Der Maler - Marcel Daniel - E-Book

Der Maler E-Book

Marcel Daniel

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Beschreibung

Würdest du etwas Furchtbares tun, um die Welt vor einem vermeintlichen Unglück zu bewahren? Vor 200 Jahren steht die Zauberin Agatha Heimlich genau vor dieser Entscheidung. Vom Hohen Rat hat sie den Auftrag bekommen, ein Kind zu töten. Einen kleinen Jungen, Malakai, mit einer unglaublich großen, magischen Kraft. Ein Kind mit dem Potential, der vielleicht größte Magier zu werden, den die Welt jemals gesehen hat. Doch genau davor fürchten sich die Mitglieder des Hohen Rates. Die Angst vor einem womöglich überstarken Magier oder gar einer unkontrollierbaren Magie ist größer als ihre ethischen Bedenken. Doch als das Kind schlafend vor ihr liegt, entscheidet Agatha Heimlich anders. Anstatt den Jungen zu töten, verschließt sie den Großteil seiner magischen Energie tief in dem Kind und versiegelt den Zauber mit einem magischen Schlüssel. So ist die mögliche Gefahr, die von dem Kind ausgeht, gebannt. Zehn Jahre später gelangt der Schlüssel in den Besitz von Luna, einem zwölfjährigen, abenteuerlustigen Mädchen. Durch Zufall oder Schicksal, das zu entscheiden bleibt jedem selbst überlassen, kreuzen sich die Wege von Malakai und Luna. Als dieser versucht Luna zu verzaubern und ihre Lebensenergie zu stehlen, geschieht ein Unglück. Der Zauber schließt die beiden in sich ein und sie erwachen erst viele Jahre später, in unserer heutigen Zeit, wieder. Hier steht ihr Leben grundlich Kopf. Nicht nur ist Malakais Zauberkraft auf unerklärliche Weise verschwunden, auch hat Lunas Seele ihren Körper verlassen und hat sich in Malakai eingenistet. So existiert sie für die Außenwelt nicht und kann nur von Malakai, als Stimme in seinem Kopf, verstanden werden. Die beiden werden in dem Internat 'Haus Fichtenruh' untergebracht, welches zunächst einen guten Eindruck auf die beiden macht. Doch dann erfahren sie auf ihren nächtlichen Streifzügen, dass in dem Internat immer wieder Kinder auf geheimnisvolle Weise verschwinden und eine Gruppe finsterer Magier in dem Haus ihr Unwesen treibt. Gemeinsam machen Luna und Malakai sich auf, das Rätsel zu lösen, doch geraten sie dabei selbst in große Gefahr. Wem können sie vertrauen und wer gehört zu den dunklen Magiern?

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Danksagung

Nachdem das Buch geschrieben, alle Kapitel zusammengeführt und es in zwei Schleifen überarbeitet wurde, fehlte noch eine wichtige Sache, bevor das Buch in den Druck gegeben werden konnte: Ein(e) zuverlässige(r) Lektor(in), welche(r) meine zahlreichen Schreibfehler, ungenauen Formulierungen und logischen Lücken aufdecken und redigieren kann. Besonders schwierig war diese Aufgabe, da ich eineinviertel Jahre an dem Text gearbeitet hatte und empfindlich auf Kritik an dem Buch reagierte. Von daher brauchte es eine besondere Person, mit Ausdauer, Hartnäckigkeit, Ehrlichkeit und sehr guten Germanistikkenntnissen. Zum Glück vereinen sich alle diese Fähigkeiten in meiner Frau, Marie Daniel, welche die Aufgabe übernahm und Abend für Abend das Buch durcharbeitete und mir unendlich viel dabei half, es in seine jetzige Form zu bringen.

In Liebe, Marcel

Inhaltsverzeichnis

Ein neuer Meister und ein neuer Schüler

Luna Isabelle Michot

Ein verkaufsreicher Tag auf dem Markt

Lunas und Frau Heimlichs Geheimnis

Eine böse Überraschung

Willkommen in Haus Fichtenruh

Geflüster im Flur

Der erste Schultag

Das Völkerballspiel

Gefundene und verschwundene Beweise

Ein zweiter Zauberer

Eine magische Welt

Eine romantische Beziehung

Keine Magie für Dummheiten

Ein neuer Mitschüler

Eine zauberhafte Mühle

Der Miese Fiese

Ein geheimes Treffen

Die Falle

Fräulein Daum

Tim wird entführt

Ein Traum, Nebel und Schnee

Malakais Tod

Der wahre Malakai

Ein neuer Meister und ein neuer Schüler

Langsam verzog sich der dichte Rauch aus dem Zimmer und gab, wie ein Vorhang in einem Theater, welcher langsam hochgezogen wird, den Blick frei auf die Szene, welche sich dort abspielte. Eine Frau hockte, auf alle viere gestützt, auf dem Boden. Gegen den Rauch hatte sie ein Stück ihres langen schwarzen Umhangs vor den Mund gepresst. Trotzdem kratzte es in ihrem Hals entsetzlich und sie musste heftig husten. Ihre Augen waren durch den Rauch gereizt und rot unterlaufen und durch den dicken Tränenschleier konnte sie kaum etwas erkennen. War es vorbei? Sie blinzelte und wischte sich mit der Hand die Tränen aus den Augen. Nach und nach konnte sie die Umgebung wieder besser wahrnehmen. Alles in dem großen Saal war verkohlt, der Boden, die einzelnen Möbel, die Wände sowie die hölzerne Treppe, welche hinauf zu dem ersten Stock führte, wo die Mutter des Jungen lag. Sie fühlte eine Erschöpfung, so groß, wie sie es niemals für möglich gehalten hätte. Doch mit aller Kraft zwang sie sich aufzustehen. Sie hasste sich für das, was sie getan hatte und für das, was sie noch tun musste. Suchend schaute sie sich in dem großen Raum um, bis ihr Blick schließlich auf den kleinen Jungen fiel, welcher schlafend in der Mitte des Saals auf dem Boden lag. Kreisrund, um das Kind herum, war der einzige Fleck, welcher nicht durch die Flammen verbrannt worden war. Plötzlich erhob sich hinter dem Kind, mit zitternden Beinen, eine zweite Gestalt. Trotz des von Asche und Rauch geschwärzten Gesichtes erkannte sie in der Gestalt Sorin, einen ihrer drei getreuen Schüler, welche ihr heute beigestanden hatten. Die anderen beiden hatten es nicht geschafft und waren, wie alles andere auch, zu Asche verkohlt.

