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Mallorca ist nicht nur eine Urlaubsinsel. Zwischen endlosen Stränden und rauen Bergen, Kirchen, Klöstern und Ruinen finden manch dunkle Geschäfte statt. Kleine Gauner und große Schieber, schöne Frauen und halsbrecherische Aktionen halten Leon in Atem. Der Berliner Polizist ist angetreten, um seine spanischen Kollegen von der Guardia Civil den Sommer über am Lieblingsstrand der Deutschen bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Darüber hinaus wird er bald in dunkle Machenschaften, abseits von Strand und Urlaubern verwickelt. Die Einschläge kommen näher, aber bald weiß auch Leon "las conexiones especiales", die speziellen Beziehungen, für seine Zwecke zu nutzen. Nicht nur die Insel wird zur neuen Liebe seines Lebens. Karl Kases (www.karl-kases.com) ist ein österreichischer Regisseur und Drehbuchautor. "Der Mallorca-Job" ist sein erster Roman.
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Seitenzahl: 335
Karl Kases
DER MALLORCA -JOB
DER MALLORCA-JOB
Ein Krimi
von
Karl Kases
©2021 Karl Kases
Umschlaggestaltung: Karl Kases
ISBN: 978-3-347-27130-2 (Paperback)
978-3-347-27131-9 (Hardcover)
978-3-347-27132-6 (e-Book)
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
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Mallorca ist nicht nur eine Urlaubsinsel.
Zwischen endlosen Stränden und rauen Bergen, Kirchen, Klöstern und Ruinen finden manch dunkle Geschäfte statt. Kleine Gauner und große Schieber, schöne Frauen und halsbrecherische Aktionen halten Leon in Atem. Der Berliner Polizist ist angetreten, um seine spanischen Kollegen von der Guardia Civil den Sommer über bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Darüber hinaus wird er bald in dunkle Machenschaften, abseits von Strand und Urlaubern, verwickelt. Die Einschläge kommen näher, aber bald weiß auch Leon „las conexiones especiales“, die speziellen Beziehungen, für seine Zwecke zu nutzen.
Karl Kases (www.karl-kases.com) ist ein österreichischer Regisseur und Drehbuchautor.
Der Mallorca-Job ist sein erster Roman.
Für alle, die Mallorca lieben.
Für alle, die Mallorca noch nicht kennen.
Und für die, die Mallorca bisher nicht kennenlernen wollten, aber dringend kennenlernen sollten.
Danke Susanne
Happy Birthday
Wham, Wham, die harten Schläge dreschen auf den roten Helm ein, der aber duckt sich weg, ist schnell, wendig und katzenhaft. Die feine Art des Kickboxens ist das nicht mehr. Der Blaue schlägt jetzt mit größter Wucht auf den Gegner ein. Die Halle hallt. Punch, Hook, Cross. Schweißperlen prallen in Zeitlupe von den beiden Körpern ab und landen auf dem glatten Parkett. Die Gummisohlen der tänzelnden Turnschuhe pfeifen ein dissonantes Konzert. Highkick trifft auf Round-House. Ein letzter Uppercut des Roten bevor Blau endgültig zu Boden geht. Der Rote hilft ihm mit ausgestrecktem Arm wieder auf die Beine, der Blaue reißt sich den Helm vom Schädel. Ein gegerbtes Gesicht mit knallharten Zügen kommt zum Vorschein, schmerzverzerrt, aber lächelnd. Eine Adonis-Figur, welcher der Schweiß in Strömen übers Gesicht läuft. Mit graziler Leichtigkeit nimmt nun der rote Gegner den unförmigen Schädelschutz ab, löst elegant ein Haarband. Die schulterlangen, blonden Haare fallen akkurat auf Länge und umschmeicheln das makellose Gesicht einer sehr zarten, bildhübschen Frau. Sie lächelt durch zwei perfekte, blendend weiße Zahnreihen. Ihre Stimme klingt angenehm tief, belegt vom kalten Berliner Sommer.
„You look so much better without your Beretta, wer hat das nochmal gesagt?” fragt sie und posiert dabei so sexy, dass Leon nur noch an das eine denken kann.
„Na wer wohl.”
Leon ist andererseits auch ein bisschen genervt, dass er ausgerechnet von seiner Trainerin hat Saures einstecken müssen, doch Arianne geht einen Schritt auf ihn zu und gibt ihm einen schnellen Kuss - ein wenig zu distanziert und nur auf die Backe. Das ist ihm heute zu wenig, er hat sich mehr erwartet.
„Alles Gute mein Liebster, ist ja Dein großer Tag heute”, lenkt sie ab und dreht sich im Weggehen nochmals um.
„Übrigens, es wird leider nix mit ‘nem gemeinsamen Urlaub auf Malle, ich habe da gestern so einen Typen im Berghain kennengelernt, da würdest sogar du abschnallen.”
Leon scheint nicht überrascht zu sein. Das war es also, er hat es sofort gespürt. Ihre Schläge waren diesmal härter ewesen als jemals zuvor.
„Wahrscheinlich auch besser so”, murmelt er in sein nasses Handtuch, gerade als die erbsengrüne Eisentür der “Bundespolizei-Sport- und Trainingshalle Berlin Marzahn” aufgestoßen wird und im Gänsemarsch an die zwanzig Bullen in Uniform plus etliche Zivilbeamte einmarschieren. Der erste Beamte trägt feierlich eine Geburtstagstorte mit brennenden Kerzen, und auf das Kommando „Stillgestanden!“ schlagen sie synchron die Hacken zusammen. Alles Leon zu Ehren, denn er ist der Liebling der Truppe und hat heute Geburtstag. Plastikbecher mit Rotkäppchen-Sekt werden gefüllt und herumgereicht und dann stimmen die Kollegen ein mehr oder weniger gut klingendes “cumpleaños feliz, cumpleaños para Leon” an. Holger Kamm löst sich aus der Gruppe, die zahlreichen Streifen auf seiner Uniform verraten den Rang eines Polizeioberrats. Er wendet sich an Leon wie an einen alten Freund.
„Herr Kriminalhauptkommissar Hebler, mein lieber Leon, alles Gute! Das Lied hat die Fahrbereitschaft für Dich mehr oder weniger gut einstudiert, übersetzt soll es wohl heißen - zum Geburtstag viel Glück - oder so ähnlich, aber morgen wirst Du es ja selber sehen und sagen, also das kommt mir alles ein wenig Spanisch vor. Hahaha.”
