Der Mann, der sich selbst überholte - Kurt-Achim Köweker - E-Book

Der Mann, der sich selbst überholte E-Book

Kurt-Achim Köweker

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Beschreibung

Ein Liebhaber mit Hexenschuss, Jesus in der Kneipe, ein falscher Sarg im Grab; eine Ehefrau, der im Wald ein Mann zuläuft - das und 16 weitere Geschichten über Menschen wie du und ich: nur, dass du vielleicht noch nicht bemerkt hast, dass alles das auch dir oder deinen Bekannten geschehen könnte. Oder schon geschehen ist? Skurrile Geschichten, liebevoll und mit Humor erzählt.

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Kurt-Achim Köweker

Der Mann, der sich selbst überholte

Geschichten von nebenan

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Paul

App jetzt

Abenteuer mit beschränkter Haftung

Bullenschluck

Das letzte Wort

Beschleunigung

Der Lenz war da

Jericho

Dornrose

Entrückung

Erlebnis-Zoo

Künstlerliebe

Laufzeit

List und Tücke

Nach Torgau

Der Mann, der sich selbst überholte

Und es gibt ihn doch!

Valentins Tag

Yellow Date

Impressum neobooks

Paul

Er lief durch den nasskalten Stadtwald. Neben dem Spazierweg behaupteten Bärlauch und Buschwindröschen, es sei Frühling. Wie zum Hohn lachte ein Rest von blauem Abendhimmel durch die ersten spärlichen grünen Buchenblätter. Emil fror, obwohl er innerlich vor Wut kochte. Wut auf seine Frau und ihre ständigen Kommentare und Bevormundungen. Wie eben, als sie ihn beim Verlassen der Wohnung mit der Frage aufgehalten hatte, ob er im Stadtwald in diesen albernen dreiviertellangen Hosen und dem dünnen Sweatshirt jemandem imponieren oder sich einfach nur erkälten wolle: „Zieh wenigstens eine Jacke über, dann sieht man deinen Bauch nicht so. Außerdem ist es schweinekalt draußen und es regnet gleich.“ - Statt einer Antwort war er losgelaufen.

Das eigentliche Ärgernis bestand in der Tatsache, dass sie natürlich Recht hatte. Sie hatte seit vierzig Jahren Recht. Zu Anfang seiner Ehe war ihm das nicht so aufgefallen, doch in den letzten Jahren, seit er Pensionär war, machte es ihm zu schaffen. Er konnte keine Dummheit begehen, ohne dass sie ihn davor bewahren wollte. „Meinst du etwa, ich sage das, um dich zu ärgern?“ - Ja, dachte er und wusste zugleich, dass sie es aus Liebe zu ihm tat. Aus Liebe, versehen mit diesem Funken Bosheit, der sofort Wut in ihm entfachte – wie dieser überflüssige Hinweis auf seinen Bauch, zum Beispiel, der in Wirklichkeit alles andere als ein typischer Bierbauch sondern bestenfalls eine magere Andeutung eines solchen war, die einem Mann in seinen Jahren gut zu Gesichte stand.

Der Mann in seinen Jahren spürte erste Regentropfen durch sein Sweatshirt dringen. Die Schritte wurden ihm schwer, er war zu schnell losgelaufen, nun musste er mühsam Schritte und Atemzüge in Einklang bringen. Auf eins-zwei-drei-vier einatmen und auf eins-zwei-drei-vier ausatmen. Seine Schritte wurden kürzer. Und er hatte die gute Hälfte seiner Strecke noch vor sich. Zweihundert Meter vor ihm wartete ein Paar auf dem Weg, als sähe es zu, wie er schwer atmend langsam näher kam. „Paul!“, rief die Frau in seine Richtung. Wahrscheinlich meint sie ihr Enkelkind, das wahrscheinlich irgendwo im nahen Gebüsch störrisch ausharrt und die Großeltern warten lässt, dachte Emil und musste dabei unwillkürlich an den eigenen Enkelsohn denken. „Paul!“, rief die Frau erneut. Paul ließ sich nicht blicken. „Wo bleibt dieses Miststück wieder!“, schrie ihr Begleiter in den dunkler werdenden Wald hinein. Er trug eine gelbe Regenjacke mit spitzer Kapuze, sah an der Seite seiner Begleiterin aus wie ein übergroßer Gartenzwerg, der seine linke Faust um eine Hundeleine ballte. Die Frau hatte inzwischen einen Schirm aufgespannt. „Paul!“, flötete sie.