Verbittert schüttelte sie den Kopf. Dies alles, um den wahrscheinlich größten Magier, den die Welt jemals erlebt hatte, daran zu hindern, wahrlich groß zu werden. Der hohe Rat der Zauberer hatte entschieden, dass dieses Kind eine zu große Gefahr darstellte und letztlich sie mit der Aufgabe betraut, dass Notwendige zu tun. Mit wackligen Schritten ging sie auf den Jungen zu, welcher wie auf einer unberührten Insel inmitten eines Ozeans aus Asche zu schlafen schien. Vor wenigen Augenblicken war der Knabe noch vollkommen unaufhaltsam, wie eine Naturgewalt, gewesen und hatte die Welt um sie herum in Feuer und Glut verwandelt. Durch Glück, das musste sie sich eingestehen, hatte sie das Kind mit einem wirksamen Schlafzauber getroffen und damit das Drama beendet. Noch nie hatte sie solch eine Energie bei einem anderen Magier gespürt. Sie schaute zu dem kleinen Jungen hinab und fragte sich, was aus ihm wohl hätte werden können. Sogleich schoss ihr die Antwort durch den Kopf. Wahrscheinlich das Ende der Welt, ermahnte sie sich und trat noch näher an das Kind heran. Es war unfähig seine magischen Kräfte zu kontrollieren. Wenn der Junge sie entfesselte wüteten sie in ihm, viel zu stark, als dass er sie beherrschen könnte. Vielleicht könnte er es doch schaffen, wenn er erst älter wäre, drängte sich ein Gedanke aus den tiefen ihres Gewissens auf. Schnell schob sie ihn wieder beiseite. Jetzt war nicht die Zeit, um schwach zu werden. Jetzt war ohnehin alles zu spät. Das Kind durfte nicht leben, zu viel stand auf dem Spiel. Sie stand über dem Jungen und hob die Hände vor sich. Sogleich bildete sich ein grün funkelnder Nebel um ihre Hände herum. Sie erschuf einen Schlafzauber, einen, aus welchem das Kind nie wieder erwachen würde. Jetzt war es so weit. Sie musste den Zauber nur noch aktivieren und es wäre getan. Laut hämmerte ihr Herz in ihrer Brust. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie würde es tun, nein, sie musste es tun. Doch nach wenigen Augenblicken ließ sie Hände wieder sinken und der funkelnde Nebel verschwand. Sie konnte es nicht. Sogleich tauchte Sorin neben ihr auf. „Soll ich es tun?“, fragte er entschlossen. Sorin, dachte sie, einer ihrer begabtesten, doch zugleich kaltherzigsten Schüler.

„Nein! Ich habe mich umentschieden.“, sagte sie bestimmt und folgte einer Eingebung, welche in ihrem Kopf langsam Gestalt annahm. „Ich werde die Magie des Jungen eindämmen.“, sagte sie, noch während der Gedanke sich voll entfaltete, „und einen mächtigen Bannzauber erschaffen, welcher den Großteil seiner magischen Energie einschließen wird.“ Gedanklich fügte sie noch hinzu, wenn es gelingt, kann dieses Kind leben, ohne dass wir fürchten müssen, dass es die ganze Welt zerstört. Und wenn es nicht gelingt… Nun, darauf würde sie es wohl ankommen lassen. Sogleich darauf griff sie in ihren langen Umhang, holte ein kleines Stück Kreide hervor und begann damit auf den schwarz verkohlten Boden zu malen. Sorin trat an ihre Seite. „Aber der hohe Rat hat anders entschieden.“, protestierte er. „Der hohe Rat hat mir nichts mehr zu befehlen.“, entgegnete sie trotzig und ohne von ihrer Arbeit aufzublicken. In diesem Moment schwor sie sich, dass, wenn diese Sache erledigt war, sie die Zauberei aufgeben und nie wieder Magie benutzen würde.

Auf dem schwarz-verkohlten Untergrund konnte man gut ihre Kreidezeichnung in Form einer Spirale erkennen. Als die Zaubermeisterin fertig war, blickte sie zu Sorin empor. „Hol den Jungen und lege ihn vorsichtig hierauf.“ sagte sie. Etwas unsicher trat Sorin an das Kind heran. Auf keinen Fall wollte er den kleinen Teufel aufwecken. Vorsichtig schob er seine Hände unter den Jungen, sachte und langsam, Stück für Stück. Behutsam stand er auf, trug ihn zu der Zeichnung und legte ihn auf diese ab. Erleichtert stellte er fest, dass der Junge von all dem nichts mitbekommen zu haben schien und weiter schlief. Die Meisterin ging an das schlafende Kind heran, streckte ihre Arme mit den Handflächen nach unten aus, sodass diese genau über dem Jungen waren. Nach wenigen Augenblicken bildeten sich kleine winzige Tröpfchen über der Stirn des Kindes, welche wie schimmerndes Wasser aussahen. Die Tropfen reihten sich zu einer langen Kette auf und flossen schließlich zu einem größeren Tropfen zusammen. Sorin trat näher heran, um diesen besser betrachten zu können.

„Ist das…?“, fragte er, ohne jedoch die Frage zu beenden. Doch die Meisterin wusste auch so, was er meinte. „Ja, das ist Magie. Zumindest ein kleiner Teil seiner Magie.“ Unter ihren Händen verformte sich der Tropfen zu einem dünnen Sprühnebel, welcher über den Jungen hinweg in die auf dem Boden gezeichnete Spirale niederrieselte. Einen kleinen Moment floss das schimmernde Wasser die Spirale entlang, bis diese zu schrumpfen begann und schließlich unter dem schlafenden Jungen verschwand. Letztlich hatte sich der gesamte Nebel aufgelöst und die Meisterin ließ erschöpft ihre Hände sinken.

Sorin blickte sie unsicher an. „Das war‘s?“ fragte er verwundert.

„Ja, das war‘s.“ antwortete sie knapp. Sie ging zu dem Kind, drehte es behutsam auf die Seite und fischte unter dessen Rücken ein kleines schimmerndes Amulett hervor. Als Sorin es sah, weiteten sich seine Augen. „Ist das…?“, fragte er, erneut, ohne seine Frage zu beenden.

Und wieder kannte die Meisterin seine Frage. „Ja, das ist ein Amulett aus reiner Magie und es ist gleichzeitig der Schlüssel, um meinen Bannzauber zu brechen. In den falschen Händen könnte dieses Amulett großen Schaden anrichten. Ein machtgieriger Magier könnte versucht sein, sich die Magie aus dem Amulett selbst einzuverleiben.“