So gut war der Witz nun auch wieder nicht, denkt Leon, macht aber seinem Vorgesetzten zuliebe ein äußerst vergnügtes Gesicht. Die Gruppe hingegen biegt sich vor Lachen. Jemand legt den Sommerhit vom letzten Jahr auf und Jürgen Drews, der König von Mallorca, dröhnt jetzt krächzend aus dem Lautsprecher. Holger Kamm, schon ein wenig beschwipst geht auf Leon zu und lallt ihm ins Ohr.
„Ich muss Dich noch ein wenig einweisen in deinen Sommerjob, damit Du mir nicht auf dumme Gedanken kommst. Die Uniform wird Dir wieder mal gut stehen nach all den Jahren in Zivil. Ein paar hübsche Bienen werden da sicher auch rumfliegen aber Achtung - Du hast als Polizist in erster Linie die Interessen der Bundesrepublik Deutschland zu vertreten.”
Damit knufft er Leon kollegial in die Rippen und muss selbst über seinen gutgemeinten Rat lachen. Leon prostet allen nochmal zu und stellt den vollen Becher Sekt ab. Holger Kamm ist jetzt ganz Macho.
„Aber ein bisschen Spaß darfst Du schon haben Kollege, bist ja dem Vergnügen nicht gerade abgeneigt, wie man soeben sehen konnte.”
Schön ist anders
Flughafen BER, Aussenposition, Nieselregen. Das Gruppenfoto der Mitglieder des Fußballvereins „Lokomotive Zwickau“ ist obligat.
„Selfie“, schreien sie alle ganz laut. Es ist 5: 52 Uhr am Morgen und die Jungs sind nicht mehr ganz nüchtern oder sie sind noch nicht wieder nüchtern. Selbstsicher haben sie vor und auf der Gangway des Billigfliegers Aufstellung genommen und halten ihre Bierdosen hoch.
„Haste die Maschine ooch im Bild?“ ruft einer der Chaoten dem Fotografierenden zu, der mit dem Handy herumfuchtelt.
Es bildet sich ein Massenstau von ungeduldigen, grauen Frühfliegern, die alle ins Trockene wollen, aber keiner kommt mehr durch. Eine Stewardess vom Bodenpersonal eilt mit wehenden Armen herbei. Der Captain deutet vom Cockpit aus nervös auf seine Uhr.
„Maaalllooorcaaa, Maaalllooorcaaa, zwicke zwacke zwicke zwacke!“, grölen die Zwickauer. Manche haben das T-Shirt mit dem Namen des Vereins bereits ausgezogen und wedeln damit wild durch die Luft. Die nachdrängenden Passagiere werden angepöbelt.
„Verpiss Dich, du Pissnelke“, sagt einer der Zwickau-Fans, als sich eine ältere Dame an ihm vorbeidrücken will.
„Meine Herren, Sie müssen jetzt sofort einsteigen!“ ruft die Stewardess durch ein Megaphon. Der kleinste und dümmste Ganzkörpertätowierte unter ihnen kreischt laut auf.
„Oh hört hört, sie sagt meine Herren zu uns, die Schickse, det schaffisch nich. Ey, bring uns lieba noch‘n kühles Bier hier raus, Alde. Wir vatrocknen grad, trotz‘m Regen.“
Leon steht geduldig in der Schlange und schämt sich für das Verhalten seiner Landsleute. Einen Moment länger und seine Schmerzgrenze wäre erreicht. Es kommt glücklicherweise Hilfe in Form einiger bärenstarker Männer von der Airport Security welche die Randalierer schnell aussortieren.
„Den Flug könnt ihr knicken“, sagt ein bulliger Airport-Offizieller.
„Ick hab doch bezahlt for det Digged“, schreit der Letzte, der unter Zwang zurück in die Halle geschleust wird.
Mit qualmenden Reifen setzt der Flieger endlich auf dem kochenden Asphalt von Palmas International Airport auf. Pepe Diaz, ein Polizist der Guardia Civil wartet an der Ausgabe für übergroßes Gepäck. Er vergleicht das Handyporträt Leons mit der Masse der Ankommenden. Ein breites, herzliches Grinsen bildet sich endlich auf seinem runden Gesicht.
„Herzlich willkommen auf Mallorca, Señor Hebler, mein Name ist Josep oder Pep, oder besser Pepito, oder am besten Pepe.”
„Leon, con mucho gusto”, antwortet Leon, während er einen Hightech-Fahrradkoffer in Empfang nimmt. Pepe rollt Leons zweiten Koffer neben sich her. Ein ungleiches Pärchen, Leon schlank und rank, sportlich bis zum Abwinken und sein dicklicher, gemütlicher spanischer Kollege, der gerne lacht, gerne trinkt und wahrscheinlich gerne in der Kneipe sitzt. Mit bewunderndem Blick auf Leons Koffer staunt er.
„Bicicleta? Fahrrad auf Deutsch, mhh?”
„Si”, antwortet Leon geduldig und wünscht sich, er hätte ein Taxi genommen. Ihm ist nicht nach Konversation, der Flug war rumpelig und zu essen oder trinken gab es sowieso nichts. Der peinliche Applaus nach der Landung klingt ihm noch jetzt in den Ohren nach.
Die beiden hieven den unförmigen Koffer in den SUV der Guardia Civil, Pepe macht das Blaulicht an und auf diese Weise schaffen sie es in wenigen Minuten zur Gästewohnung der Polizei in der Leon seine nächsten Wochen verbringen wird.
„Kennst du Mallorca?“ fragt Pepe und betätigt dabei unentwegt die Sirene.
„Hauptsächlich vom Fahrradsattel aus, dreimal den Mallorca Rad-Marathon mitgemacht.“
„Dios mio. Respeto, respeto.“
Die Dienstwohnung ist einfach, aber hübsch, das Beste ist der Blick über den langen Strand von El Arenal, dem deutschen Urlaubsparadies.
„Hast nicht weit in die Arbeit Leon“, grinst Pepe, als sie schwitzend im sechsten Stock ankommen und die Fahrradbox abstellen.
„Morgen geht's los mit dem Ernst des Lebens. Mañana por la mañana, Punkt acht an der Playa.“
Pepe spielt auf betont amtlich. Als Leon nichts erwidert, guckt er ihn an und lacht lauthals los.
„War nur ein Scherz, musst Du nicht ernst nehmen. Nicht acht Uhr, besser a las diez, um zehn unten an der Bar Los Alemanes Numero 6, kurz LA6 genannt, aber mallorquinische 10 Uhr, verstehst Du? Das heißt nämlich frühestens um halb elf, comprende, companero? Und um 11.00 sind wir bei El Presidente vorgeladen, sehr harter Tag morgen.“ Abermals prustet er los.
„Ok, hab verstanden, erklärst Du mir dann auch noch die anderen Dienstvorschriften, ich meine die, die sich außerhalb der Bars befinden?“
Aber da läuft Pepe schon fröhlich pfeifend die Treppe he runter.
