Kuckucks Nest - Kurt-Achim Köweker - E-Book

Kuckucks Nest E-Book

Kurt-Achim Köweker

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Beschreibung

Andrea Heuer und Elmar Möger befinden sich in ihren besten Jahren - und staunen, dass man sich in ihrem Alter noch einmal derart verlieben kann. Doch der Start ins gemeinsame neue Leben ist mühsam: Elmar wird im Keller seines Elternhauses niedergeschlagen und schwer verletzt. Am Tatort findet Kommissar Jerschke eine kleine Taschenbibel mit dem eingeprägten Namen Christoph Kuckuck. Elmar gibt nur spärlich und widerwillig darüber Auskunft. Wer ist dieser Kuckuck?, fragt sich der Kommissar. Wer ist dieser Elmar, mit dem ich zusammenlebe?, fragt sich Andrea. Beide machen sich auf die Suche. Christoph Kuckuck ist seit zehn Jahren tot. Doch je weiter Andrea und Jerschke seinen Spuren folgen, desto lebendiger wird er. Ein Liebesroman und ein Kriminalroman zugleich - spannend, witzig und berührend.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1

Andrea Heuer stand wartend, Mantel und Tasche in der Hand, in der geöffneten Wohnungstür. „Ich muss los, Schatz!“, rief sie in Richtung Badezimmer, in dem sich Elmar gerade rasierte – fünf Meter von der Tür entfernt, aber ihrem Herzen millimeternah.

Ihr Ruf klingt in seinen Ohren wie die Aufforderung, sie an der Tür mit einem Kuss und einer Umarmung zu verabschieden. Einer Umarmung, aus der sie sich nur mühsam wird lösen können, um sich auf den Weg zu ihrem zweitägigen Weiterbildungsseminar zu machen. Als falle ihr die kurze Trennung unsäglich schwer. Als sei sie siebzehn und er zweiundzwanzig und sie beide hätten gerade eine heiße Liebesnacht hinter sich und einen Abschied vor sich wie in einem Kitschfilm der Sechzigerjahre.

Elmar betrachtet sein Spiegelbild und sprüht sich eine Portion Givenchy in die Handflächen. Er ist achtundvierzig, Andrea gute neununddreißig. Heiße Liebesnächte gibt es noch, die Hummeln im Bauch brummen, wenn sie vor ihm steht.

„Wie lange sind wir eigentlich jetzt zusammen?“, fragt er das Gesicht im Spiegel und verreibt das Rasierwasser auf seinen Wangen.

Das Spiegelbild lässt sich Zeit mit der Antwort: „Ein Jahr, höchstens anderthalb, schätze ich.“

Andreas Stimme weckte ihn aus seinem Selbstgespräch: „Mit wem hast du gesprochen?“

„Anruf aus dem Laden, nichts Wichtiges.“

„Dein Handy liegt im Flur!“

„Ich hab’ die Finger genommen!“ Er hob die Hand zur typischen Ich-ruf-dich-später-an-Geste und streckte sie aus der Tür. „Ich habe mich nur gefragt wie lange wir beiden schon zusammenleben.“

„Frag mich, ich sag’s dir. Neunzehn Monate. Warum fragst du?“

Er trat in die Badezimmertür, sah zu ihr herüber und wischte ihre Frage mit einem Lächeln beiseite. Immer dieses Warum. Ebenso hätte er sie fragen können ‚Warum willst du zu diesem Seminar?‘ Er fragte nicht. Er kannte ihre Antwort, sie ist Lehrerin, Fortbildungen gehören zu ihren Beruf. Ihm sind Seminare seit der Studentenzeit ein Gräuel, nur noch zu überbieten von Gruppentherapien. Also blieb er stumm in der Tür – ein Mann in den besten Jahren, groß, schlank, elegant – schaute zu ihr herüber, als träume er. Der große Gatsby aus Ellering, wie sie ihn nennt, wenn sie ihn ärgern will, stand stumm da und starrte an ihr vorbei ins Ferne.

„Ich muss jetzt wirklich los. Ich will bei Feldenheimer nichts verpassen. Der Mann ist eine Koryphäe auf dem Gebiet soziales Lernen. Das wäre auch etwas für dich!“

„Ich rufe ihn mal an!“, lachte Elmar und winkte mit seiner Telefonierhand. „Ciao Bella!“

„Bello, Ciao!“

Ehe sie sich abwenden konnte, war er mit wenigen Sprüngen bei ihr und umarmte sie und ihr Gepäck: „Komm’ bald zurück! Ich fahre gleich in den Laden, danach zu Mutter ins Heim. Anschließend schaue ich ein letztes Mal in Ellering vorbei. Kuss!“

Ein schneller Abschiedskuss. „Vergiss die Kiste nicht!“, rief sie und sprang die Treppen hinab.

Elmar nahm den Fahrstuhl, fuhr von der Wohnungstür direkt hinunter in die Tiefgarage. Normalerweise radelt er in den Laden, heute nicht. Heute nicht! Heute nimmt er den Wagen, weil er am Nachmittag die Kiste aus seinem Elternhaus in Ellering wegbringen muss. Wieviel Jahre lang verrottet sie da schon im Keller? Zehn, zwanzig Jahre? Recherchen für den Roman, den er als Student hatte schreiben wollen: Papiere, Notizen mit verblichener Tintenschrift, getippte Manuskripte; die kleine rote Olivetti müsste auch dabei sein. Und Kassetten mit dem alten Recorder. Und die hellbraune Zigarrenkiste aus dünnem Holz mit vergilbten, kleinen, verbogenen Fotos darin. Das Romanprojekt war lange schon aufgegeben, nur das Material aufgehoben und verpackt für immer. Ruhe sanft, Kuckuck und Co, lass’ mich zufrieden! Er hätte nicht mehr an die Kiste gedacht, wenn nicht Andrea eines Tages beim Aufräumen darauf gestoßen wäre. „Kann die weg?“ Er hatte „ja“ genickt und die Kiste stehen lassen. „Warum versteckst du sie wie eine Leiche im Keller?“ – „Ich bringe sie bei Gelegenheit weg.“

An diesem Wochenende soll sein Elternhaus dem neuen Besitzer übergeben werden. Die Gelegenheit war da.

‚Mögers Bücherstube’ lag in der Altstadt, ganz in der Nähe seiner neuen Penthouse-Wohnung am Hain. Vor dem Geschäft gab es kaum Parkplätze; mit dem Rad braucht er fünf, zu Fuß zehn und mit dem Auto fünfzehn Minuten. Die Parkplatzsuche nervte ihn. Dann joggte er los, Slalom um frische Pfützen, um rechtzeitig im Laden zu sein. Rechtzeitig hieß vor Sabine. Ein tägliches Hase-und-Igel-Spiel. Der Hase ist er, sie der Igel.

Rund und rosig, die üppige Gestalt in wallende, schwarze Gewänder gehüllt, wartete Sabine Marcks schon vor der Tür, um aufzuschließen. „Bin schon da!“, lachte sie und hielt ihm zur Begrüßung die rosige Wange hin. Der Buchladen öffnete um neun; jetzt war es Viertel nach acht. Eine Wolke Eau du soir wehte Elmar entgegen. Er tauchte darunter weg, hob Sabines schwere Handtasche vom Boden auf und trug sie ihr ins Geschäft.