„Na sowas“, grinste Emil und hielt beim Laufen nach dem Tier Ausschau. In einiger Entfernung buddelte ein kleiner Hund voller Hingabe mit den Vorderpfoten ein Loch in den Waldboden, Dreck flog zur Seite; der kleine Terrier ließ sich weder durch Geschrei noch Flötentöne stören. „Nun komm doch, Paul“, sagte die Frau wie zu sich selbst, als habe sie die Hoffnung aufgegeben, dass der Hund heute noch gehorchen würde. „Siehst du, er kommt nicht, der Scheißkerl!“, schrie der gelbe Zwerg seine Frau an und drohte vergebens mit der Hundeleine.

Beim Näherkommen entdeckte Emil, dass unter dem Schirm ein freundliches Gesicht und zu einem Pferdeschwanz gebundene graue Haare sichtbar wurden, während die Frau den Kopf drehte und nach dem Hund Ausschau hielt. „Paul, komm!“

Es klang wie eine Bitte. Emil verlangsamte seine Schritte, bis er vor der fremden Frau beinahe zum Stehen gekommen war. „Komme schon“, keuchte er ihr entgegen, „ich bin nicht mehr der Jüngste, wissen Sie!“ Er sah ihr Gesicht, das zu einem Lachen aufblühen wollte, bevor sie eine Hand vor ihren Mund schlug, so dass nur ein Zucken ihrer Mundwinkel sichtbar blieb. Sie sah kurz zu ihrem Mann herüber. „Was soll der Quatsch!“, knurrte der. - „Wau“, antwortete Emil mit größter Höflichkeit und nickte freundlich. Nun ließ sich der Lachanfall der Frau nicht mehr unterdrücken. „Paul, du Scheißkerl!“, schrie der Mann los. Emil blieb stehen. „Na warte, ich hol dich jetzt, du Mistvieh!“, rief der Ehemann an Emil vorbei in den Wald, wartete einen Augenblick, und da weder Hund noch Emil sich rührten, stapfte er an seiner Frau vorbei ins Gebüsch.

„Es regnet, Sie werden nass.“ Die Frau hob ihren Schirm mit einer einladenden Bewegung, Emil trat unter ihr Regendach. „Danke.“ - Im entfernten Gebüsch zeterten Herr und Hund. „Kommen Sie“, sagte sie unvermittelt und wandte sich zum Gehen. „Wohin?“, wollte Emil fragen, sagte aber nur „gut“ und ging mit.

Er bot ihr an, den Schirm zu tragen, sie hängte sich bei ihm ein, sie gingen schweigend wie ein altes Paar; nur Emils dünne Jogging-Kluft und ihr Wintermantel erzählten vom Gegenteil.

„Paul, welch ein Zufall ist es, dass Sie gerade vorbei kamen, als ich 'Paul' rief.“ - „Das war kein Zufall“, entgegnete Emil; dass es ein Scherz gewesen war, verschwieg er wie seinen eigenen Namen. „Dann nennen wir's Fügung“, sagte sie und drückte seinen Arm. Er hatte das Gefühl, als beschleunige sie ihre Schritte. Ihm war es Recht, denn er fror in seinem durchnässten Hemd.

„Mein Mann hat den Hund für sich gekauft. Es ist inzwischen der dritte. Immer ein Rüde. Immer nennt er ihn Paul. Den ersten bekamen wir zwei Jahre nach unserer Hochzeit, vor unserem ersten Kind. Damals meldete sich noch ab und zu Paul bei mir, ein früherer Freund, meine erste große Liebe. Natürlich war das längst vorbei, als wir heirateten, aber mein Mann blieb eifersüchtig. Auf ihn oder auf mein früheres Glück, wer weiß. Es schien, als wolle er sein Minderwertigkeitsgefühl gegenüber Paul, das sich zu Hass auswuchs, über den Hund abreagieren. Er beschimpft Paul und meint damit mich. Als könne er mir nicht verzeihen, dass ich einmal grenzenlos geliebt habe und geliebt worden bin, wie später nie mehr. Nun sind wir achtunddreißig Jahre verheiratet, haben Enkelkinder – und immer noch kann er mir 'Paul' nicht verzeihen. Verstehen Sie das, Paul?“ - „Nein“, sagte Emil und kam sich wie ein Lügner an ihrer Seite vor. Sie gingen schweigend. Er zitterte vor Kälte. Natürlich hatte seine Frau Recht behalten, er würde sich eine Erkältung holen. Unwillkürlich drängte er sich etwas näher an die Fremde an seiner Seite heran, um sich zu wärmen. Sie ließ es geschehen. Es goss in Strömen. Es störte die beiden nicht. „Wie weit wollen wir gehen?“, fragte er und korrigierte sich sofort: „ich meine, wie weit voraus?“ Sie sah ihn kurz an und lächelte: „Bis ans Ende. Dann nach links, dort gibt es einen Ort zum Aufwärmen.“