Sie drehte Sorin den Rücken zu und steckte das Amulett schnell in ihren Mantel. Betrübt schloss sie ihre Augen und hoffte inständig, dass ihr Gefühl sie trügen würde. Doch schon im nächsten Augenblick wurde sie enttäuscht. Von Beginn an hatte sie die dunkle, die gierige Seite in Sorin gespürt, doch stets hatte sie die Hoffnung gehegt, dass er ihr folgen und nicht eines Tages seiner Machtgier erliegen würde. Nun musste sie erkennen, dass sie sich geirrt hatte. Sobald Sorin das Amulett gesehen und erkannt hatte, welche Macht in diesem steckte, war es um ihn geschehen. Eisiges, gieriges Verlangen stieg in ihm auf. Mit diesem Amulett würde er Macht und wahre Größe gelangen. Der Wunsch es zu besitzen, wurde unabwendbar. Er wollte, nein, er musste es einfach haben. Eine solche Gelegenheit kam vielleicht nie wieder, doch war er seiner Meisterin überhaupt gewachsen? Schnell unterdrückte er diese störenden Gedanken. Jetzt war nicht der Moment des Zweifelns. Jetzt war der Moment des Handelns. Sie hatte ihm den Rücken zugedreht und war von dem Bannzauber noch geschwächt, eine bessere Gelegenheit, um sie zu überwältigen, würde sich so schnell nicht wieder bieten. Dunkle, finstere Gedanken breiteten sich in ihm aus und erfüllten ihn letztlich vollständig. Macht, er wollte mehr Macht und war bereit alles dafür zu tun. Sein Atem beschleunigte sich, seine Muskeln spannten sich an. Er fühlte sich wie ein Raubtier, kurz bevor es über seine Beute herfällt, wie ein Vulkan, Sekunden vor dem Ausbruch. Sorin nahm seine ganze Kraft zusammen. Dieser eine Angriff musste sitzen. Er hob seine rechte Hand, streckte diese aus, sodass sie genau auf den Rücken seiner Meisterin zeigte. Dann aktivierte er den Zauber. Magische Energie durchströmte seinen Körper. Sie fühlte sich an wie elektrischer Strom. Im Bruchteil einer Sekunde floss Magie aus seiner Körpermitte in seine ausgestreckte Hand, bündelte sich dort zu einem mächtigen Strahl und schoss auf den Rücken von Agatha Heimlich, seiner Meisterin zu. Mit einem lauten Zischen traf der Zauberstrahl auf das Gewand der Zaubermeisterin und… ging mitten durch dieses hindurch. Der schwarze Umhang, welchen sie noch vor wenigen Augenblicken getragen hatte, wies nun ein großes Loch in seiner Mitte auf und segelte langsam nach unten auf den verkohlten Boden. Agatha Heimlich war verschwunden. Wie hatte sie das gemacht? Nie hatte er sie von einem Teleportationszauber reden gehört. Frustriert stellte er fest, dass sie ihn scheinbar doch nicht alles gelehrt hatte, was sie wusste. „Verflucht!“, schrie Sorin erbost auf. Da bemerkte er aus den Augenwinkeln heraus eine Bewegung hinter sich. Blitzschnell drehte er sich um und rechnete fest damit, dass Agatha Heimlich in seinem Rücken wieder aufgetaucht sei. Doch stattdessen hatte er mit seinem Geschrei den kleinen Jungen mit den schwarzen krausen Haaren geweckt. Sorins Herz setzte einen Schlag aus. Eben noch hatte er sich für ein Raubtier gehalten, doch nun fühlte er sich wie die Beute. Die Hände schützend vor sich gestreckt, ging er langsam rückwärts. „Bleib bloß weg von mir, du Teufel!“, schimpfte Sorin und stolperte dabei über einen auf dem Boden liegenden Hocker. Als er mit dem Rücken aufschlug, presste ihm die Wucht des Aufpralls die Luft aus seinen Lungen. Vor Schmerz schloss er die Augen. Als er sie wenige Sekunden später wieder öffnete, stand der Junge direkt über ihm. Vor Entsetzen schrie Sorin laut auf. Reflexartig riss er die Hände vor sein Gesicht und erwartete das Schlimmste. Als jedoch nichts geschah, nahm er sie langsam wieder herunter. Der Bannzauber muss wirken, bemerkte Sorin Palmer. Der Junge vor ihm war nicht mehr der kleine Teufel, welcher vorhin alles in eine Flammenhölle verwandelt hatte. Verlegen lachte er auf. Es gab also keinen Grund mehr, sich vor dem kleinen Kind zu fürchten.

„Wer bist du?“, fragte da der Junge.

„Was?“, entgegnete Sorin Palmer irritiert, „Du willst wissen, wer ich bin? Mein Name ist Sorin Palmer.“ Er rappelte sich auf, klopfte sich den schwarzen Aschestaub von seinen Klamotten und wandte sich zum Gehen. Doch plötzlich blieb er abrupt stehen. Was hatte Agatha Heimlich gesagt, sie würde ihm mit ihrem Bannzauber einen Teil seiner Kräfte nehmen. Der Junge verfügte also noch über Zauberkraft. Er drehte sich um und schaute nachdenklich auf das Kind herab. Dieser starrte mit klarem, durchdringendem Blick zurück, vielleicht ist es nun Zeit für mich, selbst einen Schüler zu nehmen, dachte er. Er ging auf den Jungen zu und räusperte sich, „Mein Name ist Sorin Palmer. Aber für dich bin ich Meister Palmer.“

Luna Isabelle Michot

Zehn Jahre später, jedoch immer noch rund 200 Jahre vor dem heutigen Tag, lebte in einem kleinen Vorort einer großen Stadt, die zwölfjährige Luna.

Als sie an diesem Morgen aus einem unruhigen Schlaf erwachte, ahnte sie noch nichts, von all dem, was bald passieren und ihr junges Leben auf dramatische Weise verändern würde. Mit geschlossenen Augen lag sie in ihrem Bett und rieb sich mit beiden Händen den Schlaf aus den Augen. Es war früh am Morgen und die ersten Strahlen der Sonne färbten den Himmel über dem kleinen Dorf in ein zartes Rot. Über die Jahre hatte sie sich an das frühe Aufstehen gewöhnt. Seit dem Tod ihres Vaters wohnte sie allein mit ihrer Tante ein einem kleinen, windschiefen Haus. An ihre Mutter hatte sie keinerlei Erinnerungen. Oft hatte sie ihren Vater nach ihr gefragt, doch dieser wollte niemals mit ihr über sie sprechen. Jetzt, da auch er tod war, bezweifelte Luna sehr, dass sie jemals überhaupt etwas über ihre Mutter erfahren würde.

Luna hasste das Leben bei ihrer Tante. Aus einem ihr unerfindlichen Grund schien sie Luna zu verachten. Daher hatte das Mädchen schon oft davon geträumt von hier abzuhauen und ein neues Leben, weit weg von diesem Ort anzufangen. Doch weder hatte sie Geld, noch eine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Außer ihrer Tante hatte sie niemanden mehr auf dieser Welt. Und so sehr sie auch aus diesem Leben ausbrechen wollte, so sehr fehlte es ihr auch an einer echten Alternative.

Sie waren arm, doch auch daran hatte sich Luna gewöhnt. Als ihr Vater noch lebte, hatten sie in einem großen Haus in Freiburg gewohnt. Wenn sie an diese Zeit zurückdachte, schien es ihr, als sei ihr Leben damals wunderbar sorglos und unbekümmert gewesen. Luna verschränkte die Arme hinter ihrem Kopf und glitt in einen Tagtraum ab.