Der Laden erstreckte sich über drei Stockwerke. Elmar spazierte durch Souterrain und Hochparterre, inspizierte Neuerscheinungen, Bestseller und Fachliteratur für Studierende, warf einen Blick auf den Tresen im Eingangsbereich, wo sich Sabine mit der Kasse beschäftigte. Der Raum für Kinder- und Kochbücher im ersten Stock war sein Lieblingsplatz, er ähnelte wirklich einer Stube. Hier fanden gelegentlich auch Lesungen statt, ansonsten war es ein Raum zum Schmökern und Stöbern, mit einer Hängematte zwischen den alten Balken, einem Sofa und einer Spielecke für die Kleinen. Unterm Dach sein Büro: Schrank, Tisch, Stühle, Kaffeemaschine. Nur das Nötige, klassische Moderne.

Er trat ans Fenster und sah hinunter auf den Markt. Ein grauer Tag, Nieselregen, Aprilwetter. Durch die offene Bürotür hörte er, dass Sabine mit seinen Mitarbeiterinnen den Tagesplan besprach. Er lauscht und versucht dabei, einen Flecken von der Fensterscheibe zu wischen. Der Fleck grinst, unberührt von Elmars wischendem Zeigefinger, von außen herein. Von unten hört er Sabine Marcks lachen. „Die Seele des Geschäfts“, murmelt er, „eigentlich schmeißt sie den Laden, ich bin hier nur so eine Art Frühstücksdirektor.“

Er hat in dieser Buchhandlung, die damals noch Buchhandlung Balmer hieß, als Lehrling angefangen: Ein knapp Dreißigjähriger mit zwei Versuchen, Philosophie und Literaturwissenschaft zu studieren, lernte nun Buchhandel. Warum? Warum! Weil ihm nichts Besseres eingefallen war, ganz einfach! Weil es Zeit gewesen war, etwas anzufangen, um vor seinem Vater Ruhe zu haben. Sabine Marcks hatte ihn gleich unter ihre Fittiche genommen, damals war sie auch schon die rechte Hand des Besitzers. Das war vor wie viel Jahren? Er rechnet nicht nach. Später hatte sein Vater das Haus gekauft und den Buchladen gleich mit dazu.

Der schwarze Fleck auf dem Glas stört ihn in seiner Erinnerung. Er öffnet das Fenster und versucht, ihn von außen mit dem Taschentuch wegzuwischen. Ein hellgrauer Fleck bleibt zurück. Etwas bleibt immer zurück, weiß er.

Er schloss das Fenster, setzte sich an seinen Schreibtisch. Perfekt aufgeräumt. Bis auf das Bild seines Vaters, es steht links vom Telefon und nicht rechts davon. Jeden Tag dasselbe: Abends das schönste Chaos auf der Glasplatte des Tischs, morgens eine penible Ordnung, alles aufgeräumt und abgestaubt, nur Vaters Bild steht an der falschen Stelle. Wer räumt auf? Wer staubt den silbernen Rahmen mit Heinz Mögers Porträt ab und stellt es danach achtlos zur Seite? Sabine? Er hätte fragen können, er fragte nicht. Er nahm das Vater-Bild zur Hand: Heinz Möger, Bauunternehmer, ein großer Mann in der kleinen Stadt, berstend vor Energie, seine Augen strahlen noch auf dem Foto. Ein Erfolgsmensch. Begonnen hatte er als Bauunternehmer nach dem Krieg. Danach sammelte er Häuser wie andere seltene Briefmarken. Sein Motto: Beziehungen, Geld und Geduld muss man haben, dann bekommt man schließlich alles, was man will. „Alles nicht“, sagt Elmar leise. Einen Sohn, der mit ihm die Geschäfte weiterführt, hatte der Vater erwartet. „Tja, mich hast du bekommen.“

Der Sohn stellte das Foto rechts neben das Telefon auf den Schreibtisch zurück. An die richtige Stelle.

2

Hätte, hätte, hätte. Hätte sie gewusst, dass Feldenheimer ein Opfer der Grippe-Welle geworden und kurzfristig durch Karl-Otto Frings aus Köln ersetzt worden war, hätte sie nicht an diesem Seminar teilgenommen. So erlebte Andrea die Überraschung erst, als sie schon im Tagungshotel in Hassloch eingecheckt hatte: Der Ersatz-Referent war der Vater ihrer fast zwanzigjährigen Tochter.

Karl-Otto Frings stellte sich seinem Publikum mit launigen Worten vor und ließ dabei seinen Blick über die Versammlung schweifen. Als er Andrea bemerkte, grinste er ihr auffordernd zu; es sollte wohl heißen: wir können uns einen schönen Abend machen, wenn der offizielle Teil vorbei ist, Chuzpe hatte er ja. Er war einige Jahre älter als sie. Von dem Eindruck, den er in jener fernen Partynacht auf sie gemacht hatte, war nicht mehr viel übrig geblieben mit seinem dunkelblond getönten Haar und deutlichen Rettungsringen unter dem engen Hemd.

Das Vorstellungsritual begann ungewöhnlich. Frings stellte einen Stuhl in eine entfernte Saalecke und legte ein Kästchen darauf. „Werfen Sie bitte nacheinander einen Blick in das Kästchen. Dort finden Sie etwas, das nur für Sie bestimmt und für jeden einzelnen von Ihnen von großer Bedeutung ist, ein Geschenk fürs Leben sozusagen; etwas, worauf Sie stolz sein können! Wenn Sie es gesehen haben, schließen Sie den Deckel und stellen sich uns mit Ihrem Vornamen vor und fügen ein lobendes Adjektiv hinzu, das mit dem Anfangsbuchstaben ihres Vornamens beginnt: ich zum Beispiel heiße Karl-Otto, bin also der kesse Karl, wenn sie so wollen. Und nun sind Sie dran.“

Also lernte Andrea die kluge Käthe kennen, die alberne Angelika, den herzlichen Hubert, den hurtigen Peter, die wissbegierige Veronika (die mit dem Alphabet Schwierigkeiten hatte), den forschen Fritz, die dralle Dörte; dann war sie an der Reihe. Sie öffnete das Kästchen und sah im Spiegel des Deckels ihr neugieriges Gesicht: Wache Augen, Lachfältchen um die Mundwinkel, einen Mund mit vollen Lippen. Sie genießt das Bild von sich, so will sie sein: „Ich bin die aggressive Andrea.“

Sie bemerkte, wie irritiert Karl-Otto Frings war, ihr Ton musste ihn getroffen haben. Er fasste sich aber und spulte sein Programm routiniert ab. In der Mittagspause setzte sie sich an einen Einzeltisch und löffelte ihre Suppe. Zwei Tische weiter saß Frings mit einigen Kolleginnen ihrer Brombacher Grundschule und schielte zu ihr hinüber.