Er überlegte krampfhaft, um welchen Ort es sich wohl handeln könne; er kannte keinen außer dem Dorinth-Hotel in der Nähe. Er wünschte sich nach Hause, trotz der zu erwartenden Predigt seiner Gattin. Was tun? Weglaufen? Was war das für eine Frau, die ihren gelben Zwerg mit Hund ohne Erklärung einfach im Wald stehen ließ, um mit einem fremden, dickbäuchigen durchnässten Jogger davon zu rennen. Womöglich ins Hotel? Das konnte nicht wahr sein.

Es war wahr. „Wir gehen ins Dorinth“, sagte sie wie nebenbei, „machen Sie sich keine Sorgen wegen Geld, ich habe alles dabei.“ - Weglaufen, durchfuhr es ihn, auf dem schnellsten Wege nach Hause. Aber wie hinkommen? Emil fühlte sich wie Paul an der Leine, einer sehr kurzen Leine. Er spürte ihre Hand auf seiner Hand, die den Schirm trug und ihm schwer wurde.

„Ich kann den Schirm tragen“, sagte sie. Er wehrte ab. Konnte sie hellsehen, hinein in seine Gedanken? In welche Situation hatte er sich da manövriert? „Sie wundern sich über mich“, sagte sie, „ich will Ihnen erklären, warum Sie sich nicht wundern müssen.“ Sie habe nur noch eine sehr beschränkte Zeit zu leben, erklärte sie, nur ihr Arzt, sie und er, Paul, wüssten es zur Zeit ... - „Emil“, unterbrach Emil, hauptsächlich heiße er Emil. - „Auch gut!“ Sie stellte sich ihm als Emma vor; 'Emil und Emma', das klinge ja wie eine Schnulze im Kino, witzelte sie und wurde dann wieder ernst. Jetzt, da sie sich öfter Gedanken mache über den Rest ihrer Zeit wolle sie nicht aus der Welt gehen, ohne einmal etwas Verrücktes getan zu haben. Sie sei immer eine brave, treue Ehefrau gewesen, doch als ihr heute ein neuer Paul zugelaufen sei, habe Sie die Eingebung gehabt – jetzt oder nie: Einmal etwas Überraschendes, Ungeahntes tun. Mit einem fremden Menschen ein paar Stunden in einem Hotelzimmer verbringen. So oft habe sie davon geträumt und hätte sich nie getraut.

Sie standen vor dem glänzenden Hotel. Sie klappte den Schirm zusammen. Sie sah plötzlich klein und mutlos aus. Hilfsbedürftig. „Dann sagen wir jetzt mal besser Tschüs, es ist vielleicht ein bisschen viel Verrücktheit auf einmal für uns beide“, sagte sie und wollte umkehren. - „Kommen Sie“ , sagte Emil, „Ich bin wie Sie. Auch ich bin bis heute ein braver, treuer Ehemann, auch wenn ich oft von Abenteuern geträumt habe. Ich verstehe Sie gut.“ Er bot ihr seinen Arm, nahm den Schirm wie ein Gepäckstück in die andere Hand und schritt mit Emma hinein ins lichtdurchflutete Foyer, als trüge er Smoking und Lackschuhe. Sie buchten ein Doppelzimmer für eine Nacht.