„Si, am Abend erklär ich sie dir, in der LA6. Te llamaré, ich ruf Dich an.“
Eine Etage unter Leon öffnet eine elegante alte Dame, gekleidet in ein weißes Strandkleid und mit Strohhut die Wohnungstür. Ihr kleines Hündchen, ein Rato Mallorquin, kläfft heftig. Sie schaut neugierig hoch zu Leon.
„Buenas Señora Stella, va be? Geht es ihnen gut? Sie haben einen neuen Nachbarn, Señor Leon“, ruft ihr Pepe im Vorbeilaufen zu.
„Va be, Pepe, va be“, brummt sie etwas verschlafen.
Das Paradies
Der heutige Montag ist noch jung, der Frühflieger hat die Verspätung leicht einholen können, die wegen der blöden Trottel entstanden ist. Da es sein letzter freier Tag vor Dienstantritt ist, schraubt Leon mit ein paar Handgriffen sein Rad zusammen. Und nichts wie los. Er kennt die besten Radtouren auf der Insel und nutzt den morgendlichen Südwestwind, um sich wie in Trance durch die Pla y Llevant tragen zu lassen, wo der Wein schon weit gediehen ist. Llucmajor, Campos, Ses Salines. Die schönsten Landstriche der Insel fliegen links und rechts an ihm vorbei, gelb blühender Riesenfenchel wechselt sich mit duftenden Wildblumen ab. Jede Finca ist ein Zeugnis perfekt funktionierender Landwirtschaft. Oliven, Mandeln, Feigen, Getreide und Schafzucht. Die uralten Bauernhöfe sitzen mitten drin in fetter, dunkelroter oder brauner Erde. Leon winkt dem Hirten zu, der seinen kläffenden Pastor Mallorquin scharf zurückpfeift, bevor der ihm das Vorderrad zerbeißen kann.
Eine letzte Steigung noch und dann die schnellen drei Kilometer ruppigen Feldwegs runter zur Cala Marmols, seiner Lieblingsbucht. Hier geht schlichtweg der Wunschtraum eines jeden Radlers in Erfüllung.
Das Mountainbike war doch die bessere Entscheidung. Mit seinem Hightech-Rennrad wäre die Tour schon hier zu Ende, inklusive zweier platter Reifen. Leon hat gut Kilometer gemacht, unter zweieinhalb Stunden für die gesamte Strecke, und jetzt freut er sich auf den intensiven Geruch des Mittelmeers.
„Wat mach ick da in Marzahn“, albert Leon laut vor sich hin und nimmt einen schnellen Schluck aus der Powerdrink-Flasche.
Das smaragdblaue Meer ist zum Greifen nahe. Das Tosen der Brandung wird lauter. Eine zungenförmige Playa mit grellweißem Sand liegt tief unter ihm. Er lehnt das Rad an einen uralten Olivenbaum, greift sich einen Energieriegel zur Trinkflasche und klettert bergab in Richtung des blauen Horizonts. Das ist nicht bloß einfaches Blau, das sind sämtliche Blautöne, die zwischen Himmel und Wasser vorstellbar sind. Eine schneeweiße Wolke verstärkt den Kontrast, während eine mallorquinische Llaut unter Segeln weit draußen die Wellen durchpflügt.
Licht! Er liebt das Licht über alles, und so wie hier hat er es vielleicht erst einmal auf seiner Gewalttour über die Zentralalpen erlebt. Zwischen Großvenediger und Großglockner. Ziemlich hart war das.
Die Klippe vorne ist geeignet für eine längst fällige Rast. Ein Mönchsgeier zieht reglos seine Runden in der aufkommenden Thermik. Was für ein prächtiger Vogel. Schon bald stößt ein zweiter hinzu und die Kreise werden enger. Sie gleiten auf der steifen Südwest-Brise, die gleichzeitig auch eine sehr starke Brandung erzeugt. Wahrscheinlich erspähen sie eine schwächelnde Bergziege, denkt Leon. Doch da steigen die beiden schon wieder hoch hinauf und verschwinden hinten in den Bergen der Sierra Tramuntana.
Die letzten Tage in Berlin waren richtig stressig. Er hatte einen äußerst kniffligen Mordfall aufgeklärt: Eine Frau hatte ihren Mann getötet und war verschwunden. Nach mehreren Tagen hatte ihr kleiner Pudel damit begonnen, sein totes Herrchen anzuknabbern. Leon hatte sich am Tatort, einer asozialen Plattenbauwohnung nahe der Wuhlheide ein schreckliches Bild geboten. Die Frau hatte sich schließlich gestellt und vor Leon ein umfangreiches Geständnis abgelegt.
Seine Erinnerungen daran verschwinden beim Anblick dieser perfekt ausgeloteten Mischung aus Flora und Fauna. Einfach paradiesisch hier.
Leon will gerade einen weiteren Schluck aus der Trinkflasche nehmen, als sich der Donner der Wellen mit einem Geräusch vermischt das er nicht zuordnen kann. Ein Schlagen auf Stein, aber anders als das Bersten von Brandung. Ist es das Brechen von Holz? Nein, zu metallisch. Das Schlagen von Metall auf Stein? Schon eher.
„Aidez moi, aidez moi, s´il vous plait. Aidez moi, m´aidez, m´aidez!“
Mayday, das klingt für ihn, den ausgebildeten Kampfschwimmer vertraut. Leon vernimmt die zischenden, leisen Rufe, kaum hörbar, doch sie werden lauter und deutlicher. Vorsichtig, auf allen Vieren kriecht er auf den Abgrund zu. Wie eine Blende schieben sich am Ende des Kliffs die Strudel des tosenden Wassers in seinen Blick. Wasser mit der Wucht ungebremster Energie, das nach einer unendlich langen Reise frontal auf den nackten Felsen stößt. Und da sieht er etwas auf einem muschelbewachsenen, mit scharfen Zacken bewehrten Brocken hängen. Dem Ertrinken nahe, blutüberströmt, offene Wunden am ganzen Körper, flehend und bitterlich weinend – ein abgemagerter Junge, höchstens dreizehn Jahre alt. Die Überreste der zerfetzten Planken eines viel zu kleinen Bootes drohen ihn mehr unter Wasser zu ziehen, als sie ihm helfen könnten. Die Reste einer Schwimmweste hängt in Fetzen an ihm, sie könnte ihn nicht mehr über Wasser halten. Er blickt verzweifelt hoch, wo Leon kauert.
„M´aidez, Monsieur, m´aidez!“
„Halte durch, ich komme!”
