie in ihren neun gemeinsamen Jahren überstehen müssen. Sie hat Daniel schon einmal gerettet. Sie weiß, dass sie ihn noch einmal retten kann.
Lucy lehnt sich im Stuhl zurück und versucht, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen. Sie schaut sich im herrschaftlichen, alten georgianischen Zimmer um.
Auf einem Beistelltisch steht ein silberner Bilderrahmen aus Plastik, ein Überbleibsel aus den Zeiten, in denen sie keinen Pfennig besaßen. Sie hat Daniel seitdem viele andere geschenkt, aber das Original hat er nie ersetzt. In diesem Haus gewinnen wertlose Gegenstände mit der Zeit an Wert: das abgeschabte Mobiliar, das angeschlagene Geschirr, die Bilder an der Wand; all das weckt tausend Erinnerungen, es sind unbezahlbare Artefakte aus der Familiengeschichte der Lockes.
Im Rahmen steckt ein Foto von ihnen allen – Lucy und Daniel, Billie und Fin –, aufgenommen vor sechs Jahren am Strand von Penleith. Fin steckt in einem sandverkrusteten Strampelanzug. Billie sitzt im Schneidersitz neben ihm, eine elfenhafte Zwölfjährige in einem kurzen Neoprenanzug. Daniel – der verschossene Surfershorts trägt und sonst nichts –, beugt sich über einen Einweggrill aus Alufolie. Die Sommersonne hat seine Haut karamellfarben getönt. Sein Blick ist aber nicht auf die Steaks gerichtet, sondern auf das Meer, als hätte dort etwas seine Aufmerksamkeit erregt.
Lucy, Anfang dreißig, lächelt das zufriedenste Lächeln der Welt. Ihre abgeschnittenen Jeansshorts und das vorn geknotete Bikini-Oberteil entblößen eine Haut, die so glatt und fest ist wie die eines Seehunds. Zwei Schwangerschaftsstreifen auf ihrem Bauch sind der zarte Beweis dafür, dass sie Mutter ist. Ihre Brüste sind deutlich auffallendere Hinweise darauf.
Sie hat Daniel immer damit geneckt, dass sie der wahre Grund dafür seien, dass ihm dieses Foto so viel bedeutet. Aber in Wirklichkeit liebt sie das Bild ebenfalls.
Als sie bemerkt, wie sehr sie die Zähne zusammenbeißt, wendet sie sich ab. Plötzlich ist es zu schwer, ihre Familie anzusehen.
Auf dem Schreibtisch liegt ein Stapel ungeöffneter Briefe. Lucy beginnt sich durch sie hindurchzuarbeiten, immer in der Erwartung weiterer Schreckensnachrichten. In den ersten drei Umschlägen ist nur Post für den Papierkorb. Der vierte Brief stammt von einer Versicherung. Sie schaut auf das Datum – und zuckt zusammen, als sie begreift, wie lange er schon hier liegen muss. Sie überfliegt den Text, und die Muskeln in ihrem Unterbauch verkrampfen sich.
Lucys Blick huscht wieder zu den Bilanzen von Daniels Firma, dann zum gerahmten Foto, auf dem er hinaus aufs Meer blickt. Erst gestern Abend, in der Dunkelheit ihres Schlafzimmers, hat sie die Arme um ihn geschlungen und geschworen, dass sie das hier gemeinsam überleben würden. Er hat etwas gemurmelt und sich auf die Seite gerollt. Und Lucy hat seine Verzweiflung gespürt und gemerkt, dass sich ihre Augen mit Tränen füllten.
Neben dem Foto von ihrer Familie liegt ein altes Polaroid, zerknickt und verblichen. Darauf steht der achtjährige Daniel auf den Stufen des Glenthorne Hostel für Jungen in Plymouth. Den gleichen Gesichtsausdruck hatte er auch an dem Tag, an dem sie einander begegnet sind: die Wachsamkeit eines Beutetiers, die mehr einem Tier als einem Menschen entsprach, eine herzzerreißende Mischung aus Furcht und Hoffnung und Sehnsucht.
An jenem Tag hat sie den machtvollen Drang verspürt, ihre Arme um ihn zu schlingen.
Immer, wenn Lucy dieses Foto ansieht – das erste Foto von ihrem Ehemann, das es gibt –, hat sie wieder ganz genau dieses Gefühl.
Auf den Stufen neben Daniel steht Nick, breiter und größer, obwohl sie beinahe gleichaltrig sind. Daniel blinzelt in die Kamera, aber Nick schaut finster geradeaus. Er hat den Arm beschützend um seinen kleineren Freund gelegt. Lucy weiß besser als die meisten, dass er dort immer noch liegt.
Sie runzelt die Stirn und reißt den letzten Umschlag auf. Begreift zu spät, dass der Brief an Billie adressiert ist. Lucy wirft ihn auf den Schreibtisch und sieht sich noch einmal die Bilanzen an. Sie ballt die Faust und schlägt damit so hart auf die Schreibtischplatte, dass eine Schublade klappert.
Und dann hört sie eine Reaktion, die aus dem Flur kommt. Aber es ist keine klappernde Schublade. Es kommt von der Haustür. Jemand hämmert dagegen.
Lucy blinzelt. Neigt den Kopf zur Seite. Ein kalter Wassertropfen rinnt ihr den Hals hinab. Das Gehämmer endet ebenso abrupt, wie es angefangen hat. Jetzt hört sie nur noch das Ticken der Wanduhr.
Eine Bewegung am Fenster erregt ihre Aufmerksamkeit. Sie wendet gerade rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie eine Silbermöwe auf dem Fenstersims landet. Der Vogel ist so groß, dass er Mühe hat, die Balance zu halten, und mit den Flügeln schlägt. Er sieht sie mit einem blassen Auge an. Dann tippt er mit dem Schnabel gegen die Scheibe.
Seit ihre Großtante Iris immer mehr in die Demenz abgleitet, hat sie eine abergläubische Furcht vor Möwen – Iris hasst es, wenn sie auch nur an ihrem Haus vorbeifliegen. Lucy wendet den Blick von der Möwe ab und schaut zur Uhr. Erst nach zwei. Seit der Flut ist ungefähr eine Stunde vergangen.
Hat sie sich nur eingebildet, was sie gerade gehört hat? Niemand in dieser Familie benutzt die Haustür, auch sonst niemand, den sie kennen. Gute Freunde und Mitarbeiter kündigen in alter Tradition nicht einmal ihr Kommen an; sie schlendern einfach durch die Küche und greifen dabei in die Keksdose, sie fühlen sich wie zu Hause.
Das Hämmern ertönt erneut. Vier heftige Schläge. Die Silbermöwe gibt einen Schrei von sich und flattert vom Sims. Lucy steht auf und hält das Badetuch vor der Brust zusammen. Sie geht zur Tür des Arbeitszimmers.
Schaut hinaus.
Wie die anderen Teile dieses weitläufigen Hauses auf den Klippen ist auch der Flur großzügig, aber heruntergekommen. Enteneiblaue Wände – die schon längst hätten neu gestrichen werden müssen – stützen eine Decke mit üppigem, wenn auch hie und da abgeplatztem Stuck. Auf dem Parkett liegt ein verschlissener Läufer, der das Geräusch der Schritte kaum dämpft.
Das Haus stand zwei Jahrzehnte lang verlassen auf Mortis Point, bevor sie es kauften. Jetzt, nach vier Jahren, weiß Lucy, dass der Spottpreis, den sie bezahlt haben, eigentlich nur ein Ablösegeld war. Wild Ridge, wie das Anwesen heißt, ist noch zu retten, aber sie werden sich die dafür nötigen Reparaturen niemals leisten können. Jetzt zumindest ganz sicher nicht.
Die Haustür besteht aus einer riesigen Mahagoniplatte. Durch das Sprossenfenster darüber sieht man ein Rechteck schieferfarbenen Himmels. In die Tür selbst sind zwei Scheiben Milchglas eingelassen. Lucy sieht, wie sich dahinter ein Schatten bewegt. Der Beweis, wenn sie einen bräuchte, dass sie sich das Geräusch nicht eingebildet hat.
Sie ruft sich die Karte von Skentel vor Augen und bevölkert sie mit den Menschen, die sie am liebsten hat. Fin ist in der Headlands Junior School, wo sie ihn kurz vor neun abgegeben hat. Billie ist im College in Redlecker, ein paar Kilometer weiter an der Küste. Daniel in seiner Werkhalle am höher gelegenen Teil des Ufers über dem Strand von Penleith.
Lucy tritt in den Flur und tappt ihn entlang. Das Hämmern hat wieder begonnen, diesmal so heftig, dass die Tür in ihrem Rahmen bebt. Die Stärke der Schläge und die Größe des Schattens lassen darauf schließen, dass der Besucher ein Mann ist. Vielleicht ein Gläubiger? Der Gerichtsvollzieher? Einer von Daniels Kunden, der ihn zu Hause überraschen will?
Als sie schon fast an der Tür ist, verstummt das Hämmern wieder. Sie streckt die Hand aus und berührt den Messingriegel. Zögert.