Mein Gott, den fand ich einmal eine Nacht lang attraktiv, dachte sie. In der Nacht, in der sie ihn kennengelernt hatte, tanzte er Twist wie der Teufel. Wenn er nicht tanzte, redete er, machte Witze, erzählte Anekdoten. Er war damals Assistent an der pädagogischen Hochschule in Köln, an der sie studierte, und machte keinen Hehl daraus, dass junge Studentinnen viel von ihm lernen könnten, beim Tanzen und auch danach. Naja, viel war es nicht gewesen, aber für eine Schwangerschaft hatte es gereicht. Sie hatte bald darauf Köln verlassen und war in ihre Heimatstadt Brombach zu ihren Eltern zurückgekehrt, wo sie ihre Tochter zur Welt gebracht hatte – immer verfolgt von Frings hartnäckigen Annäherungsversuchen. Schon bald nach ihrer Schwangerschaft hatte sie gewusst: das Kind will ich behalten, den Mann nicht. Bei ihm war es umgekehrt – Karl-Otto Frings wollte sie und hatte das Kind in Kauf genommen, damit sie bei ihm bliebe. Sie blieb nicht.

Das Kind wuchs bei ihren Eltern in Brombach auf, kam auf ein Internat, während die Mutter ihre Ausbildung zur Lehrerin beendete. Immer wieder hatte sich Frings ihren Eltern als möglicher Schwiegersohn angedient; jeder Versuch war an Andreas kategorischem Nein gescheitert, nicht einmal seinen Namen hatte sie für ihre Tochter akzeptieren wollen. Er hatte sie danach noch jahrelang mit Anrufen terrorisiert, eifersüchtig auf ihre jeweiligen Liebhaber. Sie hatte Wohnungen und Telefonnummern gewechselt, er war ihr wie ein Schatten gefolgt. Manchmal hatte sogar in ihrem neuen Zuhause noch spätabends das Telefon geklingelt, Elmar hatte abgehoben. Schweigen in der Leitung, ein schweres Atmen, dann eine Männerstimme: „Erinnerst du dich noch?“ – Ob das einer ihrer Verflossenen sei, hatte Elmar gefragt und ihr den Hörer hingehalten. Er könne wegen dieser anonymen Anrufe die Polizei einschalten oder einfach auflegen, die Sache vergessen und sie küssen. Er hatte aufgelegt und sie geküsst.

Nun saß Frings am Nebentisch und nebelte seine Zuhörerinnen mit seinen Sprüchen ein, als wolle er sie narkotisieren. Gelegentlich warf er kurze Blicke zu Andrea herüber. ‚Du spielst in meinem Leben keine Rolle mehr, begreife das endlich‘ hatte sie ihm am Telefon gesagt, damals, als sie zu Elmar gezogen war. Anscheinend wollte es Frings immer noch nicht wahr haben.

Elmar war das Gegenteil von Karl-Otto: kein lauter, ständig in den Mittelpunkt drängender Mann, sondern leise und still. Auf einer Party hatte sie ihn zum ersten Mal gesehen: da stand jemand abseits der Partyfröhlichkeit, die allmählich zu ermüden begann, und hörte seinem Gesprächspartner lange zu. Sie hatte ihm lange beim Zuhören zugesehen.

Das zweite Mal sah sie ihn bei einem Dankeschön-Konzert ihrer Schule, der ein kleiner Brombacher Verlag als PR-Aktion fünfzig Exemplare seines neuen Kinderbuches geschenkt hatte. Als Musiklehrerin dirigierte sie das Schüler-Orchester und spielte selber Cello; der gute Wille war maßgebend, nicht das musikalische Ergebnis. Sie hatte Elmar in der ersten Reihe sitzen sehen, er schaute zu ihr auf die Bühne und lächelte. Er lächelt, weil wir so verzweifelt musizieren, dachte sie, und hatte Mühe, ihren Blick von seinem Gesicht zu wenden, als fände sie dort die Noten, die sie zu spielen hatte. Sie fand sie nicht und verspielte sich mehrmals. Als das Konzert beendet war und alle sich verbeugten, klatschte er nicht mit, sondern schaute noch immer zu ihr auf und lächelte. Plötzlich schien er aufzuwachen und klatschte noch, als der Applaus schon abgeklungen war. Beim anschließenden Empfang erfuhr sie, dass er der Besitzer der ‚Möger-Bücherstube‘ und Verleger des Kinderbuches war. Sie tranken ein Glas Sekt zusammen. Ob er sie habe trösten wollen, fragte sie, weil er so beharrlich geklatscht habe. – Er sei ins Träumen geraten, weil sie im Bühnenlicht ausgesehen habe wie die Fee aus dem neuen Kinderbuch; Kolderitzki, der Illustrator, müsse sie als Modell vor Augen gehabt haben, erklärte er.

Beim dritten Mal saß er allein am Tisch in einer Kneipe, in der sie nach einer Cello-Stunde ein Bier trinken wollte. Sie trug den Cello-Kasten noch auf dem Rücken und das Bierglas in der Hand, da sah sie ihn. Er hatte ein Weinglas vor sich und wieder diesen Gesichtsausdruck, als träume er. Sie trat zu ihm an den Tisch. „Erwarten Sie außer mir noch jemand anderen?“

„Und wenn?“

„Dann würde ich mich trotzdem zu Ihnen setzen. Sie haben ein so schönes, wehmütiges, trauriges Lächeln im Gesicht, das steht Ihnen ausgezeichnet. Daran kann ich einfach nicht vorbei gehen. Wissen Sie das?“

„Ja“, lächelte er und rückte einen Stuhl für sie zur Seite und half ihr, den Cello-Kasten zu verstauen.

„Mit diesem Ungetüm muss ich nun leben.“

„Ich habe eine Kiste im Keller. So hat jeder von uns etwas, das er mit sich herumschleppen muss. Sie spielen trotzdem gern Cello?“

„Gern, aber noch nicht gut. Ich übe eifrig, leider ist mein Eifer für die Nachbarn ein Ärgernis.“

„Ich habe auch einmal geübt, Trompete. Mit Bill Haley-Locke in der Stirn wollte ich den Mitternachtsblues von Bert Kaemfert spielen. Kennen Sie den noch?“ Er summte einige Töne des Vorspiels und spielte mit den Fingern auf der Lufttrompete. – Schöne Stimme, dachte sie und sagte, nein, das müsse vor ihrer Zeit gewesen sein.

„Dass Sie noch so jung sind, überrascht mich aber! Ich habe damals im Party-Keller meiner Eltern geübt, zu meiner Zeit hatte man so etwas noch. Da störte ich niemanden. Aber ein Cello ist ja vergleichsweise leise.“

„Nicht, wenn man in einer hellhörigen Neubauwohnung übt.“

Er bot ihr den Party-Keller in seinem Haus als kostenlosen Übungsraum an, sie könne ihn sich wann immer ansehen. Der Raum interessierte sie weniger, der Mann interessierte sie. Schließlich landete sie nicht in seinem Haus, sondern er in ihrem Appartement. Sie liebten sich, als hätten sie lange aufeinander gewartet – ungestüm und mit einer Leidenschaft, die akustisch den Lärmpegel einer Cello-Übungsstunde erreichte.