Leon ist entschlossen, den Sprung zu wagen. Für ihn gibt es gar keine Alternative. Die Klippe ist überhängend. Er checkt die Wassertiefe auf zwei Meter fünfzig. Eigentlich viel zu wenig für die Absprunghöhe. Ohne langes Nachdenken hechtet er voll durchgestreckt von dem Felsvorsprung in die tosenden Fluten. Er zielt mit seinem Kopf auf eine kleine ringförmige Öffnung zu, da wo die Wasserfarbe etwas tiefer blau ist. Bei der Landung berührt er den felsigen Grund mit seinen ausgestreckten Armen und stößt sich sofort wieder ab. Die Strömung arbeitet gegen ihn, und mit allergrößter Anstrengung kämpft er gegen sie an. Als er den Jungen endlich fassen kann, versucht er ihn von der bedrohlichen Felswand loszureißen, bevor der nächste Brecher kommt. Doch der Junge sträubt sich aus purer Angst und klammert sich an einer genagelten Bootsplanke fest. Endlich gelingt es Leon mit einer ruckartigen Bewegung, ihn loszubekommen. Er merkt sofort, dass der Schiffbrüchige nicht schwimmen kann.
„Hol tief Luft, Du musst tief Luft holen. Atme! Respirar!”
Leon macht es ihm vor, und schon werden sie unter Wasser von der Strömung hinausgezogen, das panische Strampeln des Jungen macht den Rettungsversuch schier unmöglich. Fest krallt er seine Fingernägel in die Haut seines Retters. Der Strand liegt bloß ein paar hundert Meter links herum, aber die Strömung ist verdammt stark. Viel zu weit draußen kreuzt die kleine Llaut hart am Wind und kann die Handzeichen nicht erkennen die Leon macht.
Nach einer gefühlten Ewigkeit mit Zwangspausen mehrmaligen Luftholens schafft es Leon endlich und spürt den feinen Sand unter den Füssen. Die beiden tauchen auf einem weißen, flachen Sandstrand auf, den Schiffbrüchigen hat er dabei fest im Arm. Wimmernd liegt nun ein Bündel Mensch direkt vor ihm in der sanften Brandung. Leon blickt in die halbtoten, pechschwarzen Augen eines dunkelhäutigen Jungen, der wahrscheinlich noch nie in seinem Leben größere Angst verspürt hatte als in den letzten Stunden. Zitternd und am ganzen Körper blutend beginnt er endlich, halbe Sätze zu stammeln.
„Monsieur, nom est Omar, et …votre nom?“
„Leon“, sagt Leon.
Dabei hält er Omar am Handgelenk, fühlt seinen Puls. Der scheint in Ordnung zu sein.
„Leon, Leon merci… merci“, schluchzt Omar und die Tränen fließen in Strömen, dabei tastet er suchend an Hals und Brust. Leon entdeckt ein Medaillon, das Omar an einer Kette am Rücken klebt. Er nimmt es und legt es ihm in die zitternden Hände. Omar beginnt, das Medaillon zu küssen.
„Merci Leon, merci, c´est ma mere.“ Er öffnet das Medaillon und zeigt Leon ein vollkommen verschwommenes, aufgeweichtes Schwarzweiß-Foto einer Frau im Hijab. Jetzt lächelt Omar zum ersten Mal.
„Ma mere, est en Algérie.“
Leon zieht sein Telefon aus der durchnässten Kleidung, aber es hat den Rettungsversuch offensichtlich nicht überlebt. Er versucht es immer wieder zu starten, aber das Display bleibt schwarz. Weit und breit keine Menschenseele, nur Natur. Wenigstens haben die starken Schürfwunden auf Omars Gesicht aufgehört zu bluten. Leon versucht, ihn hoch zu hieven. Sehr unsicher richtet sich Omar auf. Vom einfallenden Landwind getragen, schweben die beiden Mönchsgeier abermals heran und ihre Augenpaare scheinen sie zu fixieren.
„Kannst Du gehen?“
Leon stützt ihn und unter Stöhnen macht Omar die ersten Schritte. Nach nicht enden wollenden, schmerzhaften Metern kommen sie endlich bei Leons Mountainbike an, wo er Omar mit den restlichen Vorräten füttert, der alles in sich hineinschlingt und den restlichen Inhalt der Trinkflasche hinterherstürzt.
Leon versucht abermals, sein Telefon zum Leben zu erwecken – nichts. Er entfernt sich einige Schritte, um sich einen Überblick zu verschaffen. Keine Menschen, zu weit entfernt von der Zivilisation, Mallorca ohne Touristen, ein Wunder, aber gar nicht gut in diesem Moment.
Omar hat sich auf den Stumpf eines alten Olivenbaumes fallen lassen und atmet schwer. Leon wünscht, er hätte irgend etwas zum Desinfizieren dabei. Zu Blut und Schweiß mischen sich immer wieder Tränen in Omars Gesicht.
„Baby-Schwester Fatima Zohra ist ertrunken, sie hat im Boot gespielt, ist reingefallen. Mein großer Bruder Sihab ist ihr nachgesprungen und auch ertrunken, alle zwei im Meer ertrunken. Bruder Sihab hat Schwimmweste nicht angelegt und kann nicht schwimmen, Wind hat das Boot weitergetrieben, weiter und immer weiter. Er gestrampelt und gerufen mit Fatima Zohra im Arm, immer kleiner geworden, dann ich sie nicht mehr gesehen.“
Weinkrämpfe schütteln ihn erbärmlich.
Leon hält ihn fest im Arm und versucht, ihm etwas Trost zu geben. Omar beruhigt sich, er ist ein tapferer Bursche, doch sein Leben steht immer noch auf dem Spiel. Leon erhebt sich, aber Omar will seine Hand nicht loslassen. Zu groß ist seine Angst, wieder allein gelassen zu werden.
„Bleib bei mir, Leon, bitte nicht weggehen. Mama hat uns ins Boot gesetzt und gesagt, wir kommen ganz sicher in eine schöne Welt. Sie ist ganz lange gestanden am Strand, bis sie auch ganz klein war und dann war sie weg, das ganze Land war auf einmal weg.“
„Ich bleib bei Dir, versprochen“, sagt Leon, während er einen kleinen Felsen besteigt. Er dreht sich langsam und konzentriert um die eigene Achse, versucht jede Auffälligkeit zu registrieren – nichts.
Doch plötzlich sieht er über den Baumwipfeln die Umrisse einer Struktur, ein Kreuz etwa? Er steigt etwas höher auf den kleinen Felsen und erkennt weit oben, am Gipfel des Berges Teile eines Turms. Als ein dünnes Bimmeln einsetzt weiß er, dass dies die Rettung sein könnte.