Irgendetwas kommt ihr komisch vor. Unheilverkündend. Als müsste man es um jeden Preis vermeiden. Lucy hat sich immer auf ihr Bauchgefühl verlassen, aber sie kann diese Störung nicht ignorieren. Das hier ist ihr Zuhause – bis jemand mit der Befugnis dazu etwas anderes behauptet. Auf keinen Fall wird sie sich hier drin ducken und verstecken.
Sie öffnet den Riegel und reißt die Tür weit auf.
Es ist Bee.
Lucy ist so überrascht, dass sie als Erstes die Straße hinunterschaut, weil sie dort einen Komplizen vermutet. Erstaunlich, dass jemand, der so winzig ist, einen solchen Lärm verursachen kann. Und so einen riesigen Schatten wirft.
Bee ist ganz in Schwarz gekleidet und hat bonbonrosa Haar. Sie blickt unter Wimpern, die so übertrieben wirken wie die einer Giraffe, zu ihr auf. Was Bee an Körpergröße fehlt, gleicht sie durch ihren Körperumfang aus – breite Hüften, wuchtige Schultern, ein gefällig gerundetes Bäuchlein. Auf ihrem T-Shirt prangt ein regenbogenbuntes Einhorn, unter dem steht: ICH GLAUBE AUCH NICHT AN DICH. Lucy kennt sie seit fünf Jahren, seit Bee in ihr Lokal, das Drift Net, marschiert ist und nach einem Job gefragt hat.
Bee zuckt zurück, als sie Lucys Badetuch und ihr nasses Haar sieht. Ihre Armbänder klimpern wie ein Windspiel. «Hey, Luce. Ist Daniel da?»
Lucy lässt die Finger vom Türriegel gleiten. «Bee?» Wieder schaut sie die Straße hinunter, sieht aber nur Bees Elektroroller, der an der Hecke lehnt. «Wer kümmert sich ums Drift Net?»
«Was? O, Tommo kümmert sich.»
«Tommo? Ist das – kannst du ihn allein im Laden lassen?»
Bee sieht sie mit einem merkwürdigen Blick an. «Alter, er ist mein Freund. Natürlich kommt er klar.»
Tommo ist ein neuer Fang, der Bee vor ungefähr sechs Wochen ins Netz gegangen ist. Lucy hat ihn erst einmal gesehen, und das unter nicht besonders günstigen Umständen. «Weiß er, wie man …»
«Ich habe dich tausendmal angerufen», sagt Bee. «Dann dachte ich mir, komme ich mal lieber vorbei. Sie haben die Lazy Susan gefunden.»
Das bringt Lucy für eine Sekunde aus dem Konzept. Sie hat sich nie so recht an den Namen von Daniels Boot gewöhnen können. Den Namen ihres gemeinsamen Boots, korrigiert sie sich in Gedanken. Wenn man danach geht, wer am meisten Arbeit hineingesteckt hat, gehört das Boot allerdings vermutlich eher Daniel. Lucy hat vielleicht ein, zwei Mal Seepocken abgeschrubbt und ist dafür im Taucheranzug unter dem Rumpf hindurchgetaucht, aber das ist nichts gegen die Mühe, die sich Daniel damit gegeben hat. Harte Arbeit und Herzeleid sind der Aufpreis, den man beim Kauf einer vierzig Jahre alten Jacht bezahlt. Zwei vernünftigere Menschen hätten das nach den Erfahrungen mit der Renovierung von Wild Ridge eigentlich wissen können. Sie aber nicht.
«Sie haben sie gefunden?» Lucy runzelt die Brauen. «Wer? Und wo haben sie sie gefunden?»
«Sie ist auf dem Meer getrieben, glaube ich. Auf die offene See hinaus. Sie schleppen sie gerade wieder herein.» Bee reckt den Hals und versucht, an ihr vorbei in den Flur zu schauen. «Also, ist Daniel da? Ich meine … Mist, ich weiß, dass es nicht sein Boot ist, jedenfalls nicht nur.» Sie holt ihre E-Zigarette heraus und inhaliert, um dann Dampf mit Erdbeergeruch auszupusten, und versucht erneut, an ihr vorbeizuspähen.
Lucy macht einen Schritt zur Seite und verstellt ihr die Sicht. Das Arbeitszimmer ist von hier aus zu sehen. Sie will nicht, dass Bee weiß, womit sie gerade beschäftigt war. «Willst du damit sagen, dass jemand das Boot gestohlen hat? Vom Anleger?»
«Keine Ahnung. Da ist so ein Typ reingekommen und hat einfach weitererzählt, was er aufgeschnappt hat. Küstenwachenklatsch, nehme ich an. Mehr weiß ich eigentlich auch nicht, aber ich dachte, ihr solltet das erfahren.» Sie tritt von einem Doc-Martens-Stiefel auf den anderen. «Geht’s dir … äh … geht’s dir gut?»
Lucy spürt, wie ihr wieder ein Tropfen den Rücken hinunterrinnt. Sie hat das Gefühl, dass der Tag zunehmend aus den Fugen gerät. «Ja. Hör mal, danke, Bee. Ich werfe mir jetzt lieber was über und finde heraus, was los ist.»
«Soll ich mitkommen?»
Lucy schüttelt den Kopf. «Könntest du ins Drift Net zurück? Tommo kommt bestimmt gut klar, aber ich würde mich besser fühlen, wenn du auch dort wärst.»
Bee nimmt noch einen Zug vom Erdbeerdampf. «Logisch. Ich mach mich dann mal auf die Socken.» Sie dreht sich um und geht den Gartenweg hinunter.
Sie haben die Lazy Susan gefunden. Sie ist auf dem Meer getrieben, glaube ich. Auf die offene See hinaus. Lucy schaut sich um. Bis zum Arbeitszimmer zieht sich eine Spur nasser Fußabdrücke den Flur entlang. Der Anblick lässt sie erschaudern.
Am Gartentor zerrt Bee ihren Roller aus der Hecke. Sie hüpft auf das Trittbrett und fährt summend die Straße hinunter.
Drei Silbermöwen fliegen von Westen her übers Haus. Lucy weiß, was es bedeutet, wenn diese Vögel zu dritt fliegen. Sie schließt die Tür und eilt durch den Flur zurück.
Pläne ändern sich, und jetzt haben sich auch Lucys Pläne geändert. Sie geht hastig ins Wohnzimmer, das auf der Rückseite des Hauses liegt. Es ist ein riesiger Raum voller dichter Schatten. Die Teppiche, Bücherregale und alten Sofas mit dem rissigen Leder helfen, ihn zu erden. Die hintere Wand wird von einem schmiedeeisernen Kaminsims dominiert, verziert mit gotischen Kreuzblumen und Pfeilern. Es riecht hier nach Holzrauch und den feuchten, lehmigen Ausdünstungen der vielen Topfpflanzen, die Daniel züchtet. In einer Ecke wächst das Laub so dicht, dass es wirkt, als hätte der Dschungel die Herrschaft übernommen.
Vor den zwei riesigen Stabwerkfenstern mit Spitzbögen sind die Samtvorhänge zugezogen. Lucy durchquert das Zimmer und reißt sie auf. Licht strömt herein. Der Blick ist atemberaubend.
Wild Ridge steht auf der nach Westen ausgerichteten Halbinsel Mortis Point hundertzwanzig Meter über dem Meeresspiegel. Der Rasen hinter dem Haus wird gesäumt von Zypressen und Kiefern und bildet in mehreren Ringen natürliche Terrassen, die schließlich in schroffe Felswände übergehen; darunter tobt das Meer. Im Norden sieht man den sandigen Halbmond des Strandes von Penleith. Weit unterhalb der südlichen Flanke der Halbinsel liegt Skentel.
Von hier aus kann Lucy aus der Vogelperspektive die ganze Kleinstadt sehen. Weiß getünchte Häuser gruppieren sich um eine steile Kopfsteinpflasterstraße, die kaum breit genug ist für ein Auto. Eine geschwungene Steinmole beschützt den winzigen Hafen vor dem Atlantik.
So kurz vor der Flut klatscht das Meerwasser gegen die Kaimauer. Erstaunlicherweise sind die meisten Fischerboote noch vertäut. Am Schwimmdock drängen sich die Jachten. Kleinere Boote hüpfen, an orangefarbenen Ankerbojen festgemacht, im Hafen auf und nieder.
Lucy sieht die Rettungsstation, die normannische Kirche und das schräge Dach vom Drift Net. Draußen hinter der Mole tuckert ein Rettungsboot der Tamar-Klasse in den Hafen hinein. Es ist nicht das Boot aus Skentel – dieses hier muss aus einer Rettungsstation weiter unten an der Küste stammen. Es schleppt die Lazy Susan hinter sich her.
Ihre Jacht mit dem dunkelblauen Rumpf liegt viel zu tief im Wasser. Wellen schwappen über den Namenszug am Bug. Zwei Besatzungsmitglieder der Seenotrettung stehen im Cockpit. Das Hauptsegel ist eingerollt, die Fock ebenso.
Etwas Glitschiges schlängelt sich durch Lucys Magen. Sie nimmt das Fernglas von der Hausbar und schaut genauer hin. Die eine Gestalt von der Seenotrettung ist Beth McKaylin, Besitzerin des Penny-Moon-Campingplatzes. Den anderen Freiwilligen erkennt Lucy nicht. Sie holt das Festnetztelefon und ruft Daniel an.