„Eigentlich müsste ich meine Frau anrufen, die macht sich sonst Sorgen, wo ich bleibe, „sagte Emil, als sie im Zimmer waren, und klapperte vor Kälte mit den Zähnen. „Aber zuerst nehme ich eine heiße Dusche, wenn sie gestatten.“ Ihr Mantel hing über dem Stuhl, sie lag im Bett, als er im weißen hoteleigenen Bademantel aus dem Badezimmer trat. „Wie weiland Udo Jürgens nach seinen Konzerten vor der Zugabe“, lachte sie und schlug die Decke auf seiner Bettseite einladend auf: „Bitte sehr!“ Er stieg zu ihr ins Bett. „Bis meine Sachen etwas angetrocknet sind.“

Sie lagen schweigsam neben einander im hellen Zimmer und starrten auf das große tote Fenster. Ob er das Licht löschen solle. Sie nickte. Im Fenster begann die Nacht mit Lichtern zu spielen. „Lass uns nur von uns erzählen“, bat sie. Und sie erzählten ...

App jetzt

Vera hatte sich einen Wunsch erfüllt und sich zu Weihnachten ein Smartphone geschenkt. Sie lebte wieder allein und spürte verstärkt das Bedürfnis, sich ihren Freunden und Bekannten mitzuteilen – denen, die um sie waren, und denen, die sie bisher nur per SMS mit ihrem alten Handy hatte erreichen können. Bekannte hatten ihr von 'WhatsApp' vorgeschwärmt und den unbegrenzten Kommunikationsmöglichkeiten, die ein Smartphone eröffne, sofern man es denn beherrsche. Es zu beherrschen, sei keine große Sache, behaupteten die jüngeren Freundinnen. Mari war dreiundsechzig und mit ihrer Beherrschung in Sachen Smartphone war es bald vorbei. Mit Hilfe der Kurzanleitung war es ihr zwar gelungen, das Gerät in Gang zu setzen, das war aber auch alles. Sie war im Media-Markt vorstellig geworden, hatte ihr charmantes Lächeln aufgesetzt und um Hilfe gebeten. Der Verkäufer musste vor dem Ausmaß ihrer Ahnungslosigkeit zurück geschreckt sein; auch ihr bittender Blick verführte ihn nicht zu endlosen Erklärungsversuchen. Immerhin ließ er sich herab, ihr aus dem Internet das entsprechende 120-seitige Handbuch auszudrucken: Damit werde sie zurecht kommen, sofern sie Geduld habe. Genau das hatte sie nicht. Und nun? Sie wollte auf keinen Fall ihren Freundinnen eingestehen müssen, dass sie mit ihrem neuen Telefon nicht zu Rande kam. Also konnte nur noch Tango helfen, beziehungsweise der Ex-Freund Gernot, der IT-Spezialist und Tango-Liebhaber.

Wenn Gernot am Wochenende nicht zuhause vor seinem Computer saß, traf er sich zum Tanzen mit seinen Tango-Freunden in einer Lounge in Bahnhofsnähe. Wer Zeit und Lust hatte, erschien, suchte sich einen Partner oder eine Partnerin und legte los. Vera hatte Gernot dort vor Jahren kennengelernt, die beiden waren ein elegantes Tanzpaar gewesen; als er die Partnerschaft auch auf das Bett hatte ausdehnen wollen, hatte sie nein gesagt. Jetzt war sie wieder da und reichte ihm die Hand. „Keiner tanzt wie du“, seufzte sie, „ich hätte dich schon längst angerufen, aber mein neues Smartphone … ich komme damit noch nicht ganz zurecht!“ Da könne er helfen, erbot er sich erfreut. Nach drei nachmittäglichen Tee- und Nachhilfestunden hatte er sie in großen Zügen mit ihrem neuen Telefon vertraut gemacht - und zu ahnen begonnen, dass Veras Leidenschaft nicht ihm, sondern nur dem Smartphone und dem Tango galt. Als er sie Tage später telefonisch zur Rede stellen wollte, drückte sie seinen Anruf einfach weg; so viel hatte sie schon bei ihm gelernt. - Sie nehme sich, was sie kriegen könne, und gebe selber nichts zurück, sms-ste Gernot ihr ernüchtert. - Was ihn betreffe, stimme das wohl, appte sie zurück und hängte ein Selfie an: Vera kokett mit Kussmund vor einem Spiegel mit dem Smartphone in der Hand. - „Du bist ein raffiniertes Luder!“, schrieb er zurück. Und sie: „Ja, das bin ich App und zu – aber nur dank deiner Anleitung.“