Ihr Vater war Schiffer gewesen, welcher mit seinem hölzernen Kahn allerlei Waren transportiert hatte. Damals hatte sie sich öfter heimlich aus der Schule geschlichen und war stattdessen zu dem kleinen Hafen gelaufen, um nach dem Boot ihres Vaters Ausschau zu halten. Wenn sie ihn fand, schimpfte er meistens, aber lange konnte er ihr nie böse sein. Kurze Zeit später war sein Ärger immer verflogen und anstatt sie zurück in die Schule zu schicken, nahm er sie mit auf sein Boot und sie fuhren zusammen den Fluss entlang. Ging die Fahrt flussabwärts, so konnten sie sich von der Strömung des Flusses treiben lassen. Ging die Fahrt jedoch in die andere Richtung, mussten große und starke Pferde, solche mit Puscheln an den Beinen, welche auf Wegen neben dem Fluss liefen, das Boot gegen die Strömung Flussaufwärts ziehen. Nach einiger Zeit legte dann das Boot in einer entfernten Stadt an, wurde entladen und nahm neue Ware an Bord. Währenddessen hatte Luna Zeit die fremden Orte zu erkunden. Sie liebte es, auf eigene Faust durch die ihr unbekannten Städte zu streifen. Die Gebäude waren anders, die Straße, ja sogar die Gerüche waren fremd. Luna zog all dies in sich auf. In solchen Momenten fühlte sie sich wie eine verwegene Entdeckerin. Wenn das kleine Boot wieder beladen war, fuhren sie gegen Nachmittag wieder nach Hause. An einem Tag im Oktober hatte sich das Laden sehr lange hingezogen und so konnten sie sich erst am frühen Abend auf den Heimweg machen. Es dämmerte bereits, als Luna mit einem mulmigen Gefühl das Boot bestieg. Auch ihr Vater war nervös. Obwohl er ihr dies nicht direkt sagte, Luna wusste es trotzdem. Sie merkte es daran, dass ihr Vater das Boot in die Mitte des Flusses steuerte, dort, wo die Strömung am stärksten war und sie daher am schnellsten flussabwärts fahren konnten. Jedoch war es an dieser Stelle im Fluss auch am gefährlichsten. Wenn ihr Vater dennoch das Risiko einging, musste er sich ernsthaft Sorgen machen, dass sie es nicht rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit zurückschaffen würden. Die Strömung umspülte wild das beladene Boot und trieb es unruhig den Fluss hinunter. Das kleine Schiff lag tief im Wasser und Luna fürchtete, dass jeden Moment das dunkle Wasser über den Rand laufen und das Schiff untergehen würde. Besorgt schaute sie zu ihrem Vater. Dieser blickte angestrengt auf den Verlauf des Flusses vor ihnen. Nach und nach wurde es immer dunkler und die Sonne verschwand letztlich vollständig hinter dem Horizont. Schließlich war es so düster geworden, dass Luna weder zu ihrer Rechten noch zu ihrer Linken die Ufer erkennen konnte. Mit dem dunklen Himmel über ihr und dem finsteren Wasser unter ihr, schien es Luna, als würde sie in einem schwarzen Nichts treiben. Wie ihr Vater bei diesen Sichtverhältnissen den Weg mit dem Kahn fand, konnte sie sich nicht erklären. Ängstlich hielt sie sich an der Seitenwand des Bootes fest und starrte gebannt in die Dunkelheit vor ihr. Als sie endlich in der Ferne Lichter ausmachen konnte, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Das mussten die Lichter ihres Städtchens sein. Wir haben es geschafft, dachte Luna erleichtert. Der Schein der Öllampen aus den Häusern strahlte sanft bis auf den Fluss hinaus. In deren Lichtschein wurden allmählich wieder die Umrisse entlang der Ufer erkennbar. Unendlich erleichtert, hatte sie das Gefühl, als fiel ihr ein riesiger Stein vom Herzen. Die letzten Meter zum Anlegeplatz ruderte ihr Vater das kleine Schiff. Der Platz für das Boot war an einem niedrigen Steg, an welchem der Kahn vorne und hinten mit Seilen befestigt werden musste. Sobald dies geschehen war, begannen ihr Vater und sie das Schiff zu entladen. Allerlei Kisten und Säcke schleppten sie in das Lagerhaus, welches direkt auf der anderen Seite, neben dem Steg errichtet war. Von dort würden die Waren am nächsten Morgen weiterverkauft werden. Doch als sie gut die Hälfte der Sachen verstaut hatten, sackte Luna erschöpft an der Holzwand des Lagerhauses zusammen. Ihre Hände und Arme schmerzten und sie war hungrig und müde. Und doch war sie glücklich. Ihr Vater setzte sich neben sie und die beiden blickten eine Zeitlang schweigend auf den breiten Fluss hinaus, in welchem sich die Lichter der Häuser spiegelten. Doch diese Idylle währte nicht lange. Plötzlich tauchten an dem Steg zwei Gestalten auf, welche am Flussufer entlanghuschten. Die beiden waren so überraschend aufgetaucht, dass Luna erschrocken zusammenfuhr. Ihre Gesichter hatten sie hinter dunklen Tüchern verborgen und auf dem Kopf trugen sie Mützen. Nur ihre Augen waren sichtbar. Ängstlich hielt Luna den Atem an. Doch die beiden schienen sie und ihren Vater zunächst gar nicht zu bemerken. Mit ihren Augen folgte Luna den Gestalten, wie diese von Schatten zu Schatten huschten, bis sie schließlich an einer nahegelegenen Bäckerei angekommen waren. Dort machten sie sich an einem Seitenfenster des Gebäudes zu schaffen. Zwar konnte Luna nicht genau erkennen, was die beiden dort machten, doch war sie sich sicher, dass es sich bei den Gestalten um Diebe handelte. Langsam stand Luna auf und noch bevor ihr Vater etwas unternehmen konnte, war sie schon einige Schritte auf die beiden Ganoven zugegangen. Diese waren immer noch an dem Fenster zugange und hatten ihr den Rücken zugewandt. Als sie keine fünf Meter mehr von ihnen entfernt war, blieb Luna stehen und rief in die Stille der Nacht hinein: „Hallo, ihr da!“ Den beiden Dieben entfuhr ein entsetzter Schrei, als sie sich ruckartig umdrehten. Hinter Luna tauchte nun auch ihr Vater mit einem großen hölzernen Ruder in der Hand auf, welches er wie einen zu lang geratenen Gehstock hielt. „W… wir wollten nicht stehlen!“, stotterte der eine sogleich aufgeregt drauflos. „Lasst uns gehen! Wir wollen keinen Ärger.“ Mit großen Augen blieben die beiden unsicher an die Wand der Bäckerei gelehnt stehen, zogen sich ihre Tücher von den Gesichtern und starrten Luna und ihren Vater an. „Ich habe euch hier rumschleichen gesehen und da habe ich mich gefragt, was wohl zwei Männer um diese Uhrzeit am Hafen suchen. Doch mit einem Mal wurde es mir klar. Ihr sucht… Arbeit!“, sagte Luna. Die beiden Männer gucken sich verdutzt an. „Arbeit?“, fragte einer daraufhin mit unsicherer Stimme. „Na, was solltet ihr wohl sonst hier suchen?“, fragte Luna zurück. „Zufällig brauchen wir zwei kräftige Burschen wie euch, die uns helfen unseren Kahn dort hinten zu entladen.“ Dabei zeigte sie mit dem Daumen hinter sich auf das immer noch halbvoll beladene Boot ihres Vaters. Die beiden Männer schauten sie überrascht an. Zunächst blieben sie stehen und schienen nicht recht zu wissen, was sie nun tun sollten, doch schließlich stapften die beiden zu dem Kahn hin und fingen an die Kisten aus dem Schiff auf den Steg zu stellen. Lunas Vater traute seinen Augen kaum. Entsetzt hatte er beobachtet, wie seine Tochter die beiden Einbrecher ansprach und sich schon auf einen Kampf mit den Ganoven vorbereitet. Und nun halfen sie ihm das Boot zu entladen. Kiste um Kiste, Sack um Sack schleppten diese in das Lagerhaus. Als die letzte Kiste verstaut war, schloss Lunas Vater das Lagerhaus zu. Davor standen die beiden Männer und sahen sich ratlos an. Schließlich machten sie auf den Fersen kehrt und begannen in Richtung Stadt zu ziehen. Luna sah den beiden nach und zog ihrem Vater kräftig an dessen Hosenbein. Dieser verstand, was seine Tochter von ihm wollte, und rief mit kräftiger Stimme: „Hiergeblieben!“ Augenblicklich blieben die beiden wie angewurzelt stehen. „Was gibt es denn noch?“, fragte der Größere der beiden. „Na wo denkt ihr hin? Ich kann euch doch nicht einfach so gehen lassen!“, antwortete Lunas Papa. „Aber… ich bitte euch. Wir haben doch nichts gestohlen.“ entgegnete der kleinere der beiden Männer. „Stehlen? Wer sagt denn etwas von stehlen?“, erwiderte Lunas Papa mit einem Lächeln. „Ich muss euch doch wohl für eure Arbeit entlohnen. Ihr bekommt noch Geld für eure Hilfe.“ Wieder schauten sich die beiden Männer ungläubig an. Und als Lunas Vater dann wirklich jedem der beiden einen Schilling in die Hand drückte, schienen sie wirklich aus allen Wolken zu fallen. Sie hatten geplant heute in die Bäckerei am Hafen einzubrechen und alles Geld und was sie sonst noch hätten tragen können zu stehlen. Der Abend war so ganz anders verlaufen, als sie ihn sich vorgestellt hatten. „Kommt bald wieder. Die anderen Schiffer und ich brauchen immer wieder starke Kerle wie euch, die uns helfen die Schiffe zu entladen.“, sagte Lunas Vater schließlich und lachte. „Das werden wir!“, riefen die beiden fröhlich wie aus einem Mund und entfernten sich. Luna stand auf dem Steg und blickte den beiden zufrieden nach, als sich plötzlich eine große Hand schwer auf ihre Schulter legte. „Das war verrückt. Und unglaublich dumm! Du kannst doch nicht einfach zwei Diebe anquatschen. Außerdem hatte ich Angst… Angst um dich meine ich!“, schimpfte Lunas Vater, „Die beiden hätten auch uns überfallen können.“ Dann stieß er einen langen Seufzer aus und schaute Luna lange an. Luna lächelte, nahm ihren Vater bei der Hand und ging mit ihm gemeinsam durch die Straßen in Richtung ihres Zuhauses. Auf einmal blieb ihr Vater stehen und schaute sie ernst an. „Warum hast du das gemacht?“, fragte er. „Was genau meinst du?“, fragte Luna mit gespielter Ahnungslosigkeit zurück. „Na, das alles.“, sagte ihr Vater bestimmt und ließ keinen Zweifel offen, dass er jetzt eine Erklärung von ihr verlangte. „Weißt du“, antwortete sie, „die beiden taten mir eben leid.“ Lunas Papa blickte sie fassungslos an. „Leid?“, fragte er entgeistert. „Ja. Leid. Weißt du, nicht jeder, der etwas Schlechtes tut, ist auch gleichzeitig ein schlechter Mensch. Da gibt es einen Unterschied. Hast du dir die beiden angesehen? Die hatten doch kaum mehr als Lumpen am Leib. Schleichen durch die Nacht, um in eine Bäckerei einzubrechen. Die waren nicht böse, die waren bloß arm. Die waren verzweifelt.“, erklärte Luna. „Trotzdem. Du wusstest doch nicht, was die beiden machen würden, wenn sie uns entdecken. Das war dumm. Verdammt dumm sogar. Aber, ich bin auch stolz auf dich. Du hast ein gutes und mutiges Herz.“, sagte ihr Vater, lächelte und sie lächelte zurück.