Unten am Strand von Penleith ist der Empfang nicht so gut. Nach zwei Sekunden Verzögerung geht der Anruf direkt auf die Voicemail: «Hi, dies ist der Anschluss von Daniel Locke von Locke-Povey Marine …»
Lucy wartet auf den Piep. «Hey, ich bin’s. Irgendwas ist mit dem Boot los. Ruf mich sofort an, sobald du das hier hörst.»
Jetzt kommen Leute zum Ufer. Jemand zeigt aufs Drift Net. Ein anderer hebt den Finger in Richtung Mortis Point.
Sie haben die Lazy Susan gefunden. Sie ist auf dem Meer getrieben, glaube ich. Auf die offene See hinaus. Lucy lässt das Fernglas sinken. Wenn sie in den nächsten Minuten losgeht, schafft sie es noch vor dem Rettungsboot zum Anleger. Oben zieht sie hastig einen Overall und Stiefel an. Unten im Flur nimmt sie die Schlüssel vom Konsolentisch. Im halb blinden Wandspiegel erblickt sie ihr Spiegelbild. Ihrem Gesicht sieht man ihre innere Unruhe an. Das fahle Licht lässt ihre Haut noch heller wirken. Ihr Haar, das in feuchten blonden Locken herabhängt, bildet kaum einen Kontrast dazu. Sie sieht aus wie etwas, das die Flut aus dunkler Tiefe an Land gespült hat.
An der Haustür klopft sie gegen das Barometer. Die Quecksilbersäule sackt noch weiter nach unten. Kein Wunder, dass die meisten Fischerboote noch im Hafen liegen. Alle sind gewarnt. Der sich ständig verändernde Luftdruck kündigt etwas Schlimmeres an.
Draußen heult ein salziger Wind zwischen den Zypressen. Lucy steigt in ihren Citroën und lässt den Motor aufheulen. Ihr Handy liegt auf dem Beifahrersitz, wo sie es hat liegen lassen. Sie tippt auf das Display, und es erwacht zum Leben: keine Nachrichten, keine Anrufe, kein Empfang.
Sie fährt so abrupt an und aus der Einfahrt, dass der Schotter aufspritzt.
Die Straße führt in Richtung Osten. Auf der Halbinsel gibt es kaum Verkehr. Lucy fährt so schnell, wie sie sich traut.
Sie biegt in die Küstenstraße ein und fährt jetzt Richtung Süden. Die Abzweigung nach Skentel, die über die kopfsteingepflasterte Hauptstraße zum Hafen führt, lässt sie links liegen. Stattdessen nimmt sie Smuggler’s Tumble, einen schmalen Weg, der in Serpentinen durch den Kiefernwald zum Meeresufer führt. Am Ende der Straße parkt sie auf dem Schotterrondell, auf dem die Angler manchmal ihre Autos stehen lassen.
Es riecht hier streng nach Kiefernharz und Seetang. Als Lucy den Fuß auf den Schotter setzt, greift ein kühler Windstoß nach ihrer Kleidung. Aus dieser Nähe sieht das Meer ölig und dunkel aus. Die Dünung ist viel höher, als sie von Mortis Point aus wirkte. Brecher rollen dröhnend heran und fallen zu Schaum zusammen.
Mit knirschenden Schritten geht sie am Strand entlang und schaut auf die Uhr. Viertel nach zwei. Nur noch ein paar Stunden, dann trifft der Sturm auf die Küste. Sie überlegt, Daniel noch einmal anzurufen, aber ihr Handy hat immer noch keinen Empfang. Sie erreicht die Mole und steigt die in den Stein geschlagenen Stufen hinauf.
Eine Gruppe Menschen hat sich auf dem Hafenkai versammelt. Auch außerhalb der Touristensaison erregen Rettungsboote Aufmerksamkeit. Aller Blicke sind auf die Tamar-Klasse gerichtet, die die havarierte Jacht durch den Eingangskanal zieht.
Lucy hastet die Mole entlang, den Blick immer auf die hereinkommenden Boote gerichtet. Sie drängt sich durch die Menschenmenge und schnappt Gesprächsfetzen auf.
«… gesagt, dass ihnen das Drift Net gehört …»
«… gerade noch rechtzeitig, wenn du mich fragst …»
«… Glück, dass es noch ganz ruhig ist …»
Wasser spritzt in einem dicken Schwall aus der Abflussöffnung der Bilge am Rumpf der Lazy Susan. Eine Fremdlenzpumpe, vermutlich von der Besatzung des Rettungsbootes installiert, spült Meerwasser über einen Schlauch hinaus, der über der Reling hängt.
Beth McKaylin steht am Bug. Als sich die Jacht der Mole nähert, wirft sie einem Hafenangestellten ein Seil zu. Weitere Seile werden geworfen. Auf dem Rettungsboot löst ein Mannschaftsmitglied die Abschleppleine.
«Lucy! Hey, Luce!»
Sie dreht sich um und sieht, dass sich Matt Guinness einen Weg durch die Menschenmenge bahnt. Matt ist ein alter Klassenkamerad – ein alteingesessener Bewohner Skentels. Er hat wirres Haar und bekommt allmählich eine Glatze. Mit seiner Mutter wohnt er in einem Fischerhaus mit Blick über den Hafen. Nach der Aufschrift seines Poloshirts zu schließen, arbeitet er derzeit im Goat Hotel an der Hauptstraße.
«Hab dich gesucht», sagt er und hat ganz glänzende Augen, weil er gleich schlechte Nachrichten verkünden kann. «Die Lazy Susan. Ist das nicht das Boot deines neuesten Typen?»
Sinnlos zu erklären, dass sie schon seit neun Jahren mit Daniel zusammen ist. «Weißt du, was passiert ist?»
Matt streicht über die Bartfusseln an seinem Kinn. Anders als sein Haar sind seine Fingernägel penibel sauber – und lang und gebogen wie die Krallen eines Maulwurfs. Wenn er grinst, zeigt er die Resultate eines ganzen Lebens schlechter Zahnpflege. «Vielleicht hat jemand die Festmacher nicht richtig überprüft.»
Lucy schüttelt den Kopf. Das Hafenwasser schäumt weiß, als der Motor des Rettungsbootes in den Rückwärtsgang geschaltet wird. «Glaubst du, dass das Boot ganz um die Mole herum getrieben ist, ohne dass es jemand bemerkt hat? Irgendwie unwahrscheinlich, oder?»
«Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es sind schon merkwürdigere Dinge passiert.»
«Bee sagt, es sei auf offener See treibend gefunden worden.»
Hinter ihr hupt ein Auto, gefolgt von einem kurzen Aufheulen von Sirenen. Matt entdeckt etwas hinter ihr. «Oh-oh», sagt er, und sein Grinsen wird breiter. «Scheint so, als hätte Männe so einiges zu erklären.»
Lucy dreht sich um und sieht einen Land Rover Defender mit der Aufschrift «Küstenwache» langsam durch die Menge fahren. Aus Matt Guinness wird sie nichts Sinnvolles mehr herausbekommen. Sie verabschiedet sich und drängt sich durch die Menge der Schaulustigen zurück. Kurz ist sie versucht, über die Mole zum Liegeplatz der Lazy Susan zu gehen, aber wenn sie schnell herausfinden will, was hier vor sich geht, muss sie ihren Ex erreichen.
Die Rettungswache von Skentel liegt hoch über der Kaimauer auf einer Kalksteinfläche, die aus den Klippen von Mortis Point hervorragt. Ihre Ablaufbahn ragt über den Niedrigwasserpunkt hinaus ins Wasser. Von der Anlegestelle aus führt eine zwanzig Meter hohe Podesttreppe aus Metall zum Eingangsdeck. Lucy steigt sie hinauf.
Sie ist schon halb oben, als über ihr ein lautes Geräusch ertönt. Ein Hubschrauber der Küstenwache, Nasenkegel und Heckausleger knallrot lackiert, donnert über Mortis Point hinweg. Er folgt der Küstenlinie nach Süden, wobei sein Kollisionsschutzlicht blinkt.
Dank Fins Sammlung von Modellfahrzeugen erkennt Lucy das Modell: Es ist ein zweistrahliger AW189. Ein Klotz von einer Maschine. Der Hubschrauber wiegt acht Tonnen und strotzt nur so von Rettungsgeräten. Das Pfeifen seiner Turbinen wetteifert mit dem Knattern und Dröhnen seiner Rotoren.
Unten im Hafen gibt das Rettungsboot Gas und nimmt Kurs aufs offene Meer. Am Hafenkai wird die Menge immer größer. Lucy sieht Bewegung an der Mole und auf dem Schwimmdock. Einige Boote bereiten sich zum Ablegen vor.
Ihre Unruhe wird größer. Sie steigt die Treppe weiter hinauf. Um sie herum summt und surrt der Schutzkäfig. Als sie das nächste Podest erreicht, erkennt sie einen Streifenwagen neben dem Land Rover der Küstenwache.