„Übrigens, ich heiße Elmar“, sagte er, als sie schließlich ruhig und rauchend im Bett lagen, „blöder Name, aber so heiße ich nun mal.“

„Schöner Name“, sagte sie, „ich heiße ...“

„Andrea Heuer“, sagte er.

„Woher weißt du?“

„Ich habe das Schild an der Wohnungstür gelesen.“ Das war vor neunzehn Monaten gewesen, im Sommer 1990.

„Du wohnst da allein?“, wunderte sie sich, als sie Tage später vor seinem pompösen Elternhaus in Ellering standen. – „Ja, mein Vater ist tot, meine Mutter lebt im Heim, und ich bin einfach hier wohnen geblieben. Wahrscheinlich habe ich einen Nagel im Kopf.“ Sie sah ihn ungläubig an: „Was denn für ein Nagel?“

Er erzählte ihr die Geschichte eines amerikanisches Arbeiters, dessen Verhalten sich plötzlich unerklärlicherweise geändert habe. Bei einer zufälligen Röntgenuntersuchung stellte man dann fest, dass ein langer Nagel oder Bolzen in seinem Kopf steckte, verursacht durch einen nicht bemerkten Arbeitsunfall. „Vielleicht habe ich ja auch einen Nagel im Kopf – und keine Ahnung davon. Bin damit auf die Welt gekommen. So erklärt sich mein Verhalten.“

Sie lachte über seinen Scherz. Gemeinsam gingen durch das vollständig möblierte Haus. Er entschuldigte sich für die Einrichtung, die bis auf wenige Teile noch von seinen Eltern stammte. „Es ist das Museum meiner Jugend,“ sagte er, „Gärtner und Haushälterin halten es instand, ich betrachte mich als Besucher. Niemand kommt hierher zum Schlafen. Außer mir. Aber das kann sich ändern.“

Es hatte sich geändert. Sie hatten sich verliebt. In ihrem Alter. Mit einer Heftigkeit, die sie schon lange nicht mehr erlebt hatten.

Karl-Otto Frings war an ihren Tisch getreten und weckte sie aus ihren Gedanken. „Andrea, du hast mich die ganze Zeit über so seltsam angesehen, fast so wie früher ...“

„So habe ich dich nie angesehen. Ich habe auch nicht an dich gedacht. Das Kapitel ist vorbei. Lange schon und endgültig.“

„Nichts ist vorbei, alles lebt weiter“, sagte er und ging. Es klang wie eine Drohung.

3

Samstagnachmittag, früher Ladenschluss. Elmar trug Sabine die schwere Tasche zum Auto; er wollte sie auf dem Weg zu seiner Mutter im Gelben Haus absetzen.

„Was schleppst du nur Tag für Tag mit dir herum!“

„Ein paar Neuerscheinungen, die wir unbedingt lesen sollten.“ – Das ‚wir‘ sickert als leiser Vorwurf in seine Ohren. – „Und ein Manuskript von Kolderitzki. Er hat eine Idee für ein neues Kinderbuch. Das musst du dir unbedingt ansehen. Ich find’s übrigens ganz reizend …“

Er weiß, was ‚übrigens ganz reizend‘ bedeutet. Sie wird keine Ruhe geben. Darin gleicht sie Andrea. Was die beiden sich einmal in den Kopf gesetzt haben, das ziehen sie durch. Da hilft nur Ja-sagen und Zeit gewinnen. Herr Kolderitzki ist ein großartiger Graphiker, aber auch ein nerviger Zeitgenosse, den er sich fürs erste vom Leib halten will. – „Ja, gern!“, nickte Elmar und fuhr schweigend die schmale Bergstraße hinauf.

Er kennt das Gelbe Haus und dessen Bewohner schon seit seiner Buchhändlerlehre. Sabine hatte ihn dorthin mitgeschleppt, als sie Freunden und Bekannten neue Bücher vorstellte, die in Balmers braver Buchhandlung unten am Markt nicht zu haben waren – politische und erotische Literatur. Er hat dort Heidwin kennengelernt, der als Cellist bei den Brombacher Symphonikern sein Brot verdient, und dessen Freund Jockel. Die beiden bewohnen die gesamte untere Etage und einige Zimmer im ersten Stock. Darüber, im mit Fachwerk verzierten Obergeschoss, residiert Sabine Marcks.

Als Elmar vor dem Gelben Haus parkte, stieg dort Jockel gerade aus einem kleinen roten Fiat 500. Neben ihm quälte sich ein junger Mann aus dem Fahrersitz.

„Das ist Knut aus Köln, er wohnt bei uns unterm Dach. Kommt doch noch kurz mit ins Haus, ich mache uns einen Kaffee. Heidwin hat gerade ein Konzert und ich habe Zeit.“

„Ich eigentlich nicht“, sagte Elmar und folgte den Dreien in die große Küche, „ich muss noch nach Ellering, ein letztes Mal im Haus nach dem rechten sehen. Ich habe gestern vergessen, die Türen abzuschließen. Naja, es gibt ohnehin nichts mehr zu stehlen, morgen wird es dem neuen Eigentümer übergeben.“

„Tut es weh?“, fragte Jockel, „du hast schließlich fast dein ganzes Leben da zugebracht.“

„Nein!“, sagte Elmar, „ich denke, mein eigentliches Leben habe ich noch vor mir!“

Sie tranken Kaffee, Jockel holte Cognac dazu.

„Bitte nur einen winzigen Schluck“, nickte Elmar und ließ sich einschenken. „Ich muss noch fahren. Du bist ja unter die Beifahrer gegangen.“

„Solange Knut bei uns wohnt, chauffiert er uns. Er studiert hier.“ Er wandte sich an den blonden, langhaarigen jungen Mann, der die Beine unter dem Tisch ausgestreckt hatte: „Was eigentlich?“

„Mal dies, mal das. Ich suche noch. Hauptsache, ich bin von zuhause weg.“

„So habe ich das damals in Wien auch gemacht“, lachte Jockel, „das Leben studiert. Du auch, Elmar?“

„Ich ging nach Wien, um der Bundeswehr zu entkommen. Zu studieren hab’ ich auch versucht, war aber nicht sehr erfolgreich. – Ich muss jetzt aber los, Mutter im Heim besuchen und vielleicht später noch in Ellering vorbeischauen.“

„Um deine Leiche im Keller zu entsorgen? Oder lässt du sie für den Käufer im Haus zurück?“

„Leiche?“ Sabine war aus dem Halbschlaf aufgeschreckt. „Welche Leiche?“

„Er meint die Kiste“, sagte Knut, „die Kiste, um die alle so ein Geheimnis machen.“

Wer sind ‚alle‘, fragt sich Elmar, und woher weiß der Junge von der Kiste? Er hat Heidwin und Jockel von seinem Versuch erzählt, vor Jahren einen Roman zu schreiben. Mehr nicht und niemandem sonst.