„Luna, du faules Kind, wo bleibst du?“, hörte sie plötzlich ihre Tante rufen. Die Worte rissen sie unsanft aus ihren schönen Erinnerungen. All dies lag nun schon mehr als zwei Jahre zurück. Kurze Zeit später hatte sich ihr Leben dramatisch verändert. Ihr Vater war mit einem Mal krank geworden. Erst kam der Husten, dann das Fieber und kurz darauf war er schon zu schwach gewesen, um überhaupt noch aufzustehen. Wenige Tage später war er gestorben. Luna hatte aus ihrem Zuhause in der Stadt ausziehen müssen und war zu ihrer Tante gekommen. Nun wohnten sie in einem kleinen Dorf, welches ein Stück außerhalb der Stadt lag. Ihre Tante arbeitete als Näherin, doch das Geld, dass sie verdiente, reichte nicht aus, um die beiden zu ernähren. Es verging kaum ein Tag, an welchem sich ihre Tante nicht darüber beschwerte, wieviel Geld Luna sie kostete. Um etwas Geld dazuzuverdienen, hatte Luna angefangen, regelmäßig auf dem Markt in der Stadt Gemüse, welches sie im Garten hinter dem windschiefen Haus angebaut hatte, zu verkaufen. Doch leider hatte sie beim Anbauen von Gemüse kein Geschick. Egal was sie in die Erde setzte, entweder gingen ihr die Pflanzen ein oder sie brachten kaum einen nennenswerten Ertrag. Und auch heute, als Luna sich die Kürbisse betrachtete, welche sie auf dem Markt verkaufen wollte, wusste sie, dass dieses Mal keine Ausnahme sein würde. Mickrige kleine Dinger waren das, die auch noch so verschrumpelt aussahen, dass man glatt denken konnte, sie wären vom Vorjahr. Luna murmelte mürrisch vor sich hin, als sie die Kürbisse in ihren kleinen Bollerwagen lud. Niemals würde irgendjemand ihr diese verdammten Dinger abkaufen. Außerdem waren die anderen Händler gemein zu ihr und verdrängten sie von den guten Verkaufsplätzen. Luna verabschiedete sich knapp von ihrer Tante und stapfte missmutig mit dem Bollerwagen los in Richtung der Stadt. Als sie ein Stück außerhalb des Dorfes war, blieb sie stehen und blickte sich um. Von dem Feldweg aus, wo sie stand, konnte sie auf den Wald schauen, welcher auf der anderen Seite, hinter dem Dorf, lag. Die Morgensonne schien warm auf sie herab und die Bäume im Wald strahlten in ihrem farbenfrohen Herbstkleid. Luna schloss die Augen und atmete tief ein. Die Luft war frisch, klar und noch kühl von der Nacht. Als sie die Augen wieder öffnete, war ihr Missmut verflogen und es ging ihr schon besser. Sie beschloss das Beste aus dem Tag zu machen und setzte ihren Weg in Richtung Stadt fort.

Eine Stunde später durchschritt sie das große Tor der Stadtmauer und zog ihren Bollerwagen über das Kopfsteinpflaster der Straßen zum Marktplatz. Die Räder des Wagens holperten rhythmisch über die Steine. Je näher sie dem Marktplatz mit seiner großen Kirche kam, desto voller wurden die Straßen und Gassen. Viele Menschen drängten dicht an dicht an diesem Tag zum Markt und Luna fiel es immer schwere, ihren Wagen durch die gewaltige Menschenmenge zu bugsieren. Auf das Mädchen mit dem schweren Bollerwagen nahmen die Leute in der Stadt, wie sie eilig zum Markt drängten, keine Rücksicht. Pausenlos quetschte sich jemand an ihr vorbei oder rempelte sie an. Doch wenn Luna versuchte jemanden zur Rede zu stellen, so beachtete sie die Person gar nicht, sondern ging gleichgültig weiter. Durch das Gedränge kam Luna nur langsam voran und als sie endlich auf dem Marktplatz angekommen war, war dieser schon voller Händler und Händlerinnen, die ihre Stände aufbauten und die ersten Waren verkauften. Langsam zog sie ihren Wagen über den Platz und hielt nach einem Fleck Ausschau, an dem sie ihre Kürbisse verkaufen konnte. Doch wie immer, sobald sie einen Platz gefunden hatte, schickten sie die Kauffrauen und Kaufmänner wieder weg. „Verschwinde hier!“ oder „Hau bloß ab! Du vertreibst mir noch alle Kunden!“, riefen sie ihr zu. Und so zog sie immer weiter und weiter, bis sie sich schließlich ganz an den Rand des Marktplatzes, neben die Mauer eines hohen Gebäudes, stellte. Dort drehte sie den Bollerwagen um, sodass dieser eine Art Tisch bildete, legte eine mitgebrachte Decke darüber und begann damit, die Kürbisse darauf zu platzieren. Dann wartete sie. Doch wie sie bereits geahnt hatte, zogen die Leute einfach an ihr vorbei. Niemand blieb stehen oder warf auch nur einen Blick auf ihre Ware. Luna stand hinter ihren Kürbissen, im Schatten des großen Gebäudes und begann vor sich hinzuträumen. Heute würde sie ohnehin nichts verkaufen.