Schließlich steht sie vor dem geschützten Eingang des Bootshauses der Königlichen Seenotrettungsgesellschaft. Alec Paul steht in T-Shirt und Latzhose vor der Glastür. Über seinem Kopf ist der Himmel von einem dunklen Schiefergrau.
Alec ist ein Bär von einem Mann: über eins neunzig. Er hat einen struppigen braunen Bart und Schultern wie Eichenfässer. Er lässt eine fleischige Pranke auf Lucys Schulter fallen und schiebt sie zum Eingang.
«Jake hat gesagt, dass du kommen würdest. Soll mich um dich kümmern. Er versucht schon seit einer Stunde, dich auf dem Handy zu erreichen.»
«Ich war zu Hause. Ihr habt die Lazy Susan geborgen?»
Alec zieht die Brauen zusammen, als hätte er diese Frage nicht erwartet. Er schaut über das Geländer. «Diese Typen da sind aus Appledore. Fanden, sie könnten sie da draußen nicht treiben lassen – nicht bei dem, was sich da zusammenbraut. Zu gefährlich für die anderen Boote.»
«Ist sie denn schlimm beschädigt?»
Er lässt die Hand von ihrer Schulter rutschen. Jetzt ist seine ganze Stirn gerunzelt. «Kann ich nicht sagen.»
Lucy sieht zur Jacht hinüber. «Sie liegt ziemlich tief, aber immerhin pumpen sie das Wasser ab. Diese Sturmfront – wir haben Glück, dass das Meer noch so ruhig ist wie jetzt.»
«Ja.» Alec nimmt sie bei den Armen. «Hör mal. Geht es dir gut?»
Lucy denkt an den Papierkram auf Daniels Schreibtisch, an alles, was sie in diesen neun Jahren aufgebaut haben; dass sich ihr Zuhause bis vor ein paar Wochen angefühlt hat wie eine Festung.
In ihren Ohren hört sie so etwas wie ein entferntes Pfeifen. «Die Polizei ist hier», sagt sie. «Das bedeutet dann wohl, dass sie gestohlen wurde.»
«Lucy, ich weiß nicht genau, was du gehört hast. Was hast du denn gehört?»
Jetzt kribbelt es in ihrem Magen. Sie kann Alecs Gesichtsausdruck nicht deuten. «Bee hat gesagt, die Lazy Susan sei ruderlos auf dem Meer getrieben. Ein Typ, den ich kenne, glaubt, ihre Festmacher hätten sich gelöst, aber das kann nicht sein. Jemand muss sie gestohlen haben. Jemand muss sich an Bord …»
«Sie wurde nicht gestohlen.»
«… geschlichen und den Motor kurzgeschlossen haben oder …»
«Lucy, Daniel ist mit ihr hinausgefahren.»
Sie zuckt zusammen und schüttelt den Kopf, als hätte sie eine Fliege im Ohr. «Daniel? Aber Daniel ist bei der Arbeit. Er ist losgefahren, bevor ich Fin zur Schule gebracht habe.»
«Tut mir leid, wirklich – aber Daniel hat den Notruf von der Lazy Susan abgesetzt.»
Lucy hat plötzlich einen Kloß in der Kehle. Es fühlt sich an, als drückte ihr jemand den Hals zusammen. Ihre rechte Hand findet den Ehering und dreht ihn am Ringfinger. Sie schaut an Alec vorbei zum Küstenschutzhubschrauber, der jetzt nach Westen eindreht, aufs Meer hinaus. Dann fällt ihr Blick auf den Hafen, auf die Flotte kleiner Boote, die zum Auslaufen fertig gemacht werden, auf das Rettungsboot, Tamar-Klasse, das draußen hinter der Mole fährt und dessen Schiffsschrauben eine weiße, schäumende Spur aus Kielwasser hinter sich herziehen. Trotz der bleigrauen Wolken und des fallenden Luftdrucks fühlt sich der Tag immer noch unheimlich ruhig an.
Das Pfeifen in ihrem Ohr wird lauter. Sie geht um Alec herum zur Glastür.
Am Eingang zum Bootshaus der Seenotrettung von Skentel fällt als Erstes die handgemalte Tafel auf. Darauf sind alle wichtigen Rettungsaktionen des letzten Jahrhunderts verzeichnet. Dahinter öffnet sich eine riesige Bootshalle, an deren Wänden zwei mit Geländern gesicherte Gänge entlangführen. In diesem Moment ist die Rolltür geöffnet und gibt den Blick auf die riesige stählerne Ablaufbahn frei, die ins Meer führt. Seit ihre Beziehung zu Jake Farrell vor neun Jahren endete, hat sich dieser Ort kaum verändert.
Sie findet Jake im Dienstzimmer, wo er über das UKW-Funkgerät gebeugt sitzt. Auf einem Laptop sieht man Grafiken der sich schnell verändernden Wetterverhältnisse. Jake richtet sich auf, als er sie bemerkt. Seit der Trennung hat er nie richtig gelernt, mit ihren Begegnungen umzugehen. Er rollt die Schultern zurück und reibt sich über den kurz geschorenen Schädel.
«Sag es mir einfach, Jake», bittet sie. «Was ist passiert? Wo ist Daniel?»
Jake gibt Alec ein Zeichen, damit er seinen Platz am Schreibtisch einnimmt. «Pass gut auf», sagt er. «Und hol mich, wenn es etwas Neues gibt.» Dann schiebt er Lucy durch den Flur zum Umkleideraum. «Die Küstenwache hat einen Notruf von deinem Ehemann empfangen.»
«Und? Geht es ihm gut?»
«Das wissen wir nicht. Wir sind im …»
«Ihr wisst es nicht?»
«Unser Rettungsboot hat eure Jacht lokalisieren können, aber die Mannschaft hat an Bord niemanden gefunden.»
In ihren Ohren rauscht es jetzt, es fühlt sich an, als ströme Luft in ein Vakuum. «Und wo ist Daniel dann?»
«Das versuchen wir ja gerade …»
«Er wird immer noch vermisst?»
«Im Moment wollen wir …»
«Hast du seither überhaupt etwas von ihm gehört?»
Jake hebt eine Hand, um sie zum Schweigen zu bringen. «Lucy, halt mal die Luft an, okay? Hör mir zu. Daniel hat gegen zwölf Uhr dreißig einen Notruf abgesetzt. Zwölf Uhr siebenunddreißig, um genau zu sein. Er sagte, sein Boot laufe mit Wasser voll, und er brauche Hilfe. Wir überwachen die Lage hier nicht ständig. Wir hörten zum ersten Mal davon, als uns die Küstenwache von Milford anrief. Sie wollten, dass wir ihnen ein Boot schicken. Unser Lagezentrum hat das Tamar-Boot autorisiert, die Rettung einzuleiten. Die Mannschaft ist zwölf Minuten später rausgefahren. Der Kontakt zu Daniel brach ab, bevor er uns seine genaue Position durchgeben konnte, aber die Peilanlage der Küstenwache konnte seinen Kurs orten. Trotzdem brauchten wir eine Weile, bis wir die Lazy Susan gefunden haben. Die Strömungen sind stark, und sie trieb zwölf Kilometer weit draußen herum, mit aufgerollten Segeln, als wären sie nie benutzt worden. Unser Küstenboot hat ein paar aus der Mannschaft mit einer Fremdlenzpumpe an Bord geschickt, aber sie haben nicht die geringste Spur von Daniel gefunden. Die Küstenwache hat die Priorität hochgestuft, wir haben einen Mann auf der Jacht gelassen und die Kräfte verlagert. Du hast bestimmt den Hubschrauber gesehen. Wir haben unser D-Klasse-Rettungsschlauchboot zu Hilfe gerufen. Clovelly und Bude haben ebenfalls ihre Küstenboote geschickt. Außerdem haben wir noch Tamars aus Appledore und Padstow im Einsatz. Das Gute ist, dass das Wetter noch hält. Ich weiß nicht, wie es in ein paar Stunden aussieht, aber im Augenblick haben wir noch ein Zeitfenster. Eine kleine Flotte fährt von Skentel aus los. Fischerboote, Jachten – so ziemlich die ganze Stadt ist mobilisiert.»
Daniel im Wasser. Das ist zu erschütternd, um es zu begreifen. Sie schließt den Mund und öffnet ihn wieder. Konzentriere dich, Lucy. «Wie lang genau ist der letzte Kontakt zu ihm her?»
«Ich habe den Notruf nicht gehört. Aber er hat nicht lange geredet.»
Sie wirft einen Blick auf ihre Uhr. «Also – eindreiviertel Stunden?»
«Mehr oder weniger.»
Der Kloß in ihrer Kehle wird dicker. «Dieses Wasser ist kalt, Jake.»
«Hat euer Boot eine Rettungsinsel?»
«Eine Seago für sechs Leute, knallgelb. Mit Überlebensanzügen für die ganze Familie.»
Er nickt. «Wir haben die allerbesten Leute rausgeschickt.»