„Wer sind alle?!“ Elmar war sauer und ließ es die übrigen spüren. Es gebe keine Geheimnisse um diese Kiste, sagte er und wandte sich zum Gehen. „Spätestens morgen früh kommt sie auf den Müll. Und dann ist Schluss – auch mit der angeblichen Geheimniskrämerei!“

Elmar fuhr ins Jakobushaus zu seiner Mutter. Als er zu ihr ins Zimmer trat, saß sie im Sessel vor dem ausgeschalteten Fernseher und starrte auf die Mattscheibe. Sie sah mit ihren neunundsiebzig Jahren immer noch stattlich aus, groß gewachsen, die dichten, dunklen Haare mit Grau durchmischt. Sie rührte sich nicht. Er legte die Hand auf ihre Schulter. „Hast du geschlafen? Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig, um dich gleich zum Abendessen zu begleiten!“

Abendessen am Spätnachmittag, idiotisch, denkt er, aber so verlangt es die Hausordnung. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Ich bringe dich nach unten.“

Er fühlte, wie sie steif im Sessel wurde, ihre Hände krallten sich um die Lehnen. Sie sah ihn nicht an.

„Ich will nichts essen!“

„Musst du ja auch nicht. Wir setzen uns einfach zu den anderen. Im Speisesaal sind viele nette Leute, die du kennst und die dir gefallen.“

„Niemand ist nett. Niemand besucht mich. Ich bin allein. Den ganzen Tag schon allein.“

Andrea und Elmar hatten seit längerem einen Besuchsdienst aus Freunden, Bekannten und ehemaligen Nachbarn organisiert, die sie – neben der Betreuung durch das Heim-personal – täglich besuchten und sich um sie kümmerten. Er drückte ihr die Hand und versuchte, sie aus dem Stuhl zu heben.

„Wollen wir im Garten ein wenig spazieren gehen?“

„Nein! Ich komme nur mit, wenn du mich wegbringst aus diesem Heim. Ich will nach Hause. Nach Ellering, in unser Haus!“

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Schon mehrfach war sie einfach losgegangen, nach Hause, wie sie den Menschen sagte, die sie aufgegriffen hatten. Vergeblich, ihr zu erklären, dass ihr Zuhause verkauft worden ist; dass sie dort nach dem Tod ihres Mannes tagsüber allein gewesen war und über Einsamkeit geklagt hatte; dass sie vergesslich geworden war; dass sie einmal beinahe das Haus abgebrannt hatte – es hatte keinen Sinn darüber zu reden. Sie saßen schweigend nebeneinander. Lähmende Stille. Plötzlich streckte sie die Arme aus, nahm seinen Kopf in die Hände und tätschelte ihn wie ein kleines Kind. „Ach Elmar, mein Lieber, warum hat er das nur getan?“

„Wer?“

„Ich darf es nicht sagen. Ich musste schwören, dass ich es dir nie sage! Ach Elmar, mein Junge! Es tut mir so leid,“ flüsterte sie. Plötzlich war sie ganz weich geworden.

Er kannte diese Litanei. Sie meinte seinen Vater, der sie angeblich in dieses Heim eingewiesen hatte. Störrisch hielt sie an dieser Meinung fest. Das war natürlich Unsinn. Sein Vater war schon etliche Jahre tot, bevor Elmar dieses Heim für betreutes Wohnen für sie gefunden hatte. Mit Widerwillen war sie eingezogen. Nun lebte sie hier seit einem guten Jahr, und es ging ihr schlechter von Monat zu Monat.

Er saß minutenlang still an ihrer Seite. Wie oft hatte sie an seiner Seite gesessen, seinen Kopf gestreichelt und ihn getröstet, wenn es Ärger mit seinem Vater gegeben hatte. Nun saß er bei ihr und wusste nicht, wie er ihr helfen konnte. Er sah auf dem Tisch der kleinen Küchenzeile vier Wasserflaschen stehen, alle ungeöffnet.

„Du solltest etwas trinken!“

„Ich hab' schon getrunken, siehst du das nicht!“

Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf, streckte die Beine aus, atmete tief. Die Gedanken kreisten, er träumte sich zurück. In die Zeit, bevor das große Haus in Ellering gebaut worden war und sie in der Stadtwohnung lebten, wo die Mutter ihrem kleinen Elmar oft im großen Wohnzimmersessel aus Kissen ein Nest gebaut hatte, einen Platz zum Träumen. Eines Tages war der Vater hereingekommen und hatte sich gedankenlos in diesen Sessel gesetzt. Der kleine Elmar war in Tränen ausgebrochen: „Du setzt dich mitten in meinen Traum!“

Er überlegte, wie oft Magdi ihm diese Anekdote schon erzählt hatte – immer hatte darin die Liebe zu ihrem Sohn mitgeklungen und ein glückliches Lächeln hatte ihre Erinnerung begleitet.

Die Zimmertür wurde nach einem kurzen Anklopfen geöffnet, eine Schwester trat ein, um nach Frau Möger zu schauen, die nicht zum Essen erschienen sei.

„Er lässt mich nicht hinunter“, schimpfte die Mutter los. „Und zu trinken gibt er mir auch nichts.“

Elmar sagte nichts mehr. Er stand auf, gab seiner Mutter einen Kuss. „Ich muss jetzt gehen, Mutti.“

„Mein Junge.“ Sie tätschelte ihm tröstend die Wange.

Er ging hinaus. Auf dem Weg zum Auto holte ihn die Schwester ein: Der Zustand seiner Mutter verschlechtere sich zusehends. Außerdem häuften sich die aggressiven Ausfälle. Man müsse sie baldmöglichst in eine Pflegestation verlegen. Man werde sich deswegen bei ihm melden.

Er stieg ins Auto und ließ den Kopf auf die Hände über dem Steuerrad sinken. Er holte tief Luft, richtete sich auf und nickte sich im Rückspiegel zu. „Jetzt nach Ellering. Ins Museum meiner Jugend. Einen Schlussstrich ziehen.“ Doch statt loszufahren, stieg er aus und ging los. Über die Wiesen. Ohne nachzudenken. Einfach vorwärts in die Dämmerung. Nach einer halben Stunde war er wieder am Auto und fuhr los.

Das Haus lag etwas abseits der schmalen Zufahrtsstraße; es sah aus, als sei ein gewaltiger Meteorit am Dorfrand eingeschlagen. Elmar parkte unten an der Straße, ließ das schmiedeeiserne Tor offen, ging die geschwungene Auffahrt hinauf, Abschied nehmen. Jeder Schritt ein Stück Erinnerung. Er stieg die Stufen in den ersten Stock empor, warf einen Blick ins leere Wohnzimmer, ging durch die Küche hinaus auf die Terrasse hinter dem Haus, in den Garten mit dem totem Swimmingpool. Bäume und Sträucher nahmen den Nachbarn die Sicht, nur ein kleiner Feuerwehrweg führte neben dem Haus durch die Wildnis nach oben ins Dorf.

Hier hätte er glücklich sein sollen. Doch er war nach dem Abitur nach Wien geflohen, um zu studieren. Er sieht noch das ungläubige Gesicht seines Vaters vor sich.