Ein verkaufsreicher Tag auf dem Markt

„Würdest du mir wohl einen deiner wunderschönen Kürbisse verkaufen?“ Tief in ihrem Tagtraum versunken, schreckte Luna auf, als sie plötzlich angesprochen wurde. Vor ihr stand ein Junge mit schwarzen, lockigen Haaren, der in etwa in ihrem Alter sein musste. Der Junge schaute sie mit seinen kastanienbraunen Augen freundlich an. Luna strich sich ihre blonden Haare zurück. Was hatte der Junge gesagt? Wunderschöne Kürbisse? Von der Situation überrumpelt versuchte sie Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Ihre Kürbisse mochten viel sein, klein, schrumpelig und bizarr geformt, aber eines waren sie ganz sicher nicht, und zwar wunderschön. Dann wurde es ihr schlagartig klar, der Junge wollte sich über sie lustig machen. „Jetzt hör mal zu, du Blödmann!“, fauchte sie, „Wenn du jemanden veralbern willst, musst du dir einen anderen suchen.“ Luna schnaubte wütend. Doch anstatt wegzulaufen, schaute sie der Junge mit großen Augen überrascht an. „Äh… Was?“ stammelte er und deutete mit seinen Fingern nach unten auf die Kürbisse. Als Luna dem Fingerzeig mit ihrem Blick folgte und ihre Kürbisse erblickte, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Anstatt der kleinen, mickrigen und schrumpeligen Kürbisse, die sie mitgebracht hatte, lagen auf einmal prächtige, pralle und kugelrunde Kürbisse vor ihr! Wie konnte das sein, fragte sie sich. Und noch immer stand dieser Junge vor ihr. Luna konnte keinen klaren Gedanken fassen. Das Beste, was ihr einfiel, war, „Das macht zwei Schilling.“ Daraufhin bückte sich der Junge und betrachtete mit prüfenden Blicken die Kürbisse. Er klopfte gegen einen, hob ihn hoch und sagte schließlich: „Dann nehme ich diesen hier. Der ist perfekt.“ Er reichte der verdutzten Luna das Geld, drehte sich um und ging mit seinem Kürbis fort. Kurz drehte er sich noch einmal im Gehen um und warf Luna einen Blick über die Schulter zu. Als sich ihre Blicke trafen, fühlte sie, wie ihr Herz begann schneller zu schlagen und sie errötete. Schnell wand sie ihren Blick ab und strich sich verlegen ihr grünes Kleid glatt. Wie peinlich, dachte sie und betrachtete das Geld in ihren Händen. Doch als sie kurze Zeit später langsam ihren Blick wieder hob, war der Junge verschwunden. Stattdessen sah Luna eine Frau auf sich zukommen. „Hallo, mein Kind. Verkaufst du mir zwei von deinen Kürbissen?“, fragte sie. Die Kürbisse hatte Luna für einen Moment ganz vergessen. Merkwürdig ist das alles, sehr merkwürdig, dachte sie, doch dann vergaß sie diese Gedanken, denn den Rest des Morgens war sie damit beschäftigt einen Kürbis nach dem anderen zu verkaufen. Bereits um die Mittagszeit hatte sie alle verkauft und damit so viel Geld verdient, dass es kaum in ihren Geldbeutel passte. Vergnügt machte sie sich auf den Heimweg. Der Bollerwagen fühlte sich nun ganz leicht an und sie zog ihn fröhlich durch die Straßen, auf welchen um diese Uhrzeit kaum Leute unterwegs waren. Schnell war sie aus der Stadt raus und auf dem Feldweg angekommen, der zu ihrem Dorf führte. Auf dem Heimweg dachte sie über die Geschehnisse des heutigen Tages nach. Sie dachte an den Jungen, an die Kürbisse, die wie durch Zauberei gewachsen waren und an das viele Geld, welches sie verdient hatte. Gut gelaunt hopste sie den Weg entlang und bemerkte zunächst gar nicht, wie ein leichter Nebel aufzog. Feine Nebelschwaden zogen aus Richtung Stadt, dicht am Boden entlang, zwischen dem Gras her und tauchten die Welt um sie herum langsam in einen undurchsichtigen Schleier. Immer dichter und dichter wurde der Nebel, bis die Strahlen der Sonne ihn schließlich gar nicht mehr durchdrungen. Erst da bemerkte Luna, dass etwas nicht stimmte. Ihr war unheimlich zu mute. Langsam schritt sie weiter, doch der Nebel war bereits so dicht geworden, dass sie nicht einmal mehr den Weg erkennen konnte. Luna blieb stehen. Etwas stimmte nicht. Nicht nur konnte sie den Weg nicht mehr erkennen, auch war alles um sie herum still geworden. Kein Laut war mehr zu hören. Das Zwitschern der Vögel, das Zirpen der Grillen und auch das Pfeifen des Windes waren verschwunden. Einen solch dichten Nebel hatte sie noch nie erlebt. Ängstlich trat sie auf der Stelle und versuchte dann dennoch den Weg nach Hause zu erahnen. Mit unsicheren Schritten tastete sie sich langsam voran. Luna fröstelte. Der Nebel durchdrang ihre Kleidung und legte sich kalt auf ihre Haut. So schnell wie nur möglich wollte sie nach Hause. Doch mit jedem Meter, den sie vorwärtskam, schien der Bollerwagen immer schwerer und schwerer zu werden. Und je mehr sie sich anstrengte, je mehr sie zog, desto schwerer schien der Bollerwagen zu werden. Schließlich war sie vollkommen außer Atem. Erschöpft ließ sie den Griff des Bollerwagens fallen und blieb stehen. Das Einzige, was sie hörte, war das Trommeln des Herzens in ihrer Brust. Doch auf einmal war da noch was anderes. Eine innere Stimme schien ihr zuzurufen, „Lauf! Lauf, so schnell du kannst!“ In diesem Moment wurde aus dem zunächst unheimlichen Gefühl Angst. Schnell ergriff Luna den Bollerwagen und strengte sich noch mehr an. Sie zerrte an dem Wagen, drückte sich feste mit den Beinen vom Boden ab, doch ihr Fortkommen wurde immer schwerer und schwerer. Den Boden zu ihren Füßen konnte sie nicht erkennen, doch je weiter sie kam, desto mehr hatte sie das Gefühl mit jedem Schritt ein Stück weit im Boden zu versinken, so als würde sie auf weichem Sand laufen. Und noch immer rief die innere Stimme ohne Unterlass, „Luna, lauf, lauf so schnell du kannst!“ Auf einmal nahm sie aus ihren Augenwinkeln etwas hinter sich wahr. Und als sie sich umdrehte, erkannte sie im Nebel eine Gestalt, die ihr zu folgen schien. Panik breitete sich in Luna aus. Nur noch weg, dachte sie, ließ den Bollerwagen los und versuchte davonzulaufen. Doch mit jedem Schritt schien sie tiefer im Boden zu versinken und je mehr sie sich anstrengte, desto langsamer wurde sie. Wieder drehte sie sich um. Schemenhaft konnte sie die Gestalt in dem dichten Nebel erkennen. Nur noch wenige Meter trennten die beiden voneinander. Luna stapfte angestrengt weiter als sie von hinten eine Stimme hörte und erschrickt aufschrie. „Warte!“, rief die Stimme und hörte sich dabei merkwürdig vertraut an. Verdutzt drehte sich Luna erneut um. Hinter ihr stand der Junge mit den lockigen, schwarzen Haaren, den sie heute Morgen auf dem Markt getroffen hatte. „Bitte entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er und streckte ihr mit einem Lächeln den Griff von ihrem Bollerwagen entgegen, den sie auf dem Weg zurückgelassen hatte „Hier den hast du verloren.“, sagte er. Luna schaute den Jungen irritiert an. Verlegen streckte sie ihre Hand aus und nahm den Griff entgegen. „Danke!“, sagte sie und strich sich dabei ihre Haare hinter die Ohren. „Ich bin dir nachgelaufen“, sagte der Junge und lächelte sie dabei etwas schüchtern an. „Ich ähm… Ich wollte dich nämlich noch etwas fragen. Ich bin Maler weißt du und ich wollte dich fragen, ob ich dich malen dürfte?“ Damit hatte Luna nun wirklich nicht gerechnet. Für einen Moment stand sie sprachlos da und wusste nicht, was sie antworten sollte. Es war bereits das zweite Mal an diesem Tag, dass ihr die Worte fehlten. „Ich habe mein Atelier in der Stadt. Im großen Uhrturm, ganz oben, über dem Teeladen“, fuhr der Junge fort und sah sie dabei hoffnungsvoll an. „Wieso willst du ausgerechnet mich malen?“, fragte Luna misstrauisch, „Außerdem kannst du nicht viel älter sein als ich. Bist du sowas wie ein Maler in Ausbildung?“ „Ja, genau“, antwortete der Junge, mein Lehrmeister ist die Woche über verreist und ich kann sein Atelier nutzen. Also was sagst du?“ Luna überlegte. Sie fühlte sich geschmeichelt. Wer konnte schon von sich behaupten, für ein Bild Modell gestanden zu haben? Außerdem würde sie sich gerne das Atelier im Uhrturm anschauen. „Also gut“, sagte sie. „Ich komme gerne. Aber erst morgen. Heute ist es schon zu spät. „Wunderbar“, erwiderte der Junge und strahlte fröhlich. Und so verabredeten sie sich für den nächsten Morgen im Uhrturm. Luna war aufgeregt und freute sich auf nächsten Tag. Sie fragte sich, wie sie wohl auf einem echten Bild aussehen würde. Einen Spiegel konnte sich ihre Tante und sie sich nicht leisten und das letzte Mal, dass sie ihr Spiegelbild betrachtet hatte, war nun schon viele Jahre her. Vergnügt ging sie nach Hause. Dabei hatte sie, wie durch Zauberei, den dichten Nebel, das Einsinken in den Boden, die Furcht und ihre innere Stimme beinahe ganz vergessen.