Lucys Blick fällt auf Jakes Pullover. Sie erkennt ihn wieder – es ist ein cremefarbener Strickpullover mit Zopfmuster, circa zehn Jahre alt. Am Ärmel musste sie damals ein kleines Loch stopfen, was sie in einem Anfall von geistiger Umnachtung tat, weil es ihr noch romantisch vorkam, seine Sachen zu stopfen. Jetzt hat sie das Gefühl, als sei ihre Verbindung zur Realität schon brüchig. Einen Moment lang wirft sie der Anblick dieser ungeschickten Stiche völlig aus der Bahn. Nur unter Mühen kann sie schlucken. «Finde ihn, Jake, bitte. Nicht nur für mich. Er ist doch Fins Dad.»
Wieder tasten ihre Finger nach dem Ehering. Eigentlich ein billiges Ding. Irgendein unedles Metall. Hin und wieder wird er grün, dann muss sie ihn schrubben, damit er wieder glänzt, aber sie hat Daniels Angebote, ihr einen neuen zu kaufen, immer wieder abgelehnt. In dieser Beziehung werden wertlose Gegenstände mit der Zeit immer wertvoller. Ihr Ehering war vielleicht spottbillig, aber er verkörpert etwas Unbezahlbares. Sie erinnert sich noch gut an den Augenblick, in dem er ihn an ihren Finger steckte, dieses Gefühl, als wäre ein Puzzleteilchen genau an die richtige Stelle gelegt worden, als hätten irgendwo im Universum Zahnräder ineinandergegriffen.
Auf einmal ist Lucy zurück in ihrer Küche oben in Mortis Point, und jemand hat die Zeit um sechs Stunden zurückgestellt. Fin sitzt am Frühstückstisch und baumelt mit den nackten Beinen. Er schaufelt sich durch eine Schüssel Frosties. Neben ihm liegt aufgeschlagen sein Match-Attax-Sammelalbum.
«Mummy», sagt er. Er kräuselt die Nase wie ein Kaninchen, bis die Brille ein wenig hochrutscht. «Eden Hasard hat vierundneunzig Angriffspunkte, aber nur dreiundvierzig Verteidigungspunkte. Wie kann er in dem einen so gut sein und so furchtbar schlecht im anderen?»
Seit Fin sprechen kann, klingt jeder Satz, den er von sich gibt, melodramatisch. Wenn sie nur seine Stimme hört, fängt Lucys Herz Feuer. Sie hat keine Ahnung, wer Eden Hasard ist. Sie beugt sich über Fins Schulter und sieht etwas, was sie für ein Real-Madrid-Trikot hält.
«Jeder ist gut in einigen Dingen und schlecht in anderen», sagt sie gerade, als Daniel ins Zimmer tritt. «Nehmen wir mal Daddy, zum Beispiel.»
Daniel bleibt in der Tür stehen und sieht sie an. Seine Augen sind ganz rot. Er sieht aus, als kämpfte er nach einer schlechten Nacht gegen einen Kater an.
«Daddy ist gut darin, Boote zu bauen und Leute durchzukitzeln», fährt sie fort. «Aber er ist nicht so gut darin, seiner Frau und seinem Sohn ein Küsschen zu geben, wenn er ihnen am Frühstückstisch begegnet.»
Fin lacht schnaubend. Aber Lucy sieht immer noch ihren Mann an und begreift, dass ihr Witz bei ihm nicht gezündet hat.
Daniel wird ruckartig wieder lebendig. Er beugt sich über Fins Stuhl und küsst ihn auf den Scheitel. «Hab dich lieb, Kumpel.»
«Willst du ein bisschen Kaffee?», fragt Lucy.
«Danke, nein. Ich gehe heute früh los.»
«Jetzt gleich?»
Er schaut durchs Fenster. Über Mortis Point ist der Himmel so dunkel und wolkenverhangen, dass es aussieht, als wäre der Tag noch gar nicht angebrochen. «Ich dachte, ich gehe runter, solange es noch ruhig ist. Erledige ein paar Sachen.»
Sie beißt die Zähne zusammen, als sie das hört. Denn Daniels Aufgabe an diesem Morgen wird ihn an den Rand des Zusammenbruchs bringen. Wenn sie ihm nur etwas von seiner Last abnehmen könnte. «Zieh dir lieber eine Jacke an. Dieses Unwetter wird nicht mehr lange auf sich warten lassen.»
Er schaut immer noch zu den Wolken auf, als suchte er darin nach etwas.
«Daniel?»
«Hm?»
Lucy zieht eine Augenbraue hoch und hofft, Fin zuliebe einen heitereren Ton zu treffen. «Kuss?»
Keine Reaktion. Sie wartet mit zur Seite geneigtem Kopf.
Fin legt den Löffel auf den Tisch. Er schaut seine Eltern an. «Na los, Daddy», sagt er. «Lass Mummy nicht so hängen.»
Daniel wendet sich vom Fenster ab und betrachtet seinen Sohn. Dann durchquert er die Küche und küsst Lucy. Seine Lippen fühlen sich blutleer an. Kalt wie das Meer.
Sie überlegt, ihn in die Arme zu nehmen und ihren Schwur von letzter Nacht zu wiederholen – dass sie den Sturm überleben werden, dass ihre Liebe ein Bollwerk gegen jedes drohende Unwetter ist. Stattdessen streichelt sie seinen Arm, weil sie seine Zerbrechlichkeit spürt. «Hör mal, Dummi», flüstert sie. «Ich schwöre, dass alles wieder gut wird.»
Er nickt und geht zur Hintertür. «Tschüs», sagt er und tritt in die frühmorgendliche Dunkelheit, ohne sich noch einmal umzusehen.
Kalte Luft leckt in die Küche und verteilt sich wie Rauch.
«Soll ich dir mal eine Geschichte erzählen, Mummy? Diese ist echt spannend. Gestern ist ein neues Mädchen in unsere Klasse gekommen. Ihr Name ist Jessica.»
Lucy starrt die Hintertür an. Draußen hört sie das Rumpeln des Dieselmotors von Daniels Volvo. Ich liebe dich, hätte sie sagen sollen. Nichts von alledem ist deine Schuld.
«Und weißt du, was noch, Mummy? Letztes Jahr hat ein Mädchen unsere Klasse verlassen. Und weißt du, wie die hieß? Weißt du das, Mummy?»
Lucy berührt ihre Lippen an der Stelle, wo Daniels Mund sie getroffen hat. Etwas in ihrer Brust erbebt. Merkwürdig, jetzt bleibt ihr ganzer Atem in der Kehle stecken.
«Sie hieß auch Jessica. Wir haben die eine Jessica gegen eine andere ausgetauscht. Die alte Jessica ist gegangen, und eine neue Jessica ist gekommen.»
Der Volvo knirscht über die Kieseinfahrt. Lucy stellt sich vor, wie Daniel hinterm Steuer sitzt und mit leerem Blick geradeaus starrt. In letzter Zeit hat sie fast das Gefühl, als handele Fins Anekdote von dem Mann, den sie liebt. Der alte Daniel ist fort, und ein neuer Daniel hat seinen Platz eingenommen. Und das ist nur die Schuld eines einzigen Menschen, und der ist nicht ihr Ehemann.
«Weißt du, was ich glaube, Mummy? Ich glaube, sie mussten ein ganzes Jahr suchen, bis sie jemanden mit genau demselben Namen gefunden hatten, damit Miss Clay kein neues Namensschild für den Spind schreiben musste. Das glaube ich jedenfalls, und das werde ich sagen, wenn mich jemand deswegen fragt.»
«Wenn dich jemand weswegen fragt, Scout?»
Das ist nicht Lucys Stimme, sondern Billies. Das Mädchen hüpft barfuß herein. Wie immer hat Lucy das Gefühl, eine jüngere Ausgabe von sich selbst zu sehen; ihre Tochter hat die gleichen braunen Augen, die gleiche Stupsnase und den gleichen kantigen Kiefer. Ihr neongrünes T-Shirt lässt an ihrer Schulter einen bunten BH-Träger und ein Stück von einem dunklen Tattoo frei. Ihre schwarzen Turnshorts reichen bis zur Mitte der Oberschenkel und teilen ein weiteres Tattoo in der Mitte. Ein Stoffband hält Billies blonden Bob aus dem Gesicht.
«Warum hast du mich Scout genannt?», fragt Fin.
«Das kommt aus einem Film.»
Lucy verdreht die Augen. «Aus einem Buch.»
«Ups, jetzt kriege ich Ärger», sagt Billie zu ihrem Bruder. «Wie damals, als du dich zum Welt-Buchtag als Jack Sparrow verkleiden wolltest.»
«Jack Sparrow ist ein cooler Typ», sagt Fin. «Ein richtiger Popopirat.»
Billie schnaubt vor Lachen. «Wo hast du das denn her, kleiner Mann? Nein, ist schon gut. Ich wollte nur sagen, dass Jack auch nicht aus einem Kinderbuch stammt.»
Fins Blick gleitet von seiner Schwester zum Fenster. «Wusstest du, dass ein Unwetter im Anmarsch ist, Billo?»
«Ich hab gehört, das wird ein richtiger Monstersturm.» Sie nimmt ihre Mascara und lässt sich ihm gegenüber auf den Stuhl fallen. «Angeblich sogar lebensbedrohlich.»
«Lebensbedrohlich», wiederholt er, um das Wort auszutesten. Dann mampft er einen Löffel Frosties.
«Nach dem College kommst du direkt wieder nach Hause, okay?», sagt Lucy zu Billie.