„Du? Philosophie? In Wien? Was soll das? Es gibt einfachere Methoden, sich vor der Bundeswehr zu drücken!“ Kein weiteres Wort. Tage später hatte der Vater ihm Geld in die Hand gedrückt und ihn ziehen lassen. „Amüsiere dich in Wien und komm’ bald wieder!“

„Ach Gott“, seufzte Elmar, verließ den Garten, stieg hinauf in den zweiten Stock und setzte seinen Rundgang durch Bäder und Schlafzimmer fort. Der Vater hatte das riesige Grundstück als billige Bergwiese gekauft, aber schon damals gewusst, dass es bald als teueres Bauland ausgewiesen würde. Möger senior und seine guten Beziehungen. Er hatte Geld gehabt und die Geduld zu warten. Es hatte sich gelohnt.

Er sieht sich mit seinem Vater auf einem der breiten Balkone der Vorderfront stehen, der Vater zeigt über Wiesen und Hügel des Elleringtals hinauf zur Burg: „Liegt da wie auf dem Präsentierteller, der Blick allein ist Gold wert. Ach Sohn, wir könnten Könige von Brombach werden, wenn du mit in die Firma kämst!“ – Der Sohn sagt nichts. Aus der Küche ruft die Mutter zum Essen. Der Vater seufzt. Man setzt sich zu Tisch.

Sohn – Elmar kaute das Wort zwischen den Zähnen, als wolle er es ausspucken, und stieg hinunter in den Partykeller. Der große Raum mit Fenster nach draußen war Vaters ganzer Stolz gewesen: Bar, Klavier, schwere Sessel, alles da, sogar der Blick auf die Franzenburg. Hier sollte kräftig gefeiert werden; nach anfänglichen Versuchen verstaubte der Vorsatz jedoch.

„Sohn“, wiederholte Elmar. Seine jähe Wut verhallte im leeren Raum, leer bis auf die Kiste, die unterm Fenster an der Wand stand. Sohn – so nannte der Vater ihn, als habe Elmar keinen Vornamen, keinen Kosenamen. Einfach Sohn – wie manche Hundebesitzer ihren Hund mangels eines treffenden Namens einfach Hund riefen.

Elmar starrte durch das große Fenster; auch von hier unten sah er den Turm der Franzenburg wie einen Phallus aus den dunklen Bäumen aufragen. Trotz dieser Aussicht hat er für das Haus keine Mark zusätzlich bekommen.

Schritte?

Er zuckte zusammen, er hasste Überraschungen. Er lauschte. Nichts. Niemand. Wer auch? Er sah sich um. Rauschende Partys hatte er hier nicht erlebt. Obwohl er viele Stunden hier unten zugebracht hatte. Allein. Der ungenutzte Partykeller war sein heimlicher Rückzugsort gewesen. Eines Tages, er war aus Wien zu Besuch nach Hause gekommen, hatte ihn sein Vater hier überrascht: „Was machst du hier?“ – Elmar zuckt die Schultern. „Nichts!“ – Der Vater zieht die Tür hinter sich zu und setzt sich zum Sohn auf die Sessellehne. Minutenlanges Schweigen. Dann legt er ihm den Arm um die Schultern und beugt sich zu ihm: „Sohn, wenn du mal … du weißt schon … hier kannst du. Mach, was du willst, aber halte dabei die Augen offen und die Fenster und Türen zu. Verstehst du? Bist doch ein hübscher Kerl, bring mal eine Freundin mit!“ Er klopft ihm aufmunternd auf den Rücken und geht zur Tür. – „Danke“, stammelt Elmar, um in seiner Verwirrung wenigstens etwas zu sagen. – „Oder willst du eine Karriere als Heiliger machen? Kannst du auch, Papst wäre nicht schlecht!“ Der Vater schließt lachend die Tür.

„Arsch!“, sagte Elmar, als stände der Vater noch da. Nun war der Keller leer bis auf die Kiste, die weiß und unschuldig im diffusen Licht auf dem nackten Boden stand. Elmar wischte Staub von einer Kistenecke und ließ sich vorsichtig darauf nieder. Er zog sein Handy aus der Tasche, suchte auf dem schmalen Display vergebens nach einer Nachricht von Andrea, wählte dann ihre Nummer: ‚Der angerufene Teilnehmer ist zur Zeit leider nicht erreichbar‘.

Er stand auf, steckte das Handy ein, warf einen Blick in die Kiste und zog ein Buch heraus – eine kleine Taschenbibel, Dünndruck mit Goldschnitt und biegsamem, abgegriffenen, dunklen Einband, darauf der goldfarben geprägte Namen des Besitzers: Christoph Kuckkuck.

Er blättert gedankenlos darin. Zettel ragen als Lesezeichen aus den Seiten. Er schlägt wahllos eine markierte Seite auf, das Hohe Lied. Er beginnt zu lesen: „Des Nachts auf meinem Lager suchte ich, den meine Seele liebet. Ich suchte, aber ich fand ihn nicht …" – Doch Schritte oben im Haus? Schleicht jemand die Treppe vom Wohnbereich herunter zur Haustür? Will Andrea ihn überraschen? Vielleicht ist sie früher zurückgekommen!

Er stand lauschend auf, einen Finger zwischen die Seiten der geschlossenen Bibel gelegt, und ging zum Eingang. Als er um die Ecke in den Hausflur trat, traf ihn der Schlag auf den Kopf mit voller Wucht.

4

Andrea hatte mit wilder Genugtuung den nachmittäglichen Teil ihrer Fortbildung hinter sich gebracht. Die ‚aggressive Andrea‘ schien ihre Wirkung auf Karl-Otto Frings nicht verfehlt zu haben. Er hatte den zweiten Teil der Übung abgekürzt und sich nach einem kurzen organisatorischen Hinweis auf den nächsten Vormittag abgemeldet.

Knockout in der ersten Runde, grinste sie. Sie lag angezogen auf ihrem Bett, die Schuhe abgestreift, und hatte Lust, Elmar anzurufen. Sie wünscht, ihn neben sich zu spüren, seine Hände auf ihrem Körper. Vielleicht steht er jetzt in seinem Elternhaus und nimmt Abschied von dem Ort seiner Jugend, denkt sie.

Ein gutes Jahr hatten sie dort zusammen gewohnt. Einmal müsse Schluss sein mit allem, hatte er ihr eines Tages aus heiterem Himmel erklärt; er müsse Schluss machen, ein für allemal. Sie war perplex gewesen.

„Schluss machen – mit uns?“

„Mit uns doch nicht!“

„Womit dann?“

„Mit diesem Haus – und allem Anderen!“

Anstatt mit ihr über dieses Andere zu reden, hatte er sie geküsst, die Hände in ihrem Haar, dann überall auf ihrer Haut, streichelnd und zupackend; sie hatten sich geliebt, wo sie gestanden hatten, erst an den Tisch gelehnt, dann nackt auf dem Boden kriechend. Fußbodenheizung – dass Elmars Vater beim Bau des Hauses schon an so etwas gedacht hatte!