Das so genannte Luder war eine Frau in den besten Jahren, arbeitete als OP-Schwester in der Medizinischen Hochschule, war seit Jahrzehnten geschieden, bewohnte am Maschsee eine schicke Dreizimmer-Wohnung und hielt eine enge Beziehung zu ihren erwachsenen Kindern. Sie war inzwischen Oma geworden und konnte sich Fotos ihrer Enkelkinder ab jetzt auf ihr Smartphone schicken lassen, um sie stolz ihren Freundinnen zu zeigen, wenn man sich zum Essen und Reden traf. Das geschah einmal im Monat und im Wechsel dazu wurden die Aufgaben verteilt: Eine war für die Getränke zuständig, eine zweite für die Vorspeise, die dritte für das Hauptgericht, die vierte für das Dessert. So wanderten sie monatlich von Freundin zu Freundin und verbrachten lange Abende bei vorzüglichem Essen und Trinken.

Vera war vor einem knappen Jahr in diesen Kreis geraten, weil sie Ulrike beim Tennis kennengelernt hatte. Und mit ihr Beate und Edelgard. Seit einem Jahr war sie jetzt mit ihnen befreundet und wurde geschätzt für ihre Fröhlichkeit und die munteren Gesichten, die sie zu erzählen wusste. Und da sie gern aß und trank, schien sie perfekt zu ihnen zu passen. Nur beim Organisieren des gemeinsamen Essens gab es des öfteren Probleme mit ihr, und stets hatte sie neue Entschuldigungen parat. Mal hatte sie keine Zeit gehabt, ausreichend Getränke einzukaufen. Mal kam sie ohne die verabredete Vorspeise: „Ich esse zur Zeit mittags ein Joghurt und abends nur etwas Leichtes und muss natürlich auf Vorspeisen völlig verzichten. Ich habe zwar ein tolles Rezept, aber wenn ich jetzt in meiner Situation kochte, wäre ich ja kariert im Kopf!“ Dennoch verspeiste sie Hauptgericht und Dessert mit gesundem Appetit. „Man muss auch mal über seinen Schatten springen können!“, erklärte sie ihr Verhalten. Als man sich bei ihr treffen und sie für das Hauptgericht zuständig sein sollte, hatte sie vorher ihre Freundinnen angerufen: „Ich koche Nudeln, bringt ihr bitte die Soßen dazu mit!“

Allmählich begannen die Freundinnen über Vera die Nasen zu rümpfen. Sie sei geizig, vermuteten die einen; sie sei zu faul, sich an den Herd zu stellen, argwöhnten die anderen. Ein weiterer Grund war nicht vorstellbar. Man lasse sich auf jeden Fall nicht von ihr ausnützen - so nett sie auch sei, lautete der abschließende Befund; man wolle ihr aber noch eine Chance geben.

Die Chance gab es Mitte Januar. Sie trafen sich bei Ulrike, die von allen über die geräumigste Küche verfügte. Diesmal sollte gemeinsam „live“ gekocht werden. Ulrike hatte die verschiedenen Rezepte ihrer Freundinnen zu einer Einkaufsliste gebündelt und am Vormittag in der Markthalle eingekauft. Die Ausgaben wurden durch vier geteilt. Nun konnte es losgehen.

Unter großem Hallo wurden die ersten Cocktails gemixt und getrunken, dann drängten sich Ulrike, Beate und Edelgard in die Küche. Nur Vera hielt sich im Hintergrund: „Ihr könnt ja schon mal anfangen; ich muss noch eben erst meine mails checken“, rief sie und zog sich mit ihrem Glas ins Wohnzimmer zurück, „ich komme gleich nach!“ 'Gleich' ist ein dehnbarer Begriff, Vera dehnte ihn, bis Beate ungeduldig wurde: „Kommst du nun? Ich habe schon mit deinem Mousse au chocolat angefangen!“ - „Mach ruhig weiter“, sagte Vera und zeigte ihnen Fotos auf ihrem Smartphone, „die Bilder sind gerade von Hawai gekommen, meine Tochter macht dort Urlaub. Und das ist meine Enkeltochter … oh, der Akku ist leer. Und ich muss ihr noch antworten! Leiht mir mir jemand sein Aufladegerät? Ich will doch meiner Tochter ein Foto von unserem Essen schicken!“ - „Nein“, sagte Beate. „Nein“, sagte Edelgard. „Nein!“, sagte Ulrike . „Scheiße“, sagte Vera, „und jetzt?“ - „Jetzt ist Schluss mit Telefon! Jetzt wird gekocht. Und zwar gemeinsam!“, tönte es im Frauenchor.