«Klar.»
«Ich meine es ernst. Das Unwetter soll am späten Nachmittag hier ankommen. Ich will, dass ihr dann beide hier seid. Wir können backen oder Brettspiele spielen …»
«Oder uns unter einem Tisch verstecken», unterbricht das Mädchen sie.
Lucy grinst. «Oder wir spielen Brettspiele unter dem Tisch.»
«Oder wir backen unter dem Tisch, Mummy.»
«Super Idee, Scout.»
Die Erinnerung löst sich auf. Plötzlich ist Lucy zurück im Bootshaus der Seenotrettung und erschaudert unter Jakes Blick.
Er runzelt die Stirn und berührt ihren nackten Arm. «Herrje, Luce, du bist ja eiskalt.» Er nimmt eine gelbe Helly-Hansen-Segeljacke vom Haken und legt sie ihr um die Schultern. Sie steckt die Arme durch die Ärmel. «Soll ich dir einen Kaffee aufwärmen? Tee?»
Lucy muss an die kalten Atlantik-Wellen denken. Sie schüttelt den Kopf. «Ich muss nach draußen. Irgendetwas tun.»
«Soll ich jemanden für dich anrufen?»
«Danke, nein. Hör mal, ich weiß, dass du da einen tollen Job machst. Bitte ruf mich an – sobald du Neuigkeiten hast.»
Draußen ist der Himmel schon deutlich dunkler. Das Meer ist mit weißer Gischt marmoriert. Am Geländer des Eingangspodests schaut Lucy hinunter auf den Hafenkai. Boote laufen aus. Fischerboote und Jachten halten Kurs aufs offene Meer vor Mortis Point.
Die Lazy Susan hüpft an der Mole auf den Wellen. Beth McKaylin, die Freiwillige aus der Besatzung der Seenotrettung, steht auf der inneren Mauer der Mole. Sie spricht mit dem Mann von der Küstenwache, dem Hafenmeister und mit zwei Polizisten.
Wo bist du, Daniel? Wo bist du hingefahren?
Den ganzen Morgen hat Lucy darüber nachgedacht, wie sie ihren Mann retten könnte. Ist das sein Versuch, sie zu retten? Ihr Haus und Billies und Fins Leben in Skentel zu retten? Indem er in einem Unwetter verschwindet und ihnen eine Lebensversicherungssumme hinterlässt?
Sie kann das nicht glauben. Will das nicht glauben.
Denn ihr Haus ist nur ein Haus. Und sie könnten überall wieder neu anfangen, aber eine Familie können sie ohne ihn nicht sein.
Lucy schmeckt Galle und zieht ihr Handy hervor. Manchmal hat sie einen oder zwei Balken Empfang auf dem Hafenkai. Im Moment hat sie selbst die nicht. Als sie wieder über das Geländer schaut, entdeckt sie Noemie Farrell draußen vor dem Drift Net. Sie hat sich in einen grauen Wollponcho gehüllt. Lucy ruft nach ihrer Freundin.
Am Fuß der Podesttreppe umarmen sie sich. Dann löst sich Noemie von ihr. «Mein Gott. Ich habe die ganze Zeit versucht, dich anzurufen. Wo warst du bloß?»
«Ich habe gerade mit deinem Bruder gesprochen.»
«Jake?» Noemie atmet tief durch. «Gut, o Mann, also weißt du es. Es tut mir so leid, Luce. Es ist doch lächerlich. Ich habe es nicht geglaubt, als ich es gehört habe. Ich konnte dich nicht erreichen, da bin ich sofort hergekommen. Man weiß doch einfach, dass Daniel da draußen irgendwo sein muss. Vielleicht treibt er in dieser schicken Rettungsinsel herum, und die ganze Aufregung ist ihm höllisch peinlich. Vermutlich ist er deshalb noch nicht wieder aufgetaucht.»
Lucys Kiefermuskeln spannen sich an. Es ist schön, Noemie zu sehen, aber ihre aufgesetzte Heiterkeit ist grauenvoll.
«Hat Jake denn etwas Neues erfahren?», fragt Noemie. «Ich weiß, dass einige von den Fischern rausgefahren sind.»
«Niemand hat seit dem Notruf etwas von Daniel gehört.»
«Wann war das?»
«Ungefähr um halb eins, hat Jake gesagt.»
Die kurze Stille ist bedeutungsschwanger. Noemies angespanntes Lächeln kann das nicht übertünchen. «Er hat die Rettungsinsel erst neulich gekauft, oder?»
«Sie ist brandneu.»
«Hat sie nicht ihr eigenes Süßwassersystem? Vermutlich spuckt sie sogar einen ordentlichen Latte macchiato aus.»
«Positionslichter, isolierter Boden, Ballasttaschen, Taschenlampe und Signalspiegel.» Lucy verzieht das Gesicht. Es kommt ihr vor wie Hohn, bei Noemies optimistischem kleinen Spiel mitzumachen. Plötzlich fällt ihr etwas anderes aus der Seago-Verkaufsbroschüre ein. Und die Erkenntnis ist wie ein Messer, das sich zwischen ihre Rippen bohrt.
«Sie werden ihn finden», sagt Noemie und blickt hinaus aufs Meer. «Ich weiß es.»
Zweifellos weiß sie auch – genau wie Lucy und alle anderen hier –, wie stark die Strömungen an diesem Teil der Küste sind, wie brutal der Nordatlantik am Ende des Winters sein kann. Skentel hat immerhin eine tausendjährige Tradition, seine Einwohner ans Meer zu verlieren.
«Ich habe ihn seit Billies Party nicht mehr gesehen», fügt Noemie hinzu. «Wie ging es ihm denn in letzter Zeit?»
«Gut», lügt Lucy. «Besser. Viel besser sogar.»
«Was ist denn aus der Sache mit Nick geworden? Und wie läuft es insgesamt mit dem Unternehmen? Hat Daniel …»
«Ich muss mit der Küstenwache sprechen», sagt Lucy. «Und mit Beth McKaylin.»
Noemie zögert kurz und nickt dann. «Wenn das so ist, dann gehe ich mal lieber weiter.»
Sie überqueren den Hafenkai und gehen die Mole entlang. An der Lazy Susan sind keine Schäden zu erkennen. Sie ist vierzig Jahre alt und hat einen Glasfaserrumpf, der so hart ist wie ein Panzer, und die meisten wichtigen Teile sind schon seit Langem erneuert. Alles sieht ordentlich und nett aus, genau, wie es sein sollte.
Als Lucy näher kommt, verstummt das Grüppchen neben der Jacht.
Beth McKaylin ergreift als Erste das Wort, wobei sie Lucy in ihrer geliehenen Seenotrettungsjacke mit offensichtlicher Missbilligung mustert. «Du hast verdammt viel Glück gehabt, dass wir sie gefunden haben. Zehn Minuten später, und sie hätte auf dem Meeresgrund gelegen.»
Die Einwohner von Skentel sind an Beths Ruppigkeit gewöhnt. Aber das hier ist persönlich – sie beide haben eine gemeinsame Geschichte. Wut steigt in Lucy auf. «Das Boot ist mir scheißegal», sagt Lucy. «Daniel ist noch da draußen.»
«Ganz genau, und wir werden ihn sicher finden – wenn er das will.»
Lucy starrt sie außer sich vor Zorn an. Es ist erschreckend, wie schnell alle – von ihrer besten Freundin bis hin zu Beth McKaylin – ein Urteil parat haben. Vor ein paar Augenblicken hatte sie noch selbst darüber nachgedacht, ob Daniel vielleicht absichtlich verschwunden ist. Aber nicht, weil er sie verlassen wollte. Sondern ganz im Gegenteil.
Bevor sie ihren Ehemann verteidigen kann, räuspert sich einer der Männer von der Küstenwache. «Ich bin Sean Rowland, Stationsbeamter von der Küstenwache in Redlecker. Ich nehme an, Sie sind Daniels Partnerin?»
Rowlands Hand fühlt sich beruhigend rau an, als Lucy sie schüttelt. «Lucy Locke. Ich bin Daniels Ehefrau.»
«Das hier ist Ihr Boot?»
«Unser beider Boot, ja.»
Er nickt aufmunternd. «Das Peilgerät hat die Position Ihres Mannes errechnet, obwohl er sie selbst nicht durchgegeben hat. Das hat uns dabei geholfen, das Suchgebiet einzugrenzen. Wie Sie sehen, haben wir die Jacht bereits gefunden. Er kann nicht allzu weit abgetrieben sein.»
«Ein Sturm zieht auf.»
Rowland schaut in den Himmel. «Das bedeutet, dass wir schneller arbeiten müssen, um diese Sache zu Ende zu bringen. Sie müssen sich bloß umschauen, dann sehen Sie, wie viel Aufwand wir betreiben, um ihn zu finden. Daniel ist ein erfahrener Steuermann?»
«Sehr erfahren.»
Lucy kommt ein Gedanke. Sie hat sich bisher nicht damit auseinandersetzen wollen, aber jetzt hat sie keine Wahl mehr. Denn zusätzlich zu den tausend Besonderheiten, die sie Noemie aufgelistet hat, ist die Seago-Rettungsinsel mit drei roten Handfackeln und zwei Fallschirmraketen ausgestattet. Sie fragt Rowland: «Hat jemand da draußen eine rote Handfackel leuchten sehen?»