„Ich habe auch schon einen Käufer für das Haus.“

„Du willst das Haus verkaufen?“

„Ich habe es schon verkauft.“

„Bist du verrückt?“

„Ja. Nach dir!“

„Du willst im ernst …“

„Ich kann doch mein Haus verkaufen!“

„Du vergisst, ich lebe hier mit dir!“

„Du hast noch eine eigene Wohnung. Wir sind nicht verheiratet!“

„Aber normale Menschen reden miteinander!“

„Ich bin aber nicht normal. Außerdem habe ich uns schon eine Penthouse-Wohnung gekauft. Im Hain. Ideale Lage nahe am Stadtzentrum. Zehn Minuten von meinem Laden entfernt und drei Minuten von deiner Schule. Mit Blick auf Bäume und auf die Ragnitz. Mit einem Musikzimmer, du kannst da üben, wann du willst. Wir werden die Wohnung zusammen einrichten, bevor wir umziehen.“ Sie hatte geschrien – ob vor Lust, Wut oder Freude, weiß sie jetzt nicht mehr.

Das Handy klingelte, seine Nummer im Display, sie hat es gewusst: Wenn sie ihn braucht, ist er da. „Liebling“, rief sie, „wie du mir jetzt fehlst! Komm zu mir und erlöse mich von diesem Tagungsschwachsinn.“

Jemand räusperte sich in der Leitung: „Entschuldigung, Jerschke hier, Polizei Brombach. Sind sie Frau Andrea Heuer?“

„Polizei? Wieso? Was ist passiert? Wie kommen sie an Elmars Handy?“

„Wir fanden es am Tatort. Ihre Nummer war die letzte, die er gewählt hat, bevor er in seinem Haus überfallen wurde. Er liegt mit Kopfverletzungen im Brombacher Klinikum.“

„Ich bin in einer halben Stunde draußen!“ Sie warf ihre Siebensachen in die Reisetasche, ließ im Hotel die Nachricht für Frings, dass sie die Schulung abbrechen müsse, zahlte und raste los.

Elmar in seinem Haus überfallen? Im leeren Haus überfallen? Alles, was nicht auf dem Müll gelandet ist, lagert in Containern. Bis auf die Kiste, die berüchtigte kleine, weiße Kiste – ob er sie heute tatsächlich zur Müllkippe oder mit nach Hause gebracht hat? Unsinn, es ist nicht wichtig. Wichtig ist allein, wie es ihm geht. Kopfverletzungen – sie wagt nicht, sich vorzustellen, was das bedeuten kann.

„Wo liegt er?“ Als ob es in diesem riesigen Krankenhaus nur einen Patienten gäbe.

„Wer?“

„Elmar Möger natürlich!“

„Und wer sind Sie?“

„Seine Frau …“

„Frau Möger?“

„Nein, Heuer, Andrea, ich bin …“ – Bevor sie sich im Gestrüpp möglicher Antworten verheddern konnte, nahm sie ein Mann am Arm, stellte sich als Jerschke von der Kriminalpolizei Brombach vor, kramte in der Manteltasche nach seinem Dienstausweis, nickte dem Portier zu, dirigierte sie zum Aufzug und fuhr mit ihr in die Etage, in der Elmar Möger lag. Es gehe ihm den Umständen entsprechend gut, versuchte der Polizist, sie zu beruhigen.

„Welche Umstände?“

„Er hat Schläge auf den Kopf bekommen und dadurch viel Blut verloren. “

Das bestätigte auch der behandelnde Arzt: Elmar Möger habe Glück im Unglück gehabt. Nur zwei Platzwunden, eine schwere Gehirnerschütterung, Schnittwunden auf der Stirn und natürlich die Folgen des Schocks, jedoch keine Fraktur. Herr Möger sei noch schwach, aber bei Bewusstsein. Zum jetzigen Zeitpunkt daher bitte nur ein kurzes Gespräch, der Patient solle sich nicht anstrengen. Jerschke nickte.

Unter dem dicken Kopfverband sah Elmars bleiches Gesicht fast klein aus. Andrea streichelte vorsichtig seine Wangen. „Na, ist der Nagel heraus operiert oder war gar keiner da?“ – Elmar versuchte ein Lächeln. – „Und unter dem Turban sind die Haare weg? Ich liebe dich auch ohne.“ Sie küsste ihn vorsichtig auf den Mund.

Der Polizist trat näher. Das sei ein Herr von der Polizei, dolmetschte sie.

„Herr Möger, können Sie mir erzählen, was passiert ist?“

Elmar versuchte, den Kopf zu schütteln, das Reden schien ihn anzustrengen. „Ich war im Keller, wollte die Kiste …“ – er schloss die Augen - „wollte im Hausflur…“

„Da traf Sie der Schlag auf den Kopf. Haben Sie jemanden erkennen können?“

„Nein“, brachte er mühsam hervor.

„Sie sprachen eben von einer Kiste im Keller.“

„Nur alter Kram.“ Elmars Versuch einer wegwerfenden Geste misslang.

„Das Haus war leer, aber die Kiste mit altem Kram befand sich im Keller, als Sie noch dort waren?“

Elmar versuchte zu nicken, es macht ihm Mühe.

„Sehen Sie nicht, wie es ihn anstrengt?“, fuhr Andrea dazwischen.

„Der Keller war leer, als wir ins Haus kamen. Von einer Kiste keine Spur. Nur ...“ – Jerschke zog ein kleines, in eine Cellophanhülle gewickeltes Buch aus der Manteltasche und hielt es Elmar entgegen – „nur eine Bibel. Wir fanden sie nicht im Keller, sondern im Flur, wo Sie niedergeschlagen worden sind. Herr Möger, ist das Ihre Bibel?“

Keine Antwort.

Jerschke führte den Plastikbeutel näher vor Elmars Augen und strich das Cellophan über der goldenen Prägung des Namens glatt. „Wer ist Christoph Kuckuck?“

Elmar schien sich aufrichten zu wollen, öffnete die Augen weit, sackte zurück ins Kissen, er atmete schwer.

Es sei jetzt genug, sagte die Schwester. Sie bat die Herrschaften, den Raum zu verlassen. Sie setzten sich in die Cafeteria. Jerschke erzählte, dass ein Spaziergänger Elmars Auto entdeckt habe. Ihr Mann – Herr Möger – müsse in der Kurve der Dorfstraße geradeaus weiter und in den Graben gefahren sein. Er habe ohnmächtig und mit blutüberströmtem Gesicht auf dem Armaturenbrett gelegen; der Rückspiegel sei abgebrochen, die klaffende Schnittwunde auf der Stirn könne daher rühren. Ein Passant habe Fahrer und Auto gekannt und die Polizisten zu Mögers Villa geführt. Die Haustür habe offen gestanden. Offenbar sei Herr Möger“ im Hausflur niedergeschlagen worden. Er müsse versucht haben zu fliehen, dabei habe ihn wahrscheinlich ein zweiter Schlag getroffen. Eine Blutspur führte die Auffahrt hinunter bis auf die Straße. Wahrscheinlich habe sein Wagen dort gestanden. Er sei losgefahren, habe es noch bis zur Hauptstraße geschafft und müsse kurz vor der Kurve die Kontrolle über den Wagen verloren haben. „Soweit scheint alles klar. Die Fragen beginnen vorher.“

Der Kommissar lächelt sie an mit seinem Mäusegesicht. Er schenkt ihr – wie sagt man? – ein gewinnendes Lächeln. Was gibt es zu gewinnen? „Möchten Sie einen Tee?“

„Lieber einen Schnaps.“

Der Polizist ging zur Kantinentheke, balancierte auf einem Tablett einen Becher Kaffee und den Schnaps zum Tisch und schob ihr das Glas entgegen. Schmal ist der Polizist, mittelgroß, hager, mit dunklen, schütteren Haaren. Wache, liebevolle Augen im ausgemergelten Gesicht sehen Andrea an.