Omars Wunden haben wieder zu bluten begonnen.
„Omar, komm, vite!“
Die beiden folgen einem schmalen Steig, der eher für Ziegen geeignet ist als für Menschen, aber immerhin führt er sie in die Richtung des Geläuts. Schritt für Schritt, extrem langsam bahnen sie sich ihren Weg durch die schier undurchdringliche Macchia.
Die Nummer
Ein grüner, zerbeulter Pick-Up parkt versteckt im Wald hinter einem Hügel am Ende eines Wegs, der eigentlich unbefahrbar ist. Der Fahrer beobachtet das seltsame Pärchen schon länger durch ein Fernglas. Immer wieder verschwinden sie zwischen den Büschen, tauchen aber wieder auf. Seine etwas verlotterte Beifahrerin macht es sich gerade zwischen seinen Schenkeln bequem.
„Dimitri Honey, ready?“
Sie grinst ihn billig an.
„Halt die Schnauze, ich muss mich auf was anderes konzentrieren.”
Dimitri beginnt leise zu stöhnen, lässt dabei aber den verletzten Jungen und seinen Begleiter nicht aus dem Blick.
„Ja, Du bist gut, Schlampe“, stöhnt er und nimmt sein Telefon zur Hand.
„Manolo? Dimitri hier. Sag, haben wir heute Bewegung auf dem Radar, sind irgendwelche Illegalen im Boot gesichtet worden, oder werden erwartet?“
Dimitri beginnt zu Keuchen.
„Nein? Nein, ich keuche nicht, wieso fragst Du? Also… ah, ahhhh, ahhhh… ha, keine offiziellen Neuzugänge, gut, Ende“.
Die junge Frau kommt vom Nebensitz hoch und strahlt ihn an, Dimitri nickt ihr zufrieden zu.
„Kleenex?“ fragt sie und leckt sich die Lippen.
„Njet, musst Du Dir selber mitbringen nächste Mal, aber okay Honey, du hast den Job.”
Sie scheint überglücklich zu sein und Dimitri gibt Vollgas. Kiesel spritzt auf, über die Landschaft legt sich langsam gelber Saharasand.
Gerettet
Erschöpft erreichen Leon und Omar endlich das Portal einer abgelegenen Eremitage. Die letzten paar Hundert Meter musste Leon ihn Huckepack tragen.
Dem Himmel so nah, beinahe unerreichbar für normale Erdenmenschen – das war wohl die Philosophie der Erbauer vor 400 Jahren. Leon schlägt beharrlich auf die riesige Holztür ein. Er befürchtet, dass man sein Pochen mit dem schweren Eisenring in den Tiefen des Gebäudes nicht hören wird und schlägt stärker. Endlich öffnet eine zierliche Nonne um die zwanzig.
„Buenos dias, sprechen Sie Deutsch, English? Agua, Wasser bitte. Der Junge braucht Wasser.“
Die Schwester nickt nur abwesend und Leon beginnt seine Situation zu schildern.
„Ich benötige dringend ein Telefon, ich muss Hilfe holen, er ist ein Schiffbrüchiger. Ich arbeite bei der Guardia Civil, mein Handy ist ins Meer gefallen, bitte lassen Sie mich telefonieren. Sie sehen doch, er ist schwer verletzt.“
Die Nonne nimmt Omar am Arm und verschwindet mit ihm in den dunklen Tiefen der verwinkelten Klostergänge. Leon folgt ihnen. Von außen hat die Eremitage nicht den Eindruck dieser immensen Größe gemacht. Fackeln und Petroleumlampen an Wänden und auf Tischen lassen ihn vermuten, dass es hier weder Strom noch Telefon gibt. Die Nonne verschwindet hinter einer Tür und bedeutet Leon zu warten. Alles erscheint ihm ein wenig unheimlich.
Leon wird nach einer gefühlten Ewigkeit des Wartens unruhig, öffnet die angelehnte Tür und findet sich in der Dunkelheit kaum zurecht. Hie und da eine brennende Fackel, ganz hinten erkennt er einen Raum mit Tageslichteinfall. Drei Nonnen sind um einen Tisch versammelt, auf dem Omar liegt. Zwei jüngere und eine alte Nonne im Rollstuhl. Es riecht intensiv nach Kräutercreme, mit der die beiden jungen Nonnen ihn salben. Die Ältere beginnt nach einer Weile, ein Gebet zu murmeln. Omars Wunden sind fast vollständig gesäubert. Leon tritt näher an den Behandlungstisch ran. Die zweite junge Nonne wendet sich nun an ihn.
„Ich bin Schwester Isolde von den Franziskanerinnen hier auf Santa Magdalena. Wir übten gerade unsere Schweigepflicht aus als Sie kamen, entschuldigen Sie bitte. Der junge Mann, oder besser gesagt das Kind hier befindet sich in einem Schockzustand. Außerdem ist er unterkühlt und dehydriert. Wir wollen ihn gesund pflegen. Sie können heute beruhigt nach Hause gehen. Er bleibt hier. Holen sie ihn morgen früh bei mir ab, wir reden dann über die Nachbehandlung. Ich übernehme die Verantwortung.“
Omar scheint eingeschlafen zu sein. Leon ist froh über den Verlauf der Dinge, dankt den Nonnen und kündigt sich für den nächsten Morgen an.
Eine Tretmühle
Die Fahrt fällt ihm leicht, er hat ein Leben gerettet, was für ein gutes Gefühl ist das denn. Die Sonne taucht majestätisch ins Mittelmeer ein und zeichnet einen farbenprächtigen Horizont aus Magenta und Cyan, als Leons Telefon plötzlich schrillt. Der Fahrtwind hat die Platine getrocknet.
„Buenas tardes Pepe, Du hast mein Telefon erfolgreich wiederbelebt. Nein, nein, alles gut, ich habe so einiges erlebt. Lass uns treffen. Na wo, in der Bar Los Alemanes 6, Du kennst doch nix anderes, hahaha, claro.“
„Sag mir sofort, was passiert ist.“ Pepe und sein grässlicher Bullen-Instinkt. Er will alles wissen und das natürlich sofort. Leon tritt fester in die Pedale und schildert ihm dabei die Eckdaten der vergangenen Stunden.
Er fühlt eine innere Erleichterung, als er sich im Schein seiner Xenonlampe dem abendlichen Palma nähert, er kommt sich vor wie ein Pfadfinder, der eine gute Tat vollbracht hat. Morgen wird er mit Pepe die nötigen Behördenwege beschreiten, das ist das Beste, was er für den kleinen Omar im Augenblick tun kann.