«Meines Wissens ist nichts dergleichen berichtet worden.»
Lucy lässt die Antwort auf sich wirken. Eine Welle kracht an die Außenwand der Mole, salzige Tröpfchen benetzen ihre Wangen. Es sind nur sechs Wochen vergangen, seit Daniel und sie hier oben saßen und die Beine baumeln ließen. Damals schneite es über dem Meer. Sie trugen pelzgefütterte Parkas, hatten Sektflöten aus dem Drift Net mitgebracht und schauten den wirbelnden Flocken zu, die so wunderschön waren, dass es ihnen beiden die Sprache verschlug.
Sie sieht zur Lazy Susan hinüber und versucht, das Summen in ihrem Kopf zum Verstummen zu bringen. «Ich schaue mich da unten lieber mal um. Sehe nach, ob dort …»
«Es wäre vermutlich besser, wenn Sie das nicht täten.» Die Polizistin tritt vor. Sie ist größer als ihr Kollege. Blondes Haar, breite Hüften. «Noch nicht. Wir versuchen immer noch nachzuvollziehen, was geschehen ist.»
«Aber Daniel hat vielleicht eine Notiz hinterlassen. Irgendetwas, das …»
Beth McKaylin stöhnt. «Warum sollte jemand auf einem sinkenden Schiff eine Notiz hinterlassen?»
«Wenn ich nicht blind bin, würde ich sagen, dass sie nicht gesunken ist», fährt Lucy sie an. «Und es könnte alle möglichen Gründe dafür geben, dass er …»
«Es gab da keine Notiz. Die Luke stand offen, als wir das Boot gefunden haben. Ich bin runtergeklettert und habe mich gründlich umgesehen. Da unten muss eine Menge Holz trocknen, aber mehr wirst du da nicht finden.»
Der Gedanke an Beth McKaylin, wie sie in ihrer Privatsphäre herumwühlt, lässt Lucys Haut prickeln. «Was ist mit unserer Rettungsinsel? Habt ihr die gefunden?»
An Beths Gesichtsausdruck sieht sie, dass sie danach gar nicht Ausschau gehalten haben. Frustriert wendet sich Lucy an Rowland. «Daniel hatte eine Seago-Rettungsinsel für sechs Personen an Bord. Knallgelb. Sie hat die Größe eines Kleinwagens, wenn sie aufgeblasen ist, und ein großes blinkendes Solarlicht auf dem Dach. Wir sollten versuchen herauszufinden, ob sie zu Wasser gelassen wurde, meinen Sie nicht auch?»
«Sie hat recht», sagt Rowland. «Die Rettungsmannschaften müssen das wissen. Der Hubschrauberpilot auch.»
«Wo wird sie denn normalerweise aufbewahrt?», fragt die Polizistin.
Lucy zeigt auf das Cockpit der Lazy Susan. «Entweder backbord oder in den Steuerbordfächern. Wenn Sie mich nur eben …»
«Warten Sie hier.»
Die Frau geht auf der Mole zurück und spricht dabei in ihr Funkgerät. Eine Minute später ist sie schon wieder zurück. Aus ihrem Utility-Gürtel zerrt sie zwei Latexhandschuhe und zieht sie über. Dann betritt sie die Jacht und geht vor den Backbordfächern im Cockpit in die Hocke. «Das ist verriegelt. Sie sind beide abgeschlossen.»
Lucys Magen zieht sich zusammen. In einem Notfall hätte Daniel das Fach auf keinen Fall wieder verriegelt. «Hier.» Sie wirft ihre Schlüssel an Bord. «Der kleine silberne.»
Einen Moment später hebt die Polizistin den Deckel des Fachs an. «Beschreiben Sie mir das Ding.»
«Sieht aus wie eine große Tasche. Cremefarben, mit einem schwarzen Netz gesichert. Sollte deutlich gekennzeichnet sein.»
«So was ist hier nicht drin.»
«Sehen Sie im anderen Fach nach.»
Die Polizistin öffnet das Steuerbordfach. «Okay, ich habe hier Tau, eine ganze Menge Tau. Einen Feuerlöscher, einen Grill, einen Benzinkanister. Ah, warten Sie mal. Doch. Große cremefarbene Tasche mit dem Seago-Logo darauf. ‹Rettungsinsel›, steht hier.»
Plötzlich ist da keine Luft mehr in Lucys Brust. Sean Rowland neben ihr kann seine Bestürzung kaum verbergen. «Es tut mir leid, Mrs Locke. Das wollten Sie ganz bestimmt nicht hören. Es muss alles sehr verwirrend sein.»
Lucy nickt, obwohl das nicht stimmt. Die Tatsachen könnten keine klarere Sprache sprechen. Daniel ist mit der Lazy Susan aufs Meer hinausgefahren. Er hat einen Notruf abgesetzt. Und jetzt wird er vermisst – im Nordatlantik in der kältesten Zeit, ohne die Seago-Rettungsinsel, die so teuer war.
An diesem Morgen sollte er die letzten Entlassungen bei Locke-Povey Marine vornehmen. Als er gestern Nacht darüber nachdachte, wurde ihm körperlich übel.
«Besitzt Mr Locke ein Auto?»
Der Schrei einer Silbermöwe lenkt Lucys Blick auf den Hafenkai.
Bisher hatte sie gar nicht an Daniels Volvo gedacht. Ist er zu seiner Werkhalle gefahren, wie er es ihr gesagt hat? Oder ist er vom Haus direkt zum Hafen gefahren? All die markierten Parkplätze am Kai sind belegt. Der winzige Parkplatz am südlichen Ende wird von der Mole verdeckt. Könnte der Volvo dort stehen? Er war nicht am Smuggler’s Tumble. Sonst gibt es hier nicht mehr viele Stellen, an denen man sein Auto lassen kann.
«Mrs Locke?»
Sie dreht sich um. Der Polizist starrt sie an. «Ein Volvo XC90. Dunkelgrau.»
«Der große SUV?»
Lucy nickt.
«Ich bin Police Constable Lamb», sagt er. «Das hier ist Police Constable Noakes. Da Mr Locke vor der Küste verschwunden ist, koordiniert die Küstenwache die Suche und Rettung, aber wir brauchen dennoch ein paar Einzelheiten von Ihnen. Gibt es einen Ort, an dem wir reden können?»
Lucy wirft einen Blick auf die Lazy Susan. Sie ist versucht, an Bord zu springen und durch die Luke zu klettern, nur um sich die Kabine selbst noch einmal anzusehen, aber wie bekloppt würde das wirken? Sie braucht diese Leute auf ihrer Seite. Jetzt im Moment ist ihre Rolle, Daniels vertrauenswürdige Vertreterin an Land zu sein.
Ihre Rolle ist, seine Frau zu sein.
Das Drift Net steht in bester Lage auf Skentels Hafenkai. Die großen Fenster zu beiden Seiten der Tür bieten einen Panoramablick aufs Meer. Im Moment ist das Glas beschlagen, eine Folge sowohl der nahenden Unwetterfront als auch der Espresso-Maschine, die drinnen auf Hochtouren läuft.
Geschäfte öffnen und schließen in Skentel mit deprimierender Regelmäßigkeit. Leute aus der Stadt, vom Leben als Angestellte großer Unternehmen enttäuscht, kommen hierher mit romantischen Vorstellungen im Gepäck, die sie als Business-Pläne verkaufen. Sie sehen die Stadt im Sommer, wenn es hier vor Touristengeldbeuteln nur so wimmelt, und beschließen, dass es genau der richtige Ort für ihre Kleinbrauerei, für ihre Bio-Orangensaftbar oder ihren Plattenladen wäre. Dann folgt die große Eröffnung: Tabletts mit Prosecco-Gläsern und vor Begeisterung gerötete Gesichter. Und sechs Monate später – vielleicht ein Jahr, wenn der Kredit für das Haus umfinanziert oder ein Erbe verprasst werden kann – ist der Lagerbestand verschwunden, die Tür verrammelt, und die Fenster werden zu Plakatwänden für den Zirkus, der als Nächstes durch das Städtchen zieht.
Grundsätzlich überleben hier nur zwei Sorten von Unternehmen: lokale Geschäfte, die Grundbedürfnisse der Einwohner abdecken wie die Apotheke oder die Post, oder aber Läden für die Hochsaison, die während der Sommermonate genug Geld einnehmen, um den Winter über schließen zu können.
Lucy hat mit ihrem Lokal von Anfang an sowohl auf die Touristen als auch auf die Einheimischen gezielt. Um Erfolg zu haben, musste ihr Unternehmen ein Chamäleon sein, das seine Haut mit den Jahreszeiten änderte: ein Treffpunkt für einheimische Stammkunden, aber auch für Gäste auf Erkundungstour.