„Wann ist Ihr Mann in das Haus gefahren?“

„Weiß ich nicht.“ Sie trinkt einen Schluck.

„Warum ist er hingefahren?“ Ihr Gegenüber spitzt die Ohren, dünne, große, abstehende Fledermausohren.

„Weiß ich nicht.“ Wie müde sie plötzlich geworden ist. Schwach. Wie ausgepumpt.

Die Fledermaus nippt am Kaffee, kramt dann die kleine verpackte Bibel aus der Manteltasche und legt sie auf den Tisch vor Andrea. „Hat Ihr Mann oft darin gelesen?“

„Weiß ich nicht. Außerdem …“

„Ich weiß, er ist nicht Ihr Mann. Hatte er Feinde?“

„Weiß ich nicht!“

„Wie lange leben Sie schon mit ihm zusammen?“

„Weiß ich nicht, doch, neunzehn Monate.“

„Da könnte man schon etwas mehr von ihm wissen. Hat er jemanden in der Verwandtschaft, der Christoph Kuckuck heißt?“

„Es gibt keine Verwandten mehr. Niemanden. Nur noch seine Mutter, sie lebt in einem Heim, betreutes Wohnen.“

„Traurig, wenn es niemanden mehr gibt ...“

Andrea unterdrückte ein ‚Es gibt mich‘ und erhob sich, der Polizist blieb sitzen.

„Ich habe Sie kurz vor zwanzig Uhr angerufen. Wo waren Sie zu dieser Zeit?“

„Ich? Im Hotel Wilde Rose in Hassloch natürlich. Bei einer Lehrerfortbildung.“

„Mit Ihren Kollegen zusammen?“

„Allein in meinem Zimmer, der offizielle Teil …“ – Sie muss nach Luft schnappen und stützt sich auf den Tisch, um dem Frager ins Gesicht zu sehen. „Sie fragen mich allen Ernstes nach einem Alibi? Sie glauben, ich könnte Herrn Möger …“ – Sie kippt den Schnaps herunter. – „Ich will Ihnen etwas verraten. Ja, manchmal habe ich sogar Lust, ihn umzubringen, wegen seiner Arroganz, wegen … aber das geht Sie nichts an. Nur totschlagen würde ich ihn nie.“

„Er lebt ja auch noch“, lächelte Jerschke. „Und es gibt noch viele Fragen.“

Andrea stand auf. „Heute nicht mehr!“, sagte sie und legte einen Fünfmarkschein auf den Tisch. „Bachstraße 2, Brombach. Sie haben ja auch meine Handy-Nummer. Falls Sie mich erreichen müssen.“ Sie ging ohne Gruß.

Sie fuhr nach Hause, warf Hand- und Reisetasche auf den Boden, trat an das große Fenster im Wohnzimmer, sah hinaus ins Dunkel des Hains und dehnte die Hände hinter ihrem Rücken. Was für ein Tag! Sie holt sich ein Bier aus dem Kühlschrank, trinkt aus der Flasche. Zuerst diese blödsinnige Fortbildung und das Wiedersehen mit Frings, dann der Überfall auf Elmar. Warum? Zu holen gab es nichts, das Haus war leer. Also ein Racheakt? Hat er Feinde, von denen sie nichts weiß?

Dieser unsägliche Polizeibeamte hat den Nagel auf den Kopf getroffen: Neunzehn Monate lebt sie jetzt mit Elmar zusammen. Sie kennt alles an ihm. Sie ist sich sicher: In tiefster Dunkelheit könnte sie ihn unter Tausenden ertasten, ihn nachts am Takt und Klang seiner Atemzüge identifizieren. Sie ist vertraut mit seinen Gesten, seiner Stimme. Ist das nicht genug? Nein, anscheinend nicht. ‚Da könnte man schon etwas mehr von ihm wissen‘ – was dieses Mauseohr von Polizist sich einbildet! Allerdings hat er leider recht, der Herr Kriminalkommissar Jerschke.

Wie eine große Katze tigerte sie in der Wohnung umher, trank, holte sich ein neues Bier. „Wer ist der Mann, in dessen Wohnung ich herumspaziere“, fragt sie laut, als ob Elmar, wenige Kilometer weiter in seinem Krankenbett Antwort geben könnte. Sie stoppt vor der Bar mit Elmars Grappa-Flaschen, er liebt seltene Sorten. „Ich bin auch eine seltene Sorte“, kichert sie los, greift eine Flasche, schraubt den Verschluss los. „Warum liebt er mich eigentlich?“ Sie nimmt einen Schluck. „Weiß ich nicht!“ Die Maus im Hirn wackelt bedenklich mit den Ohren. ‚Das wissen Sie auch nicht?‘ Stimmt.

Jetzt bemerkt sie, wie wenig sie eigentlich wirklich von ihm weiß. Und er von ihr? Auch nicht viel mehr. Wie hat Frings gedroht? ‚Nichts ist vorbei, alles lebt weiter‘. Und wenn er recht hätte? Der Grappa brennt ihr die Kehle hinunter. Sie lässt sich auf das Ledersofa fallen. Bestes italienisches Design. Hier haben sie oft gesessen – erst gesessen, dann gelegen, je nach Laune und Lust, Lust haben sie oft. Lust, ihre Körper zu spüren, keine Lust auf Geschichten. Weder auf ihre noch auf seine. Das Vorher liegt im Dunkel, da liegt es gut. Mit ihrer ersten gemeinsamen Nacht hat für sie eine neue Zeitrechnung begonnen, von da an begann ihr Leben zu leuchten. Nur noch gemeinsam vorwärts. Leben wie im Rausch. Kein Blick zurück, kein Blinzeln zur Seite. Nur sie, Elmar und Andrea. Vor neunzehn Monaten neugeboren.

Der Schnaps machte sie durstig. Sie schwankte zum Kühlschrank. „Ein Bier noch!“, rief sie und winkte mit der Flasche ins dunkle Fenster Richtung Klinikum. „Siehst du, Elmar? Selbstgespräche kann ich auch!“

5

Es klingelte. Verschlafen fuhr Andrea im Bett hoch, auf dem sie angezogen lag. Schule!, schoss es ihr durch den Kopf, Montag!, ich muss in die Schule. Wie spät ist es? Egal, zu spät, viel zu spät! Sie torkelte ins Bad. Es klingelte.