Das Treten wird anstrengender, fast zur Qual. Der Fallwind aus der Tramuntana nimmt an Geschwindigkeit zu und wächst zum Sturm an. Gnadenlos bläst es jetzt Leon ins Gesicht, aber genau das spornt seine Gedanken an. Gedanken, die nichts mit den Dienstpflichten eines Gastpolizisten in Spanien zu tun haben.
Ist das denn wirklich das Beste, was er für den jungen Flüchtling tun kann? Ihn bei der Behörde abgeben und sich nicht weiter zu kümmern? Im Geiste recherchiert er, was der heutige Tag für Omars Schicksal bedeutet. Wie wird es weitergehen mit ihm? Gut oder schlecht? Wie stehen die Chancen für einen minderjährigen Flüchtling ohne Begleitung?
Vor Leons Augen tun sich die schrecklichen Bilder von hilflos und verloren herumirrenden Jugendlichen auf, zusammengetrieben auf Zeltplätzen, ohne Heimat, vor Nato-Stacheldraht und anderen Absperrungen weinend, wartend, nach endlosen Fußmärschen, die sie durch halb Europa zurückgelegt haben, Hitze, Kälte, Hunger, ohne Freunde, ohne Ausbildung, ohne Zukunft, ohne Chance.
Leon tritt hartnäckiger in die Pedale, er ist jetzt mitten in einem ausgewachsenen Sandsturm. Seine Augen schmerzen, aber das Leben ist nun mal eine Tretmühle. Er wünschte, er könnte auf Omars Schicksal Einfluss nehmen. Aber wie?
Vorwürfe
Eine Stunde später betritt er frisch geduscht die überfüllte Bar, Pepe hat schon einige Biere mit grünen Kräuterschnäpsen - Hierbas – intus und blickt seinen Partner mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck an.
„Leon, wir müssen den Waldbrand eindämmen, bevor er groß ausbricht. Spanien ist sehr strikt, die Behörden verstehen in Flüchtlingsangelegenheiten überhaupt keinen Spaß. Mallorca ist immerhin die direkte Grenze zu Afrika, da ist nur Wasser dazwischen. Wir müssen das morgen sofort mit der Hafenbehörde klären.”
Leon versteht, erkennt mehr und mehr den Ernst der Lage. Pepe setzt seinen Vortrag unverdrossen fort.
„Ich kenn da jemanden, der jemanden kennt, der uns bei Fragen zu refugiados – Flüchtlingen helfen wird. Es kann aber sein, dass sich das Blatt gegen Dich wendet. Wir hier sagen: mejor no tocar, besser nicht anfassen, wenn es um dieses Thema geht.”
Leon reagiert jetzt schärfer, als es ihm im spanischen Ausland zusteht.
„Und, was hätte ich Deiner Meinung nach tun sollen? Den Jungen in der Brandung am Fels hängen und ersaufen lassen?“, fragt Leon gereizt.
Pepe lenkt ein, als er merkt, wie sensibel Leon reagiert.
„Is ja schon gut, mein Freund, alles gut, wir behaupten morgen einfach, wir haben ihn gerade erst gefunden, wenn wir ihn bei der Hafenpolizei, also der Grupo Servicio Marítimo abliefern. Okay? Okay? Nix von Kloster und so. Gerade gefunden, gleich abgegeben und keine Fragen. Claro? Nicht einmischen. No tocar, claro“.
Leon starrt vor sich hin, langsam wird ihm klar, dass er gegen das Gesetz verstoßen, dadurch aber ein Leben gerettet hat.
„Claro“, sagt er in Richtung wild tanzender Partygäste und erhebt sich, er will jetzt nur noch ins Bett. Pepe würde ihn gerne zum Bleiben überreden, doch für Leon war der Tag schon viel zu lang. Er dreht sich noch einmal um.
„Morgen um acht bei mir, aber deutsche Zeit. Dann sind wir um elf vom Kloster zurück für die Angelobung durch den Präsidenten, und danach vergessen wir das alles, Claro?“
„Claro“, sagt Pepe und weiß, dass er Leon ziemlich arg beleidigt hat. Er hatte kein Lob für ihn parat, obwohl dieser heldenhaft ein Leben gerettet und sein eigenes aufs Spiel gesetzt hat. Pepe schenkt sich noch einen Letzten ein und ist auf sich selbst ziemlich stinkesauer.
Leon flucht, während er die zwei Blocks zu seiner Bleibe zurücklegt.
“Korinthenkackender-Besserwissender-Langweiler-Arschloch-Bulle”, brummt er vor sich hin.
Neuer Wind
Am nächsten Morgen um Punkt acht fegen Pepe und Leon mit Blaulicht Richtung Osten. Autobahn, engste einspurige Nebenstraßen, endlose Serpentinen und 400 Meter Geröllweg. Sie sprechen kein Wort miteinander, bis endlich das Kloster Santa Magdalena auftaucht. Leon hechtet aus dem Auto und streckt sich, froh darüber, dass die wilde Schaukelei ein Ende genommen hat. Nach einer schlaflosen Nacht voller Sekundenträume ist er mental vollkommen erledigt. Der Sprung von der Klippe, das blutende Gesicht Omars, die schweigenden Nonnen. Immer wieder diese Horrorbilder von Kindern an versperrten Grenzzäunen.
Pepe pocht mit dem eisernen Ring gegen das Holztor. Die junge Nonne vom Vortag öffnet ganz langsam. Sie hat einen wesentlich ruhigeren Puls als die beiden aufgeregten Polizisten in Uniform.
„Señores?“, fragt sie, als würde sie nicht verstehen, warum die beiden hier sind. Leon reagiert ungeduldig.
„Schwester Isolde, wir suchen Schwester Isolde.“
Leon will jetzt alles schnell hinter sich bringen und dazu passt diese verlangsamte Nonne gar nicht. Pepe versucht zu vermitteln.
„Monja, Schwester, como te llamas?”
Die junge Nonne errötet, bevor sie ihren Namen sagt.
„Soy Luzdivina. Ich heiße Luzdivina.”
Das klingt für Pepe wie eine warme Sommerbrise.
„Was für ein schöner Name, ich bin Pepe. Also Luzdivina, wir haben eine Verabredung mit Schwester Isolde.”
Pepe ist augenblicklich von Luzdivinas unschuldiger Erscheinung betört, aber er darf nicht einmal daran denken – mit einer Ordensfrau. Nein, das geht gar nicht. Außerdem haben Ordensfrauen doch bekannterweise überhaupt kein Privatleben. Und er, er leidet gerade sehr schwer unter seinem Singledasein.
„Um diese Uhrzeit ist sie in der Kapelle, en la capilla“, antwortet Luzdivina schnell.