Lunas und Frau Heimlichs Geheimnis

Als sie zu Hause ankam, war die Freude ihrer Tante über das viele Geld riesengroß. Und zum ersten Mal, seit Luna bei ihr lebte, wurde sie an diesem Abend nicht angemeckert. Als Luna zu Bett ging, saß ihre Tante immer noch am Küchentisch und hatte dort das Geld zu hohen Türmen gestapelt. Kurz überlegte Luna, ob sie der Tante von ihrer Verabredung am nächsten Morgen berichten sollte. Doch nach kurzem Überlegen, entschied sie sich dagegen. Ihre Tante hätte mit Sicherheit kein Verständnis für sie und würde es ihr ohnehin verbieten, entschied sie und ging die schmale Holztreppe hinauf in ihr Zimmer. In dem kleinen Raum war es dunkel. Die Klappläden vor dem winzigen Fenster waren geschlossen, sodass kein Licht ins Zimmer drang. Luna öffnete sie und ließ die Kühle des Herbstabends und die ersten Strahlen des Mondes hinein. Viel gab es nicht in dem Zimmer, auf das der Mond seine Strahlen werfen konnte. An der Wand stand ein wackliger Stuhl vor einem kleinen Tisch, an welchem Luna manchmal saß und die Aufgaben machte, welche Frau Heimlich ihr mitgegeben hatte. Die alte Frau wohnte seit einigen Jahren auch in dem Dorf. Luna mochte Frau Heimlich und Frau Heimlich mochte Luna. Die beiden teilten ein Geheimnis. Als Luna nach dem Tod ihres Vaters zu ihrer Tante ziehen musste, konnte sie nicht mehr die Schule besuchen. In der damaligen Zeit musste man für den Schulbesuch bezahlen. Das konnten sich nur reiche Leute leisten. Kinder aus ärmeren Familien mussten, so wie Luna auch, mitarbeiten, damit die Familie genug Geld zum Leben hatte. Frau Heimlich jedoch war mit der Zeit so etwas wie eine Ersatzlehrerin für Luna geworden. Eines Tages hatte ihre Tante sie einmal zu der alten Frau geschickt, um dieser Kleider zu bringen, welche die Tante genäht hatte.