Nach einer schwierigen Phase, in der die Finanzierung oft am seidenen Faden hing, wurde das Drift Net geboren. Das Geburtstrauma war nichts gegen die Unsicherheit, die darauf folgte. In den ersten sechs Monaten glaubte Lucy nicht ein einziges Mal, dass sie noch ein weiteres Jahr überleben würden. Die Leute beharrten darauf, dass das Konzept nicht aufgehen würde. Dass sie ihre Zielgruppe einengen, ihren Optimismus dämpfen und ihren Ehrgeiz herunterregeln müsse.
Und doch hielt sich das Drift Net irgendwie. Sechs Jahre nach der Eröffnung hat es sich sehr verändert – jetzt ist es eine Kneipe, in der Live-Musik gespielt wird, und gleichzeitig eine Galerie für hiesige Künstler. Sie hat in London gesehen, dass diese Kombination funktionieren kann. Und wider Erwarten funktionierte sie hier sogar noch besser. Inzwischen zieht das Drift Net Bands an, die normalerweise niemals so weit im Westen auftreten würden. Trotz der großen Namen hat Lucy immer darauf geachtet, den Talenten aus der Gegend den Vorzug zu geben. In der Folge hat sie inzwischen eine große Zahl von Musikliebhabern als Gäste, die von weit her kommen.
Tagsüber verwandelt sich das Drift Net in ein günstiges Restaurant und bietet eine sich ständig weiterentwickelnde Speisekarte an. Es dient als Veranstaltungsort für Reden, für Spendensammelaktionen der Seenotrettung und als Treffpunkt für Menschen, die mit der Einsamkeit oder ihrem Kummer nach dem Verlust eines geliebten Menschen kämpfen. Lucy arbeitet mit allen möglichen Wohltätigkeitsorganisationen zusammen, um Erwachsenen mit speziellen Bedürfnissen oder Ex-Häftlingen Stellen zu vermitteln. Skentels Clubs und Vereine dürfen die Räumlichkeiten gratis nutzen.
Lucy wird immer wieder für ihren Erfolg gelobt. Aber sie hat eigentlich nur die Saat gesät und die Schösslinge beschützt. Der Erfolg des Drift Net hat viel mehr mit Heldinnen wie Bee zu tun, die es tagsüber managt, und mit Tyler, der nach Sonnenuntergang übernimmt. Eins weiß jeder in der Stadt ganz genau: Sechs Jahre nach der Eröffnung kann man sich Skentel ohne sein Lokal am Hafenkai nicht mehr vorstellen.
Lucy stößt die Tür auf, und ein Schwall warmer Luft hüllt sie ein. Sie riecht frisch gebackene Kuchen und gemahlenen Kaffee. Es ist ein großer, weitläufiger Raum mit niedriger Decke, und all das Holz hier lässt das Licht ganz honiggelb wirken. Die Theke besteht aus einem einzigen Stück Eiche, das von einer ausgemusterten Marine-Schaluppe stammt. Sie ist mit Lichterketten geschmückt, die die ledergepolsterten Hocker davor beleuchten.
Von den zwanzig Tischen im Drift Net sind über drei Viertel besetzt. Über dem Surren der Kaffeemaschine und dem Zischen des Milchaufschäumers hört man das Stimmengewirr der Gespräche.
Alle verstummen, als Lucy das Lokal betritt. Ganz offensichtlich ist die Nachricht von Daniels Verschwinden auch bis hierher vorgedrungen. Die Gäste wenden die Blicke ab, wenn sie sie ansieht. Wie sehr die Menschen fürchten, persönliches Leid könne ansteckend sein, ist erschütternd. Ein erwiderter Blick, eine Berührung, und das Unglück färbt ab.
Die Polizeipräsenz wirkt wie ein Katalysator: Innerhalb von Sekunden branden die Gespräche wieder auf, lauter als vorher. Lucy schlängelt sich vorsichtig durch das Lokal. Die Bahnhofsuhr an der Wand gegenüber zeigt die Zeit an: zwanzig vor drei. Zwei Stunden sind jetzt nach Daniels Notruf vergangen. Lucys Angst steckt wie ein Granatsplitter in ihrem Kopf.
Bee steht neben ihrem neuen Freund Tommo hinter dem Tresen. Trotz ihres Einhorn-T-Shirts und dem comichaft pinkfarbenen Haar könnte sie nicht mitgenommener aussehen. «Luce», sagt sie. «Alter. Wir haben es gerade gehört. Als ich zu dir kam, hatte ich ja keine Ahnung. Es tut mir ja so leid, dass ich …»
«Hör auf», sagt Lucy. «Im Ernst. Du hast keinen Grund, dich zu entschuldigen. Ich muss mit der Polizei sprechen. Könntest du die Küche offen halten? Je mehr Leute wir hier hineinbekommen, desto mehr können wir erreichen.»
«Klar», sagt Bee. Sie wendet sich an Tommo – Ende dreißig, weicher Bauch, ein T-Shirt, auf dem steht: WENN DAS LEBEN DIR ZITRONEN GIBT, HOL DIR SALZ UND TEQUILA DAZU. «Ich brauche dich hier noch ein bisschen.»
Er nickt, ein gehorsamer Welpe. Zu Lucy sagt er: «Solche Dinge werden uns geschickt, um uns auf die Probe zu stellen. Sei stark, dann schaffst du das.»
Sie sieht zu, wie Bee den Arm um seine Taille schlingt. Dann führt Lucy ihr kleines Grüppchen an einen Tisch und schält sich aus ihrer Regenjacke.
PC Noakes holt ein Notizbuch hervor. «Mr Lockes Geburtsdatum?»
«13. Januar 1979. Er ist zweiundvierzig.»
«Können Sie ihn beschreiben?»
«Eins achtundsiebzig, durchschnittlicher Körperbau.»
Lucy hält inne und runzelt die Stirn. Es ist jämmerlich wenig, aber wenn sie die Augen schließt, kann sie sich ihren Daniel überhaupt nicht vorstellen, nur diesen verloren dreinblickenden kleinen Jungen vom Polaroid. Das macht ihr solche Angst, dass sie die Augen wieder aufreißt.
«Haarfarbe?»
«Schwarz», keucht sie. «Und er hat blaue Augen. So blau wie dieses Wassereis, wissen Sie? Dieses Slush-Eis.» Sie schüttelt den Kopf. «Es tut mir leid, ich … ich rede ziemlich dummes Zeug.»
«Irgendwelche besonderen Merkmale? Geburtsmale?»
Die Frage ist ihr sichtlich unangenehm. Niemand wird Daniel anhand eines Geburtsmals finden, aber vielleicht brauchen sie die Angabe, um ihn später zu identifizieren. Elf Kilometer kaltes Meer liegen zwischen hier und der Stelle, an der er verschwunden ist. Und die fallende Quecksilbersäule im Barometer ist der Beweis, dass sich etwas ganz Schreckliches nähert.
«Mein Mann hat eine Narbe auf dem rechten Unterarm», sagt sie. «Ungefähr zehn Zentimeter lang. Ein Ankerflügel hat ihn aufgerissen.»
Lucy zeichnet die Form auf ihrem nackten Arm nach. Jetzt entsteht ein Bild vor ihrem inneren Auge: Daniel, wie er tot auf einer Krankenhausbahre liegt. Die Narbe auf seinem Unterarm leuchtet weiß auf seiner Haut. Es ist ein so schreckliches Bild, dass ihr Kinn zu zittern beginnt.
Noakes hat jetzt alles aufgeschrieben. «Können Sie mir sagen, wann Sie Mr Locke zum letzten Mal gesehen haben?»
«Bitte», sagt sie. «Nicht diesen ‹Mr und Mrs›-Kram. Sein Name ist Daniel. Sie können mich Lucy nennen. Ich habe ihn zuletzt um acht Uhr heute Morgen gesehen.»
«Hat er Ihnen irgendeinen Hinweis darauf gegeben, wo er hinwollte?»
Wieder kommt eine Erinnerung in ihr hoch: Daniel in der Küche, wie er durchs Fenster zu den bleigrauen Wolken aufsieht. «Er hat mir gesagt, er wolle zur Arbeit fahren.»
«Und wo wäre das?»
«Locke-Povey Marine, eine Ausstattungsfirma. Seine Werkhalle steht ganz oben am Strand von Penleith.»
«Er leitet die Firma? Sie gehört ihm?»
«Er leitet sie, und sie gehört ihm zur Hälfte. Sein Geschäftspartner ist» – ein Betrüger, ein Schwindler, der Zerstörer alles Guten – «Nick Povey. War Nick Povey.»
«War?»
«Ihre Wege haben sich getrennt.»
«Mr Povey stammt von hier?»
«Ja.»
«Haben Sie mit ihm gesprochen?»
«Heute Morgen nicht.»
«Haben Sie seine Kontaktdaten?»
«Natürlich.»
Noakes beginnt wieder zu kritzeln. «Angestellte?»
«Zwanzig oder so. Wobei nicht alle da gewesen sein werden. Er … Sie … sie müssen sich verkleinern.»
«Wissen Sie, ob einer von ihnen Daniel vielleicht heute noch gesehen hat? Oder mit ihm gesprochen hat, seit er das Haus verlassen hat?»
«Keiner geht ans Firmentelefon. Kunden rufen meistens gleich auf Daniels Handy an. Es ist ziemlich laut dort. Sie gehen nicht immer ans Telefon.»
«Sie waren nicht dort?»