„Molts be, gracies“, sagt Pepe auf Mallorquin und hat damit sofort freien Zutritt.
Luzdivina lächelt jetzt sogar und bedeutet ihnen, ihr zu folgen. Die langen Gänge erscheinen Leon diesmal noch unübersichtlicher. In den scharfen Sonnenstrahlen, durch die Luzdivina ab und zu schreitet, kann Pepe die klaren Umrisse ihres Körpers erahnen. Leon merkt das sehr wohl. Er muss lachen als er beobachtet, wie sich Pepe mehrmals selbst ohrfeigt, um seine unanständigen Gedanken zu vertreiben. Sie durchqueren den Kreuzgang und landen endlich vor der Kapelle. Vorsichtig öffnet Luzdivina die ächzende Holztür, während die Sonne langsam an dem dreifarbigen Bleiglasfenster hochkriecht. Reste von Weihrauch formen einen scharfen Strahl, der direkt auf Schwester Isolde trifft. Sie sitzt bewegungslos da und schweigt. Leon flüstert Pepe zu, dass es sich hier um das bei Franziskanerinnen übliche Schweigegelübde handelt.
„Sie dürfen oft stundenlang nicht sprechen, also warten wir besser.“
Pepe rollt ungeduldig mit den Augen.
„Cuánto tiempo se tarda Luzdivina? Wie lange wird das noch dauern?“
„No lo sé, ich weiß nicht. Kann man nie genau sagen.”
Pepe lässt sich stöhnend in die hinterste Kirchenbank fallen, Leon tut es ihm gleich. Nach einigen Minuten wird Pepe ungeduldig. Luzdivina merkt das und will sich nützlich machen.
„Dos cafés por los Caballeros?“ fragt sie.
Ein Wunder scheint zu passieren, ja – natürlich Kaffee, das wäre es jetzt.
„Si, con mucho gusto, sehr gern”, nickt Pepe begeistert und Luzdivina macht sich sogleich auf den Weg in die Küche.
„Sie bringt uns gleich zwei Kaffee, Du willst doch sicher auch einen, oder?“
Pepe haucht seine Frage aus, um Isoldes Andacht nicht zu stören, will sich aber auch gleichzeitig bei Leon rehabilitieren. Die Unstimmigkeit des letzten Abends steckt ihm immer noch in den Knochen. Gerade will er dazu etwas sagen, als ihm Leon ebenfalls flüsternd dazwischen grätscht.
„Pass mal auf, gestern in der Bar warst Du ein absoluter Arsch, aber das ist jetzt vergessen, claro? Du musst dich nicht mehr bei mir einschleimen. Es ist vergessen und vorbei.”
Worte, die Pepe versteht. Leon streckt ihm versöhnlich die Hand hin und Pepe schlägt zufrieden ein.
„Si Señor. Claro.”
Hier sitzen sie nun und warten, bis das Schweigegelübde ein Ende nimmt. Ein Windstoß weht durch die karge romanische Kapelle. Mit lautem Krach fällt die Tür hinter ihnen ins Schloss und lässt die brennenden Kerzen am Altar zunächst erzittern und dann endgültig erlöschen. Leon erstarrt. Er kann nicht glauben, was er da sieht. Langsam wie in Zeitlupe, wahrscheinlich ausgelöst von der heftigen Böe, kippt Schwester Isolde nach vorne um und schlägt mit dem Kopf auf der Kirchenbank vor ihr auf, driftet nach links weg, sackt in sich zusammen und kommt auf den Steinplatten wie hingegossen auf dem Rücken zum Liegen. In ihrem Herzen steckt ein langes Fleischermesser. Sie ist tot. Pepe sprintet sofort zu ihr hin, ohne sie zu berühren winkt er ab. Er blickt in matte, starr aufgerissene Augen.
„Keine Chance”, ruft er in Richtung Leon und schließt der Toten die Augen. Mit einem lauten Knall lässt Leon einen Plastiksack aufspringen, zieht seine Gummihandschuhe an und geht an den Tatort. Mit dem I-Phone sind schnell ein paar Fotos gemacht, bevor er das lange Pata Negra Messer vorsichtig aus Isoldes Körper zieht.
„Alte Gewohnheit, bevor ein anderer auf schlechte Gedanken kommt.“
Das ist sein Job und den führt er jetzt mit großer Präzision aus.
Scheppern und Klirren tönt vom Eingang her. Luzdivina sieht die Tote und lässt vor Schreck die vollen Kaffeetassen fallen, stößt einen gellenden Schrei aus. Leon packt sie am Arm und wird jetzt lauter.
„Omar! Wo ist Omar? Luzdivina, wo hat Omar die Nacht zugebracht? Sein Zimmer? Wo?”
Luzdivina beginnt verwirrt mit bloßen Händen die Scherben aufzuklauben, starrt dann orientierungslos umher.
„Omar wurde heute früh schon abgeholt, er ist nicht mehr hier.”
Vor dem Kloster stehen wenig später etliche Guardia Civil-Autos. Die Beamten rennen eifrig hin und her, Leon übergibt dem Chef der Spurensicherung die Tatwaffe. Pepe ist am Telefon damit beschäftigt, immer wieder diese seltsame Geschichte zu erklären.
„Vale, Colonel, ein Mann mittleren Alters hat Omar, den jungen, wahrscheinlich minderjährigen Flüchtling sehr früh heute Morgen aus dem Kloster abgeholt. Nein, eigentlich wollten wir beide, Comisario Leon Hebler und ich den Jungen abholen, aber da war es schon zu spät. Ja, er wurde bereits von jemandem abgeholt, der sich als Polizist ausgab. Ja, nein ich weiß, das ist nicht gut, Colonel. Vale, venga.“
Leon checkt sein Handy, 10 Uhr 20. Er wird nervös.
„Wir müssen, komm Pepe. Entschuldigt uns, Kollegen. Aus unserer Sicht ist alles getan.“
Der Boss
Unter Blaulicht und Sirene rasen sie davon. Der Wagen hält 30 Minuten später vor dem Polizeipräsidium in Palmas Altstadt. Pepe und Leon, beide in den Uniformen ihres jeweiligen Landes, stürmen die Treppe des königlichen Prunkbaus hinauf. Ein Beamter bewacht die barocke Tür und bittet sie, leise zu sein. Pepe öffnet die Tür einen Spalt und sieht einen blumengeschmückten Festsaal voll mit uniformierten Polizisten. Der Polizeipräsident Rafel Miralles tritt in diesem Moment ans Mikrofon. Es herrscht absolute Stille. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, würde Pepe nicht gerade in diesem Moment die Tür einen Spalt öffnen, so dass sich beide durchmogeln können. Die alten Scharniere quietschen mächtig und Rafel Miralles quittiert das mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Señor Hebler, Señor Diaz auch schon da, na wie schön.“
Verhaltenes Gelächter kommt aus dem Publikum, bevor er fortsetzt.
„Liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich will heute unsere deutschen Freunde und Kollegen begrüßen und möchte ihnen mitteilen, dass sie auf Mallorca herzlichst willkommen sind.“
Applaus, zustimmende Pfiffe.
„Ihre Aufgabe wird es sein, auf besonders freundliche und diplomatische Art das Einhalten der Benimmregeln in den touristischen Ballungszentren zu überwachen oder zumindest auf diese hinzuweisen.“
Wieder Bravo und Applaus von den Kollegen.
„Besonders begrüße ich unsere schon zum zweiten Mal Diensttuende Traudl Unterberger, Herrn Günther Bayer und last but not least Herrn Kriminaloberkommissar Leon Hebler, der wie ich höre unter anderem auch ein masochistischer Radsportler ist und den Aufenthalt auf unserer schönen Insel bestimmt auch für sein Hobby nutzen wird.“
Die drei deutschen Polizisten erheben sich und machen mehr oder weniger faxenhafte Verbeugungen. Die anwesenden Guardia Civil-Beamten applaudieren ziemlich gelangweilt.
„Danke sehr, das war‘s dann. Ach und Herr Hebler und Herr Diaz, kommen Sie doch bitte noch kurz in mein Büro.“
Genau das, zum Rapport erscheinen zu müssen, haben Leon und Pepe bereits befürchtet.
Das Büro des Polizeipräsidenten ist das unmittelbare Nebenzimmer des Festsaals und nicht weniger prunkvoll ausgestattet. Freundlich lächelnd schließt Rafel Miralles die meterhohe Tür hinter sich und redet nicht lange um den heißen Brei herum.
„Guten Morgen, die Herren. Hier ist was ich weiß und ich denke es ist ziemlich komplex.“
Die drei nehmen an einem kleinen Kaffeetisch Platz und der Polizeipräsident beginnt den ihnen schon bekannten Inhalt herunter zu beten.
„Schwester Luzdivina von den Franziskanerinnen in Santa Magdalena hat Sie, die Herren Hebler und Diaz, heute früh um 8.30 h empfangen. Sie beide wollten einen illegalen Einwanderer abholen. Der wurde aber davor, genauer gesagt um 6.30 h früh bereits von einem Mann entführt, der sich als Kriminalpolizist ausgab. Zurück bleibt die Leiche von Schwester Isolde aus Hannover, 26 Jahre alt, mit einem großen Küchenmesser erstochen. Der Flüchtling wurde am Abend zuvor schwer verletzt von einem Mann in Radler-Outfit im Kloster abgegeben. Die Personenbeschreibung trifft ziemlich genau auf Sie, Señor Leon zu. Waren Sie gestern mit dem Rad unterwegs, Señor Leon?”
Leon nickt zerknirscht. Rafel Miralles fährt fort, es scheint, als höre er sich selbst gerne beim Reden zu.
„Der Abholer von heute morgen sprach mit russischem Akzent, wie Schwester Luzdivina aussagt. Weiß ich alles oder fehlt mir noch ein Steinchen im Puzzle?”
Leon schluckt. Ihm ist klar, dass er ein Gesetz übertreten hat und dafür kann er sogar in Deutschland belangt werden. Er hätte unmittelbar und ohne Verzug den Vorfall melden müssen, notfalls von der nächsten Telefonzelle oder Tankstelle aus.
„Ein Junge namens Omar, ich fand ihn gestern in der reißenden Brandung an ein Bootswrack geklammert. Ich rettete ihn unter dem Einsatz meines Lebens. Mein Telefon funktionierte danach nicht mehr. Ich entdeckte in einiger Entfernung ein Kloster und schleppte ihn hoch. Die Nonnen kümmerten sich vorbildlich um Omar und versorgten ihn medizinisch. Ich konnte ihn guten Gewissens allein im Kloster zurücklassen. Heute früh wollten wir ihn abholen und der zuständigen Dienststelle übergeben.” Leon ist ziemlich cool geblieben während seines Vortrages. Trotzdem hat er ein ungutes Gefühl. Es kann durchaus sein, dass der Vorfall das Ende seiner kurzen Mallorca-Karriere bedeutet - wenn nicht noch mehr. Rafel Miralles greift nach der Zigarrenkiste, gekonnt knipst er das Ende einer Havanna ab und zündet sie an. Durch den aufsteigenden Qualm fixiert er Leon.
„Gar nicht gut, Señor Leon.”
Er deutet auf einen Umschlag.
„In diesem Bericht steht, dass Comisario Leon Hebler die direkte Informationskette nicht eingehalten hat. Du weißt, was das bedeutet?”
„Ja, das bedeutet, dass ich wahrscheinlich nicht länger Dienst tun werde hier auf Mallorca, Señor presidente …”
Rafel Miralles drückt auf die Telefonanlage.
„Maria, tres cortados por favor, si, con musica.”
Er reicht die Zigarrenbox zunächst Leon und dann Pepe, der freundlich ablehnt. Leon setzt zögernd den begonnenen Satz fort.
„…und nicht mehr für Sie arbeiten werde.”
Der Kaffee kommt mit der obligaten Flasche Kräuterschnaps, musica genannt. Rafel veredelt alle drei Kaffees damit. Die Spannung ist unerträglich geworden. Leon dreht die noch kalte Zigarre nervös in den Fingern hin und her. Und endlich beginnt sich die Lage zu entspannen. Rafel Miralles hustet seinen Rachen frei und schaut durch zugekniffene Augen auf Leon.
„Also Leon, ich finde, Du hast genau das Richtige getan. Du hast dem jungen Mann einfach das Leben gerettet. Und das ist das Wichtigste. Was weiter mit ihm passierte, ist uns bisher ein Rätsel und deswegen übertrage ich Dir und dem kleinen Dicken hier…“,
er deutet auf Pepe,
„…die Übernahme des Falles Flüchtlingskind.”
Leon atmet tief durch. Die Dinge scheinen soeben eine gute Wendung genommen zu haben. Leon und Pepe schauen einander erleichtert an und Leon zeigt schüchtern seine gute Erziehung.
„Vielen Dank, Señor presidente.”
Rafel knüllt den Bericht zusammen und wirft die Papierkugel quer durch sein Büro. Treffsicher landet sie im Papierkorb, Rafel erhebt sich und streckt Leon die Hand hin.
„Sag Rafel zu mir, wir sind doch ab sofort ein Team.
La Dulce Vida
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