„Hör zu!“, hatte ihre Tante sie mit ihrer schrillen Stimme ermahnt, „Sonst verläufst du dich wieder. Frau Heimlich wohnt gleich am Ende des Dorfes, hinter dem Brunnen, in dem kleinen gelben Haus auf der linken Seite. Sei höflich zu ihr.“ Heimlich verdrehte Luna die Augen, nahm den Korb und machte sich mit den genähten Sachen auf den Weg. Das Haus hinter dem Brunnen auf der linken Seite am Ende des Dorfes sah unheimlich aus. Im Vorgarten wucherten Büsche und Unkraut, das Gras im seitlichen Teil des Gartens wuchs höher als Luna groß war und an dem Zaun, welcher um den Garten verlief, fehlten an einigen Stellen Zaunpfähle. Efeu überwucherte einen großen Teil des Hauses. Luna stellte sich vor die große Holztüre und hob den Arm, um anzuklopfen. Doch dann hielt sie einen Moment inne. Luna war nervös. Die alte Frau lebte sehr zurückgezogen und niemand aus dem Dorf kannte sie gut. Liam Miller, der Sohn des Hufschmieds, hatte Luna einmal erzählt, dass die Alte erst vor ein paar Jahren hergezogen war und in Wirklichkeit eine Hexe sei. Damals wollte Luna ihm nicht glauben, doch jetzt, als sie vor dem Haus der vermeintlichen Hexe stand, schlug ihr Herz vor Aufregung laut in ihrer Brust. Schließlich nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und klopfte gegen die Türe. Zu ihrer Überraschung ginge diese daraufhin einen Spalt weit auf. Die Türe musste nur angelehnt gewesen sein, sagte sich Luna und drückte sie vorsichtig weiter auf. Im Flur war niemand zu sehen. „Hallo! Frau Heimlich?“, rief Luna. Als niemand antwortete, wollte sie schon wieder nach Hause gehen. Doch etwas hatte ihre Neugierde geweckt. Im Flur stand eine Kommode, auf welcher verschiedene Hüte lagen. An einem Kleiderständer hingen einige Mäntel und auf dem Boden lag ein violetter Teppich mit eigenartigen Mustern. Alles sah ganz ordentlich und sauber aus und passte damit so gar nicht zu dem Eindruck, welchen das Haus von außen machte. Wie früher, als sie fremde Städte erkundet hatte, war ihr Entdeckergeist geweckt und sie spürte die Versuchung, das merkwürdige Haus von innen zu erkunden. Noch einmal rief sie nach Frau Heimlich und als niemand antwortete, schritt sie vorsichtig in den Flur. Der Holzboden unter dem Teppich knarzte bei jedem Schritt und in diesem Moment kam Luna das Geräusch unglaublich laut vor. Sie betrat den Raum am Ende des Flurs und blieb vor Staunen mit offenem Mund stehen. An allen Wänden waren Regale voll mit Büchern. Dicke, große, kleine und dünne. So viele Bücher auf einmal hatte sie in ihrem Leben noch nie gesehen. Manche Bücher lagen sogar auf Stapeln auf dem Boden, weil in den Regalen kein Platz mehr für sie gewesen war. Ansonsten war der Raum bis auf einen großen Sessel und einen kleinen Tisch leer. Auf dem Tisch lag ein Buch neben einer Tasse und einer Kanne. Luna ging zu dem Tisch, hob das Buch hoch und versuchte den Titel zu lesen. Sie kannte die meisten Buchstaben, aber das Zusammenschleifen einzelner Buchstaben zu Wörtern bereitete ihr noch große Schwierigkeiten. Luna versuchte zweimal den Titel zu lesen. Dann hielt sie inne. Etwas stimmte nicht. Luna blickte von dem Buch auf. Doch was war es, dass sie hatte stocken lassen. Mit einem Mal lief es ihr eiskalt den Rücken hinunter. Sie blicket erneut auf die Tasse, welche neben ihr auf dem Tisch stand, und hielt den Atem an. Der Tee in der Tasse dampfte. Das konnte nur eins bedeuten, wer auch immer hier gesessen hatte, konnte noch nicht lange weg sein. Schnell legte Luna das Buch auf den Tisch zurück. Mit dem Rücken zum Eingang stehend, hatte sie Angst sich umzudrehen. Sie rechnete fest damit, dass Frau Heimlich nun hinter ihr stehen würde. Langsam, wie in Zeitlupe, drehte sie sich in Richtung Eingang um. Mit großer Erleichterung stellte sie fest, dass niemand zu sehen war. Nichts wie weg, dachte Luna. Ihr war furchtbar unwohl zumute und sie wollte nur noch schnell raus aus dem Haus. So leise sie konnte, schlich sie aus dem Raum hinaus in den Flur. Der Holzboden knarrte wieder, doch da sie die offene Tür ins Freie schon sehen konnte, ließ sie alle Vorsicht fallen und rannte die letzten Meter nach draußen. Als sie nur noch einen Schritt von der Haustüre entfernt war, hörte sie ein Geräusch. Luna blieb auf der Stelle stehen und lauschte. Hatte da jemand gerufen? Wieder hörte sie etwas, doch diesmal etwas deutlicher. Jemand rief um Hilfe. Luna ging ein Stück zurück und stand nun am unteren Ende einer Treppe, welche in den oberen Teil des Hauses führte. Die Rufe schienen von oben zu kommen. Entschlossen lief Luna die Treppe empor. Im oberen Stock fand sie die alte Frau, neben einem Stuhl liegen. Beherzt wollte Luna ihr auf die Beine helfen, doch es gelang nicht. „Es geht nicht. Ich kann nicht auftreten. Ich bin von dem vermaledeiten Stuhl gestürzt, als ich dort oben vom Schrank meinen Wintermantel holen wollte.“ Luna überlegte nicht lange. Behutsam legte sie die alte Frau zurück auf den Boden und versprach schnell Hilfe zu holen. Sogleich rannte Luna los, um Frau Heimlichs Nachbarn zu holen. Gemeinsam mit ihm gelang es Luna die Alte auf ihr Bett zu legen. Wie sich später herausstellte, war das Bein der alten Frau gebrochen und es würde Wochen dauern, bis sie wieder richtig laufen konnte. Im Ort beriet man sich, wie die Dorfgemeinschaft bis dahin Frau Heimlich versorgen konnte. Doch so recht wollte niemand die Aufgabe übernehmen. Viele der Dorfbewohner waren misstrauisch der merkwürdigen Alten gegenüber. Schließlich bot Luna an, die Sache zu übernehmen. Frau Heimlich tat ihr leid und Luna wusste, wie es sich anfühlte, wenn man auf der ganzen Welt niemanden hatte. Und so besuchte sie von da an die alte Frau mehrmals am Tag, um nach ihr zu sehen, ihr Essen zu bringen und sich um den Haushalt zu kümmern. Schon nach kurzer Zeit stellte Luna fest, dass Frau Heimlich gar nicht so verrückt war, wie alle dachten. Auch für Frau Heimlich war die Begegnung mit Luna ein echter Glücksgriff und schnell schloss sie das hilfsbereite, manchmal etwas verträumte Mädchen in ihr Herz. Als sie eines Tages in ihrem Sessel, mit dem gebrochenen Fuß auf einem Hocker, in dem großen Zimmer mit den vielen Büchern saß, bat sie Luna ihr doch das Buch ‚Das Leben und die Abenteuer des Robinson Crusoe‘ zu geben. Luna stellte sich vor die Bücherwand und versuchte angestrengt die Titel der Bücher zu entziffern, doch die Buchstaben wollten sich in ihrem Kopf einfach nicht zu Wörtern verbinden. Frau Heimlich bemerkte, wie unangenehm Luna die Situation war und ergänzte deshalb: „Es ist das braune Buch, im vierten Regal. Das dritte von der rechten Seite.“. Luna betrachtete das Buch und als sie es der alten Frau gab, bat sie diese, ihr doch daraus vorzulesen. „Ich habe eine bessere Idee. Ich bringe dir bei, es selbst zu lesen“, entgegnete Frau Heimlich stattdessen. Von da an fing die alte Frau an, Luna nicht nur das Lesen, sondern auch gleich noch das Schreiben und Rechnen beizubringen. Dabei stellte sich Luna recht geschickt an und Frau Heimlich nannte sie manchmal ihren kleinen Schlaukopf. Und so vergingen die zehn Wochen, welche das Bein zur Heilung brauchte, viel zu schnell für Luna. Als sie sich eines Tages wieder auf den Weg zu der alten Frau machen wollte, stellte ihre Tante sie zur Rede: „Was gehst du schon wieder dorthin? Die Alte kann doch wohl wieder recht gut laufen, möchte ich meinen. Wir haben hier bei uns genug Arbeit. Mir ist ohnehin nicht